Cover

Das Buch

Auf der Heimfahrt von Davos nach Schiers schwiegen sie beide. Schließlich sah Eleonora Flurin an. »Danke. Das war ein wirklich schönes Abendessen. Ich habe es sehr genossen.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie noch an: »Und danke für die Vermittlung des Auftrags. So etwas bin ich gar nicht gewohnt.«

»Gern geschehen Eleonora. Ich bin mir sicher, du und Alfred, ihr werdet gut miteinander zurechtkommen.«

Das Auto kam auf dem Werkhof der Bauunternehmung zum Stehen.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.

»Also dann … bis ein anderes Mal«, sagte Eleonora schließlich unbestimmt und sah Flurin an.

Der hielt ihrem Blick mit einem leichten Lächeln stand. Plötzlich hob er die Hand und strich ihr eine lose Haarsträhne hinters Ohr. Sie hielt ihn nicht davon ab. Die Berührung ließ sie erschauern, und ihr Herz klopfte schneller. Flurin sah ihr tief in die Augen und musterte sie stumm. Dann beugte er sich nach vorne und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Lippen.

»Bis bald«, konterte Flurin mit einem Augenzwinkern.

Die Autorin

Ladina Bordoli wurde 1984 in der Schweiz geboren. Seit ihrer Ausbildung zur Fachfrau für Unternehmensführung arbeitet sie im elterlichen Bauunternehmen und führt eine eigene Werbetechnik-Firma. Ihre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben, dem sie sich überwiegend am Wochenende und an den Feiertagen widmet. Sie lebt im Prättigau, einem kleinen Tal in den Schweizer Alpen.

Ladina Bordoli

Das Haus des Schicksals

Roman

Band 3 der Mandelli-Saga

Wilhelm Heyne Verlag München

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Originalausgabe 11/2021

Copyright © 2021 by Ladina Bordoli

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Katja Bendels

Umschlaggestaltung: bürosüd, München, unter Verwendung von © Trevillion Images / Ildiko Neer

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26612-7
V002

www.heyne.de

Prolog

Pany, Ostschweiz Dezember 2014, Silvester

Eleonora stand an der spitz zulaufenden Balkonbrüstung ihres Elternhauses. Schnee türmte sich auf dem Metallgeländer. Mit einem leichten Frösteln schob sie die Hände in die Taschen ihres dicken blauen Winterparkas. Schneeflocken tanzten durch den dämmrigen Spätnachmittag. Während die kalte Winterluft auf ihrem Gesicht pikste, ließ sie den Blick auf die andere Seite des Tals gleiten. Doch dunkle Wolken bauten sich schon nach zehn Metern Entfernung zu einer undurchsichtigen Wand auf und verschluckten die sonst spektakuläre Sicht auf die wuchtigen Berge, die das Prättigau umgaben.

Sie hörte, wie hinter ihr die Balkontür zugezogen wurde und sich Schritte knirschend über den Schnee näherten.

»An Tagen wie diesen fühlt es sich hier oben tatsächlich an, als stünden wir an der Reling der gestrandeten Arche Noah, mitten auf dem Berg Ararat.« Ihr Zwillingsbruder Andrea kam mit einem breiten Grinsen neben ihr zum Stehen und schaute ebenfalls in die Wolken. Mit seinen scherzhaften Worten sprach er die Tatsache an, dass sich ihr Vater Remo Albrecht beim Umbau seines ehemaligen Elternhauses architektonisch von dem biblischen Schiff hatte inspirieren lassen. Zum Leidwesen von Eleonoras Großeltern, die keinen Zugang zu den futuristischen Ideen ihres Sohnes fanden und es dem schlechten Einfluss seiner Ehefrau Rosalba zuschrieben.

»Mamma schickt mich. Oma und Opa sind da, wir nehmen jetzt den Aperitif.« Andrea wandte sich ihr zu und schob die Hände in die Hosentaschen.

Eleonora sah ihn an. Schneeflocken verhedderten sich in seinen strubbeligen blonden Haaren. Optisch würde niemand erkennen, dass sie Zwillinge waren. Mit einem einfühlsamen Ausdruck in den blauen Augen musterte er sie. Sie seufzte, und ihr Blick verlor sich betrübt im milchigen Zwielicht. Das alte Jahr neigte sich dem Ende zu, und mit ihm verging auch eine Ära. Was das neue Zeitalter wohl für sie bereithielt? Vieles würde sich ändern. Bei dem Gedanken daran vermischten sich Vorfreude und Angst miteinander. Eleonoras Herzschlag beschleunigte sich, und gleichzeitig zog sich ihr Magen zusammen. Abgesehen davon … wie würde man auf ihren Entscheid reagieren? Sie schaute zurück zum Wohnzimmer und biss sich auf die Unterlippe. Bisher hatte sie sich bloß Andrea anvertraut.

Ihr Bruder, der ihren besorgten Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte, legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bring es doch gleich jetzt hinter dich. Bestimmt wird es nicht so schlimm, wie du denkst. Ich helfe dir.«

Sie nickte stumm und starrte auf ihre Winterstiefel. Dann gingen sie gemeinsam zurück ins Haus.

Eleonora verstaute Stiefel und Jacke in der Garderobe am Eingang und trat dann in das großzügige Wohnzimmer, das die gesamte Breite des Hauses einnahm und nach oben hin bis zum Dachstuhl offen war. Ein wuchtiger, aus Natursteinen gemauerter Kamin nahm den Großteil der einen Seite des Raums ein. Er war das Einzige, das noch an das Zuhause ihrer Großeltern im rustikalen Landhausstil erinnerte. Die kleinen doppelflügeligen Fenster hatte ihr Vater durch moderne Glasfronten mit Schiebetüren ersetzt, die hinaus auf den Balkon führten. Jagdtrophäen wie Geweihe auf Knochenköpfen, Felle oder gar ausgestopfte Tiere gab es bereits seit Eleonoras Kindheit keine mehr. Ebenso war das vorherrschende Weinrot, die Lieblingsfarbe ihrer Oma Dora, modischen Naturtönen wie Terrakotta, Beige oder Anthrazit gewichen. Erst kürzlich hatten sich ihre Eltern eine zeitgemäßere Einrichtung geleistet und die von Andreas und Eleonoras Kinderjahren gezeichneten Möbel online verkauft. Eine schwarze Eck-Ledercouch mit integrierter Chaiselongue sowie dazu passende Sessel waren um zwei runde weiß lackierte Salontische gruppiert. Gleich daneben prasselte hinter Sicherheitsglas ein Feuer in dem großen Steinkamin. Im hinteren Teil des Wohnraums hing ein kleiner Fernseher. Ein separates Ledersofa für zwei Personen bildete zusammen mit diesem eine zweckmäßige und schmucklose Fernsehecke.

Eleonoras Großeltern hatten mit einem Glas Prosecco auf der Couch Platz genommen und bedienten sich mit Salznüssen und Kartoffelchips. Opa Benjamin strich sich wiederholt imaginäre Haare aus der Stirn und über seinen kahlen Kopf nach hinten. Oma Dora zupfte an ihren weißen Locken oder rückte die Brille zurecht. Ihre Eltern saßen einander gegenüber in den bequemen Ledersesseln nahe dem Feuer und nippten schweigend an ihren Gläsern. Papa zitterte so stark, dass er das Sektglas mit beiden Händen zum Mund führen musste. Als er bemerkte, dass ihn Eleonora dabei beobachtete, schenkte er ihr ein beruhigendes Lächeln. Trotzdem entgingen ihr die Müdigkeit und der Schmerz, die seine Gesichtszüge zeichneten, nicht. Mit einem Kloß im Hals zwang sie sich, ihm ebenfalls zuzulächeln. Ein Blick zu ihren Großeltern bestätigte ihr, dass Mamma und Papa es ihnen bereits gesagt hatten.

Wie immer, wenn Oma und Opa zu Besuch kamen, war die Stimmung leicht angespannt. Alle bemühten sich, niemand wollte die falschen Themen anschneiden. Eleonora wusste, dass Mamma die beiden nur aus Pflichtgefühl und Anstand gegenüber Papa regelmäßig zu ihnen nach Hause einlud.

»Man weiß ja nie, wie lange die beiden noch leben«, sagte sie immer. »Oma mag mir vieles in die Schuhe schieben, aber immerhin kann sie mir nicht vorwerfen, ich hätte ihr den Sohn oder die Enkelkinder vorenthalten.«

Heute, an Silvester, hätte sie sicher lieber ihre eigenen Eltern aus Italien bei sich gehabt. Diese mieden auf ihre alten Tage jedoch den schneereichen Winter und bevorzugten den Frühling für ihre Besuche in der Schweiz.

Andrea und Eleonora setzten sich nebeneinander auf die Chaiselongue und griffen nach zwei vollen Gläsern Sprudelwein. Eleonora nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas und hoffte, dass der Alkohol auf nüchternen Magen ihren Puls innerhalb der nächsten Minuten etwas beruhigen würde.

»Geht ihr jungen Leute heute noch aus, um den Jahreswechsel zu feiern?«, startete Opa einen Versuch, die bleierne Stille zu durchbrechen.

Andrea tauschte einen belustigten Blick mit Eleonora. »Na, so jung sind wir mit unseren zweiunddreißig Jahren nun auch nicht mehr. Abgesehen davon ist mir gerade nicht nach Gesellschaft«, deutete er den Umstand an, dass er sich kürzlich von seiner langjährigen Partnerin getrennt hatte, weil sie ihn mit einem Arbeitskollegen betrogen hatte.

Was Eleonora selbst anging … »Ich möchte früh aus den Federn und den freien Tag morgen dazu nutzen, in Ruhe einige Offerten zu rechnen und Papierkram im Büro zu erledigen.« Es gab schließlich niemanden, der auf sie gewartet hätte, und das war auch gut so. Dennoch konnte sie sich bei diesem Gedanken nicht davon abhalten, verstohlen ihre Eltern zu betrachten. Deren liebevolle Blicke füreinander zeugten selbst nach all den Jahren noch immer von ihrer engen Bindung, die sie zu Schicksalsgenossen gemacht hatte. Eine Form echter Romantik, die längst ausgestorben war.

Auch heute noch war die jugendliche Schönheit der beiden zu erkennen. Papas Augen leuchteten auch mit sechzig nach wie vor in einem betörenden Blau, und das Aschblond seiner noch vollen Haarpracht war durch die grauen Strähnen lediglich etwas heller geworden. Mamma war ein paar Jahre jünger als Papa und mit den zarten Falten im Gesicht und den langen, von Silber durchzogenen braunen Haaren noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung. Stolz und zerbrechlich gleichermaßen.

»Du arbeitest zu viel, Kind«, gab Oma zu bedenken. »Ehe du dich versiehst, bist du eine alte Jungfer und musst deinen Lebensabend einsam und ohne Familie verbringen.«

»Ich könnte mir einen Hund anschaffen.« Eleonora versuchte es mit einem Scherz und einem halbherzigen Lächeln. Sie wollte nicht streiten. Nicht am letzten Tag des Jahres. Oma schwieg, ihre Meinung war ihr jedoch an den missbilligend zusammengepressten Lippen deutlich anzusehen.

»Eleonora trägt viel Verantwortung auf ihren Schultern, Dora«, sagte Mamma. »Wie du weißt, habe ich ihr die Bauunternehmung zum Jahreswechsel übergeben.«

Es stimmte, vom morgigen Tag an würde Eleonora als Hauptgeschäftsführerin die Geschicke der Mandelli AG leiten, der Baufirma, die ihre Mutter in den vergangenen fast fünfunddreißig Jahren von einem kleinen Zwei-Mann-bzw.-Frau-Betrieb zu einem mittelständischen Unternehmen mit rund dreißig Mitarbeitern aufgebaut hatte. Dieses große Geschenk und das Vertrauen in sie ehrten Eleonora sehr. Schon als kleines Mädchen hatte sie mit absoluter Sicherheit gewusst, dass sie eines Tages in die Fußstapfen ihrer Mutter und Großmutter treten wollte. Nonna Aurora hatte 1956, vor fast sechzig Jahren also, die Tradition der Mandelli-Frauen begründet, als sie nach dem Unfalltod ihres Bruders Tommaso an seiner Stelle das Bauunternehmen der Familie im ländlichen Cerano d’Intelvi weitergeführt hatte.

»In unserer Branche weht ein harscher Wind«, fuhr Eleonoras Mutter fort. »Meine Tochter hat sich trotzdem dafür entschieden, die Geschicke der Mandelli AG in die Hand zu nehmen und das Erbe unserer Familie in die Zukunft zu führen. Wohlwissend, dass es einfachere Wege gäbe.« Mamma reckte stolz das Kinn und bedachte Oma mit einem glühenden Blick aus ihren dunklen Augen.

Andrea schaute Eleonora an. »Jetzt ist der richtige Moment«, schien sein Blick zu sagen.

Sie räusperte sich und griff mit zitternden und feuchten Händen nach ihrem Prosecco, um einen letzten Schluck zu trinken. Hitze stieg ihren Hals hinauf und pulsierte in ihren Wangen, als sie Luft holte. Das Blut rauschte in ihrem Kopf, sodass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Doch es musste jetzt sein.

»Es gibt noch etwas, das im neuen Jahr anders sein wird«, erklärte sie.

Mamma legte die Stirn in Falten und musterte sie verwirrt. Es kam nicht oft vor, dass Eleonora Geheimnisse vor ihr hatte.

»Ich … habe meinen … Familiennamen geändert.«

Sie schluckte leer und suchte Papas Blick.

»Ab jetzt heiße ich Eleonora Mandelli. Nicht mehr Albrecht.«

Kapitel 1

Schiers, Ostschweiz

Ende Februar 2015

Eleonora beendete die Mail, die sie gerade geschrieben hatte, und drückte auf »Senden«, während ihr Blick durch das spärlich eingerichtete Büro streifte und an der runden Werbewanduhr haften blieb. Kurz vor neun Uhr. Es lohnte sich nicht mehr, sich für diese wenigen Minuten noch in eine Arbeit zu vertiefen, also wartete sie einfach und betrachtete die Ordnerregale, die die fensterlosen Seiten des Raums einnahmen. Ob es für das Raumklima vielleicht von Vorteil wäre, eine Pflanze zu kaufen? Doch wo sollte sie die hinstellen? Es gab keine freien Ablageflächen in ihrem Büro, nicht zuletzt weil sich überall Papierstapel mit unerledigten Arbeiten auftürmten. Eleonoras Blick blieb an der Auftragsliste neben ihrem Computerbildschirm an der Wand hängen. Sie war noch beinahe leer, niemand verlangte nach den Diensten der Mandellis. Das anhaltend tiefe Preisniveau sowie die Konkurrenz durch zahlreiche Branchenkollegen sorgten für ein bedrohliches Missverhältnis auf dem Markt.

Als sie einen tannengrünen Jeep vorfahren sah, erhob sie sich von ihrem Stuhl.

Obwohl Eleonoras Mutter nach wie vor im Betrieb mitarbeitete, hatte sie sich durch die Firmenübergabe Ende des Jahres etwas aus dem Alltagsgeschäft zurückgezogen. Papas Parkinsondiagnose sorgte dafür, dass er zunehmend ihre Hilfe benötigte. Er würde sich noch in diesem Jahr frühpensionieren lassen. Bis es jedoch so weit war und er alles geregelt hatte, brauchte er Mamma öfters an seiner Seite. So kam es denn auch, dass diese Eleonora das Vorstellungsgespräch mit dem potenziellen neuen Mitarbeiter der Administration und Buchhaltung alleine bestreiten ließ. »Schlussendlich musst du ab jetzt die Leute einstellen, die zu dir und deiner Generation passen«, hatte sie gesagt und damit ein aktuelles Thema angesprochen: den Lauf der Zeit.

Denn der Wechsel in der Administration und Mammas schrittweiser Rückzug waren nicht die einzigen Veränderungen, die Eleonora bevorstanden. Auch ihr Patenonkel Federico wurde im Herbst sechzig Jahre alt und trat somit gemäß den gesetzlichen Vorgaben für das schweizerische Bauhauptgewerbe in den »flexiblen Altersrücktritt« über. Seit jenem schicksalhaften Tag im Juni 1980, an dem ihn Mamma im Lebensmittelgeschäft in Klosters aufgegabelt hatte, war er ein fester Bestandteil der Mandelli AG – zuerst als einziger Mitarbeiter, später als erster und zwischenzeitlich als erfahrenster Vorarbeiter der Firma. Federico Minniti war die rechte Hand der Geschäftsleitung und ihre offizielle Vertretung im Dschungel der Baustellen.

Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen öffnete Eleonora die Glastür zum Bürogebäude und bat den Bewerber herein. Er war der vierte Kandidat, der zu einem persönlichen Vorsprechen erschien. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung und Fachkompetenz war er Eleonoras heimlicher Hoffnungsträger. Eigentlich konnte sie sich aufgrund der schwachen Auftragslage gar keine weitere Person auf ihrer Lohnliste leisten. Doch die Buchhaltung und Administration war eine Schlüsselposition in ihrer Firma, und dafür brauchte sie einfach eine Fachperson.

»Wir sind nicht besonders modern eingerichtet«, entschuldigte sie sich bei Urs Huber. »Wir sind vor ein paar Jahren mit dem Werkhof von Grüsch hierher nach Schiers umgezogen. Dabei lag das Augenmerk vornehmlich auf der Modernisierung und Erweiterung des Baubetriebs und nicht auf der Ausstattung der Verwaltungsräumlichkeiten. Deshalb ist hier leider alles ein bisschen zusammengewürfelt, aber es ist zweckmäßig.« Sie unterstrich ihre Worte mit einem Lächeln, das Herr Huber mit einem Schulterzucken aufgriff.

Was sie ihm bewusst verschwieg, war die Tatsache, dass die meisten Einrichtungsstücke aus einem Büro-Outlet stammten, weil derzeit jeder hart verdiente Franken zur Deckung der Lohnkosten gebraucht wurde. Auch erwähnte sie nicht, dass die Umsiedlung des Baubetriebs von Grüsch nach Schiers für viel Unruhe und Feindseligkeit in der Branche gesorgt hatte. Die Familie Caviezel, die hier schon seit den Fünfzigern ein Bauunternehmen führte, hatte alles versucht, um die Vermietung der Industrieimmobilie neben den Bahngeleisen an die Mandelli AG zu verhindern. Den Besitzer derselben, einen Engländer, kümmerten die Wechselbeziehungen der Einheimischen untereinander jedoch herzlich wenig. Er war einfach froh, das Gebäude nach jahrelangem Leerstand wieder vermietet zu bekommen.

»Ich komme aus einer Handwerkerfamilie, Frau Mandelli«, erklärte Urs Huber. »Ich brauche kein Designerbüro, im Gegenteil: In einer bodenständigen Umgebung fühle ich mich weitaus wohler.«

Eleonora war erleichtert und erfreut, einen Verwandten im Geiste anzutreffen. Sie teilte seine Vorliebe für praktische und schlichte Arbeitsräume und wertete das als gutes Zeichen. Urs Huber war ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, mit Glatze und ein wenig müde wirkenden dunklen Augen. Er trug einen braunen, ausgewaschenen Anzug, dessen Jackett seine Gestalt beinahe zu verschlucken schien. Ein cremefarbenes Hemd steckte in der mit einem Ledergurt viel zu weit hochgezogenen Stoffhose. Man sah ihm an, dass er das unmodische Stoffzelt nur zu speziellen Anlässen trug. Aufgrund seiner Größe ging Urs Huber leicht geduckt. Auf seiner Knollennase trug er eine runde Brille mit feinem Goldrand. Ein leichtes Lächeln auf den vollen Lippen, ließ er den Blick durch den spärlich beleuchteten Flur schweifen.

»Dieses Büro erinnert mich an die kleine Firma meiner Eltern. Sie betrieben eine Waschanlage mit integrierter Reparaturwerkstatt. Auch da mussten die Räumlichkeiten in erster Linie zweckmäßig sein.« Während er dies sagte, kramte er in seiner weiten Anzughose und zog ein kariertes Stofftaschentuch hervor. Dezent tupfte er sich damit seine Nase ab.

»Bitte folgen Sie mir doch in unser Sitzungszimmer am Ende des Flurs, da können wir ungestört reden. Danach zeige ich Ihnen den Betrieb, wenn Sie Lust haben.«

Urs Huber nickte und folgte ihr durch den kurzen fensterlosen Gang, von dem mehrere Türen in angrenzende Büroräume abzweigten. Gelbliches Licht erhellte die schmutzig weißen Wände.

Die Einrichtung des Sitzungszimmers bestand aus einem Kunststofftisch und Metallstühlen, die mit blauen Stoffpolstern bezogen waren. Ein Fenster ließ etwas Tageslicht herein. Abgesehen von einer kleinen Kommode mit einem Telefon und einem Baustellenbild, gab es keine Möbel in dem Raum.

»Möchten Sie gerne einen Kaffee, Tee oder etwas Wasser? Wir hätten auch Apfelsaft oder Cola«, fragte Eleonora und bedeutete ihrem Gast, sich zu setzen.

Herr Huber entschied sich für eine Cola, Eleonora selbst nahm ein Glas Wasser.

Nachdem sie sich ebenfalls gesetzt und ihre Unterlagen vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte, begann sie zu erzählen: »Die Ursprünge unseres Betriebs liegen bei meinen Vorfahren in der Region des nördlichen Comer Sees. Was als Kleinbetrieb für Kundenmaurerarbeiten und Natursteinmauerwerk begann, hat sich zwischenzeitlich zu einem Unternehmen mit rund dreißig Mitarbeitern und Tätigkeiten in den klassischen Sektoren Hoch-, Tief- und Umbau weiterentwickelt. Wir besitzen eine kleine betriebseigene Werkstatt, einen Lastwagen und zwei Krane«, stellte Eleonora die Firma mit knappen Worten vor. »Unsere langjährige Administrationsmitarbeiterin wurde Ende Januar pensioniert, und wir suchen schon seit einer ganzen Weile nach jemandem, der sich nun um die Lohnbuchhaltung, administrative Aufgaben sowie die allgemeine Buchhaltung kümmert. Bisher ließ sich niemand Passendes finden.«

Sie hielt einen kurzen Moment inne und dachte über ihre eigenen Worte nach. Viele gut ausgebildete junge Leute zog es in die großen Schweizer Städte, die nebst einem deutlich attraktiveren Lohn auch mehr Unterhaltung und Freizeitmöglichkeiten boten als das Leben in den Bergen.

»Elvira hat sich aber gottlob bereit erklärt, noch so lange im Teilzeitpensum in der Firma zu arbeiten, bis die Jahresendarbeiten erledigt sind und jemand Geeignetes die Stelle antritt. Leider ist heute ihr freier Tag.« Eleonora holte kurz Luft und nahm einen Schluck Wasser. »Wie ich Ihrem Lebenslauf entnehmen konnte, haben Sie eine kaufmännische Ausbildung bei der Sauter Maschinenbau AG gemacht und dort auch die folgenden sieben Jahre gearbeitet. Danach haben Sie viel Erfahrung gesammelt, jedoch noch nie in einem Baubetrieb gearbeitet, richtig?« Eleonora kannte besagte Handwerksfirma gut. Der Umstand, dass Herr Huber dort ausgebildet worden war und offenbar auch längere Zeit dort gearbeitet hatte, galt als solide Referenz. Auf die Lücke in seiner Biografie, die sein Lebenslauf offenbarte, würde sie später eingehen.

Herr Huber nahm einen Schluck seiner Cola, verschränkte die Hände ineinander und lächelte. »Das ist korrekt. Gute Leute, die Sauters. Wir haben uns schweren Herzens getrennt, weil ich noch was anderes kennenlernen wollte. Danach habe ich bloß in Detailhandelsbetrieben sowie in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet. Ich weiß, dass die administrativen Aufgaben in der Baubranche komplexer sind und ich sicherlich noch viel lernen muss, aber gerade das reizt mich an der neuen Herausforderung. Ich möchte die Monotonie hinter mir lassen und noch mal etwas Neues kennenlernen. Außerdem …« Er zögerte und senkte den Blick auf seine Hände. Als er ihn wieder hob, wirkte er betrübt. »Abgesehen davon war auch sonst eine Veränderung nötig.« Er machte erneut eine Pause. »Die ganze Wahrheit ist, und ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, dass ich aufgrund meines letzten Anstellungsverhältnisses einen Burnout erlitt und daraufhin ein Jahr in eine Klinik musste. Danach war ich knapp zwei Jahre arbeitslos.« Er seufzte. »Der Burnout galt als Klecks in meinem Reinheft. Viele Arbeitgeber lehnten mich deshalb ab. Rückblickend muss ich sagen, dass ich wohl auch noch nicht für eine neue Anstellung bereit gewesen bin.« Herr Huber strich sich über die Glatze und lächelte gequält. »Dieser Umstand gab mir allerdings den nötigen Freiraum, wieder in meine Mitte zu kommen. Mit der Auszeit kamen auch der Tatendrang und die Freude an der Arbeit zurück.« Er unterstich seine Worte mit einem leichten Lächeln. Verunsicherung spiegelte sich in seinem Blick.

Eleonora sah ihn einen Moment nachdenklich an. »Es tut mir leid, das zu hören. Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Solche Geschichten sind in der heutigen Zeit keine Seltenheit, weshalb ich das Ganze auch nicht überbewerten möchte. In der Baubranche haben wir durch den allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsvertrag außerdem strenge Auflagen, was Normalarbeitszeit, Überstunden und Ferien betrifft. Wir unterliegen der strengen Kontrolle der Gewerkschaften.« Eleonora sortierte die Unterlagen vor sich auf dem Tisch, ehe sie weitersprach. »Ich nehme diese Angelegenheiten sehr ernst. Meine Mitarbeiter stehen in meiner Obhut, und es liegt in meiner Verantwortung, dass es ihnen gut geht. In meiner Firma wird nach Möglichkeit keine Mehrarbeit angeordnet, und wenn, wird sie exakt aufgeschrieben und auch bezahlt.« Mit Verachtung dachte sie an jene geldgierigen Branchenkollegen, für die ihre Angestellten bloß anonyme Nummern im Computersystem waren. Eine solche Einstellung hatte bereits ihre Mutter vehement abgelehnt. »Jeder verdient Menschlichkeit«, hatte sie stets gesagt.

Herr Huber seufzte und sah Eleonora an. »Das klingt, als wäre ich endlich, nach jahrelangem Suchen, am richtigen Ort gelandet.«

Nachdem sie sich noch eine Weile über die Tätigkeiten, die Herr Hubers Stelle beinhalten würde, unterhalten hatten, holte Eleonora tief Luft, schob den Stuhl zurück und erhob sich mit einem Lächeln. »Wollen Sie nun das Büro und den Werkhof sehen? Bestimmt sind Sie neugierig.«

»Sehr gerne.« Herr Huber erhob sich ebenfalls, trank noch den letzten Schluck Cola und folgte Eleonora auf den Flur hinaus. Während sie dem Bewerber alles erklärte, führte sie ihn zuerst durch das Administrationsbüro mit Blick auf den Werkhof. Obwohl die Möbel wild zusammengewürfelt waren und deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen, kommentierte Urs Huber alles mit großer Begeisterung. Es erweckte den Eindruck, als fühlte er sich in den bescheidenen Räumlichkeiten der Mandelli AG bereits ebenso heimisch wie Eleonora.

Draußen schlug ihnen die typische Frühlingsluft, milde Wärme gepaart mit den letzten frostigen Ausläufern des Winters, entgegen. Bleich stand die Sonne an einem milchig blauen, mit Schleierwolken gesprenkelten Himmel. Auf den Bergspitzen lag teilweise noch Schnee. Ein tristes Braun beherrschte die Wiesen und steil abfallenden Talabhänge zu beiden Seiten. Noch hatte sich das Grün des Frühlings nicht durchgesetzt.

Gemeinsam überquerten sie den Werkhof, der sich an einer schmalen Industriestraße am Dorfrand von Schiers befand. Der Vorplatz bestand immer noch aus Schotter. Sie umrundeten das Hauptgebäude, um einen Blick auf den Lagerplatz des Materials werfen zu können. Direkt neben dem Eingang zum Büro reihten sich vier Tore mit Glasfenstern aneinander. Hinter einem davon befand sich die Werkstatt, die nun offen stand, die übrigen verbargen Garagen für Fahrzeuge, Kleinmaterial oder elektrische Maschinen. Eine Metalltreppe führte auf das Dach des fleckigen Sichtbetongebäudes. Auch dort wurden Material und Kleinmaschinen gelagert.

Urs Huber schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Genießerisch sog er die Luft ein. »Ich liebe den Duft nach Staub, Stein und Schmierfetten, der hier vorherrscht. Das alles erinnert mich tatsächlich an den Betrieb meiner Eltern. Ich habe viel Zeit dort verbracht. Für mich ist das der Inbegriff von Schlichtheit und Handwerkertum. Nach den Jahren im Dienstleistungssektor und in der öffentlichen Verwaltung wäre das hier genau das Richtige für mich.«

Eleonora konnte sich von einem Lächeln nicht abhalten. Im Gegensatz zu den anderen Bewerbern, die entweder keine passende Ausbildung oder einen unreifen Eindruck bei ihr hinterlassen hatten, war Eleonora von Herrn Hubers schlichter Art angenehm überrascht. Es war bereits nach zehn Uhr, und sie hatte das Gefühl, dass nun fürs Erste alles gesagt war. »Wenn es für Sie in Ordnung ist, würde ich vorschlagen, dass wir uns nun beide einige Tage Gedanken machen, und uns dann ein Feedback geben.«

Herr Huber lachte trocken, aber herzlich. Zwinkernd meinte er: »Darüber muss ich nicht nachdenken, Frau Mandelli. Natürlich weiß ich nicht, ob es noch weitere Bewerber gibt, aber ich für meinen Teil fühle mich hier sehr wohl und kann mir die Arbeit in Ihrer Firma gut vorstellen.« Er deutete eine altmodische Verbeugung an. »Der Entscheid liegt natürlich bei Ihnen, selbstverständlich.«

»Bisher hat sich noch niemand gemeldet, der Ihre Qualifikationen vorweisen kann. Trotzdem, Herr Huber, möchte ich Sie nicht überfordern. Denken Sie in Ruhe darüber nach, ob Sie sich die Verantwortung der gesamten Administration in dieser rauen Branche zutrauen. Außerdem müssten Sie mit einer deutlich jüngeren weiblichen Chefin klarkommen, das ist nicht jedermanns Sache«, fügte Eleonora noch scherzhaft an. Wie zu erwarten war, lachte Urs Huber herzhaft und legte den Kopf schief.

»Glauben Sie mir, das ist mein kleinstes Problem. Ich war bereits mehrfach Frauen unterstellt, manchmal auch jüngeren, und empfand die Zusammenarbeit stets als sehr bereichernd. Außerdem habe ich eine zwanzigjährige Tochter. Meine Wertvorstellungen mögen vielleicht aus dem letzten Jahrhundert sein, ich selbst bin es allerdings nicht, Frau Mandelli.«

»Wunderbar«, antwortete Eleonora mit einem zufriedenen Lächeln und schob die Hände in die Hosentaschen. Sie war erleichtert, dass sich für das Problem mit der freien Stelle in ihrem Betrieb endlich eine Lösung abzeichnete. Ihre Mutter hatte sie nämlich auf ein zähes und mühsames Unterfangen vorbereitet, und anfänglich hatte es auch diesen Anschein erweckt. Gerade weil die Buchhaltung eine Schlüsselposition in ihrer Firma bildete und sie der entsprechenden Person großes Vertrauen schenken und viel Verantwortung übertragen musste, würde sie enger als jeder andere mit ihr zusammenarbeiten. Es war daher wichtig, dass diese Person verschiedene Eigenschaften in sich vereinte.

Urs Huber, so dachte Eleonora, war eine bodenständige und ehrliche Person mit viel Erfahrung und Fachkenntnis. Er hatte eine Chance verdient. Sie freute sich auf sein baldiges Feedback, ahnte jedoch schon, wie die Antwort ausfallen würde.

Kurz bevor er sich endgültig verabschiedete und in seinen Wagen stieg, holte er nochmals Luft. »Wie ich auf Ihrer Homepage gelesen habe, ist Ihr Hobby das Nähen? Was nähen Sie denn, wenn ich fragen darf?«

Perplex starrte Eleonora ihn an. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Er hatte sich offenbar sehr solide und interessiert auf das heutige Gespräch vorbereitet. Ein weiterer Pluspunkt. »Das Nähen hat in meiner Familie seit Generationen Tradition. Was im ländlichen Italien als Notwendigkeit aufgrund der knappen Finanzen und der Abgeschiedenheit begann, ist mittlerweile eine Passion geworden. Leider reicht meine Zeit, seit ich in der Firma arbeite, nicht mehr aus, um mir alle Kleider selbst zu nähen. Aber ich stöbere gerne online und schneidere mir dann gelegentlich etwas Modisches für besondere Anlässe. Meistens sind es also Kleider; die faszinieren mich mit ihren glänzenden, fließenden Stoffen und anschmiegsamen oder luftigen Schnitten, den Mustern und Farben …« Erschrocken brach sie ab. Sie hatte sich komplett vergessen und war ins Schwärmen geraten. Sie kannte Urs Huber doch kaum, warum erzählte sie ihm all das? Vermutlich, weil er gefragt hatte, und in der heutigen Welt voller Oberflächlichkeit kaum mehr jemand fragte.

»Ich bin übrigens Eleonora, machen wir es unkompliziert.« Von ihrer eigenen Spontanhandlung überrascht, reichte sie Urs Huber die Hand und verabschiedete sich von ihm.

»Urs, freut mich«, sagte er mit einem Schmunzeln. »Ich melde mich morgen bei dir. Und ich halte meine Versprechen.«

Scherzhaft hob er den Zeigefinger, um seine Ernsthaftigkeit zu unterstreichen.

Nachdem der tannengrüne Jeep den Werkhof verlassen hatte, ging Eleonora zurück in ihr Büro. Nun hatte sie gut anderthalb Stunden mit Urs Huber verbracht, bestimmt explodierte ihr Mailpostfach bereits. Immerhin hatte sie das Telefon auf ihre Mutter umgeleitet, die alle Anrufe von zu Hause aus entgegennahm, während sie sich Papa widmete.

Mit schwirrendem Kopf und ein wenig erschöpft ließ sich Eleonora auf den Bürosessel sinken und beschloss, zuerst den Stapel mit der aktuellen Post zu bearbeiten.

Gleich nach dem dritten geöffneten Kuvert sank ihre Laune unter null. Die Zuversicht, die die Begegnung mit Urs Huber ausgelöst hatte, verpuffte innerhalb weniger Sekunden.

Leider wurde die Arbeit an jemand anderen vergeben, stand da. Sie konnte den Satz, der sie bereits bis in den Schlaf verfolgte, nicht mehr hören. Nach einem Blick auf Seite zwei zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Dreißig Prozent zu teuer! Dreißig Prozent! Wie war das möglich? Sie hatte die Offerte sorgfältig und fair berechnet, ohne überzogene Margen, wie immer.

Wie so oft in solch entmutigenden Momenten schrieb sie ihrem Bruder Andrea und klagte ihm ihr Leid. Sie wusste, dass sie stets dasselbe schrieb, aber es half ihr, ihrem Ärger Luft zu machen und sich über die Ungerechtigkeiten aufzuregen.

Schon wieder eine Absage, langsam wird es eng. Es ist bald März, und wir haben noch immer kaum Aufträge. Gerade hat wieder die Filiale der Zukunftsbau AG in St. Moritz den Zuschlag bekommen. Offenbar kaufen sie unseren Markt auf. Warum?

Es war weithin bekannt, dass diese Firma sich über Jahre hinweg durch überteuerte Bauten von Zweitwohnungen und Preisabsprachen an vermögenden nationalen und internationalen Touristen bereichert hatte. Bei der Menge, die sie regelmäßig umsetzten, bekamen sie außerdem sämtliche Rohstoffe zu Spottpreisen.

Ihr Zwillingsbruder antwortete ihr postwendend:

Weil sie es können.

Kapitel 2

Wenn schon die Post, ob in Papierform oder via Mail, täglich neue Hiobsbotschaften brachte, so kamen wenigstens auf einem anderen Kanal erfreuliche Nachrichten. Urs Huber hatte sein Wort gehalten und sich bereits am Tag nach dem Vorstellungsgespräch mit einer Zusage seinerseits gemeldet. Eleonora war erleichtert, die Stelle in der Administration endlich besetzt zu haben. Die Flut an unbrauchbaren Bewerbungen sowie die ersten Vorstellungsgespräche hatten sie resigniert zurückgelassen.

Gerade wollte sie ihrer Mutter die Neuigkeit mitteilen, als die Betreffzeile einer Mail ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Frage betreffend Auftrag, stand da geschrieben. Vielleicht war heute ja ausnahmsweise Eleonoras Glückstag? Mit zitternden Fingern klickte sie die elektronische Nachricht an und begann zu lesen. Als sie damit fertig war, sprang sie auf und eilte aufgeregt ins angrenzende Büro, wo ihre Mutter gerade mit einigen Kalkulationen und Abrechnungen beschäftigt war. Die Stirn in angestrengte Falten gelegt, starrte sie auf den Bildschirm des Computers und rückte die Lesebrille auf der Nase zurecht.

»Stell dir vor, ich habe vielleicht einen lukrativen Kunden am Haken!«, platzte es aus Eleonora heraus. Mamma wandte sich ihr mit neugierig erhobenen Augenbrauen zu.

»Tatsächlich? Das wäre in der Tat sehr erfreulich. Worum geht es denn?«

»Also, bevor ich es vergesse: Der Neue, Urs Huber, hat zugesagt. Er fängt bereits nächste Woche mit der Arbeit an. Ich habe wirklich ein gutes Gefühl bei ihm. Er ist fachlich sehr kompetent und hat gute Referenzen.« Sie räusperte sich und rang die Hände, so aufgeregt war sie. »Dann hat mir ein unbekannter Herr soeben eine Mail geschrieben. Offenbar ist er online auf unsere Firma gestoßen. Wie er schreibt, ist er ursprünglich hier im Tal geboren, dann aber in die Westschweiz gezogen. Jetzt hat er sich dazu entschlossen, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Er ist Immobilienverwalter und hat sich in der Tourismusregion Klosters-Davos selbstständig gemacht. Nun ist er auf der Suche nach einem lokalen Partner, mit dem er und seine Kunden Instandhaltungsarbeiten, Umbauten oder auch Kundenmaurerarbeiten realisieren können. Aus Erfahrung möchte er längerfristig mit einem bestimmten Partnerunternehmen zusammenarbeiten, damit er sich auf die Arbeit verlassen kann und nicht mit ständigen Unsicherheitsfaktoren rechnen muss. Wie es scheint, hat ihn unsere Homepage sehr angesprochen, weshalb er mich nun kennenlernen möchte. Er hat mich für morgen zu einer Besprechung mit anschließendem Mittagessen eingeladen, um zu prüfen, ob eine Zusammenarbeit infrage käme und wie diese aussehen würde. Na, was sagst du dazu?« Eleonora konnte ihre Euphorie kaum bremsen und strich sich die feuchten Handflächen an der Jeans ab.

»Das klingt sehr vielversprechend«, begann Mamma, wirkte jedoch nachdenklich. »Du solltest es auf jeden Fall prüfen.«

»Du … wirkst so misstrauisch. Findest du es keine gute Idee? Für mich klingt das nach einer tollen Chance! Vielleicht ist es ein sanfter Einstieg in das Einzugsgebiet der Tourismuszentren. Selbst wenn der Bau von Ferienwohnungen nun per Gesetz eingeschränkt wurde, so gibt es im kleinen Rahmen doch immer noch sehr viel zu tun. Und das Preisniveau ist dort deutlich höher.« Eleonoras Begeisterung war ungebremst.

Ihre Mutter konnte sich jedoch nicht zu einem Lächeln durchringen. »Doch, ich finde, du solltest der Sache unbedingt nachgehen«, sagte sie ernst. »Ich bin bloß etwas vorsichtig und freue mich lieber nicht zu früh. Die Zeiten haben sich geändert, der Erfolg kommt nicht mehr so leicht. In meinen Anfängen damals habe ich auch gelegentlich für die vermögende Klientel in Klosters und Davos gearbeitet, wie du weißt.« Kurz blitzten ihre Augen bei der Erinnerung an diese lieb gewonnene Zeit auf. Dann starrte sie erneut nachdenklich auf das graue Festnetztelefon und die Rechenmaschine auf ihrem Pult. »Aber mein Markt ist zwischenzeitlich ausgetrocknet. Es tut mir leid, dass ich dir die Firma in dieser schwierigen Zeit übergeben muss. So hatte ich das nicht geplant. Aber ich schätze, du musst, wie wir Mandelli-Frauen alle, deinen eigenen Weg finden.« Sie bemühte sich um ein mildes Lächeln. Mamma tat sich schwer mit der Tatsache, dass sich die Dinge verändert hatten und all das, was sie mit viel Mut und Durchhaltewillen erarbeitet hatte, nun auf so wackligen Füßen stand.

»Aber Mamma, das habe ich doch immer schon. So hast du es mir beigebracht.« Eleonora dachte daran, wie sie damals als einziges Mädchen im ganzen Tal eine Maurerlehre absolviert und sich zur Bauführerin hatte ausbilden lassen. Ihre Großmutter Dora schämte sich noch heute für ihre Enkelin, die darauf bestanden hatte, einen Männerberuf zu wählen. Doch Mamma hatte Eleonora immer darin bestärkt, ihrem Herzen zu folgen und sich nicht durch die Meinung anderer davon abbringen zu lassen. Und genau das würde Eleonora auch diesmal tun.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Es wird alles gut, vertrau mir. Ich denke, der Immobilienverwalter ist ein Geschenk des Himmels.«

Eleonora hatte sich für das Geschäftsmeeting extra aus ihrer Baustellen-Alltagskluft geschält. Anstelle der Jeans und des schnörkellosen Pullovers trug sie nun einen dunkelblauen, knielangen Faltenrock und dazu eine klassische weiße Bluse. Schlichte schwarze Lederschuhe mit einem leichten Absatz rundeten das Ensemble ab. Ihre dunkelbraunen, feinen Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Eine Steintreppe führte zum Haupteingang des Restaurants Wartegg, in dem der Termin stattfand. Warme Heizungsluft schlug Eleonora entgegen, als sie den Schankraum betrat. Wände und Möbel aus hellem sandfarbenem Holz sorgten für eine freundliche und gemütliche Atmosphäre. Sitzpolster und Vorhänge waren in einem frischen Grün gehalten, das von den überall im Raum verteilten Natur-Gemälden aus groben Pinselstrichen wiederum aufgegriffen wurde.

Das Restaurant war um diese Uhrzeit, eine Stunde vor dem Mittag, beinahe leer, weshalb es nicht schwer zu erraten war, bei welchem der Anwesenden es sich um den Immobilienverwalter handelte. Sein schwarzer Anzug, die dunklen, halblangen, nach hinten gekämmten, schon etwas schütteren Haare und die braune Hornbrille verrieten den ungefähr Vierzigjährigen. Jedenfalls stellte sich Eleonora einen Vertreter seiner Zunft klischeehaft in etwa so vor.

Sie lag richtig.

Als sie sich mit einem scheuen Lächeln auf ihn zubewegte, erhob er sich und strich seine Hose glatt. »Frau Mandelli?«

Sie nickte und hielt ihm die Hand hin. »Guten Tag Herr Weber, schön, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.«

»Aber gerne doch, die Freude ist ganz meinerseits. Machen wir es nicht kompliziert: Ich bin Markus.« Er bedeutete Eleonora mit einem Lächeln, sich doch zu setzen. Dabei glitt sein Blick kurz über ihre Erscheinung.

»Ähm … Eleonora … danke.« Sie setzte sich und holte einen Notizblock, Schreibzeug und eine Mappe mit Fotos aus ihrer Handtasche. Dann wartete sie gespannt darauf, dass ihr Gegenüber das Gespräch startete.

»Sehr schön, dass du heute gekommen bist, Eleonora. Nach so vielen Jahren in der Westschweiz fehlt mir derzeit noch ein bisschen der Anschluss zu den Einheimischen hier in der Gegend. Bei dir hatte ich direkt ein sehr gutes Gefühl. Als ich dein Foto auf der Homepage der Firma gesehen und die Informationen zu dir und der Firmengeschichte gelesen habe, wusste ich gleich: Diese Frau muss ich kennenlernen, mit der möchte ich Geschäfte machen! Du kennst das bestimmt, wenn man plötzlich so ein Bauchgefühl hat.« Er hielt sich die Hand auf den Magen und entblößte eine Reihe weißer, leicht krumm angeordneter Zähne.

Eleonora nickte höflich. Zwischenzeitlich hatte die Bedienung ihnen einen Kaffee gebracht. Markus’ inquisitivem Blick ausweichend, griff Eleonora nach dem Löffel und rührte Zucker in ihren Cappuccino.

»Was haben Sie … pardon … was hast du dir denn vorgestellt, welche Arbeiten wir für dich verrichten sollen?«, fragte sie schließlich, um das Gespräch auf das eigentliche Thema zurückzubringen.

»Ich muss vielleicht etwas ausholen, damit man versteht, worum es mir geht.« Markus Weber holte tief Luft. »Nachdem ich zehn Jahre in Genf in einer großen Immobilienfirma gearbeitet habe, wurde es Zeit für eine Veränderung. Mir ging es nicht besonders gut, musst du wissen. Die Stadt hat mich auf Dauer krank gemacht, und irgendwann wurde mir klar, was ich wirklich brauchte: Eine Rückkehr zu meinen Wurzeln, zur Natur, zu Klosters.« Er warf lachend die Hände in die Luft. »Und da bin ich nun und habe den Schritt in die Selbständigkeit gewagt.«

»Verständlich und beeindruckend.« Eleonora schenkte ihm ein undifferenziertes Lächeln und wartete darauf, dass er auf den Punkt kam.

»Wie du dir bestimmt vorstellen kannst, war das nicht so einfach. Mein gesamtes soziales Umfeld befand sich in Genf. Einzig die Trennung von meiner Lebenspartnerin begünstigte mein Vorhaben. Die Distanz tut mir gut. Ich fange hier also wieder bei null an, versuche, einige alte Bekanntschaften zu reaktivieren und neue Menschen kennenzulernen.« Er nahm einen Schluck seines mittlerweile vermutlich kalten Kaffees.

»Mhm.« Verstohlen erhaschte Eleonora dabei einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war bereits halb zwölf. »Und dann haben Sie … also du … eine Immobilienfirma gegründet und Kunden akquiriert?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich über die zurückgegelten Haare. »Nicht direkt. Zuerst habe ich das Haus meiner verstorbenen Tante übernommen und es, soweit es ging, mit den eigenen Händen umgebaut. Die körperliche Tätigkeit hat meinen Geist geklärt und mich endlich wieder zu mir selbst geführt.« Ein stolzes Grinsen verzog seinen Mund.

»Umbauten gehören ebenfalls zu unseren Kernkompetenzen. Darf ich dir einige Referenzfotos unserer Arbeiten zeigen, damit du eine Vorstellung davon hast? Danach können wir gerne auch noch über konkrete Wünsche in Bezug auf deine Klienten sprechen. Du kannst ihre Bedürfnisse besser einschätzen als ich.« Eleonora griff nach ihren Unterlagen und breitete einige Fotos aus.

»Es ist hart, alles alleine machen zu müssen.« Markus lehnte sich nach vorne und verschränkte die Hände ineinander. Sein Blick strich über Eleonoras Gesicht.

»Das verstehe ich. Die Selbstständigkeit ist kein Zuckerschlecken. Besonders zu Beginn«, sagte sie verständnisvoll.

»So ist das. Insbesondere wenn sich dieser Zustand auch noch im privaten Bereich wiederholt. Man hat dann irgendwann das Gefühl, als trage man die Welt auf seinen Schultern. Verstehst du?«

Sie nickte, obwohl sie seine Empfindungen nicht bestätigen konnte. Das Alleinsein war für sie keine Last.

»Du bist auch alleine?« Markus lehnte sich noch ein Stück weiter nach vorne.

»Ja, und das ist auch gut so«, antwortete Eleonora knapp und hatte zunehmend Mühe, ihren Unmut zu verbergen.

»Geschieden? Oder … noch nicht fündig geworden?«, hakte er nach.

In diesem Moment erschien zum Glück die Bedienung, eine ältere Dame mit roten, kurzen Dauerwellen.

»Möchten Sie gerne etwas essen? Es ist gleich Mittag.« Sie hielt zwei in Leder eingeschlagene Speisekarten in der Hand.

Erst jetzt fiel Eleonora auf, dass sich der Raum um sie herum stetig füllte und das Summen der Gespräche anderer Gäste anschwoll.

»Nein danke, ich bin noch nicht hungrig. Wir reden gerade. Kommen Sie doch etwas später noch mal. Das eilt ja nicht, wir haben Zeit.« Markus sah die Serviererin genervt an und wandte sich dann wieder Eleonora zu. Diese war so perplex, dass ihr die eigenen Worte im Hals stecken blieben und sie ihr Gegenüber einfach nur anstarrte. Das schien den Immobilienverwalter allerdings nicht weiter zu stören.

»Beziehungen sind kompliziert, finde ich. Auf der einen Seite möchte ich ja wirklich gerne eine feste Partnerin, andererseits bringt das auch häufig Konflikte mit sich, und meistens endet es in einem Desaster. So habe ich es leider bisher erlebt.«

»Ich habe um dreizehn Uhr einen dringenden Termin, also …« Eleonora lenkte den Blick bewusst auf die Referenzfotos, die es noch zu besprechen galt.

»Ich meine, es fängt ja schon bei der Definition von Sexualität an. Wenn der eine Partner nur Blümchensex will und der andere nicht, dann …« Er machte einen bedauernden Gesichtsausdruck.

»Das ist in der Tat außerordentlich tragisch. Wollen wir dann vor dem Essen vielleicht noch kurz über die Gattung der Arbeit sprechen? Wie gesagt, habe ich bald schon wieder einen Termin, bedaure.«

»Aber natürlich.« Markus beugte sich interessiert über die Fotos, und Eleonora seufzte innerlich erleichtert. Gleichzeitig winkte sie der Serviererin und ließ sich die Speisekarten geben.

Nach einer Weile hob er den Blick und schaute ihr tief in die Augen. Ein leichtes Frösteln kroch über Eleonoras Wirbelsäule, und sie spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.

»Weißt du, ich finde, wenn man sich auf dem Markt von der Konkurrenz abgrenzen will, muss man sich etwas Spezielles einfallen lassen«, begann er.

»Dieser Meinung bin ich auch.« Eleonora nickte zustimmend und lächelte. Endlich entwickelte sich das Gespräch in eine wünschenswerte Richtung.

tagsüber,

»Sehr gut!« Markus’ Euphorie war nicht mehr zu bremsen.

Endlich wurde das Mittagessen serviert. Eleonora aß ihren Teller tapfer leer, obwohl ihr der Hunger längst vergangen war, während der Immobilienverwalter sie weiterhin in seine persönliche Tragödie einweihte.

Als die Serviererin kurz vor dreizehn Uhr die Rechnung an den Tisch brachte, holte Eleonora den Geldbeutel aus der Handtasche. Sofort legte ihr Markus die Hand auf den Unterarm.

»Bitte … überlass das mir. Personen mit einem so hinreißenden Lächeln wie deinem sollten eingeladen werden. Zumal ich das ja von Anfang an so kommuniziert habe. Du darfst gerne beim nächsten Mal bezahlen.« Er zwinkerte ihr mehrdeutig zu und beglich die Rechnung.

Auf dem Parkplatz vor dem Restaurant reichte Eleonora Markus die Hand zum Abschied. Doch der ignorierte sie und schloss Eleonora stattdessen kurz in die Arme.

Brodelnd vor Wut fuhr Eleonora eine Viertelstunde später auf den Werkhof. Sie stieß die Tür zu den Büros auf, marschierte geräuschvoll zu ihrem Schreibtisch und knallte die Handtasche darauf. Fotos und Schreibblock flogen hinterher, und zwar mit so viel Schwung, dass sie über die Tischplatte schlitterten und auf der anderen Seite zu Boden fielen. Klirrend landete der Kugelschreiber, den sie als nächstes aus der Tasche fischte, auf dem Pult. Sie war dermaßen mit sich selbst und ihren kreisenden Gedanken beschäftigt, dass sie ihre Mutter im Türrahmen erst bemerkte, als diese sie ansprach.

»Da bist du ja.« Prüfend glitt Mammas Blick über Eleonoras Gesichtszüge und folgte ihren wütenden Bewegungen, während ihre Augenbraue langsam nach oben wanderte.

Eleonora machte eine abwertende Handbewegung. »Frag nicht. Und … lass es, ich weiß, was du sagen willst.«

»Keine neuen Aufträge?«

»Keine neuen Aufträge.«