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Der Roman

Nahr ist erst Mitte dreißig, als sie ihr Leben Revue passieren lässt. Seit Jahren sitzt sie in Einzelhaft im Hochsicherheitstrakt eines israelischen Gefängnisses. Was nun folgt, ist die bewegende Geschichte einer kämpferischen Frau, die als Tochter palästinensischer Flüchtlinge ohne Heimat aufwächst. Von klein auf lernt Nahr, dass ihre Familie in Kuwait nur geduldet ist und nicht aufbegehren darf. Doch nach einer gescheiterten Ehe weiß sie, dass sie das traditionelle Leben ihrer Großmutter und Mutter nicht fortführen kann. Sie geht ihren eigenen Weg, muss Gewalt und Demütigungen ertragen, bis sie in Palästina Bilal begegnet. Durch ihn entdeckt sie, was Liebe zu geben vermag und setzt sich voller Stolz für ihre Heimat ein. So zieht der Widerstand gegen die israelische Siedlungspolitik, den Bilal organisiert, auch Nahr immer mehr in seinen Bann. Die Folgen sind unausweichlich.

»Eine meisterhaft geschriebene Geschichte, die Sie nicht mehr aus der Hand legen können.« CNN

»Susan Abulhawa besitzt das Herz einer Kriegerin; sie ist eine bedeutende Schriftstellerin unserer Zeit.« Alice Walker

Die Autorin

Susan Abulhawa, 1970 geboren als Kind palästinensischer Flüchtlinge, wuchs in Kuwait, Jordanien und Jerusalem auf. Als Teenager ging sie in die USA, studierte Biomedizin und lebt heute in Pennsylvania. Die Autorin engagiert sich für die Menschenrechte und die Verbesserung der Lebensumstände von palästinensischen Kindern in besetzten Gebieten. 2001 gründete sie die nicht staatliche Kinderorganisation Playgrounds for Palestine. Ihre Romane »Während die Welt schlief« (in 30 Sprachen übersetzt), »Als die Sonne im Meer verschwand« und »Ihr letzter Tanz« sind internationale Bestseller.

SUSAN

ABULHAWA

Ihr

letzter

Tanz

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Stefanie Fahrner

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Zitat [>>] mit freundlicher Genehmigung aus: James Baldwin,

Nach der Flut das Feuer: The Fire Next Time,

übersetzt von Miriam Mandelkow, München 2019,

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.

The Fire Next Time © 1962, 1963 by James Baldwin.

Copyright Renewed. Used by arrangement with James Baldwin Estate.

Vollständig überarbeitete deutsche Taschenbuchausgabe 07/2021

Die Diana-Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel »Nahrs letzter Tanz«

Copyright © 2019 by Susann Abulhawa

Die englischsprachige Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel

Against the Loveless World bei Atria Books

an imprint of Simon and Schuster, New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion der überarbeiteten Ausgabe: Hanna Bauer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

nach einer Originalvorlage von Norstedts Verlag

Umschlagdesign: © A. Timrén mit Bildern von iStock.com

und Shutterstock.com

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-26616-5
V001

www.diana-verlag.de

In Erinnerung an Mame Lambeth, »meinen« Menschen. Und an Aminah Abulhawa, den Menschen, auf den ich schon immer gewartet habe.

I. Kuwait

Im Würfel, Osten

Ich lebe im Würfel. Ich schreibe auf seine glatten Betonmauern, so wie es gerade geht: anfangs mit den Fingernägeln, dann mit einem Bleistift, den ich von den Wärterinnen bekommen habe.

Licht scheint hinein durch ein kleines Fenster aus Glasbausteinen, hoch über der Ostwand gelegen, dort, wo nur die vielbeinigen Krabbler hingelangen, die ebenfalls hier leben. Ich mag besonders die Spinnen und Ameisen, die ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete für sich beanspruchen und es ansonsten hinbekommen, einander aus dem Weg zu gehen, in unserem gemeinsamen Neun-Quadratmeter-Universum. Das Licht einer jenseitigen Welt mit Sonne, Mond und Sternen – vielleicht sind es aber nur Leuchtstoffröhren … da bin ich mir nicht sicher – strömt durch das Fenster herein, in einem Prisma, das mit roten, gelben, blauen und violetten Mustern an der Wand landet. Die Schatten von Ästen und Sträuchern, vorbeiziehenden Tieren, bewaffneten Wachen oder vielleicht auch anderen Gefangenen gleiten manchmal durch das Licht hindurch.

Einmal habe ich versucht, das Fenster zu erreichen. Ich stapelte alles, was ich besaß, auf dem Bett übereinander – einen Nachttisch, die kleine Box mit meinen Toilettensachen und drei Bücher, die die Wärterinnen mir gegeben hatten (Schindlers Liste, Die Glücksliste sowie Dankbarkeit ist die Antwort). Ich kletterte auf den Stapel hinauf und streckte mich so hoch, wie ich nur konnte, erreichte aber nur ein Spinnennetz.

Als meine Nägel noch fest waren und ich mehr wog als heute, versuchte ich, die verstreichende Zeit so festzuhalten, wie es Gefangene tun: einen Strich an der Wand für jeden Tag, zusammengefasst in Fünfergruppen. Aber bald erkannte ich, dass die hellen und dunklen Phasen im Würfel nicht mit denen der Außenwelt übereinstimmten. Diese Erkenntnis war eine Erleichterung, denn der Anspruch, mit dem Leben jenseits dieser Mauern Schritt zu halten, war mir zur Last geworden. Als ich meinen selbst auferlegten Kalender aufgab, verstand ich, dass Zeit nichts Reales ist – durch die Abwesenheit von Hoffnung oder Erwartung besitzt sie keine innere Logik. Der Würfel ist zeitlos. Stattdessen enthält er eine gähnende Leere aus etwas, das nicht benannt ist, ohne Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit. Und ich kann sie mit dem ausfüllen, was mir innewohnt: mit dem Leben, an das ich mich erinnere, oder jenem, das ich mir ausdenke.

Gelegentlich kommen Besucher zu mir. Mit Körper und Sprache tragen sie das Klima der Außenwelt herein, von dort, wo Jahreszeiten und Wetter sich ändern. Wo Autos und Flugzeuge, Boote und Fahrräder Menschen von Ort zu Ort befördern. Wo sich Gruppen versammeln, um zusammen zu spielen, zu essen, zu weinen oder in den Krieg zu ziehen. Fast alle meine Besucher sind Weiße. Obwohl ich nicht weiß, ob es Tag oder Nacht ist, kann ich an ihnen leicht die Jahreszeit ablesen. Im Frühling und im Sommer glüht die Sonne auf ihrer Haut, wenn sie den Würfel betreten. Sie atmen leichter und führen den Hauch der Blüten mit sich. Im Winter sind sie blass und matt, haben dunkle Augen.

Früher, als meine Haare noch nicht grau waren, kamen noch mehr Besucher. Es waren hauptsächlich Geschäftsleute aus der Gefängnisindustrie (ja, so etwas gibt es tatsächlich), die den Würfel auskundschafteten. Angesichts dieser elegant gekleideten Voyeure fühlte ich mich innerlich immer hohl. Reporter und Menschenrechtsaktivisten kommen weiterhin, wenn auch nicht mehr so oft wie früher. Nachdem Lena und die Frau aus dem Westen da gewesen waren, bekam ich eine Weile gar keinen Besuch mehr.

Die Frau aus dem Westen, die etwa Anfang dreißig war, kam für ein Interview. Die Wärterin erlaubte mir, auf dem Bett zu sitzen, normalerweise wurde ich an der Wand festgebunden. Ich weiß nicht mehr, ob die Frau Reporterin oder Menschenrechtsaktivistin war. Vielleicht war sie Schriftstellerin. Ich fand es angenehm, dass sie eine Dolmetscherin mitgebracht hatte, eine junge Palästinenserin aus Nazareth. Einige Besucher gaben sich überhaupt keine Mühe und erwarteten von mir, Englisch zu sprechen. Ich kann natürlich Englisch, aber es kostet mich große Mühe, und außerdem möchte ich ihnen nicht zu sehr entgegenkommen.

Sie war an meinem Leben in Kuwait interessiert und wollte mit mir über meine »Sexualität« sprechen. Alle wollen die Geschichte meiner Muschi hören. Sie haben ihre vorgefasste Meinung, drehen sich die Worte so hin, wie es ihnen passt. Sie wollte wissen, ob es stimmt, dass ich Prostituierte war.

»Sie denken, Prostitution hat etwas mit Sexualität zu tun?«, fragte ich.

Ein flüchtiger Blick der Verwirrung huschte über ihr Gesicht, dann antwortete sie: »Nein, natürlich nicht. Wechseln wir das Thema.«

Sie war groß. Ihr Haar war braun, lose am Hinterkopf zusammengebunden. Sie trug Jeans und eine einfache cremefarbene Bluse mit einer Jacke darüber und bequeme schwarze Schuhe. Kein Make-up. Ich mochte sie nicht. Ich mochte die Dolmetscherin, die wie ich klein und ein dunkler Typ war. Sie trug rote Converse-Schuhe mit vierzehn schwarzen Kugelschreiberpunkten auf dem weißen Gummiteil. Erst ein Punkt, dann eine Gruppe aus neun Punkten, dann eine Gruppe aus vier Punkten: 194. Die 194-Methode war ein Code, mit dem wir uns der israelischen Überwachung entzogen. Aus jedem ersten, neunten und vierten Wort setzten wir uns geheime Botschaften zusammen. Das war einfach und effektiv. Darum wusste ich auch, dass sie mehr war als nur eine Dolmetscherin. Sie hieß Lena, daran erinnere ich mich.

Zuerst war ich verwirrt. Denn die 194-Methode funktioniert nur mit schriftlichen Nachrichten. Man kann ja nicht gleichzeitig zählen, zuhören, übersetzen und sprechen. Mit einem Mal fiel mir auf, dass Lena während des Übersetzens an ihren Stift tippte, wenn bestimmte Wörter fielen. Sie musste den Moment erkannt haben, als ich dahinterkam, denn plötzlich lächelte sie dezent. Die Wörter lauteten Mund, Papier, Notizblock, Essen und sollten zusammengenommen wohl bedeuten: »Iss den Zettel auf.«

Die Interviewerin schaute nach unten, ganz so, als sei sie sich nicht mehr sicher, ob sie die nächste Frage wirklich stellen sollte. »Worüber möchten Sie reden?«, wollte sie dann von mir wissen.

An jenem Tag wanderten meine Tagträume zurück zu besseren Zeiten, zu den Stränden, Wüsten und Einkaufszentren von Kuwait.

»Zeit-o-zaatar«, erwiderte ich.

Die Frau fragte Lena: »Ist das dieser palästinensische Brotdip?«

Lena nickte, und die Frau machte sich ein paar Notizen. Ich war mir aber sicher, dass sie sich nicht für meine Geschichte interessierte. Ich erzählte sie trotzdem.

»Als wir noch in Kuwait lebten, wurden die Abschlussnoten der Oberschulen immer in der Zeitung veröffentlicht. Die Palästinenser machten jedes Jahr den Großteil der Top-Ten-Absolventen aus. Als die besten fünf einmal allesamt Palästinenser waren, sorgten sich die Kuwaiter ganz besonders. Bald ging das Gerücht, die Palästinenser wären so schlau, weil sie so viel zeit-o-zaatar aßen. Und so wurde das ganze Land von einer zeit-o-zaatar-Welle heimgesucht. Die Geschäfte kamen gar nicht nach, so groß war der Bedarf«, berichtete ich lachend.

Die Frau aus dem Westen rutschte auf ihrem Stuhl herum, während sie Lena beim Übersetzen zuhörte. Ich ignorierte ihre wachsende Ungeduld. »Ich wusste, dass das nicht stimmte, denn ich aß viel zaatar und war nie gut in der Schule. In der neunten Klasse blieb ich sitzen, weil ich sowohl in Religion als auch in Mathematik durchfiel. Im selben Jahr bekam mein Bruder Jehad die Gelegenheit, die vierte Klasse zu überspringen.« Obwohl damals glücklichere Zeiten herrschten, ist meine Erinnerung von Traurigkeit durchzogen. Ich würde gern mit meinem jüngeren Ich sprechen, es von seinem Wert und seinem Verstand überzeugen. Von seiner Lernfähigkeit. Vor allem aber möchte ich, dass es daran glaubt, dass es nicht dumm ist, so wie alle es ihm einredeten.

Die Frau aus dem Westen versuchte, mich zu unterbrechen, aber ich redete einfach weiter. »Eine Zeit lang strengte ich mich sehr an und ließ mir von meinem kleinen Bruder Nachhilfeunterricht geben. Aber wenn die Schule fest daran glaubt, dass du dumm bist, kannst du dich noch so sehr anstrengen.«

»Ihr Bruder … Ich habe gelesen, dass er …«

Ich ließ sie nicht ausreden. »Mein Bruder ist genial«, verkündete ich. Sie blickte auf ihren Notizblock. Ich wusste, dass sie sich nicht für meine Kindheitsgeschichten interessierte, weil sie sich überhaupt keine Notizen machte.

»Es ist mir egal, was Sie über meinen Bruder gelesen haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass Jehad ein sanfter und verletzlicher Mensch war«, sagte ich. »Als er auf die Mittelschule ging, bekam ich mit, dass er von zwei Jungen schikaniert wurde. Also sammelte ich meine Freundinnen ein. Zusammen warteten wir vor dem Schultor auf sie und verpassten ihnen eine Abreibung. Danach bewunderte mich Jehad umso mehr. Einmal, es war Sommer, da …«

Die Frau aus dem Westen hob die Hand. Sie sah auf ihren Notizblock hinab und legte die Hände über die vorformulierten Fragen. Dann atmete sie tief ein und blinzelte übertrieben langsam. Es sah aus, als würde sie durch die Augenlider atmen. »Ich habe irgendwo gelesen, dass Sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurden, und zwar an dem Abend, als Saddam Hussein in Kuwait einmarschierte.«

Ich hob eine Augenbraue. Das schien sie zu verunsichern. In meinem Augenwinkel nahm ich Lenas unmerkliches Lächeln wahr.

Die Frau fuhr fort: »Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das war, und es tut mir leid, dass ich Sie wieder daran erinnere.«

»Warum glauben Sie, Sie könnten so einfach hereinspazieren und mir solche Fragen stellen?«

Lena zögerte kurz, übersetzte dann aber pflichtbewusst.

Die Frau gab sich überrascht. »Sie haben sich bereit erklärt, von mir interviewt zu werden. Darum stelle ich Ihnen Fragen«, erklärte sie und hielt mit geschlossenen Augen kurz inne. »Ich musste mich zwei Monate lang auf Herz und Nieren überprüfen lassen, um diese Stunde mit Ihnen zu bekommen. Ich habe den Behörden alle meine Fragen im Voraus zukommen lassen«, fügte sie beinahe verzweifelt hinzu.

Lena wiederholte ihre Worte auf Arabisch, übermittelte mir mit ihren Augen aber etwas anderes.

Schließlich antwortete ich. »Nun, mir haben die Behörden sie nicht vorgelegt. Seien Sie sicher, dass ich mich deswegen beschweren werde.« Mein Sarkasmus brachte sie fast zum Weinen, was mich ihr gegenüber etwas milder stimmte. Deshalb fügte ich noch hinzu: »Aber ich werde Ihre Frage beantworten: nein. Ich wurde nicht vergewaltigt an dem Abend, als Saddam in Kuwait einmarschierte.«

Die Interviewerin schien enttäuscht zu sein, ging dann aber zu anderen Themen über. Sie wollte wissen, wie ich zum Widerstand gekommen war. Sie bezeichnete ihn als Terrorismus. Sie fragte dann nach meiner Gefängniszelle, die sie ein »schönes Zimmer« nannte, und relativierte den Ausdruck sofort wieder. »Ich weiß, dass es trotzdem ein Gefängnis ist.«

»Sind Sie Jüdin?«, fragte ich.

Sie blinzelte wieder lange. »Ich weiß nicht, warum das wichtig sein sollte.«

»Weil es wichtig ist.«

»Ich bin hier als professionelle Reporterin, nicht als Vertreterin einer Religion.«

»Die meisten professionellen Reporter würden diesen Ort nicht als ein schönes Zimmer bezeichnen«, gab ich zurück.

Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. »Wenn man bedenkt, was Sie getan haben, würde ich sagen, es ist schöner als das, was Sie vielleicht verdient hätten. Ich glaube nicht, dass Sie in einem arabischen Land so gut behandelt werden würden. Dort würde man Sie auspeitschen und dann hängen.«

Sie klappte ihren Notizblock zu. »Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, sagte sie und bedeutete der Wache, sie hinauszuführen.

Die Wärterin hatte neben uns gestanden, um sicherzustellen, dass mich niemand anfasste oder mir irgendeinen Gegenstand übergab. Jetzt befestigte sie meine Sicherheitsarmbänder an der Wand, bevor sie die Tür öffnete.

Die Frau wendete sich mir zu, als sie aufstand. »Ich möchte nur, dass Sie wissen, dass meine Großeltern …«

»… den Holocaust überlebt haben.« Ich beendete ihren Satz und verdrehte die Augen.

In ihrem Blick stand blanke Verachtung.

»Ja, in der Tat«, sagte sie, »das stimmt. Und sie haben mir beigebracht, immer fair zu bleiben. Das versuche ich hier gerade.«

Lena begann zu übersetzen, aber ich winkte ab. »Genau das tun Sie hier nicht«, sagte ich auf Englisch, mit viel Geringschätzung in der Stimme, die von der Unwürdigkeit ablenken sollte, dass ich an die Wand gekettet war. Die Wärterin befahl uns, dass wir schweigen sollten, und ich war dankbar dafür, weil ich dadurch das letzte Wort behielt. Solch ein winziges Stück Kontrolle bedeutete mir alles – wirklich alles.

Später ertönte die Sirene, die signalisierte, dass meine nächste Mahlzeit durch den Schlitz geschoben wurde. Doch dieses Mal flüsterte jemand von der anderen Seite der Tür: »Im Brot.«

Ich setzte mich mit dem Tablett hin, zerriss langsam das Pitabrot und spähte ins Innere. Die Deckenkamera hatte ich immer im Hinterkopf. Da war es: ein kleines, fest gefaltetes Papier, eingewickelt in Plastik. Ich nahm mir vor, es im Schutz der Dunkelheit zu öffnen, steckte es in eines meiner Bücher, das ich zu lesen vorgeben würde, wenn es wieder hell wurde.

Hör auf, mit Reportern zu sprechen. Israel konstruiert hier eine Geschichte, in der Du während Deines ganzen Lebens von muslimischen Männern misshandelt und dann gezwungen wurdest, einer terroristischen Gruppe beizutreten. Sie wollen damit zeigen, dass Israel Dich gerettet hat und ihr Gefängnis Dir ein besseres Leben beschert hat. Du bist die einzige Gefangene, die Besuch von Reportern bekommt. Sie dürfen in Deine Zelle, das kann doch gar nicht sein! Denk mal darüber nach. Sie veröffentlichen Bilder von Dir an einem sauberen Ort mit vielen Büchern. Das ist eine Propagandakampagne, um zu zeigen, dass Israel eine wohlwollende Nation ist, sogar für Terroristen. Deiner Familie geht es gut. Sie schicken Dir ihre Liebe. Wir kämpfen noch darum, dass sie Dich besuchen dürfen. Iss diesen Zettel auf.

Auch ohne Unterschrift wusste ich, dass er von Jumana war. Das war der erste Hinweis darauf, dass es ihr gut ging. Ich konnte mich kaum an ihr Gesicht erinnern, aber ich vermisste sie. Ich wünschte, sie hätte etwas über Bilal geschrieben. Ein paar Neuigkeiten – oder auch nur seinen Namen. Oder wenigstens den Anfangsbuchstaben seines Namens. B ist am Leben, und es geht ihm gut. B schickt dir seine Liebe. Oder nur B.

Als es wieder dunkel war, steckte ich den Zettel in den Mund, kaute und schluckte ihn. Ich stellte mir vor, wie schrecklich ich auf diesen Pressefotos aussehen musste. Ich darf keinen Spiegel besitzen, aber ich weiß, dass meine Haare ohne Föhn kraus werden. Damals waren sie noch schwarz, und damals machte mir das noch etwas aus. Der Flaum über meiner Lippe war nicht gewachst, und meine Augenbrauen wirkten buschig. Wahrscheinlich sah ich genau so aus, wie sich Westler eine Terroristin vorstellen: ungepflegt, haarig, dunkel, hässlich. Aber es waren nicht diese Fotos, die mich störten. Es waren vielmehr diejenigen, die während meines Prozesses in der arabischen Presse erschienen waren, jene, die mich vor so vielen Jahren in Kuwait zeigten. Ich malte mir aus, dass meine Familie sie sehen würde. Wie sehr muss es meine Mutter geschmerzt haben.

Und doch treibt mich das nicht mehr um. In Gefangenschaft kann sich nichts bewegen, nicht einmal das Herz.

Nach Lena und der Frau aus dem Westen hatte ich sehr lange keine Besucher mehr. Mein Haar war um fünf Zentimeter gewachsen, als ich den nächsten Menschen zu Gesicht bekam. Die Wärterin kam, um mir ein Notizbuch und zwei Druckbleistifte zu geben. Sie hätte die Sachen einfach durch den Türschlitz schieben können, entschied sich aber dafür, den Würfel zu betreten. Sie meldete sich über den Lautsprecher, damit ich meine Sicherheitsarmbänder an der Wand befestigen konnte. Ich fragte mich, ob sie die Wärterin war, die mir die Nachricht hatte zukommen lassen. Sie durfte nicht mit mir sprechen, aber ich glaube, sie lächelte, als sie bemerkte, wie aufgeregt ich war, als ich die Lieferung auf meinem Bett sah.

Ich hatte lange dafür gekämpft, diese Utensilien zu bekommen. Aber jetzt überlegte ich mir, was ich schreiben sollte. Einen Brief vielleicht. Oder eine Geschichte! Ein Tagebuch! Gedichte? Sobald die Metalltür hinter ihr zugeknallt und ich von der Wand entriegelt war, nahm ich den Stift und schlug das Notizbuch auf.

Ich starre auf die nackten Seiten, möchte versuchen, meine Geschichte zu erzählen – alles, was ich Bilal anvertraut habe, und alles, was danach kam. Wie eine richtige Geschichtenerzählerin, mit emotionalen Höhen und Tiefen, obwohl ich mich an diese Emotionen nur dem Namen nach erinnere. Mein Leben kehrt in Bildern, Gerüchen und Tönen, nicht aber in Gefühlen zu mir zurück. Ich empfinde nichts.