Cover

Das Buch

Klare Grenzen zu setzen ist eine der wichtigsten Säulen bewusster Selbstfürsorge. Nur so können wir uns inmitten der ständig wachsenden Herausforderungen des Alltags Räume schaffen, in denen wir uns sicher fühlen und ganz bei uns selbst sind. Wie das endlich gelingt und worauf es dabei ankommt, zeigt Jayne Hardy. Klug und humorvoll vermittelt sie die besten Anregungen und Tipps, um die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und um zu definieren, was wir tolerieren möchten – und was nicht.

Das Motivationsbuch für mehr Lebensfreude, Selbstliebe und Durchsetzungsvermögen. Mit liebevoll illustrierten Ausfüllbögen zur Selbsterforschung (im E-Book zugänglich über Downloadlink).

Die Autorin

Jayne Hardy litt schwer unter Depressionen und machte dabei die Erfahrung, wie unglaublich wichtig es für die körperliche und seelische Gesundheit ist, sich endlich einmal um sich selbst zu kümmern. Die Autorin gründete daraufhin The Blurt Foundation, ein Unternehmen, das sich der Hilfe für Menschen mit Depressionen widmet. Über ihre eigenen Erfahrungen mit dieser Krankheit und mit dem Thema Selbstfürsorge hat sie auf BBC und bei TEDxBrum gesprochen. Sie schreibt u. a. für die Huffington Post, Grazia und The Guardian. Jayne Hardy lebt mit Tochter und Ehemann in Cornwall.

JAYNE HARDY

Das Selbstfürsorge-Projekt

Aus dem Englischen übersetzt
von Martin Bauer

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Making Space bei Orion Spring,
einem Verlag der Orion Publishing Group Ltd., London.

Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Empfehlungen sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft. Dennoch übernehmen die Autorin und der Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendwelcher Art, die sich direkt oder indirekt aus dem Gebrauch der hier beschriebenen Anwendungen ergeben. Bitte nehmen Sie im Zweifelsfall bzw. bei ernsthaften Beschwerden immer professionelle Diagnose und Therapie durch ärztliche oder naturheilkundliche Hilfe in Anspruch.

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Deutsche Erstausgabe 01/2021

Copyright © 2019 by Jayne Hardy

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Innenillustrationen: Dominic Hardy

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München,
unter Verwendung eines Motivs
von © Ekaterina Romanova/Getty Images

Herstellung: Helga Schörnig

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-26711-7
V001

www.heyne.de

Inhalt

Einleitung

1   Mit welchem Recht schreibe ich dieses Buch?

2   Was sind Grenzen und warum sind sie so schwer zu behaupten?

3   Platz schaffen für uns und unsere Bedürfnisse

4   Unseren Kindern (und dem inneren Kind) beibringen, wie man Platz schafft

5   Platz schaffen in Beziehungen

6   Platz schaffen im digitalen Zeitalter

7   Platz schaffen rund um die Arbeit

8   Platz schaffen in Kultur, Gesellschaft und Umwelt

9   Grenz-Notfälle

Ein persönlicher Brief an dich

Dank

Dommy und Peggy gewidmet.

Einleitung

Die Welt da draußen ist knochenhart, und wenn wir uns keinen Raum verschaffen und ihn verteidigen, werden wir von allen Seiten herumgeschubst – körperlich, geistig, emotional, kulturell und spirituell.

Was auch immer wir sagen, denken, zulassen und tolerieren, ist eng mit unseren Grenzen verbunden. Ebenso unsere Routinen, Gewohnheiten, Entscheidungen und Beziehungen. Unsere Grenzen sind die Schilder in unserem Leben, auf denen steht »Start«, »Halt«, »Hier bin ich«, »Darauf kannst du lange warten« oder »Kein Zutritt«. Da sich unsere Leben ganz natürlich berühren, müssen wir Grenzen ziehen – zwischen dem, was wir für akzeptabel halten, und dem Inakzeptablen. Diese Grenzen veranschaulichen, wer wir sind, wie wir uns verhalten, wofür wir uns verantwortlich fühlen und wie wir behandelt werden möchten. Wir alle haben diese Grenzen, die natürlich auch von der Natur unserer Beziehungen abhängen: zu unseren Eltern, Kindern, Partnern, Freunden, Kollegen und zu uns selbst. Manchmal sind diese Grenzen schwammig, manchmal werden sie verletzt oder niedergerissen – und ab und an behindern sie uns, statt uns zu beschützen.

Im Laufe unseres Lebens sammeln wir einen erheblichen Ballast an, der bestimmt, wie entschlossen oder halbherzig wir unsere Grenzen verteidigen. Jeder Rüffel, jedes Zuwerfen der Schlafzimmertür, jede Umarmung, jeder Tagebucheintrag, jede Entscheidung, jede Selbstbehauptung und jedes Nachgeben macht etwas mit unseren Grenzen. Die Konsequenzen unserer Handlungen – ob unsere Grenzen respektiert wurden oder nicht, ob wir fremde Grenzen respektierten oder nicht – beeinflussen, wie wir über Grenzen denken. Ob wir uns überhaupt klarmachen, dass es sie gibt oder wie nachgiebig, bestimmt, selbstbewusst, verbunden, isoliert, wahrgenommen oder mit Füßen getreten wir uns fühlen.

In einer idealen Welt wären wir uns alle darüber bewusst, wer wir tatsächlich sind und was uns bewegt, und wir könnten dies auch klar und effektiv kommunizieren. Doch meist trifft das Gegenteil zu. Mal wissen wir selbst nicht recht, wer wir sind und was uns bewegt, mal können wir unsere Bedürfnisse nicht angemessen mitteilen. Vielleicht haben wir Angst, die Erwartungen der anderen zu enttäuschen. Vielleicht hatten wir auch schon immer das Gefühl, den anderen im Weg zu stehen und überhaupt nicht zu zählen. Dieses Gefühl, bedeutungslos zu sein, prägt, wie wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen. Es beeinflusst, auf welche Jobs wir uns bewerben oder nicht bewerben. Es beeinflusst unsere Jas und Neins, unsere Beziehungen, die Art, wie wir unsere Kinder erziehen, wofür wir uns entschuldigen, wie wir uns halten, ob wir aktiv am Leben teilhaben oder uns, weil wir uns für klein und unbedeutend halten, ergeben und unser Schicksal akzeptieren, anstatt das Leben zu genießen.

Machen wir uns nichts vor: Es ist leichter, etwas über Grenzen zu lernen und sich klarzumachen, was sie für uns bedeuten, wenn wir das nur mit uns selbst ausmachen müssen. Knifflig wird es erst, wenn es gilt, diese Grenzen anderen Menschen gegenüber zu behaupten, auch in schwierigen Situationen. Denn dann kann es zu Ärger und Reibereien kommen, und wir müssen lernen, tief durchzuatmen und mutig zu unseren Überzeugungen zu stehen. Wir alle verdienen Grenzen, die uns beschützen, glücklich machen und gesund erhalten. Aber im Zusammenleben mit anderen neigen Grenzen dazu aufzuweichen. Daher müssen wir lernen, mit anderen so zusammen zu sein, dass es für uns gesund, angenehm und sicher ist. Wir wollen, dass andere glücklich sind, und sind mitunter sogar bereit, unser eigenes Glück dafür zu opfern. Doch es kann nicht unsere Aufgabe im Leben sein, zur Seite zu treten, uns wegzuducken oder aus dem Weg zu gehen, um anderen das Leben leichter zu machen. Wirklich nicht. Auch uns gebührt Platz. Auch wir dürfen uns freuen, uns wahrgenommen, anerkannt, gleichberechtigt, vom Leben angestrahlt und wertvoll zu fühlen.

Und jetzt stürzen wir uns kopfüber in diese Grenzkiste! In dieses Buch, das erklärt, was Grenzen sind, wie sie in verschiedenen Situationen gezogen werden und wie wir damit anfangen können, unseren Stand und unsere Stimme zu finden und manche Verhaltensweisen über Bord zu werfen, die wir im Lauf des Lebens übernommen haben. Du kannst während der Lektüre schon einmal üben, deine Grenzen zu behaupten. Vielleicht liest du das Buch in einem Rutsch durch und füllst erst dann die Arbeitsblätter aus. Oder du pickst dir die Kapitel heraus, die dich am stärksten ansprechen – zu bestimmten Bereichen deines Lebens, in denen du an schwammigen Grenzen leidest. Oder du machst die Arbeitsblätter zuerst, um herauszufinden, was momentan in deinem Leben die meisten Reibungen verursacht. Schreib ruhig Anmerkungen an die Seitenränder, unterstreiche Passagen oder leite Fotos davon an andere weiter, um später darüber zu diskutieren. Es ist dein Buch – lies es auf deine Art.

Jayne

PS: Du findest mich auch online. Schau einfach mal vorbei und sag Hallo.

Twitter   Instagram   @jaynehardy_

1   Mit welchem Recht schreibe ich dieses Buch?

Als ich mich zum ersten Mal mit dem Konzept von Grenzen auseinandersetzte, war es, als öffnete sich mir ein Fenster zu einer Parallelwelt: einer Welt, in der ich mich viel selbstbestimmter fühlte, in der ich viel ruhiger war und in der ich viel weniger das Gefühl hatte, alle würden auf mir herumtrampeln. Es war eine Welt, in der ich mitbestimmen durfte, in der ich wahrgenommen wurde und in der ich mich nicht fürchtete, den Status quo zu hinterfragen. Ich fand mein Rückgrat wieder, stand aufrechter, fühlte mich besser und hatte keine Angst mehr, Raum einzunehmen. Allerdings erfüllte mich leise Panik, was all das für jemanden wie mich bedeutete, der sein ganzes Leben lang versucht hatte, es anderen recht zu machen. Wie zum Teufel war ich nur von meinem früheren Wesen zu diesem grenzen-losen Ich gelangt?

Jenes Fenster in eine Parallelwelt mit magischerweise gesunden Grenzen öffnete sich während einer wirklich schwierigen Phase meines Lebens, und es brauchte noch sehr lange, bis ich mich innerlich so weit gefestigt fühlte, dass ich den Mut aufbrachte, tatsächlich die Grenzen zu errichten, die mich gesünder und glücklicher machten, ohne mir dabei unglaublich selbstsüchtig vorzukommen.

Grenzen sind zwiespältig: Sie können Unerwünschtes aussperren und uns beschützen, sie können uns aber auch beengen und einsperren. Den aktuellen Verlauf unserer Grenzen zu hinterfragen geht uns oft gegen den Strich, es widerspricht inneren Einstellungen, die irgendjemand irgendwann einmal geprägt hat. So lange ich denken kann, wollte ich immer ein »braves Mädchen« sein. Das klang nach einem hohen Lob, wenn es von meinen Eltern oder Lehrern kam, und so entwickelte ich sehr feine Antennen dafür, was es bedeutete, »brav« zu sein. Ich tat, was man mir auftrug, machte keine »Schwierigkeiten«, vermied, andere zu enttäuschen oder von ihnen getadelt zu werden. Das bedeutete aber auch, dass ich mein Selbstwertgefühl daran knüpfte, ob ich nun auch wirklich das begehrte Lob einheimste. Es lag mir sehr viel daran, dass man mich auf eine ganz bestimmte Weise wahrnahm, und ich wünschte mir vor allen Dingen, »gemocht« zu werden.

Niemand kann es jedem recht machen – und bei Gott, ich habe es versucht! Aber natürlich gab es immer wieder Leute, die mich nicht mochten, und dann ging ich jedes Wort, jeden Blick, jede Tat wieder und wieder im Geist durch, um endlich herauszufinden, was ich falsch gemacht hatte. Immer suchte ich den Fehler bei mir. Gleichzeitig unterdrückte ich die Frage, was ich dem anderen gegenüber empfand, ob ich ihn überhaupt leiden konnte oder nicht. Selbst was die Putzfrau des Nachbarn über mich dachte, konnte mich ewig beschäftigen.

Und so mutierte ich zum Chamäleon. Ich legte mir Rollen zurecht, in die ich in bestimmten Situationen hineinschlüpfte wie in Kleidung für verschiedene Anlässe. Diese Rollen waren stets auf diejenigen zugeschnitten, mit denen ich gerade zu tun hatte. Diese Schauspielerei führte dabei auch dazu, dass ich mich nirgendwo zugehörig fühlte. Das Dasein als Chamäleon ist verwirrend, weil man sich nie klarmacht, wer man wirklich ist, was man mag und was man denkt. Ein Chamäleon passt sich einfach an: Wenn meine Kumpels eine Band mochten, dann kaufte ich mir ihre Platten und schwärmte davon – selbst, wenn mir die Musik eigentlich nichts sagte. In meinem Bemühen, allen alles zu sein, gab ich mich selbst auf. Meine Identität ging mir komplett verloren. Ich versuchte, das zu werden, was andere von mir wollten und brauchten. Rückgrat? Fehlanzeige.

Es war eine fürchterliche Art zu leben. Ich ließ mir keinerlei Raum für Fehler oder die Orientierungslosigkeit, die sich beispielsweise während der Adoleszenz ganz natürlich einstellt. In jener Phase wurstelt man sich einfach durchs Leben – aber das ertrug ich nicht. Endlos konnte ich über Dinge nachgrübeln, die ich gesagt oder nicht gesagt hatte, über Dinge, die vor Ewigkeiten passiert waren. Ich fühlte mich für alles Mögliche schuldig – selbst für Sachen, mit denen ich überhaupt nichts zu tun hatte. Schuldgefühle wurden zu meinem Generalbass, und ich tat alles, um sie zu vermeiden.

In meinen Augen war ich für Dinge verantwortlich, mit denen ich absolut nichts zu schaffen hatte. Einerseits ließ ich andere Menschen frei über mein Leben bestimmen, andererseits überschätzte ich meine Bedeutung für das Leben anderer maßlos. Ich hatte mich in einem Entschuldigungs-Paradoxon verheddert. »Entschuldigung« wurde zu meinem meistbenutzten Wort. Du hast mich angerempelt? Sorry, dass ich dir im Weg stand. Ich sagte etwas, das dir nicht gefiel? Tut mir echt leid, ich meinte das nicht so. Ich tat etwas, das du missbilligst? Entschuldige vielmals, es kommt nie wieder vor. Sorry, ich muss aufs Klo. Tut mir leid, dass du einen Umweg fahren musst, damit ich zur Toilette gehen kann. Entschuldigung, aber ich muss echt … Sorry, Sorry, Sorry.

Als ich Anfang zwanzig war, spitzte sich die ganze Sache zu und meine ewigen Entschuldigungen wurden zu einem unheilvollen »Entschuldigung, dass es mich gibt«. Ich weiß also aus eigener Erfahrung, dass der Versuch, sich total zu verbiegen, es auf Teufel komm raus allen recht zu machen und Verantwortung für Sachen zu übernehmen, für die man überhaupt nichts kann, geradewegs in den Abgrund führt. Wer Ja sagt, obwohl er Nein meint, staut unweigerlich Aggressionen auf. Die Schotten, hinter denen ich meinen Zorn zurückhielt, wurden immer dann undicht, wenn ich mit meinen Freunden etwas trinken ging. Meine Schüchternheit führte dazu, dass ich zu viel trank, um mich wohler zu fühlen – doch regelmäßig brachen dabei alle Dämme und ich wurde zu einer wütenden, angriffslustigen und verletzenden Besoffenen.

Wer Ja sagt, obwohl er Nein meint, staut unweigerlich Aggressionen auf.

Am nächsten Tag quälten mich dann ein teuflischer Kater und die Erinnerung an all die Dinge, die ich möglicherweise gesagt oder getan hatte. All das gab meiner ohnehin schon starken Neigung zu Introspektion und Entschuldigungen weitere Nahrung. Ich begann, mich zu verabscheuen, entschuldigte mich für alles und jedes und hasste mein Leben. Denn auch mein Job machte mir null Spaß – und auch das war eine Folge fehlender Grenzen.

Als sich meine Jugend dem Ende zuneigte, sollte ich mich entscheiden, was ich später einmal tun wollte. Aber ich hatte keinen Schimmer, was mir gefallen könnte. Als Kind wollte ich Tierärztin werden – bis ich herausfand, dass man als Tierärztin operieren muss und nicht nur immer mit süßen Tierchen kuschelt. Danach befand ich, es könnte okay sein, als Lehrerin zu arbeiten, aber dafür hätte ich mich an einer Uni einschreiben müssen, und dagegen hatte mein damaliger Freund etwas. Er meinte, ich dürfe nicht einfach in die ferne Stadt abschwirren. Also ließ ich auch diese Pläne sausen, einfach so. Danach hatte ich gar keinen Plan mehr. Damals gab es noch kein Internet, und ich hatte schlicht keinen Schimmer, welche Optionen es sonst noch gegeben hätte. Die Karriereberater in der Schule empfahlen, entweder zu studieren, und sei es nur der Erfahrung wegen, oder zum Militär zu gehen.

In meiner typischen grenzen-losen Art überließ ich die Entscheidung schließlich meinem Tutor. Ich blieb meinem Verhaltensmuster also absolut treu. Ich fragte ihn, was ich tun solle, und er meinte, mit meinen Mathenoten solle ich es doch mal mit Buchhaltung versuchen. Und das tat ich dann.

Doch ach, die Buchhalterei war nichts für mich. (Überraschend, was?) Gleichzeitig hatte ich aber keinen Schimmer, was mir gefallen könnte. Ich kündigte und ging an die Uni, aber auch dort stolperte ich über meine nicht existenten Grenzen. Ich ging an den meisten Abenden weg, selbst wenn ich eigentlich gar nicht wollte, einfach, weil das alle taten. Dann trank ich zu viel und gab zu viel Geld aus. Ich lief einfach den anderen hinterher. Mir fehlte Struktur, mein Studium interessierte mich nicht besonders, ich ließ mich treiben. Und ich spürte, wie es mit meiner geistigen Gesundheit bergab ging. In den Osterferien fuhr ich nach Hause und kehrte danach nur noch an die Uni zurück, um meine Sachen zu holen.

All diese (und weitere) Episoden mitfühlend zu betrachten, fällt mir schwer. Leider gibt es keinen Knopf zum Zurückspulen, keinen Flux-Generator, und es macht mich traurig, wie ich damals andere Menschen über mein Leben bestimmen ließ. Ich wollte es nach wie vor allen recht machen und versteckte meine Qualen hinter einem Lächeln. Doch ich fühlte mich zunehmend abgeschottet und enttäuscht vom Leben. Ich hatte das Gefühl, wie ein Halm im Wind hin und her zu schwanken, vor und zurück, und niemals reichte das, was ich tat oder war. Ich wusste weder, wer ich war, noch, was ich wollte, sondern fühlte mich lediglich von den Wünschen, Träumen und Leidenschaften anderer Menschen hin und her getrieben. Alles geriet zunehmend außer Kontrolle und wurde stressig. Und schon bald erhob die Depression ihr böses Haupt und schlug mich nieder.

Ich stürzte vollends ab, landete hart und schämte mich zutiefst dafür. Das Leben war nur noch eine Qual. Ich brachte es nicht mehr fertig, meine lächelnde Maske aufzuziehen, und schottete mich von der Welt ab. Allein fühlte ich mich wohler als in Gesellschaft anderer Menschen, denen ich es ja doch nur recht zu machen versuchte. Zugleich empfand ich das Alleinsein als ziemlich grässlich, weil ich mich selbst kein bisschen leiden konnte. Selbsthass ist extrem unbehaglich, weil es von ihm keine Pause gibt. Man steckt vierundzwanzig Stunden am Tag in seiner Haut, ohne Unterlass.

Depression ist eine grausame Krankheit, weil dein Ich dabei mit sich selbst im Krieg liegt. Dein Körper, der so effizient bewerkstelligt, dass du am Leben bleibst, stößt auf einen Verstand, der dich mit negativen, lähmenden und erschreckenden Gedanken bombardiert. Die Hoffnungslosigkeit und die Isolation werfen dich in eine bedrohliche Labilität. Ich habe solche Zustände über längere Phasen erlebt und falle noch immer gelegentlich in sie zurück. In dieser pechschwarzen Finsternis schlugen meine Grenzen oft ins andere Extrem aus, wie ein Pendel. Luftige und unklare Grenzen ersetzte ich durch steinerne Wälle und stahlbeschlagene Tore, die alles draußen hielten. Mit dem Recht-machen war es nun vorbei – aber ich hatte auch alles Schöne ausgeschlossen. Diese finsteren Zeiten, die ich bis heute fürchte, waren mein Ruin – aus dem ich neu auferstand (auch wenn es mir widerstrebt, ihnen das gutzuschreiben).

Ich brauchte sehr lange, bis ich lernte, meine geistige Gesundheit zu pflegen. Es war ein Prozess kleiner Anpassungen und Korrekturen. Hauptsächlich nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« probierte ich neue Dinge aus und schaute, ob sie helfen oder nicht. Grenzen und Selbstfürsorge gehen Hand in Hand. Ohne Grenzen mag uns klar sein, wie wichtig Selbstfürsorge wäre, aber wir bewahren uns nicht den Raum, den es für sie braucht. Bei mir bildete Selbstfürsorge zwar die Ausgangsbasis, von der aus ich mich selbst so lange freundlich behandelte, bis die negative innere Stimme immer leiser wurde. Aber Grenzen wurden zu den tragenden Wänden, innerhalb derer ich meine körperlichen, geistigen, emotionalen und digitalen Freiräume schützte. Ich wünschte, ich könnte behaupten, es wäre leicht gewesen. Aber leider stimmt der alte Sinnspruch, wonach uns gute Dinge nicht in den Schoß fallen.

Sobald wir anfangen, Grenzen zu ziehen, wo vorher keine nennenswerten waren, verändern sich unsere Beziehungen – oftmals zum Besseren, weil die Balance wiederhergestellt wird. Andere Beziehungen wiederum zerbrechen an gesunden Grenzen. Denn leider halten manche Menschen es nicht aus, wenn man Gerechtigkeit einfordert. An diesem Punkt des Prozesses trennt sich die Spreu vom Weizen, am Ende bleiben nur die wertvollen, aufrichtigen und ehrlichen Beziehungen übrig. Ja, es tut weh, alte Gewohnheiten abzulegen und neue zu übernehmen. Man begibt sich auf unbekanntes Terrain, wenn man plötzlich anfängt, seine Meinung laut und ehrlich zu äußern. Dafür braucht es Mut; Mut, den wir nicht immer aufbringen und an den auch andere sich erst gewöhnen müssen. Natürlich dürfen wir deren Grenzen dabei nicht übersehen und müssen vorsichtig erkunden, wie wir ihre Grenzen und unsere miteinander in Einklang bringen.

Heute schwebt mein Grenzpendel irgendwo in der Mitte. Manchmal muss ich aufgrund meiner Neigung, es anderen recht machen zu wollen, in neuen Situationen nach wie vor an meinen Grenzen arbeiten. So etwa, nachdem ich Mutter geworden war oder die Leitung eines Teams übernommen hatte. Ich musste bewusst nachdenken, meine Grenzen teilweise neu definieren und intensiv kommunizieren. Aber ich lerne ständig dazu und werde immer besser. Heute führe ich gesunde Beziehungen und bin mir meiner selbst bewusster: meiner Träume, Einstellungen, moralischen Ansichten und meiner Möglichkeiten.

So weit der kurze Abriss, wo ich herkomme, wo ich jetzt stehe und warum ich dieses Buch schreibe. Das Phänomen kennen Sie bestimmt: Kaum vertieft man sich in eine Sache, nimmt man sie plötzlich überall im Alltag wahr. Mit dieser Grenzkiste geht es mir genauso. Seit sie mein Thema ist, fallen mir überall »Grenzkonflikte« auf, über die ich liebend gern nachdenke und auch rede. Mein Umfeld kann davon ein Lied singen. Aber ich lerne dabei stetig hinzu. Und Grenzen sind ja auch extrem wichtig. Sie bilden die Grundlage für unsere Beziehungen mit jedem und allem. Natürlich ist das ganze Konzept mit den Grenzen nicht neu, doch es gibt große Unsicherheiten darüber, wie Grenzen genau funktionieren und wie man sie idealerweise errichtet. Immer mehr Menschen merken allmählich, dass sie Gewohnheiten haben, die sie nerven oder einschränken. Vielleicht kann ich ja dank meiner schwierigen Erfahrungen und mit diesem Buch dazu beitragen, dass du dich in Zukunft selbstbewusster, mächtiger und durchsetzungsfähiger fühlst.