Cover

Das Buch

Die 17-jährige Emma Nolan wünscht sich nichts sehnlicher, als mit ihrer Freundin Alyssa zum Abschlussball ihrer Highschool zu gehen. Immerhin sind die beiden schon seit über einem Jahr heimlich ein Paar. Es gibt nur ein Problem: Emma verrät beim Kartenverkauf, dass ihr Date ein Mädchen ist. Und das Festkomitee droht mit Absage des Balls! Im Komitee sitzt zu allem Übel Alyssas Mutter, die keine Ahnung von der Beziehung ihrer Tochter hat.

Als eine lokale Zeitung über den Vorfall berichtet, ruft das die beiden Broadwaystars Dee Dee und Barry auf den Plan. Die sind an Publicity in eigener Sache interessiert und verursachen vor allem noch mehr Aufruhr. Dabei gerät fast aus dem Blick, um was es eigentlich geht: die große Liebe zweier Mädchen.

Die Autorin

Saundra Mitchell hat sich bereits als Autorin von zahlreichen Kinder- und Jugendbüchern einen Namen gemacht. 20 Jahre lang arbeitete sie außerdem als Drehbuchautorin und Produzentin für Film und Fernsehen. In ihrer Freizeit beschäftigt sich Saundra Mitchell mit Fan-Fiction und Geschichte sowie mit ihrer Familie.

Ihre Mitautoren Matthew Sklar, Chad Beguelin und Bob Martin komponierten und schrieben das erfolgreiche Broadway-Musical THE PROM.

Saundra Mitchell

mit Bob Martin, Chad Beguelin

und Matthew Sklar

THE PROM

Roman

Aus dem Amerikanischen von Melike Karamustafa

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Prom bei Viking, Penguin Randomhouse LLC, New York

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Copyright © 2019 by Chad Beguelin,

Bob Martin, Matthew Sklar

Copyright © 2021 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany

Redaktion: Martina Vogl

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,

unter Verwendung von einer Illustration von

Shutterstock Koya 979/bob warner

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26731-5
V001

Ich liebe dich, Mommy.

Danke, dass du mir die Welt zu Füßen gelegt hast.

SM

Broadway Score! landet ein Interview mit Dee Dee Allen und Barry Glickman am Set ihres neuen Musicals ELEANOR!

Glickman und Allen haben mich in ihr Allerheiligstes eingeladen – den Backstage-Bereich des Alliance Theaters. Um uns herum sind überall die Vorbereitungen für die Show sichtbar. Auf einer Reihe Styroporköpfe sind die stahlgrauen Perücken aufgereiht, daneben die Zahnprothesen, mit deren Hilfe sich Allen in Mrs. Roosevelt verwandelt. Und in einer Ecke steht Franklin D. Roosevelts Rollstuhl, auf dem eine Zigarre (echt) und eine Brille (fake) liegen. Trotz des ernsten Hintergrunds des Stücks sind Drama-Desk-Gewinner Glickman und Tony-Preisträgerin Allen bester Laune.

BS!: Was bedeutet es für eine der Grandes Dames des Broadways …?

BG: Das muss eine Frage für mich sein, Dee Dee!

DA: Viel Glück damit, mich aus dem Rampenlicht zu drängen, Schätzchen!

[Wir lachen, und ich formuliere die Frage noch einmal neu.]

BS!: Was bedeutet es für zwei Broadway-Größen wie Sie, an einem Stück wie ELEANOR zusammen zu arbeiten?

DA: Ich habe wirklich das Gefühl, Leben zu verändern. Geht es dir nicht ähnlich, Barry?

BG: Doch. Mir ist klar geworden, dass es keinen Unterschied zwischen einem Star und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gibt.

DA: Wenn im 2. Akt meine Tuberkulose ausbricht, werden selbst Zuschauer, die innerlich tot sind, von ihren Sitzen aufspringen.

BG: Und in Tränen aufgelöst sein! Wenn das Publikum das Theater nicht zutiefst deprimiert verlässt, haben wir unseren Job verfehlt.

DA: Es geht um Macht. Kraft im wahrsten Sinne des Wortes.

BG: Ich möchte ja nicht eine gewisse Inszenierung zitieren, die einen Produzenten, einen Popstar und einen Comicbuchhelden ihre Karriere gekostet haben. Aber so ist das nun mal – mit großer Kraft folgt große Verantwortung.

DA: Und ich denke, wir sind großartig genug, damit umgehen zu können.

(Fortsetzung des Interviews auf Seite 2)

Auszug aus einer New-York-Times-Theaterkritik

Wenn Franklin D. Roosevelt sich erheben könnte, würde er es hierfür nicht tun

… Dee Dee Allen ergreift von Eleanor Roosevelt auf die gleiche Art Besitz wie der Dämon von der monströsen Puppe Annabelle in den gleichnamigen Horrorfilmen – nur mit weniger Würde und Charme. Anstatt dem Publikum den Aktivismus der First Lady nahezubringen, wirft sie ihm diesen entgegen: als Molotowcocktail in den Farben der amerikanischen Flagge, getränkt in klebrigen Sirup und in Flammen gesetzt.

Doch wer nun glaubt, dass Glickmans Auftritte eine Atempause von Allens schrillen Szenen-Kapriolen bieten, hat sich getäuscht. Glickmans Franklin D. Roosevelt ist die wohl beleidigendste fehlgeleitete und anstößige schauspielerische »Leistung«, die der Verfasser dieser Theater-Kritik jemals ertragen musste. Der alternde Glickman besitzt weder das Feuer noch die Finesse des vormaligen Präsidenten, und seine peinlichen Bemühungen um jenen aristokratischen Mid-Atlantic-Akzent verlieren sich irgendwo westlich von New Jersey.

Sollten Sie vorgehabt haben, sich eine Eintrittskarte zu besorgen, tun Sie sich einen Gefallen: Suchen Sie lieber nach einer Möglichkeit, sich Tuberkulose einzufangen. Es ist ein schrecklicher Tod, aber um Welten besser, als dieser Eleanor dabei zuzusehen, wie sie sich im Zeitlupentempo selbst demontiert.

1. Edgewater, Indiana

EMMA

Notiz für mich: In Indiana nicht homosexuell sein.

Um genau zu sein, ist das eine Warnung an alle anderen. Ich bin bereits homosexuell in Indiana, und – Achtung, Spoiler! – es ist zum Kotzen.

Ich habe es dem Internet erzählt, bevor ich es meinen Eltern gesagt habe – über meinen YouTube-Channel Emma singt. Ich, meine Gitarre und in erster Linie Cover-Nummern irgendwelcher Songs, die gerade angesagt sind. Die Leute hinterlassen mehr Kommentare, wenn man Lieder hochlädt, die sie kennen, und das gefällt mir. Ich habe nicht viele Freunde, und diese kleinen digitalen »Hallos« geben mir das Gefühl, weniger allein auf der Welt zu sein.

Es geht mir nicht darum, entdeckt zu werden oder so. Erstens funktioniert das sowieso nie, und zweitens versetzt mich der Gedanke, berühmt zu sein, in Panik. Ich habe ohnehin schon das Gefühl, dass jeder über mich Bescheid weiß. Was vermutlich daran liegt, dass es nicht nur ein Gefühl, sondern eine Tatsache ist. Einmal nicht aufgepasst, und plötzlich war es in aller Munde.

Und das ist passiert.

Stellt es euch bildlich vor: der Sommer vor meinem ersten College-Semester. Stellt euch mich vor: unscheinbar und schüchtern, eine Nerd-Brille mit breitem Rahmen, die meinen Augen etwas Eulenhaftes verleiht. Ich nehme am Picknick einer Jugendgruppe teil, das von der Vineyard – einer Kirche – organisiert wurde. Ihr wisst schon, eine dieser neumodischen christlichen Einrichtungen mit Marketingkonzept und einem jungen, schlagzeugspielenden Pastor, die den Lutheranern und den Freien Baptisten und all den anderen traditionellen Gotteshäusern, die an jeder Ecke in Edgewater, Indiana, stehen, mächtig auf die Nerven gehen. Die Schilder mit Sprüchen wie WAS UNS NOCH FEHLT? DU! erschienen mit der Eröffnung von Vineyard noch langweiliger als vorher.

Was natürlich zur Folge hat, dass sämtliche Teenager nur noch dorthin gehen wollen. Rebellion auf höchster Ebene, oder? Nein, Mom, ich will nur noch in die coole Kirche, wo ich in Jeans zum Gottesdienst darf! Und dass alle Einladungen zu Jugendgruppen-Veranstaltungen, die früher Punsch und Kuchen in trostlosen Gemeindehäusern bedeuteten, sich auf einmal in große Picknicks verwandelt haben – allerdings mit einem genauso schlechten Büfett. Immerhin handelt es sich nach wie vor um eine Kirchenveranstaltung.

Was den Teller Fleischbällchen in Barbecuesauce in meiner Hand erklärt. Ich habe zu viele Horrorgeschichten über Kartoffelsalat und Eiersalat und Nudelsalat, um genau zu sein, jede Art Salat, der mithilfe von Mayonnaise zusammenhält, gehört; und außerdem habe ich mal irgendwo gelesen, dass es sich bei diesen kleinen Snackkarotten in Wirklichkeit um aussortierte regulär große Karotten handelt, die so lange geschält und gebleicht werden, bis sie einer supermarkttauglichen Norm entsprechen. Beides also ein absolutes No-go.

Ein Tontopf mit heißen Fleischbällchen schreit zwar nicht gerade Sommer-Spaß (außer vielleicht in Schweden), aber der Inhalt scheint mir einigermaßen sicher. Ich habe mir den Teller ziemlich vollgeschaufelt und überlege nun, wie ich essen soll, ohne mich komplett vollzusauen. Diese Mini-Frikadellen sind immun gegen Plastikbesteck, dem einzigen Werkzeug, das mir zur Verfügung steht. Die Schlange am Büfett ist lang, und ich habe keine Lust, mich noch mal anzustellen, nur um an einen Löffel zu kommen. Genauso wenig steht mir der Sinn danach, mehr Aufmerksamkeit als nötig auf mich zu ziehen, indem ich mich mit der Entschuldigung Ich hole mir nur schnell einen Löffel! vordrängle. Selbst wahnsinnig hinreißende Personen handeln sich schiefe Blicke ein, wenn sie die Schlange bei einem Kirchenbüfett-Schrägstrich-Picknick umgehen, und ich bin im besten Fall auf seltsame Weise niedlich.

Und ganz abgesehen davon, wer bitte isst Fleischbällchen mit einem Löffel? »Frikadellen-Löffelchen« wäre nicht der erste Spitzname, mit dem man mich bedenkt, aber in diesem Augenblick fühlt es sich an, als wäre es der schlimmste.

Spoiler-Alarm: Es ist nicht der schlimmste. Aber darauf komme ich später zurück.

Ich stehe also dort und versuche mit allerlei akrobatischen Verrenkungen, Essen in mich reinzuschaufeln, und sie läuft an mir vorbei. Braune Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fallen, dunkle Augen, und sie hält inne.

Ich halte inne.

Die Welt hält inne.

Wahrscheinlich hält das gesamte Universum inne; ich kann die physikalischen Zusammenhänge nicht erklären.

Ich kann nur die Magie erklären, denn genau in diesem Moment sieht Alyssa Greene mich an und verwandelt sich in eine Göttin. Eine brillante, liebenswürdige, kluge, witzige Göttin mit schimmerndem Lipgloss, den ich auf der Stelle probieren möchte.

Leute, ich bin nicht überrascht, dass ich mich Hals über Kopf in Alyssa Greene verknalle. Ich mochte schon immer Mädchen. Früher war ich eine klitzekleine Baby-Lesbe. In der sechsten Klasse war ich vollkommen verrückt nach Madison von Talk to the Hand, und das nicht etwa, weil ich mit ihr befreundet sein wollte. Und jetzt bin ich eine normal große Teenager-Lesbe. Ich fantasiere über Ariana Grande (auf die unkeusche Weise), und ich denke, wenn ich die Gelegenheit bekäme, Lara Jean aus To All the Boys I’ve Loved Before kennenzulernen, könnte ich ihr mit der Fortsetzung Alle Mädchen, die sie in den Schatten gestellt haben weiterhelfen.

Überrascht bin ich allerdings, als Alyssa über die Arme und Teller der Büfett-Schlangen-Steher am Desserttisch hinweggreift, mir einen riesigen Spieß reicht und mit einem strahlenden Lächeln kommentiert: »Das ist das Einzige, was funktioniert.«

Ich bin nicht überrascht, dass sie nett ist, umso mehr jedoch, dass sie mich überhaupt wahrnimmt. Dass ich für eines der schönsten Mädchen, die jemals über diese Erde gewandelt sind, sichtbar bin. Und damit reißen die Überraschungen noch nicht ab, denn als Nächstes berührt sie meine Hand. Und bleibt neben mir stehen, während ich Fleischbällchen nach Fleischbällchen pfähle. Sie beißt sogar ab, als ich ihr eines hinhalte. DORT. WÄHREND EINES KIRCHENPICKNICKS.

Auf der Wiese spielen einige Leute Cornhole – tatsächlich der offizielle Name eines Spiels, bei dem man mit kleinen, mit Mais gefüllten Säckchen auf eine erhöhte Plattform zielt –, während aus den Lautsprechern dank Pastor Zaks iPhone-Playlist Christen-Rock dröhnt. Der Himmel ist endlos und leuchtet in perfektem Blau, und Alyssa speichert ihre Telefonnummer in mein Handy ein. Dann fordert sie mich auf, ihr eine Nachricht zu schicken, damit sie meinen Kontakt ebenfalls hat.

In jener Nacht habe ich ein Taylor-Swift-Cover für Emma singt aufgenommen. Ich fühlte mich so fantastisch und zuckerwattemäßig wunderbar, dass ich der Welt außerdem mitteilte, dass ich mich in ein wunderschönes Mädchen verliebt habe. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Ohne zu zögern. Ich lud den Track hoch, wählte ein Coverbild für mein Video, auf dem ich halbwegs nett aussah, und ging ins Bett.

Meine Mutter weckte mich.

Eines Tages – da bin ich mir sicher – wird das Ganze eine urkomische Geschichte hergeben. Eines Tages, aber nicht in jenem Moment. Sie rüttelte mich wach und wedelte mit einem Ausdruck meiner YouTube-Seite vor meinem Gesicht herum. Und als sie mich aufgebracht fragte »Was ist das?«, konnte ich nicht mehr sagen als »Ich weiß es nicht!«, da ich es tatsächlich nicht wusste.

»Wir haben dich anders erzogen!«, schrie sie.

»Wie?«, fragte ich verständnislos zurück, denn, wie bereits angemerkt, war ich gerade aus einem komatösen Schlaf erwacht, indem mir jemand ein Stück Papier um die Ohren haute.

Meine Mutter richtete sich zu ihrer vollen, wenig beeindruckenden Größe von einem Meter fünfundsechzig auf. »Du weißt genau, wovon ich spreche, Emma.«

Tat ich nicht. Sie haben mich nicht dazu erzogen … das Internet zu nutzen? Videos von mir in meinem absolut umwerfenden lachsfarbenen Pyjama, den mir meine Granny zu Weihnachten geschenkt hat, zu posten?

Okay, nach ein paar Sekunden kam mein rostiges Gehirn langsam in Gang. In der vergangenen Nacht hatte ich ein Video gepostet, das vor schamloser, ungefilterter Liebesbekundungen für ein Mädchen, das mir einen Marshmallow-Spieß gereicht hatte, nur so triefte. (Und einer – wenn ich das an dieser Stelle mal so sagen darf – durchaus passablen Interpretation von »Our Song«.)

Nachdem ich es gepostet hatte, musste irgendwer im Ort den Clip gesehen und – da seine sensiblen Gefühle zutiefst verletzt waren – ohne zu zögern meine Mutter informiert haben. (Die Profilseite meines Accounts, die Mom ausgedruckt hatte, sah aus wie ein Rezept für knusprigen Ramen-Salat – keine Chance, dass sie das ohne Hilfe hinbekommen hatte.)

Im Nachhinein nehme ich an, dass ich in diesem Moment ganz einfach zu perplex war, um Angst vor meinen Eltern zu haben, von denen ich weiß – und das ist ein Fakt, an dem nicht zu rütteln ist –, dass sie bereits ihr Leben lang Mitglieder einer Kirche sind, die Homosexualität offiziell zutiefst verabscheut, in der Praxis aber »zu nett« ist, um sich darüber in der Öffentlichkeit zu äußern. Vermutlich deutete ich ihr Schweigen als Einverständnis – was historisch gesehen schon immer eine extrem schlechte Strategie war – und sagte die Wahrheit.

»Ich mag sie einfach.«

»Nun, dann kannst du auch einfach damit aufhören«, zischte sie, als könnte ich meine Homosexualität kündigen wie ein Netflix-Abo. »Nicht in diesem Haus! Nicht unter meinem Dach!«

Wäre dies hier eine herzerwärmende Schnulze, käme nun der Teil, in dem ich erklären würde: Ja, eine Zeit lang war es schwer. Aber nach einer Weile erinnerten sich meine Eltern daran, dass ich ihr geliebtes – und einziges! – Kind war und sie mich bedingungslos liebten. Sie traten dem Freundeskreis »Eltern homosexueller Kinder« bei und fingen an, peinliche T-Shirts mit der Aufschrift FREE MOM HUGS und FREE DAD HUGS zu tragen, mit denen sie auf Pride Parades herumliefen. Ich habe ihnen meine Freundin vorgestellt, und als wir unseren Abschluss in der Tasche hatten, hörten sie auch damit auf, von ihr als meiner »besten Freundin« zu sprechen.

Sorry. Schnulzenfreie Zone.

Wochenlang diskutierten sie: Besserungsanstalt oder Vertreibung. Bis sie mich schließlich mitsamt meiner Gitarre und meinen Schulbüchern vor die Tür setzten und mich zur Herausgabe meines Schlüssels aufforderten. Meine Klamotten, mein Laptop, der Karton mit Geburtstagskarten, die ich seit meinem sechsten Geburtstag gesammelt hatte – nun ja, nach allem, was ich gehört habe, wurde verbrannt, was sie nicht spenden konnten. Was für Drama Queens, oder?

Seitdem lebe ich bei meiner Granny Nan, zwei Blocks vom Haus meiner Eltern entfernt, in Edgewater, Indiana. Ich bin die einzige bekennende Homosexuelle an meiner Schule, und es ist eine gute Sache, dass mir mein YouTube-Kanal geblieben ist. Er ist auf eine beinahe schon aggressive Weise durchschnittlich, und ich weiß, dass ich damit niemals viral gehen werde. Aber ich habe ein paar Subscribers, und ihre Kommentare fühlen sich an, als seien sie meine Freunde. Gleichgesinnte, homosexuelle Freunde. Ich brauche sie. Ich brauche sie so sehr, dass ich sie wie QUILTBAG-Pokémon behandle: Ich muss sie alle fangen.

Es gibt Orte, an denen es in ist, out zu sein. New York, San Francisco … imaginäre Orte, weit, weit entfernt von hier. Doch Indiana ist keiner dieser Orte. Also ja, mein Ratschlag an euch lautet: Wenn ihr es irgendwie vermeiden könnt, seid in Indiana nicht homosexuell.

Hier gibt es nichts für euch – außer großen Kummer.

2. Edgewater, Indiana

ALYSSA

Ihr seid vermutlich noch nie hier gewesen, also lasst mich euch sagen, Indiana ist wunderschön.

In manchen Nächten scheint der Mond hinter den Wolken so hell, dass der Himmel wie Perlmutt schimmert. Wenn ich um fünf aufstehe, um in die Schule zu fahren, sind die Straßen von silbrig glänzendem Nebel gesäumt. Kurz bevor die Sonne aufgeht, wenn mein Bus nach links auf die State Road 550 abbiegt, färbt sich alles lila, dann lavendelfarben, dann pink.

Im Sommer wimmelt es hier nur so vor Glühwürmchen. Im Wald gibt es einen kleinen Teich, der klar genug ist, um darin zu schwimmen. Entlang der Zäune wachsen Himbeeren, Maulbeeren und Brombeeren, an denen sich jeder bedienen kann. Der Herbst taucht die Landschaft in die reinste Farbenpracht, und die Apfelbäume in den Obstgärten strotzen vor reifen Früchten. Und habt ihr schon mal heißes Schmalzgebäck mit Apfelbutter probiert? Zum Sterben gut!

Der Winter sieht bei uns aus wie auf einer dieser stilisierten Weihnachtskarten. Sanft geschwungene Felder unter einer weißen Decke, das Flüstern der Schneeflocken und Nächte so dunkel, dass man die Milchstraße am Himmel erkennen kann. An klaren Tagen scheinen sich die Felder bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Eine glitzernde silberne Weite, die in einen eisig blauen Horizont übergeht.

Indiana bedeutet kleine Orte, Paraden zum Vierten Juli und Basketball. Viel Basketball. Viel zu viel Basketball, um genau zu sein. Eine Art staatlich verordneter Sport-Schrägstrich-Religion. Wenn du es bis in die Highschool schaffst, ohne vorher den IU Hoosiers oder den Purdue Boilermakers ewige Treue geschworen zu haben, werfen sie dich spätestens dann den Wölfen zum Fraß vor. (Eine Ausnahme wird nur für die Fighting Irish gemacht. Die Footballmannschaft von Notre Dame zu verehren, ist erlaubt, allerdings macht man sich damit auch immer ein wenig verdächtig.)

In Edgewater geht kein Weg daran vorbei, unser Schulteam, die James Madison Golden Weevils, zu unterstützen. Zum Schuljahresende veranstalten wir nicht etwa einen Homecoming-Ball zu Ehren des Football-Teams. Nein. Das steht in der Tabelle an drittletzter Stelle, und damit ist es für uns so gut wie tot. Homecoming feiern wir für das Basketball-Team. Die Prom-Party ist für das Basketball-Team. Die Treffen zum Einschwören der Mannschaft vor einem Spiel, der Verkauf von Selbstgebackenem, Geschenkpapier und riesigen Popcorn-Packungen in verschiedenen Geschmacksrichtungen – das alles tun wir einzig und allein für den Basketball. Go Golden Weevils!

Folglich ist das Basketball-Team auch der Grund dafür, dass die Tickets zum Prom-Ball strikt rationiert sind. Mit der Universitätsauswahl (erste bis dritte Mannschaft), der Junior-Auswahl (zwei Mannschaften) und dem Freshman-Team (vier Mannschaften) gibt es mindestens hundertfünfzig Spieler mit höchstwahrscheinlich hundertfünfzig Dates, und der Bezirksfeuerwehrchef hat festgelegt, dass sich nicht mehr als vierhundert Leute gleichzeitig in der Turnhalle unserer Highschool aufhalten dürfen.

Folglich verfügt die ZKA – die »Zukunft der Kornkammer von Amerika« –, wenn sie ihren Tisch zum Verkauf der Abschlussball-Tickets in der Hall of Champions (aka die Eingangshalle, in der alle Pokale ausgestellt sind) aufbaut, über drei Gegenstände:

1. Eine Geldkassette. Nur Bares ist Wahres. Versuch gar nicht erst, einen Scheck mitzubringen. Die ZKA interessiert sich nicht für die hübschen blumenberankten Schecks, die deine Mom extra für besondere Momente wie diesen in der Schublade aufbewahrt.

2. Einen Stapel Eintrittskarten, die vom einzigen Schüler in dieser Schule entworfen wurden, der gut mit Photoshop umgehen kann. (Gut ist dabei das Schlüsselwort; jeder hier weiß, wie man einen Filter für Instagram über sein Bild legt, aber wenn es um den Text geht, sieht das normalerweise so aus, als hätte ein Subreddit eine Typo-Vergiftung erlitten und würde Papyrus und Comic Sans gleichzeitig auskotzen.)

3. Die Liste. Die Liste hat zwei Spalten und enthält die folgenden Informationen: deinen Namen. Den Namen deines Dates. Beide untrennbar miteinander verbunden; die Karten sind nicht übertragbar.

Die Liste ist der Grund, aus dem ich eine sehr ernste Unterhaltung über den Abschlussball mit meiner Freundin führe.

Es ist unser letztes Schuljahr, dies ist unsere letzte Chance. Und ich möchte, ich möchte wirklich hingehen und unter einem Pappkarton-Mond und Sternen aus Alufolie mit ihr tanzen. Ich möchte in ihre seltsamen grün-braunen Augen sehen, die manchmal blau schimmern und manchmal grün, abhängig davon, was sie trägt. Ich möchte die Arme um sie schlingen und die Welt um mich herum vergessen.

Aber ich könnte sie nicht vergessen.

Nicht hier. Nicht, solange meine Mom zuschaut.

Ich will eines klarstellen: Ich schäme mich nicht dafür, lesbisch zu sein. Ich liebe die Liebe, und ich liebe meine Freundin. Ich liebe leise gemurmelte Worte und verstohlene Küsse. Ich liebe es, mich auf der Samtcouch ihrer Großmutter an sie zu kuscheln und gemeinsam Filme zu schauen, während der Regen von Westen gegen die Fensterscheiben prasselt. Ich liebe es, dass unsere Hände genau gleich groß sind und sie winzige Füße mit superlangen Zehen hat. Wenn sie singt, liebe ich sie sogar noch mehr. So sehr, dass es wehtut. Als wenn eine Hand mein Herz zusammendrücken würde, bis es sich in einen Diamanten verwandelt. Sie flimmert wie ein Glühwürmchen, weil ihr Haar golden und gleichzeitig beinahe braun ist. Wenn sie ihre Brille abnimmt, drücke ich gerne meine Nase an ihre und sehe ihr ganz tief in die Augen. Dann muss sie lachen und wird rot, ihre Wangen so pink wie ihre Lippen.

Es ist schwer, unsere Liebe nur im Flüsterton auszusprechen, anstatt sie laut herauszuschreien. Doch die Sache ist die: Meine Mutter ist nicht bereit für all das. Zurzeit ist sie sehr fragil. Sie ist fragil, seit mein Vater gegangen ist. Es war so leicht für ihn. Er hat seine Sporttasche gepackt und ist in die Nacht verschwunden. Hat eine neue Familie gegründet. Na ja, wenn man das Alter meiner Halbschwester berücksichtigt, hat er sie bereits gegründet, bevor er gegangen ist. Seitdem lebt meine Mutter unter einer zerbrechlichen Glocke aus Glas. Sie glaubt, wenn sie nur häufig genug in die Kirche geht, mehr betet, das Haus noch gründlicher putzt, zehn Kilo abnimmt, mich auf die richtige Weise erzieht, endlich den Schmorbraten nach dem Rezept ihrer Schwiegermutter perfektioniert, wird Dad wieder nach Hause kommen. Man kann den Funken der Hoffnung in ihren Augen glimmen sehen; sie ist ein Transformator, der vom Blitz getroffen wurde. Alles strömt aus ihr heraus, heiß, schnell und endlos.

Was bedeutet, dass ich die beste Tochter sein muss, die ich sein kann. In keinem Fach darf ich eine schlechtere Note als eine Eins haben. Meine Back-up-Colleges sind für andere die erste Wahl. Ich muss in der Sonntagsschule unterrichten, und die Kinder, die ich dort betreue, müssen die schönsten Bastelarbeiten abliefern, bei deren Anblick ihren Eltern vor Rührung die Tränen kommen.

Nur Vorsitzende der Schülervertretung bin ich tatsächlich, weil ich es selbst so wollte. Weil ich geglaubt habe, Dinge verändern zu können, die sich ändern müssen, und Themen unterstützen zu können, die Unterstützung brauchen. Und trotzdem muss ich in einem fliederfarbenen knielangen Kleid mit Spaghettiträgern, für das meine Mom eine volle Sechzigstundenwoche gearbeitet hat, zum Abschlussball gehen. Das Oberteil ist mit Swarovski-Kristallen verziert. Swarovski. Kristallen. Und warum? Na ja, sie ist Vorsitzende der Elternvertretung (kleine Erinnerung: perfekt in jeder Hinsicht), und die wiederum hat die Aufsichtshoheit über den Ball. Dieses Jahr wird einen perfekten Abschluss erhalten, mit mir in einem perfekten Kleid, am Arm eines Jungen im Anzug.

Irgendeines Jungen. Jedes x-beliebigen Jungen. Mom weiß noch nicht, um wen es sich handelt, aber sie hat einige Vorschläge auf Lager. Wie Paolo, um nur ein Beispiel zu nennen, der Austauschschüler, der in unsere Kirche geht. Ein waschechter Student im zweiten Collegejahr, der aussieht, als wäre er einer TV-Werbung für Studenten im zweiten Collegejahr entsprungen: schnittig, gut gebaut, mit selbstbewusstem Gang. Versteht mich nicht falsch: Er ist heiß. Und er schläft heimlich mit unserer Chorleiterin. Aber pssst!, das bleibt unter uns.

Der Punkt ist, dass die Glasglocke, unter der meine Mutter lebt, zerbersten wird. Sie ist der festen Überzeugung, häusliche Magie zu vollbringen, während sie sich in Wirklichkeit selbst belügt. Sich und die ganze Welt. Jede Minute kann alles über ihr einstürzen. Der Zauberspruch wird enden, und ich muss dann in der Lage sein, sie wieder zusammenzusetzen.

Deswegen will ich nicht der Auslöser sein. Und deswegen streite ich mich nicht mit meiner Freundin wegen des Abschlussballs, sondern führe eine ernste Unterhaltung mit ihr darüber. Sie wünscht sich eine magische Nacht, genau wie ich. Aber wir leben in Edgewater, Indiana, und unsere Namen – Emma Nolan, Alyssa Greene – nebeneinander auf dieser Liste bedeuten weit mehr als zwei Eintrittskarten in die Turnhalle unserer Schule.

Emma weiß besser als jede andere, wie das hier läuft. Ihre Eltern gehen weiterhin zur Kirche. Jede Woche. Dieselbe Bank. Dieselben versteinerten Gesichter, die zum Herrn auf Buntglas hinter der Kanzel aufblicken. Er versammelt die Lämmer zu seinen Füßen; sein Haar schimmert beinahe golden, wenn sich die Sonnenstrahlen in den Fensterscheiben brechen.

Mein Dad hat uns verlassen. Meine Mom hat sich in eine Welt jenseits der Realität geflüchtet. Zu diesem Abschlussball zu gehen bedeutet für mich viel mehr, als ein Kleid anzuziehen und ein Anstecksträußchen zu kaufen. Es bedeutet, dass ich die Wahl habe, die perfekte Tochter ohne jeden Makel zu spielen oder den Schläger aufzunehmen und meine Mutter damit in Millionen Teile zu zerschmettern.

Und trotzdem möchte ich frei sein und Ja sagen und Emma im funkelnden Licht der geliehenen Diskokugel küssen. Deswegen diskutieren wir und streiten nicht. Ich möchte mich nicht streiten. Es ist Frühling, und Indiana ist wunderschön. Zwischen dem blauen Himmel, den knospenden Birnbäumen und den Tulpen, die ihre kleinen grünen Blätter der Sonne entgegenstrecken, tendiere ich zu Ja. Ich möchte Ja sagen.

Wir werden sehen.