DAS BUCH
»Arthur staunte immer noch über die Nachrichten von der Invasion und das Ausmaß der beteiligten Streitkräfte. Gerade einmal die Hälfte der von Bonaparte in Russland eingesetzten Mittel hätte seine Probleme in Spanien in der Tat sehr schnell gelöst. Wie die Dinge lagen, mussten die Soldaten des Kaisers nun an zwei Fronten kämpfen, wo sie jeweils spärlich auf weites, feindliches Terrain verteilt waren, auf dem es nur höchst primitive Straßensysteme gab. Falls das Schicksal mit der Gunst, die es Bonaparte gewährte, nicht absurd verschwenderisch umging, war er dabei, sein Reich zu überdehnen. Arthur war entschlossen, dem französischen Ehrgeiz hier in Spanien einen tödlichen Schlag zu versetzen. Falls dem Zaren in den Weiten Russlands dasselbe gelang, dann näherte sich dieser Krieg aller Kriege fraglos seinem letzten Akt.«
DER AUTOR
Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, bevor er mit dem Schreiben begann. Mittlerweile zählt er zu den wichtigsten Autoren historischer Romane. Mit seiner großen Rom-Serie und der vierbändigen Napoleon-Saga feiert Scarrow internationale Bestsellererfolge.
Besuchen Sie Simon Scarrow im Internet unter www.simonscarrow.co.uk
Simon Scarrow
KAMPF
UND TOD
DIE NAPOLEON-SAGA
1809–1815
Aus dem Englischen von
Fred Kinzel
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die englische Originalausgabe
The Fields of Death
erschien 2010 bei Headline Review, London.
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Vollständige deutsche Erstausgabe 04/ 2021
Copyright © 2010 by Simon Scarrow
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München, unter Verwendung von Motiven von Arcangel Images (Paul Gooney, Stephen Mulcahey) und Shutterstock.com (Gary Perkin)
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-26752-0
V001
www.heyne.de
Für James und Bob – dank ihrer uneingeschränkten Hingabe an das Team
Napoleon
An der Donau, April 1809
Die Wehranlagen der bayrischen Stadt Regensburg sahen in der Tat eindrucksvoll aus, wie Napoleon insgeheim einräumen musste, als er sein Fernrohr über die uralten Mauern und Gräben hinwegschwenken ließ. Die auf dem Rückzug befindliche österreichische Armee hatte hastig weitere Erdwälle aufgeworfen, um die bestehenden Verteidigungsanlagen zu verstärken. In den Schießscharten sämtlicher Redouten waren die Mündungen von Kanonenrohren erkennbar, und weitere Geschütze hatte man auf den massiven, gedrungenen Türmen der Altstadt aufgestellt. Hier und da sahen feindliche Soldaten in ihren weißen Uniformen zu dem anrückenden französischen Heer. Hinter den Mauern verloren sich die geteerten Dächer und Kirchtürme der Stadt in den letzten Schleiern des Morgennebels, der von der Donau aufgestiegen war. Von der anderen Flussseite konnte Napoleon gerade noch die Rauchsäulen des österreichischen Lagers aufsteigen sehen.
Er runzelte die Stirn, als er das Teleskop sinken ließ und zusammenschob. Erzherzog Karl und seine Leute waren der Falle entkommen, die Napoleon ihnen gestellt hatte. Regensburg war bis vor einigen Tagen in französischer Hand gewesen, und der Feind hatte mit dem Rücken zum Fluss gestanden. Doch der Kommandeur der Garnison hatte nach kurzem Widerstand kapituliert und die Brücke über die Donau intakt gelassen. So waren die Österreicher aufs Nordufer gewechselt und hatten eine starke Streitmacht zum Kampf gegen ihre Verfolger zurückgelassen. Erzherzog Karl hatte ihn überrascht. Napoleon war fest davon ausgegangen, dass sich die Österreicher bis nach Wien zurückziehen würden, um ihre Nachschubwege zu sichern und ihre Hauptstadt zu verteidigen. Stattdessen hatte der feindliche General den Fluss nach Böhmen hinein überquert und den Weg nach Wien offen gelassen. Nur dass es nicht so einfach war, wie Napoleon sehr wohl wusste. Wenn er seine Armee nach Wien führte, lud er die Österreicher dazu ein, über seine Nachschublinien herzufallen. Aber das war möglicherweise ein Risiko, das sich nicht vermeiden ließ.
Napoleon drehte sich zu seinen Stabsoffizieren um. »Meine Herren, Regensburg muss genommen werden, wenn wir die Donau überqueren und den Feind zu einer Schlacht zwingen wollen.«
General Berthier, Napoleons Stabschef, zog die Augenbrauen in die Höhe, als er an seinem Kaiser vorbei zu den kaum eine Meile entfernten Wehranlagen der Stadt blickte. Er schluckte, als sein Blick wieder zu Napoleon wanderte.
»Wie Sie wünschen, Sire. Soll ich der Armee befehlen, sich auf eine Belagerung vorzubereiten?«
Napoleon schüttelte den Kopf. »Für eine Belagerung ist keine Zeit. Sobald wir anfangen, Gräben auszuheben und Geschützstellungen zu bauen, geht die Initiative an die Österreicher. Und nicht nur das, Sie können sicher sein, dass unsere übrigen Feinde …«, Napoleon hielt inne und lächelte säuerlich, »… und selbst manche, die uns als Freunde bezeichnen, aus der Verzögerung große Zuversicht ziehen würden. Sie brauchen nicht viel Anreiz, um sich auf die Seite Österreichs zu schlagen.«
Die gewitzteren unter den Offizieren verstanden, was er damit sagen wollte. Verschiedene deutsche Kleinstaaten sympathisierten mit der österreichischen Sache. Doch die bei Weitem größte Gefahr drohte von Russland. Auch wenn Napoleon und Zar Alexander durch einen Vertrag gebunden waren, hatte sich ihre Beziehung in den letzten Monaten spürbar abgekühlt, und ein Eingreifen der russischen Armee im gegenwärtigen Krieg zwischen Frankreich und Österreich war auf jeder der beiden Seiten denkbar.
Die Dreistigkeit, mit der die Österreicher die Feindseligkeiten im April ohne offizielle Kriegserklärung eröffnet hatten, war für Napoleon überraschend gekommen. Zuvor hatte es viele Berichte von Spionen gegeben, wonach die österreichische Armee neu organisiert und vergrößert sowie mit neuen Kanonen und modernen Musketen ausgestattet worden sei. Unverkennbar beabsichtigte Kaiser Franz, einen neuen Krieg zu beginnen, und Napoleon hatte die Konzentration einer mächtigen Armee befohlen, um der Gefahr zu begegnen. Nach Beginn des Feldzugs hatte das wie üblich schwerfällige Tempo der feindlichen Kolonnen den Franzosen erlaubt, den Österreichern ihre Bedingungen für den Kampf aufzuzwingen. Die Leistungen seiner Armee waren höchst zufriedenstellend gewesen, dachte Napoleon. Die meisten Soldaten, die sich bisher Gefechte mit dem Feind geliefert hatten, waren frisch rekrutiert worden, doch sie hatten vorzüglich gekämpft. Hätte man die Österreicher nicht über die Donau entkommen lassen, wäre der Krieg bereits jetzt so gut wie gewonnen.
Napoleon wandte sich einem seiner Offiziere zu. »Marschall Lannes.«
Der Offizier nahm Haltung an. »Sire?«
»Ihre Männer werden die Stadt einnehmen. Koste es, was es wolle. Verstanden?«
»Ja, Sire.« Lannes nickte und rückte den mit einer Feder geschmückten Zweispitz über seinen braunen Locken zurecht. »Die Kerle werden die Österreicher zügig aus der Stadt jagen.«
»Das will ich ihnen geraten haben«, antwortete Napoleon. Dann trat er näher an Lannes heran und sah den Marschall durchdringend an. »Ich verlasse mich auf Sie. Enttäuschen Sie mich nicht.«
Lannes lächelte. »Habe ich das je getan, Sire?«
»Nein. Niemals.« Napoleon erwiderte das Lächeln. »Möge das Glück auf Ihrer Seite sein, mein lieber Jean.«
Lannes salutierte, dann wandte er sich ab und schritt zu der Ordonnanz, die sein Pferd hielt. Er schwang sich in den Sattel und ließ sein Reittier von dem kleinen Hügel hinunter zu den Kolonnen seiner Führungs-Infanterie-Division traben, die außerhalb der Reichweite der österreichischen Kanonen Aufstellung nahm. Für einen kurzen Moment herrschte Ruhe, dann rief ein Trompetensignal zum Vorrücken, und die Infanteriekolonnen marschierten, vom Rattern der Trommeln begleitet, auf die feindlichen Befestigungen zu. Vor ihnen schwärmte eine Abschirmung aus Scharmützlern in loser Formation aus; sie hielten die Musketen gesenkt und suchten nach einzelnen Zielen in der Reihe der österreichischen Wehranlagen.
Napoleon fühlte, wie sich sein Herz beim Anblick der blau uniformierten Kolonnen verhärtete, die sich der vom Feind gehaltenen Stadt näherten. Jeden Moment würden die Österreicher das Feuer eröffnen und Kartätschenladungen blutige Schneisen in die Reihen seiner tapferen Männer schlagen. Aber Regensburg musste eingenommen werden.
Die Österreicher hielten das Feuer zurück, bis die Scharmützler beinahe den breiten Graben vor der Stadtmauer erreicht hatten. Dann quollen Hunderte von winzigen Rauchwolken entlang des Walls auf, und Stichflammen schossen aus den Kanonen in den Redouten und Türmen. Napoleon setzte sein Fernrohr an und sah, dass unzählige Scharmützler niedergestreckt worden waren, und hinter ihnen scheuten die vorderen Reihen von Lannes’ Kolonnen, da sie einem Hagel aus Bleikugeln aus den Musketen und den Eisengeschossen der Kanonen ausgesetzt waren. Die Offiziere reckten ihre Säbel in die Luft, manche hängten ihren Hut über die Spitze, damit man sie besser sah, und trieben ihre Männer an. Die Soldaten strömten über den Rand des Grabens und verschwanden für einen Moment aus dem Blick, ehe sie auf der anderen Seite wieder herauskrabbelten und auf die Mauer zurannten. Über ihnen säumten die weißen Uniformen der Österreicher die Wehrgänge, sie waren durch die Rauchschwaden kaum zu erkennen. Während der ganzen Zeit, da sie die Mauern zu erreichen versuchten, wurden die Angreifer unablässig niedergemäht.
Dann kam der Vorwärtsdrang abrupt zum Erliegen, die Franzosen warfen sich zu Boden, suchten Deckung hinter allem, was sie fanden, und lieferten sich verzweifelte Schusswechsel mit dem Feind. Immer noch strömten weitere Männer in den Graben und drängten in jene auf der anderen Seite hinein, die sich weigerten, weiter vorzurücken. Die dichte Menschenmenge stellte für den Feind ein unwiderstehliches Ziel dar, und er bestrich den Graben mit Kartätschen und warf Granaten in hohem Bogen über die Mauer. Sie detonierten in grellen Blitzen, ließen Eisensplitter in alle Richtungen regnen und verstümmelten die Soldaten von Marschall Lannes’ erster Welle.
»Verdammt.« Napoleon runzelte verärgert die Stirn. »Der Teufel soll sie holen. Wieso hocken sie in diesem Graben und sterben? Wenn sie überleben wollen, müssen sie vorwärtsgehen.«
Seine Enttäuschung wurde immer größer, da das Gemetzel anhielt. Zuletzt geschah das Unvermeidliche, und die Männer der ersten Welle wichen erst langsam und dann immer schneller zurück, da sich der Drang zum Rückzug wie eine unsichtbare Welle durch ihre Reihen fortpflanzte. Binnen Minuten strebten die letzten Überlebenden, die sich im Graben verschanzt hatten, von der Stadt fort und ließen ihre Toten und Verwundeten vor der Stadtmauer liegen. Die Österreicher schossen weiter auf die Fliehenden, bis sie außer Reichweite der Musketen waren, und dann feuerten nur noch die Kanonen eine Reihe von Kartätschen ab, ehe auch sie verstummten.
Napoleon gab seinem Pferd die Sporen und trieb es den sanft geneigten Hang hinab, ehe er im Galopp auf Lannes’ Kommandoposten in den Ruinen einer kleinen Kapelle zuhielt. Die Leibwache des Kaisers und die Stabsoffiziere eilten ihm hastig hinterher. Marschall Lannes hatte die ersten Fliehenden zur Rede gestellt, sobald er merkte, dass der Angriff gescheitert war, und als Napoleon ihn erreichte, schimpfte er gerade auf eine große Gruppe verlegen dreinschauender Soldaten ein.
»Ihr wollt Männer sein?«, brüllte er aus Leibeskräften. »Lauft weg wie gottverdammte Kaninchen, wenn wir ausnahmsweise auf Österreicher treffen, die den Mumm haben zu kämpfen? Du lieber Himmel, ihr macht mir Schande! Ihr macht eurer Uniform Schande und dem Kaiser!« Lannes deutete auf Napoleon, als dieser sein Pferd anhielt. »Und jetzt lacht der Feind über euch. Sie verspotten euch als Feiglinge. Hört!«
Tatsächlich war leises Johlen und Pfeifen von den Verteidigern Regensburgs zu vernehmen, und einige der Männer richteten den Blick zu Boden und wagten es nicht, ihrem Befehlshaber in die Augen zu schauen.
Napoleon stieg ab und betrachtete die vor Lannes versammelten Männer mit kühlem Blick. Er schwieg eine Weile, ehe er müde den Kopf schüttelte. »Soldaten, ich bin nicht böse auf euch. Wie könnte ich? Ihr habt eure Befehle befolgt und angegriffen. Ihr seid ins Feuer vorgerückt und immer weitergegangen, bis euch die Nerven versagten. Und dann habt ihr den Rückzug angetreten. Ihr habt nicht mehr und nicht weniger getan als jeder andere Mann in jeder anderen Armee Europas.« Napoleon machte eine kurze Pause, um seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Aber ihr seid nicht in irgendeiner Armee Europas. Ihr seid in der französischen Armee. Ihr marschiert unter Standarten, die euch euer Kaiser anvertraut hat. Unter denselben Standarten, die beim Sieg von Austerlitz mitgeführt wurden. Bei Jena und Auerstedt, Eylau und Friedland. Wir haben zusammen die Armeen des preußischen Königs und des Zaren geschlagen. Wir haben die Österreicher gedemütigt – dieselben Österreicher, die euch nun von den Mauern Regensburgs herab verhöhnen. Sie glauben, dass die Männer Frankreichs schwach und ängstlich geworden sind, dass das Feuer in ihrer Brust erloschen ist. Sie glauben, dass der Feind, den sie einst aus gutem Grund gefürchtet haben, zahm wie ein Lamm geworden ist. Sie beschämen euch. Sie lachen über euch. Sie machen sich über euch lustig …« Napoleon sah sich um und entdeckte glühenden Zorn in den Gesichtern einiger Männer, wie er es erhofft hatte. Er legte unverzüglich nach. »Wie hält ein Mann das aus? Wie kann ein französischer Soldat nicht heiße Wut empfinden, wenn ihm Leute Verachtung entgegenschleudern, von denen er weiß, dass sie ihm unterlegen sind?« Napoleon stieß den Arm in Richtung Regensburg. »Soldaten! Euer Feind wartet auf euch. Zeigt ihm, was es heißt, Franzose zu sein. Keine Kugel, keine Patrone kann euren Mut erschüttern oder euch in eurer Entschlossenheit schwanken lassen. Denkt an jene, die vor euch für euren Kaiser gekämpft haben. Denkt an den unvergänglichen Ruhm, den sie sich erworben haben. Denkt an die Dankbarkeit und die Geschenke, die ihnen ihr Kaiser zukommen ließ.«
»Lang lebe Napoleon!« Marschall Lannes stieß die Faust in die Luft. »Lang lebe Frankreich!«
Der Schrei wurde augenblicklich von den nächststehenden Männern aufgenommen und setzte sich durch die Reihen fort. Andere Soldaten, die weiter entfernt standen, wandten sich neugierig um und fielen dann mit ein, sodass der Spott der Österreicher von dem lautstarken Zuspruch übertönt wurde, der durch die Reihen von Lannes’ Männern ging. Lannes führte den Jubel noch eine Weile an, ehe er die Arme hob und brüllend um Ruhe bat. Während die Hochrufe verstummten, holte der Marschall tief Luft und deutete auf die ersten Soldaten, die zu ihren Regimentsstandarten strömten.
»Zu euren Fahnen! Formiert euch und zeigt diesen österreichischen Hunden, wie echte Soldaten kämpfen!«
Als die Männer forteilten, sah Napoleon die erneuerte Entschlossenheit in ihren Mienen und nickte zufrieden. »Sie sind heiß. Ich hoffe nur, sie können die Mauer diesmal erstürmen.« Er wandte sich wieder den Wehranlagen des Feindes zu. Sie waren weniger als eine halbe Meile von den nächsten feindlichen Kanonen entfernt. »Wir sind hier immer noch in Reichweite. Und die Männer ebenfalls.«
»Auf diese Entfernung bräuchten sie schon sehr viel Glück, um etwas zu treffen, Sire«, tat Lannes die Gefahr ab. »Wäre Verschwendung von gutem Pulver.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.«
Einen Augenblick später quoll eine Rauchwolke aus einer Schießscharte der nächsten österreichischen Redoute, und die beiden Männer verfolgten die schwache dunkle Spur der Kugel, die in einem leichten Winkel zu ihrer Position durch die Morgenluft flog. Die Kugel prallte hundert Meter vor ihnen auf und ließ Staub und Erde aufspritzen, bevor sie fünfzig Meter weiter erneut landete und dann noch einmal, bis sie zuletzt eine Schneise durch das wadenhohe Gras schlug und ein kurzes Stück vor der vordersten Reihe des nächststehenden französischen Bataillons liegen blieb.
»Gute Artilleriebedingungen«, überlegte Napoleon. »Fester Untergrund – die effektive Reichweite wird sich erhöhen, und die Querschläger werden uns teuer zu stehen kommen.«
Weitere österreichische Kanonen eröffneten das Feuer, und eine Kugel aus einem der schwereren Stücke landete kurz vor einem der französischen Bataillone, ehe sie eine tiefe Schneise durch die Reihen schlug und Männer wie Kegel fällte.
Lannes räusperte sich. »Sire, mir kommt gerade der Gedanke, dass wir uns ebenfalls in Reichweite der feindlichen Geschütze befinden.«
»Richtig, aber wie Sie selbst bemerkt haben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir getroffen werden, zu vernachlässigen.«
»Nichtsdestoweniger wäre es klug, wenn Sie sich außerhalb der effektiven Reichweite begeben würden.«
Napoleon blickte zu der Redoute und sah, dass sich das Rohr einer der Kanonen zu einem schwarzen Punkt verkürzte. Dann wurde das Geschütz urplötzlich von Rauch eingehüllt, und im nächsten Moment spritzte genau vor ihnen Erde auf.
»Vorsicht!«, schrie Lannes.
Doch ehe Napoleon reagieren konnte, landete die Kugel wesentlich näher und dann noch einmal genau vor ihren Füßen. Kies und Erde spritzten ihnen ins Gesicht, und Napoleon spürte einen Schlag wie von einem heftigen Tritt an seinem rechten Knöchel. Er war wie betäubt von dem Einschlag, stand starr da und wagte es nicht, nach unten zu blicken, während Lannes sich lachend den Dreck vom Uniformrock bürstete. »Wie gesagt …«
Napoleons Knöchel gab nach, er taumelte zur Seite und streckte die Arme aus, um seinen Sturz zu bremsen.
»Sire!« Lannes eilte zu ihm und kniete neben ihm nieder. »Sind Sie getroffen?«
Der Schmerz in Napoleons Bein war entsetzlich, und er biss die Zähne zusammen, als er antwortete. »Natürlich wurde ich getroffen, Sie Dummkopf.«
»Wo?« Lannes musterte ihn ängstlich. »Ich kann die Wunde nicht sehen.«
»Am rechten Bein.« Napoleon verzog das Gesicht. »Der Knöchel.« Lannes rutschte nach unten und sah, dass Napoleons Stiefel schwer abgestoßen war. Er tastete behutsam nach Anzeichen einer Verletzung. Napoleon stockte der Atem, und er setzte sich auf. Über Lannes’ Schulter sah er, dass mehrere Stabsoffiziere und Ordonnanzen auf sie zuliefen. Dahinter lösten sich Männer des nächsten Bataillons aus der Reihe und starrten mit erschrockenen Mienen zu ihrem Kaiser.
»Der Kaiser ist verwundet!«, rief eine Stimme.
Der Ruf wurde wiederholt, und ein verzweifeltes Stöhnen ging durch die Reihen der Division, die für den zweiten Angriff Aufstellung nahm. Napoleon sah, dass er rasch handeln musste, um die Moral der Männer wiederherzustellen, bevor ihm die Gelegenheit zur Einnahme Regensburgs entglitt.
»Helfen Sie mir auf«, murmelte er Lannes zu.
Der Marschall schüttelte den Kopf. »Sie sind verletzt, Sire. Ich lasse Sie in Sicherheit tragen und schicke um einen Arzt.«
»Sie werden nichts dergleichen tun«, fuhr Napoleon ihn an. »Helfen Sie mir auf. Bringen Sie mich zu meinem Pferd.«
»Wie Sie befehlen.«
Der Marschall war ein kräftig gebauter Mann, und er packte seinen Kaiser am Arm und hob ihn mühelos auf. Napoleon stand mit dem gesamten Gewicht auf dem linken Fuß und versuchte sich nichts von der Qual anmerken zu lassen, die bei jeder Bewegung durch sein rechtes Bein schoss. Er legte die Hand auf Lannes’ Schulter, während dieser nach seinem Pferd rief. Während ein Leibwächter Napoleons die Zügel hielt, hob Lannes den Kaiser vorsichtig in den Sattel und stellte seinen rechten Fuß in den Steigbügel. Napoleon nahm die Zügel und atmete tief durch.
»Wie lauten Ihre Befehle, Sire?« Lannes sah zu ihm auf.
»Setzen Sie den Angriff fort, bis Regensburg eingenommen ist.« Napoleon schnalzte mit der Zunge und setzte seinen Stiefelabsatz so behutsam wie möglich ein, dennoch ließ ihn der Feuerstoß in seinem rechten Bein zusammenzucken. Das Pferd setzte sich in Bewegung, und Napoleon lenkte es zur Front der Regimenter, die sich zu einem weiteren Angriff auf die feindlichen Wehranlagen formierten. Berthier näherte sich im Trab auf seinem Pferd und hielt neben ihm.
»Soll ich Ihre Kutsche bringen lassen?«
»Nein. Ich bleibe auf dem Pferd, wo die Männer mich sehen können.« Napoleon hob die Hand, um die Männer des Bataillons zu grüßen, und lauter, anhaltender Jubel brandete auf. Er wurde von der nächsten Formation aufgenommen und setzte sich zu Morands Division fort. Napoleon ritt weiter an der Frontreihe entlang und zwang sich, seinen Soldaten zuzulächeln und Grüße mit ihren Kommandeuren zu tauschen.
Er erreichte das Ende der Linie und wendete, um zurückzureiten. Marschall Lannes war ebenfalls wieder aufgesessen und trabte nach vorn, wo seine Leute ihn gut sehen konnten. Napoleon zügelte sein Pferd, als er mit ihm auf gleicher Höhe war, und zwang sich zu einer teilnahmslosen Miene, als eine weitere Kanonenkugel ein kurzes Stück vor der Marschkapelle der Division aufsetzte, einem Trommelknaben den Kopf abriss und die Brust des Mannes dahinter durchschlug.
Lannes nahm seinen Federhut ab und hob ihn hoch, dann füllte er seine Lunge mit Luft und brüllte: »Freiwillige für den Sturmleitertrupp vortreten!«
Seine Stimme hallte in der warmen Luft kurz nach und erstarb dann, aber nicht ein Mann rührte sich. Die Soldaten in der ersten Reihe blickten starr geradeaus und vermieden es, ihrem Marschall oder ihrem Kaiser in die Augen zu sehen. Wer sich dafür meldete, die Leitern zu tragen, würde unmittelbar hinter den Scharmützlern vorrücken, und der Feind würde sein Feuer natürlich auf derart leichte Ziele konzentrieren. Der Boden vor den österreichischen Wehranlagen war bereits mit den Toten und Verwundeten des vorausgegangenen Angriffs übersät, und die Erinnerung an den Feuerhagel von den Wällen war noch frisch in den Köpfen der Überlebenden.
Lannes blickte auf die schweigenden, reglosen Reihen, und sein überraschter Gesichtsausdruck machte schnell Verachtung Platz. »Ist kein Mann unter euch, der um die Ehre wetteifern will, als Erster die Mauer zu erklimmen? Na?«
Nicht ein Mann rührte sich, und Napoleon spürte, wie sich eine furchtbare Spannung zwischen dem Marschall und seinen Soldaten aufbaute. Wenn sie nicht aufgelöst wurde, und zwar schnell, würde es keinen zweiten Angriff geben. Lannes musste es ebenfalls klar geworden sein, denn er warf einen nervösen Seitenblick zu seinem Kaiser, und dann stieg er plötzlich von seinem Pferd und ging zur nächsten Leiter. Vor den Augen der Soldaten hob er sie auf und passte ihre Position so an, dass er sie allein tragen konnte. Er wandte sich seinen Leuten zu und rief verächtlich. »Wenn kein Mann den Mumm dazu hat, dann mache ich es eben allein. Bevor ich Marschall wurde, war ich Grenadier – und ich bin immer noch einer!«
Mit diesen Worten machte er kehrt und begann, auf Regensburg zuzumarschieren, die sperrige Leiter fest im Griff.
»Großer Gott«, murmelte Berthier. »Was um alles in der Welt treibt er da?«
Napoleon konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Er tut seine Pflicht.«
Zunächst rührte sich niemand, dann rannte einer von Lannes’ Stabsoffizieren vor und stellte sich seinem Kommandeur in den Weg.
»Monsieur, das können Sie nicht machen. Wer wird das Korps befehligen, wenn Sie getötet werden?«
»Was kümmert es mich?«, knurrte Lannes. »Aus dem Weg, verdammt.«
Er schob den Offizier beiseite und marschierte weiter auf die wartenden Österreicher zu. Der andere sah ihm einen Moment lang entgeistert nach. Dann gewann er seine Fassung wieder, eilte ihm hinterher, nahm die Leiter an einem Ende und fiel in Gleichschritt mit Lannes.
»Warten Sie!«, rief ein anderer Stabsoffizier, dann liefen er und seine Kollegen los, schnappten sich die nächsten Leitern und rannten hinter ihrem Befehlshaber her.
Es gab eine kurze Pause, ehe der Oberst des nächststehenden Bataillons sich zu seinen erstaunten Männern umdrehte und brüllte: »Worauf wartet ihr? Der Teufel soll mich holen, wenn ich einen Marschall Frankreichs eine Kugel abbekommen lasse, die für mich bestimmt war. Vorwärts!« Er zog sein Schwert und schwenkte es in Richtung der Stadt. »Lang lebe Frankreich!«
Der Schrei wurde von seinen Männern aufgenommen, und sie rannten los, hoben die Leitern auf und wogten hinter Lannes und seinen Offizieren her. Wie eine Flutwelle jubelnder Soldaten rollte der Rest von Morands Division vorwärts und nahm unterwegs die verbliebenen Leitern mit. Napoleons Puls ging schneller bei dem Anblick, und er trieb sein Pferd an, um mit dem Rest der Männer vorzurücken. Die Verteidiger reagierten sofort auf die neue Bedrohung, und jede verfügbare Kanone eröffnete das Feuer auf die Flut von Männern, die über das offene Gelände auf den Graben und die Wehrmauer dahinter zuströmte. Eine Kanonenkugel dröhnte knapp über sie hinweg, und Berthier zog instinktiv den Kopf ein.
»Ist das klug, Sire? Sie sind bereits verwundet. Ich flehe Sie an, lassen Sie Ihr Bein versorgen.«
»Später. Alles, was jetzt zählt, ist die Einnahme Regensburgs.«
»Bei allem Respekt, Sire. Marschall Lannes wird mit der Aufgabe fertigwerden.«
»Wirklich?« Napoleon sah seinen Stabschef an. »Sie haben die Männer erlebt. Sie haben gesehen, wie wankelmütig sie sind. Wenn ihr Kaiser bei ihnen ist, werden sie den Mut nicht verlieren.«
Berthier neigte müde das Haupt. »Sie haben sicherlich recht, Sire. Aber was, wenn Sie getötet werden? Hier, vor den Männern? Nicht nur der Angriff würde scheitern, es wäre ein schwerer Schlag für die Moral der gesamten Armee.«
Napoleon zwang sich zu einem Lächeln. »Mein lieber Berthier, ich kann Ihnen versichern, dass die Kugel, die mich töten wird, noch nicht gegossen wurde. Und jetzt genug davon. Wir bleiben bei unseren Soldaten.«
»Ja, Sire«, antwortete Berthier verzagt und gab sich Mühe, einen unerschütterlichen Eindruck zu erwecken, während sie weiterritten.
Vor ihnen konnte Napoleon die gold besetzten Uniformen von Lannes und seinen Offizieren sehen, die den Angriff immer noch anführten und jetzt den Graben erreicht hatten. Halb liefen sie, halb rutschten sie auf der einen Seite hinunter, bevor sie auf der anderen Seite herauskletterten, um das letzte Stück offenes Gelände vor der Stadtmauer zu durchqueren. Über ihnen waren die Brustwehre von Österreichern gesäumt, die feuerten und nachluden, so schnell sie konnten, als das Meer blauer Uniformen auf sie zuflutete. Auf beiden Flanken von Morands Division schossen die Kanonen in den feindlichen Redouten Kartätschen in die französischen Reihen, und jedes Mal wurden etliche Männer zerfetzt. Napoleon und Berthier hielten ihre Pferde ein Stück vor dem Graben an und beobachteten, wie Lannes und seine Offiziere die Mauer erreichten. Sie legten eilig die Leitern an. Der Marschall sprang auf die untersten Sprossen und begann hinaufzuklettern. Links und rechts von ihm krachten Leitern an die Mauer, und die Männer von Morands Division strömten nach oben, kletterten über die Brustwehre und fielen über die Verteidiger her.
Die meisten hatten ihre Musketen ein kurzes Stück vor der Mauer abgefeuert, drangen nun mit dem kalten Stahl des Bajonetts in die Stadt ein oder benutzten ihre Waffen wie Keulen in brutalen Nahkämpfen mit den Österreichern. Die Verteidiger der Redouten an den Flanken ereilte dasselbe Schicksal, als sich die Franzosen durch die Schießscharten der Kanonen kämpften und über die Kanoniere herfielen. Napoleon wusste: Nach dem todbringenden Feuer ihrer Artillerie würde niemand von den Geschützmannschaften von der Rache der Angreifer verschont bleiben.
Während weitere Männer über die Mauer kletterten, ertönte Jubel von denen, die noch draußen waren, als sich das Stadttor zu öffnen begann. Im ersten Moment fragte sich Napoleon angespannt, ob der Feind etwa einen Gegenangriff startete, aber als die Torflügel aufschwangen, trat eine hutlose Gestalt in einer kunstvollen, gold besetzten Uniform aus der Stadt.
»Das ist Lannes!«, rief Berthier.
»Ja.« Napoleon lächelte erleichtert und trieb sein Pferd weiter zum Graben. Als das Tier vorsichtig hinunterstieg, sah Napoleon zum ersten Mal die Berge von Leichen auf dem Grund des Grabens, manche übel zerfetzt von den Eisengeschossen der Kartätschen. Das Pferd wieherte, bis Napoleon sich vorbeugte, um ihm beruhigend die Flanke zu tätscheln, dann trieb er es auf der anderen Seite nach oben. Lannes winkte seinen Männern durch das Tor zu und schrie aufmunternde Worte, während Napoleon und Berthier zu ihm ritten. Napoleon bemerkte den Riss in der Uniformjacke des Marschalls und die Blutspur an seinem Hals.
»Offenbar sind Sie jetzt derjenige, der keine Rücksicht auf sich nimmt, mein lieber Jean.«
Lannes führte die Hand an den Hals, und als er sie wieder wegnahm, klebte frisches Blut am Handschuh. »Nur ein Kratzer, Sire, nichts weiter.«
Napoleon blickte zurück zum Graben und auf das freie Feld vor der Stadt dahinter. Er schätzte, dass an die tausend Franzosen vor den Mauern Regensburgs gefallen waren. Er sah Lannes erneut an. »Mir scheint, dass Ihr Leben unter einem glücklichen Stern steht.«
»Unser aller Leben, Sire. Bis zu dem Tag, an dem wir sterben.«
Sie lachten beide, und Berthier stimmte ein wenig unsicher ein. Dann beugte sich Napoleon vor, um seinem Marschall neue Anweisungen zu geben. »Lassen Sie Ihre Leute die Stadt sichern. In der Zwischenzeit möchte ich, dass Sie und jeder andere Grenadier, den Sie finden können, sich unverzüglich zur Brücke begeben. Wir müssen sie intakt erobern. Lassen Sie sich von nichts aufhalten, und wenn Sie die Brücke eingenommen haben, dann halten Sie sie um jeden Preis. Verstanden?«
»Ja, Sire.«
»Dann gehen Sie.«
Während Lannes in die Stadt zurücktrottete und seine Offiziere zu sich rief, blieben Napoleon und Berthier beim Tor, und der Kaiser erwiderte die Grüße der Soldaten, als die nachfolgenden Regimenter der Division in die Stadt einmarschierten. Viele von ihnen, vor allem die jungen Rekruten, hatten ihren Kaiser bisher nur aus der Ferne gesehen, und sie betrachteten ihn nun aufgeregt und neugierig und mit nicht wenig Ehrfurcht. Einige der älteren Männer mit Feldzugsstreifen an den Ärmeln riefen Napoleon saloppe Grüße zu, um ihre jüngeren Kameraden zu beeindrucken. Napoleon wusste, sie würden heute Abend am Lagerfeuer Hof halten und Geschichten erzählen, wie sie Seite an Seite mit dem Kaiser gekämpft hatten, als dieser noch ein junger Offizier gewesen war.
Er wartete, bis die ersten beiden Regimenter in die Stadt marschiert waren, ehe er ihnen folgte. Der Kampflärm hatte sich in Richtung Fluss verzogen, und das leise Krachen der Musketen wurde gelegentlich von einem dumpfen Kanonenschlag auf dem Donauufer übertönt, das die Österreicher hielten. Entlang der Straße, die vom Tor in die Stadt führte, lagen Tote, Franzosen wie Österreicher. Sie waren zusammen mit den Verwundeten eilig beiseitegeräumt worden, um die durchmarschierenden Truppen nicht aufzuhalten. Wer noch lebte, saß an die Hausmauern gelehnt und wartete auf Hilfe. Einige stimmten Hochrufe an, als Napoleon vorbeiritt, andere starrten nur ausdruckslos vor sich hin.
Vor ihnen öffnete sich die Straße zu einem Platz, den der Feind dazu benutzt hatte, seine Fuhrwerke abzustellen. Er war gesäumt von reich verzierten Fassaden, wie Napoleon sie schon in anderen Dörfern und Städten entlang der Donau gesehen hatte. Geschützlafetten, Munitionskarren und Proviantwagen standen dicht gedrängt in der Mitte des Platzes.
Auf der anderen Seite konnte Napoleon die breite Straße sehen, die zur Brücke über den großen Fluss führte. Eine dichte Masse blauer Uniformen drängte über die Brücke. Napoleon spornte sein Pferd an. Als er näher kam, sah er Lannes und seine Offiziere an einer Anlegestelle seitlich der Brücke stehen. Hinter ihnen erstreckte sich das Wasser der Donau rund hundert Schritte bis zur ersten der kleinen Inseln, die zwischen den beiden Ufern lagen. Die auf massiven steinernen Stützpfeilern ruhende Brücke erstreckte sich über die beiden Inseln hinweg bis zum anderen Ufer des mächtigen Stroms. Wie Napoleon sah, war sie so solide gebaut, dass sie nicht ohne Weiteres mit Schießpulverladungen zerstört werden konnte. Dichte Formationen feindlicher Soldaten und mehrere Geschützbatterien sicherten deutlich erkennbar das andere Ende des Bauwerks ab. Dahinter, auf dem flachen Hang, der vom Ufer anstieg, dehnte sich das Lager von Erzherzog Karls Armee aus. Vor Napoleons Augen begannen die französischen Soldaten, unter den heftigen Musketensalven und Kartätschenladungen, die über die Brücke peitschten, zurückzuweichen. Die resoluteren unter ihnen gaben noch einen letzten Schuss ab, ehe auch sie von der Brücke huschten und in den Häusern am Flussufer Schutz suchten.
Beim Klang der sich nähernden Hufe auf dem Kopfsteinpflaster wandte Lannes den Kopf, und er und seine Offiziere verbeugten sich.
»Berichten Sie«, befahl Napoleon, als er hielt. Der Schmerz in seinem Knöchel war zu einem gleichmäßigen Pochen abgeklungen, und er musste sich zwingen, dem Marschall seine volle Aufmerksamkeit zu schenken.
»Die Stadt ist in unserer Hand, Sire. Der größte Teil der Feinde konnte über den Fluss entkommen, aber wir haben einige Hundert Gefangene gemacht und zwanzig Kanonen erbeutet. Eine Handvoll Österreicher hält noch einige Gebäude im Osten Regensburgs besetzt, aber um die kümmern wir uns in Kürze. Was unsere Verluste angeht …«
»Das ist jetzt nicht wichtig. Ist die Brücke sicher?«
Lannes nickte. »Major Dubarry von den Pionieren hat sie auf Sprengladungen untersucht. Wie es scheint, haben die Österreicher keinerlei Versuch unternommen, die Brücke zu zerstören.«
»Gut. Dann haben wir immer noch die Möglichkeit, Erzherzog Karl zu verfolgen.«
Lannes zog kurz die Augenbrauen in die Höhe. »Sire, wie Sie sehen, hält der Feind das andere Ufer besetzt. Wir können hier keinen Übergang erzwingen. Der Feind ist uns für den Augenblick entwischt.«
Napoleon presste die Lippen aufeinander, um sich zu beherrschen. Er hatte seit mehr als zehn Tagen nicht mehr richtig geschlafen, und in dem plötzlichen Aufwallen seiner Wut erkannte er die Symptome von Erschöpfung. Lannes traf keine Schuld. Ein Blick über die Brücke zeigte Napoleon selbst, dass jeder weitere Versuch, sie zu überqueren, nur zu einem Blutbad führen würde. Eine bleierne Schwere legte sich auf sein Herz, als er über die ausweglose Situation nachdachte. Es war den Österreichern gelungen, die Donau zwischen sich und ihre Verfolger zu bringen. Wenn sie sich parallel zur französischen Armee bewegten, konnten sie jeden Versuch vereiteln, den Fluss zu überqueren und sie zur Schlacht zu stellen.
Er seufzte verbittert. »Wie es scheint, haben die Österreicher ihre Lektion aus dem letzten Krieg gelernt. Erzherzog Karl wird es sich zweimal überlegen, bevor er eine Schlacht zu meinen Bedingungen annimmt.«
»Wir können einen anderen Übergang suchen, Sire«, erwiderte Berthier. »Masséna marschiert gegen Straubing. Wenn er den Fluss überquert, bevor ihn der Feind stoppt, kann er dessen Flanke angreifen.«
»Er allein?« Napoleon schüttelte den Kopf. »Selbst wenn es Masséna gelingen sollte, die Österreicher zu überraschen, können sie sich einfach in die deutschen Staaten im Norden zurückziehen und versuchen, sie als Bundesgenossen zu gewinnen, während sie uns hinter sich her und von Wien fortziehen.« Er hielt inne und kratzte sich das stoppelige Kinn. »Nein. Wir werden nicht das Spiel von Erzherzog Karl spielen. Vielmehr müssen wir versuchen, sie dazu zu bringen, dass sie uns folgen.«
»Und wie, Sire?«
»Wir marschieren gegen Wien. Ich bezweifle, dass die Österreicher bereit sind, ihre Hauptstadt ein zweites Mal von uns besetzen zu lassen.«
Lannes gestikulierte zu den feindlichen Kräften, die am anderen Ufer massiert waren. »Und was, wenn sie wieder auf diese Seite wechseln und unsere Nachschubwege abzuschneiden versuchen?«
Napoleon lächelte. »Dann wenden wir uns gegen sie und zwingen sie zum Kampf. Ich vermute, sie werden noch eine ganze Weile nicht den Mumm haben, das zu riskieren. Also tragen wir den Krieg nach Wien, meine Freunde. Dann werden wir unsere Schlacht bekommen.«
Die österreichische Armee zog sich im Laufe der Nacht zurück, und Napoleon schickte Davout und sein Korps über die Donau, damit er in Kontakt mit dem Feind blieb und ihn störte. In der Zwischenzeit marschierte die Hauptarmee nach Osten, in Richtung Wien, und schob die verbliebenen österreichischen Kräfte vor sich her. Das Frühlingswetter blieb schön, und die französische Armee stapfte hochgemut durch das Feindesland.
In der gesamten Zeit studierte Napoleon sorgfältig die regelmäßigen Aufklärungsberichte, die ihm Davout übermittelte. Sobald die Gefahr für Wien deutlich geworden war, hatte Erzherzog Karl seine Armee kehrtmachen lassen und auf dem Nordufer der Donau in ein Wettrennen mit den Franzosen geschickt, um seine Hauptstadt vor ihnen zu erreichen. Das war nach Napoleons Einschätzung sehr unwahrscheinlich, da österreichische Armeen seit jeher in einem gemächlichen Tempo marschiert waren. Die einzigen beunruhigenden Nachrichten kamen aus Italien, wo Karls Bruder, Erzherzog Johann, die französische Armee besiegt hatte. Möglicherweise würde Johann nach Wien zurückmarschieren und versuchen, die österreichischen Armeen gegen Napoleon zu vereinen.
Anfang Mai kamen die Dächer und Türme der österreichischen Hauptstadt in Sicht, und Napoleon befahl der Artillerie, die Bombardierung Wiens vorzubereiten. Ehe die Kanonen das Feuer eröffnen konnten, ging das Stadttor auf, und eine kleine Gruppe Zivilisten kam herausgeritten.
»Was können die wollen?«, überlegte Berthier laut, als er sein Fernrohr ansetzte und beobachtete, wie sie sich vorsichtig den Vorposten näherten. Er wandte sich an seinen Kaiser. »Vielleicht wollen sie jetzt schon um Frieden bitten.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Napoleon. »Aber wenn sie beabsichtigen, Wien zu verteidigen, werde ich diesmal nicht zögern, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Es wird keine dritte Gelegenheit für Kaiser Franz geben, sich mir zu widersetzen.« Er ließ sich das Fernrohr geben und spähte hindurch. Es waren fünf Männer in Zivilkleidung, begleitet von einer kleinen, berittenen Eskorte von Milizionären.
»Lassen Sie sie zur Hauptgeschützstellung bringen«, wies Napoleon Berthier an. »Ich treffe sie dort. Dann können sie gleich einmal sehen, was sie zu erwarten haben, wenn sie meine Forderungen nicht erfüllen.«
»Ja, Sire.« Berthier nickte und wendete sein Pferd, um den Befehl auszuführen. Napoleon blickte von den sich nähernden Reitern zu den Wehranlagen der Stadt dahinter. Eine Handvoll Festungsbauten schützte den Zugang zur Stadt und dann die Mauern. In keiner der Festungen gab es jedoch Anzeichen für Leben, und keine Flaggen oder Regimentsstandarten wehten über ihnen. Er ließ das Fernrohr stirnrunzelnd sinken und murmelte: »Was zum Teufel haben die vor?«
Eine halbe Stunde später ritt Napoleon zusammen mit Berthier und einer Schwadron Gardekavallerie in die Hauptbatterie ein, um die Abordnung des Feindes zu treffen. Zu beiden Seiten erstreckte sich die Reihe der Zwölfpfünder durch die österreichische Landschaft. Fünfzig Meter hinter ihnen standen die Munitionskisten voller Pulver und Kugeln bereit, um die Kanonen zu laden, wenn sie das Feuer auf Wien eröffneten. Die Geschützmannschaften hatten ihre Vorbereitungen abgeschlossen, standen in der Nähe ihrer Waffen und beobachteten die Österreicher neugierig. Als sich Napoleon näherte, jubelten die Kanoniere, und er zügelte sein Pferd und genoss den Jubel für eine Weile, während er die Österreicher mit einem harten Blick bedachte. Sie nahmen ihre Hüte ab und verbeugten sich knapp, und der französische Kaiser hob die Hand, um seine Männer zum Schweigen zu bringen. Nachdem die Hochrufe verstummt waren, räusperte sich Napoleon und sprach den Mann an der Spitze der österreichischen Abordnung an. Der Abgesandte war hochgewachsen und schmal, mit grauen Strähnen in den dunklen Locken. Seine Jacke war kunstvoll mit goldener Spitze bestickt, und ein breites rotes Band hing über seiner Schulter. Napoleon sprach in knappen Worten.
»Was ist der Zweck Ihrer Anwesenheit hier?«
»Sire, ich vertrete den Bürgermeister von Wien. Seine Ehren ersuchen respektvoll um eine Audienz mit Ihnen.«
»Ihr Name?«
»Baron Karinsky, Sire.«
»Sagen Sie, was Ihr Herr wünscht.«
»Ja, Sire. Er möchte über die Bedingungen für die Kapitulation Wiens sprechen.«
»Wiens? Ich verstehe.« Napoleon machte eine Pause. »Und hat Kaiser Franz der Kapitulation seiner Hauptstadt zugestimmt?«
»So wie ich es verstehe, ja.«
»Was soll das heißen?«
»Seine Kaiserliche Majestät und der Hof haben die Stadt verlassen, Sire. Der Bürgermeister wurde angewiesen, sie so lange zu verteidigen, wie es machbar sei.«
»Dann bezieht sich dieses Angebot ausschließlich auf Wien?«, fragte Berthier.
»In der Tat.«
»Es besteht keine Absicht seitens Kaiser Franz, über einen Waffenstillstand zu sprechen?«
»Meines Wissens nicht.«
Berthier wechselte einen Blick mit Napoleon, der kurz verärgert seufzte, ehe er sich wieder an Karinsky wandte.
»Und wieso will der Bürgermeister über eine Kapitulation verhandeln, bevor wir einen einzigen Schuss abgegeben haben?«
Der Österreicher wies zur Stadt. »Die Garnison hat sich bereits von den Mauern zurückgezogen, Sire. Auf Befehl von Erzherzog Karl. Alles, was bleibt, ist die Miliz. Dementsprechend ist der Bürgermeister zu dem Schluss gekommen, dass er die Stadt nicht verteidigen kann. Er hält es aus Mitgefühl für die Einwohner Wiens für besser, die Stadt zu übergeben, als Menschenleben bei dem sinnlosen Versuch zu vergeuden, Ihnen Widerstand zu leisten, Sire.«
»Wo ist die Garnison jetzt?«, fuhr Napoleon ihn an.
»Sie hat sich auf die andere Donauseite zurückgezogen.«
Napoleon sah den Mann kurz an. »Und die Brücken sind intakt?«
Der Baron senkte den Blick, als er antwortete. »Sie waren es, als ich die Stadt verlassen habe, Sire.«
Napoleon wandte sich an Berthier. »Schicken Sie eine Kavalleriedivision los. Bessières soll mit seinen Leuten diese Brücken sofort besetzen. Wir brauchen Zugang zum anderen Ufer, wenn wir …«
Er wurde von einem leisen Donnergrollen unterbrochen und blickte in Richtung Wien. Hinter der Silhouette der Stadt quoll eine Rauchsäule in den Himmel. Im nächsten Moment folgten eine zweite Explosion und noch mehr Rauch, und wenig später hallten zwei weitere Detonationen über das Land auf die erschrockenen Führungselemente der französischen Armee zu.
»Sie haben die Brücken gesprengt«, sagte Berthier leise.
Napoleon nickte und funkelte Baron Karinsky zornig an. »Sagen Sie dem Bürgermeister, Wien hat bedingungslos zu kapitulieren. Wenn er die Stadt nicht binnen einer Stunde übergibt, werde ich meiner Artillerie befehlen, Ihre Kapitale in Schutt und Asche zu legen. Ist das klar?«
Karinsky schüttelte den Kopf. »Sire, ich bin nicht ermächtigt, mit Ihnen zu verhandeln. Ich wurde nur geschickt, um Sie zu einem Gespräch mit dem Bürgermeister einzuladen.«
»Es gibt nichts zu reden. Es wird keine Verhandlungen geben. Sagen Sie ihm, ich verlange, dass er kapituliert, und wenn er dem nicht nachkommt, ist er für den Tod und die Zerstörung verantwortlich, die Wien heimsuchen werden.«
Der Österreicher öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Napoleon holte seine Uhr hervor und warf einen kurzen Blick darauf. »Jetzt ist es kurz nach elf. Wenn die Stadt bis Mittag nicht kapituliert hat, werde ich meinen Kanoniers befehlen, das Feuer zu eröffnen. Sie wären gut beraten, keine Zeit zu vergeuden und den Bürgermeister unverzüglich von meinen Bedingungen zu unterrichten.«
Karinsky legte die Stirn in Falten, dann wendete er abrupt sein Pferd und galoppierte die Straße nach Wien zurück.
Kaum waren die Tore Wiens für die französische Armee geöffnet, ritten Napoleon und der Kommandeur seiner Pioniere, General Bertrand, durch die Stadt, um den Zustand der zerstörten Brücken zu begutachten. Die österreichischen Pioniere hatten ganze Arbeit geleistet. Bei allen Brücken war das Mittelstück weggesprengt, und von den Stützpfeilern waren wenig mehr als Schutthaufen in der schnellen Strömung der Donau übrig geblieben. Auf der anderen Flussseite war der Feind fleißig dabei, Barrikaden auf den Resten der zerstörten Brücken zu bauen. Geschützbatterien, die an den Flanken errichtet wurden, sollten jeden Versuch der französischen Pioniere verhindern, Reparaturen an den gesprengten Mittelstücken vorzunehmen.
Napoleon wurde beim Blick auf die Brücken das Herz schwer. Bis die Franzosen eine andere Möglichkeit fanden, den Fluss zu überqueren, würde der Feind in Sicherheit sein.
General Bertrand hatte die Donaubrücken und die österreichischen Kräfte dahinter inzwischen eingehend begutachtet und schnalzte mit der Zunge. »Es wäre Selbstmord, irgendwelche Reparaturarbeiten zu versuchen, Sire.«
»Das sehe ich selbst«, erwiderte Napoleon pikiert. »Wenn wir hier nicht übersetzen können, müssen wir woanders eine Möglichkeit finden.«
»Ja, Sire.« Bertrand nickte nachdenklich, nahm seinen Hut ab und kratzte sich am schütter behaarten Schädel. »Das Hauptproblem ist die Strömung. Wie Sie sehen, fließt der Fluss schnell, vor allem zu dieser Jahreszeit. Plötzliche Unwetter können alles noch schlimmer machen. Bei einer überraschenden Flutwelle könnten unsere Pontons weggespült werden.«
»Also gut. Wo schlagen Sie vor, es zu versuchen?«