Das Buch
Cloverdale ist ein verschlafenes Örtchen in Mitten von Hügeln und bunten Cottages. Hier lebt Jennifer, die gerade dabei ist, einen Glücksverleih einzurichten, in dem jeder genau das findet, was er gerade braucht: ob Rasenmäher oder Badmintonschläger oder einfach ein nettes Gespräch mit dem Nachbarn. Nur ihre Schwester bereitet Jennifer Sorgen. Irgendetwas scheint mit Isla, die gerade erst zurück in ihre Heimat gekehrt ist, nicht zu stimmen. Auch der alleinerziehende Vater Adam ist erst vor Kurzem mit seinen beiden Kindern nach Cloverdale gezogen und will seine Vergangenheit endlich hinter sich lassen. Jennifer teilt ihn kurzerhand ein, bei der Eröffnung des Glücksverleihs mitzuhelfen. Dann macht Adams Tochter Zoe eine überraschende Entdeckung und plötzlich ist der Zusammenhalt des ganzen Dorfes gefragt, um der Familie beizustehen.
Die Autorin
Helen Rolfe, geboren in England, lebte wegen ihres Jobs in der IT-Branche 14 Jahre lang in Australien. 2011 entdeckte sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben und hat seither keinen Tag bereut, der IT den Rücken gekehrt zu haben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern wieder in Hertfordshire und denkt sich dort ihre charmanten Charaktere aus.
Lieferbare Titel
978-3-453-42382-4 – Das kleine Café am Pier
HELEN ROLFE
DER KLEINE
Glücksverleih
Roman
Aus dem Englischen
von Kerstin Winter
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe The Little Village Library erschien erstmals 2020 bei Orion, London.
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Deutsche Erstausgabe 01/2022
Copyright © 2020 by Helen Rolfe
Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München
unter Verwendung von Mauritius Images (John Warburton-Lee / Alan Copson);
Shutterstock.com (Doug McLean, Richard Peterson, colnihko, SizeSquares, Iamkaoo99)
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN: 978-3-641-26755-1
V001
www.heyne.de
Dank an alle Bibliotheken da draußen …
Möget ihr mit euren Regalen voller wunderschöner Geschichten auch in Zukunft ein Hort des Wissens und der Realitätsflucht sein und Menschen aller Couleur zusammenführen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal an diesen Punkt gelangen und in der Lage sein würde, das, was mir zugestoßen ist, öffentlich zu machen. Ich dachte, dass ich es nur lange genug totschweigen müsste, damit es einfach nicht mehr existiert. Aber vor manchen Dingen kann man nicht weglaufen.
Ich trete ein Stück nach links, damit das Licht der Wintersonne, das von der Windschutzscheibe eines geparkten Autos reflektiert wird, mich nicht blendet und mir die Sache noch mehr erschwert. Obwohl es durchaus hilfreich sein könnte, die Gesichter, die erwartungsvoll zu mir aufschauen, nicht zu erkennen – aber ein starker Drink oder eine gehörige Portion Mut würde es auch tun.
Ich habe keine Notizen mitgebracht; was ich sagen werde, kommt tief aus meinem Inneren.
Die unterschiedlichsten Emotionen überfluten mich, als ich mein Tagebuch auf dem Lesepult deponiere und meine Hand darauflege. Diese physische Krücke bewirkt tatsächlich, dass meine Nerven sich ein wenig beruhigen, doch ich fürchte mich schon so lange. Ich habe mich geschämt für das, was geschehen war; was, wenn jemand die Wahrheit herausfinden und mich in anderem Licht sehen würde? Ich lebe mit diesem Geheimnis schon seit Jahren, ohne etwas dagegen unternommen zu haben, und manches Mal war ich wütend auf mich, dass mir die Sache so entgleiten konnte und ich ihr nicht früher einen Riegel vorgeschoben habe. Doch mit dem Selbsthass muss jetzt Schluss sein. Das, was mir geschehen ist, war nicht selbst verschuldet. Ich konnte nichts dafür, und ich hatte es mir auch nicht selbst zuzuschreiben.
Vor mir stehen fünf Stuhlreihen mit dreißig, vielleicht sogar vierzig Leuten, die mir ihre Gesichter zuwenden. Manche blicken skeptisch, manche in banger Erwartung, als befürchteten sie, dass ihnen das, was ich zu sagen habe, nicht gefallen könnte. Andere wiederum wissen bereits Bescheid und fühlen mit mir. Meine innige Hoffnung ist es, dass meine Botschaft wenigstens einen Menschen erreicht, der sich mit demselben Dilemma konfrontiert sieht wie ich damals, damit er begreift, dass er nicht allein ist, dass man Probleme auch anderen gegenüber eingestehen darf und dass es in Ordnung ist, dem eigenen Leben eine neue Richtung zu geben.
Ein Nachzügler, der sich hereinschleicht und den letzten verbleibenden Platz einnimmt, bringt mich einen Moment lang aus dem Konzept. Schon komisch, dass eine Kleinigkeit reicht, um den Fluchtinstinkt erneut auszulösen. Aber ich laufe schon zu lange weg, und als sich Schweigen über die Schar der Zuhörer legt, beginnt mein Herz zu jagen. Mein Mund ist plötzlich trocken. Es ist so weit. Es ist Zeit, meine Geschichte zu erzählen.
Denn wer hinter geschlossenen Türen verharrt, bleibt mit der Wahrheit allein.
1. Kapitel
»Boah, ist das cool hier.« Zac, neun Jahre alt und so neugierig wie Jungen seines Alters nun einmal waren, blätterte durch die Comics auf dem Ständer vorne in Cloverdales Bibliothek, ehe er das Interesse verlor und davonstob, um weiter hinten in den ordentlichen Reihen der Regale nach gehaltvollerem Material zu suchen.
»Ich versteh’ wirklich nicht, was wir hier wollen«, bemerkte Zoe verschnupft. Adams vierzehnjährige Tochter war nicht mehr so pflegeleicht wie Zac. Die Hormone spielten verrückt, und er wusste, dass ihm auf dem Minenfeld der Pubertät in naher Zukunft noch einige zähe Kämpfe bevorstanden, doch das war in Ordnung so. Er hatte schon einige hinter sich, und er würde mit weiteren zurechtkommen. Er hatte seine Kinder, und nichts würde ihn daran hindern, ihnen das Leben zu bieten, das ihnen zustand.
»Gib dir ein bisschen Mühe, Zoe«, sagte er. »So übel ist es hier nicht. Und wer weiß – vielleicht findest du ja tatsächlich etwas, das du lesen möchtest.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
Eine pausbäckige Frau in einem langen gelben Baumwollkleid aus fließendem Stoff kam eifrig herbeigeeilt. »Wir haben eine große Auswahl an Jugendliteratur.« Sie ging mit Zoe zu den Regalen ganz hinten an der Wand, und Adam hoffte, dass sie mehr Glück haben würde, Zoe zu überzeugen, dass etwas für sie dabei sein mochte, denn was immer er in letzter Zeit sagte, war falsch.
Er gesellte sich zu Zac, der ein Buch von David Walliams und die ganze Harry-Potter-Reihe gefunden hatte, die er ohnehin schon besaß. Doch plötzlich entdeckte Adam jenseits des Parkplatzes hinter der Bibliothek leuchtend gelbe Falttüren, von denen ein Segment offen stand und einen Blick ins Innere gewährte, wo sich gerade jemand zu schaffen machte. »Das ist unser Glücksverleih«, erklärte die Frau, die Zoe die Jugendbuchabteilung gezeigt hatte. »Eine ganz neue Bürgerinitiative für Cloverdale. Bald ist die Eröffnung.«
»Und was ist ein Glücksverleih?«
»Oh, eine großartige Sache. Eine Verleihbörse. Jennifer – sie ist dafür zuständig, ich muss Sie Ihnen unbedingt vorstellen – nun, sie hat alles organisiert und mit Geschäftsleuten verhandelt, damit es möglichst viele unterschiedliche Produkte geben wird. Wir haben zum Beispiel einen Brotbackautomat – auf den habe ich schon ein Auge geworfen – eine Nudelmaschine, Rasenmäher, einen Rechen, ein Badmintonset …« Sie runzelte konzentriert die Stirn. »Im Moment fällt mir nichts mehr ein. Jedenfalls können sich die Leute für ein paar Pfund etwas leihen und die Sachen zurückgeben, wenn sie sie nicht mehr brauchen. Ich hätte mir nämlich vor ein paar Wochen beinahe einen Brotbackautomat gekauft, wissen Sie, aber Jennifer meinte, ich solle warten und ihn mir erst einmal borgen, damit ich ihn ausprobieren kann, und ich dachte, na ja, warum nicht? Wie ich mich kenne, habe ich das Brotbacken schnell wieder satt, und dann schimpft mein Mann, weil ich unnötig Geld ausgegeben habe.« Sie lachte so laut, dass Zoe, die sich tatsächlich herabgelassen hatte, in ein Buch zu blicken, aufschaute und eine Grimasse zog.
»Ich bin übrigens Elaine«, fuhr die Frau fort, als sie ihren Redeschwall unterbrechen musste, um Luft zu holen. »Und Sie sind?«
»Adam.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Das ist meine Tochter Zoe, mein Sohn Zac läuft hier auch irgendwo herum.« Er war entschlossen, sich zu bemühen. Schließlich waren sie deshalb nach Cloverdale gekommen. Sie waren von Australien nach London gezogen, doch das Leben in der Großstadt war nicht das gewesen, was er im Sinn gehabt hatte. Die Anonymität gefiel ihm, doch die Kinder brauchten mehr Platz, und London war ein zu teures Pflaster, als dass er etwas in der Größenordnung, die ihm vorschwebte, hätte kaufen können. Also hatte er angefangen, sich in den Orten umzusehen, die näher an seiner Arbeitsstelle lagen und gute Schulen und bezahlbaren Wohnraum hatten. Dabei war er auf ein Angebot in Cloverdale gestoßen, und so waren sie hergekommen.
»Oh, so ein entzückender Akzent, Adam. Woher kommen Sie?«
»Aus England.«
»Das kann doch nicht sein. Sie klingen auf jeden Fall nach Neuseeland.«
»Wenn nach Australien, aber es kann sich nur um eine leichte Färbung handeln. Ich bin hier geboren.« Los, Kinder, dachte er bei sich. Seht zu, dass ihr euch etwas aussucht und lasst uns abhauen.
»Und was hat Sie dazu gebracht, zurückzukehren? Die Familie?«
»So ungefähr.« Zum Glück kam Zac gerade im rechten Augenblick zu ihnen und fragte, ob er einen Mitgliedsausweis bekommen könne.
Sofort ratterte Elaine herunter, was sie dazu alles vorlegen mussten, und Adam nutzte die Chance, um die Flucht zu ergreifen, ehe sie noch weitere Fragen stellen konnte. Sie würden ein andermal wiederkommen, versicherte er ihr.
»Hat mich jedenfalls gefreut«, rief Elaine ihnen hinterher.
Er hob die Hand zum Abschied, trat hinaus in die Sommerbrise und war froh, ihrer Neugier entkommen zu sein. Eine übereifrige Klatschtante war nun wirklich das Letzte, was er gebrauchen konnte.
Adam war vollkommen erledigt. Er war erst seit vierundzwanzig Stunden in Cloverdale, im Cottage stapelten sich überall Kartons, die Kinder zankten sich, und Zac hatte ein volles Glas Schwarze-Johannisbeer-Limonade vom Fensterbrett gestoßen, sodass sich der Inhalt auf den Teppich verteilt hatte und Adam losgelaufen war, um Putzzeug zu kaufen. Mit Bürste und Reiniger hatte er den Teppich bearbeitet, der nun trocknen musste, weswegen er Zacs Matratze sehr zu Zoes Missfallen in ihr Zimmer geschleppt hatte, und nun lag er erschöpft auf dem Sofa und hatte das zweifelhafte Vergnügen, ihrer nicht enden wollenden Zankerei zu lauschen. Unbegreiflich, warum sie nicht für eine einzige Nacht in ein und demselben Raum schlafen konnten; schließlich hatten sie sich in den vergangenen drei Jahren in London ein Zimmer geteilt. Allerdings waren sie auch erst elf und sechs gewesen, als sie nach England gekommen waren, und hatten einander Halt gegeben. Inzwischen war Zoe jedoch zum Teenager mutiert, und er hätte sich denken können, dass die Harmonie nicht andauern würde.
Auf dem Weg in die Küche stolperte er über eine Kiste im Flur, fluchte leise und trat das Ding frustriert beiseite. Und weil es so guttat, sich abzureagieren, trat er auch noch gegen die nächste, die übernächste und jede weitere Kiste, die ihm im Weg stand.
In der Küche atmete ein paarmal tief ein und aus, um sich zu beruhigen, ehe er nach oben ging, um ein ernstes Wort mit seinen Kindern zu reden.
In seinem erschöpften Zustand war er offenbar so leise aufgetreten, dass die beiden ihn nicht gehört hatten, und bevor er an die Tür zu Zoes Zimmer klopfte, blieb er stehen und lauschte. Er lächelte; die beiden spielten Serienraten: Einer klopfte die Titelmelodie einer Fernsehserie an die Wand, und der andere musste sie erkennen. Zwei Runden lang hörte er zu; Zoe klopfte Neighbours, was Zac sofort erriet, Zac anschließend Krieg der Sterne, woraufhin Zoe schimpfte, das sei so jungstypisch, dass sie es nie hätte raten können. Adam wollte gerade eintreten, als Zac das Thema wechselte.
»Zoe? Bleiben wir jetzt eigentlich hier wohnen?«
»Na, klar, Dumbo. Dad hat das Haus ja schließlich gekauft.«
»Nenn mich nicht Dumbo.«
»Tut mir leid.«
Seine Tochter musste sehr müde sein, wenn sie sich ohne lange Diskussion entschuldigte, dachte Adam. An den meisten Tagen duldete Zoe ihren kleinen Bruder einfach nur, doch manchmal bemutterte sie ihn regelrecht, was rührend zu beobachten war. Nicht zum ersten Mal fragte Adam sich, ob dieser erneute Umzug Zac wieder zum Bettnässer machen würde wie damals, als sie Australien verlassen hatten, was angesichts der abrupten Abreise kaum verwundern konnte. In den vergangenen drei Jahren hatte es immer wieder solche Phasen gegeben, und einmal hatte Adam versucht, Zac dazu zu überreden, über Nacht wieder Windelhöschen zu tragen, aber er hatte sich vehement und mit viel Geschrei geweigert, er sei schließlich kein Baby mehr. Und so hatte Adam Nacht für Nacht Bettlaken gewechselt und manchmal auch die Decke, wenn sie sich um den kleinen schlafenden Körper gewickelt und vollgesogen hatte. Seit drei Monaten jedoch hatte Zac nicht mehr ins Bett gemacht, und Adam drückte sich selbst die Daumen, dass dieser Ortswechsel keinen Rückfall auslöste.
»Und red nicht wieder im Schlaf«, sagte Zac nun, und Adam musste grinsen. Er liebte es, die beiden zu belauschen. Wenn sie ganz allein waren und nichts darstellen zu müssen glaubten, plapperten sie wie die Kinder, die sie waren.
»Ich rede nicht im Schlaf.«
»Tust du wohl.«
»Halt die Klappe, Zac. Ich bin müde.«
Auch an Zoe war das Gefühlschaos nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatte zwar nicht ins Bett gemacht, sich aber in der Anfangszeit nach ihrer Ausreise mit Albträumen herumschlagen müssen, aus denen sie schreiend erwacht war. Mehr als einmal war er ins Zimmer gestürzt, um sie in die Arme zu ziehen und wieder in den Schlaf zu wiegen, und zum Glück beruhigte sie sich meist schnell wieder und stellte auch nicht zu viele Fragen. Irgendwann hatten die Albträume dann aufgehört. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht träumte sie immer noch Schreckliches, erzählte es ihm bloß nicht mehr.
»Zoe …?«
»Zac. Schlaf endlich.«
»Zo-Zo …«
»Nenn mich ja nie wieder so!«
Oje. Auch Adam hatte vor einiger Zeit noch einmal versucht, sie mit ihrem Kosenamen von früher anzusprechen, und die gleiche Reaktion kassiert. Armer Zac. Er war wahrscheinlich durch den Umzug furchtbar aufgekratzt und wollte sich bloß selbst beruhigen, indem er das tat, was er immer schon getan hatte – mit seiner großen Schwester reden. Zoe schien manchmal zu vergessen, dass er erst neun Jahre alt war, aber schließlich war sie ja auch erst vierzehn und damit für das, was die beiden zu verkraften hatten, selbst noch viel zu jung.
»Warum will Mum uns nicht mehr, Zoe?«
»Weiß ich nicht, Zac.« Ihre Stimme bebte, aber Adam wusste, dass sie sich bemühte, für ihren Bruder tapfer zu sein.
»Hat sie uns denn nicht mehr lieb?«
»Weiß ich nicht.«
»Du weißt ja gar nichts.«
»Gute Nacht, Zac.«
Doch Zac antwortete nicht. Und Adam kam der Verdacht, dass er diese Nacht wieder ein Bett frisch beziehen würde müssen.
Eine Woche später erwachte Adam zum ersten Mal, seit sie hier eingezogen waren, aus herrlich tiefem Schlaf. Helles Sonnenlicht strömte durch die Fenster. Der Umzug war hart gewesen, doch Lilliput Cottage zu kaufen und dadurch das Gefühl einer gewissen Sesshaftigkeit zu entwickeln, musste geholfen haben. Und weder war Zoe eine einzige Nacht schreiend aufgewacht, noch hatte er Zacs Bettzeug wechseln müssen. Beide schienen sich zu akklimatisieren, und er war es ihnen schuldig, das ebenfalls zu tun.
Er hatte sich freigenommen, um sich um die Kinder kümmern zu können, und die vergangenen Tage waren zum Bersten voll gewesen. Sie hatten Schuluniformen und Materialien – von Stiften über Geodreiecke bis zu Taschenrechnern und neuen Mäppchen – gekauft und sie hatten ausgekundschaftet, wie man am besten mit dem Auto und zu Fuß zur Schule kam. Tatsächlich hatten die beiden sogar schon erste Freundschaften geschlossen; als sie in die Bücherei zurückgekehrt waren, hatte Zoe ein Mädchen namens Ava getroffen und sich auf Anhieb mit ihr verstanden, während Zac auf dem Spielplatz Archie kennengelernt hatte, der, wie sich herausgestellt hatte, der Sohn der Frau war, die die Verleihbörse organisierte. Es hatte Jennifer kaum eine Sekunde gekostet, Adam als Hilfskraft zu rekrutieren.
Also war er ihr ins Nebengebäude gefolgt und hatte sein DIY-Talent demonstriert, indem er diverse Regalelemente zusammengesteckt und mit ihr einen schweren Tisch hereingeschleppt hatte, während die Jungen auf dem Parkplatz Ball gespielt hatten. Heute würde die Börse eröffnet werden, und er hatte sich freiwillig als Helfer gemeldet, da es höchste Zeit war, sich in die Gemeinde zu integrieren und hier in Cloverdale anzukommen. Denn im Pub ein einsames Bier zu trinken, galt nun wirklich nicht als Vorstoß zur Eingliederung.
An London hatte Adam gefallen, dass niemand Fragen stellte. Jeder kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten, und niemand erwartete, dass die Parkers sich erklärten. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass es in einem Dorf anders laufen würde, aber solange niemand in seinem Vorleben herumschnüffelte, war alles in Ordnung. Und um Elaine würde er einfach eine Weile einen großen Bogen machen. Er wusste, dass ihr Fragen auf der Zunge brannten, und gab er ihr die Gelegenheit, würde sie sie früher oder später stellen.
Das aber konnte er nicht zulassen. Denn niemand durfte herausfinden, was passiert war.
2. Kapitel
Jennifer schloss die gelbe Tür auf, und da draußen strahlender Sonnenschein herrschte und kein Regenwölkchen in Sicht war, beschloss sie, dass sie die Faltsegmente bis an die gegenüberliegende Wand zurückschieben würde. Im Zuge der Renovierung dieser Nebengebäude – einst hatte eine Reihe von vier ungenutzten Garagen den Parkplatz hinter der Ladenzeile mit der Bücherei gesäumt – waren rundherum große Fenster eingebaut worden, durch die nun das Sonnenlicht hereinfiel.
Mit Verve hatte Jennifer sich in das Projekt gestürzt, in Cloverdale eine Verleihbörse zu etablieren. Nach dem Unheil, das sie vor acht Jahren über ihre Familie gebracht hatte, war sie ohne großes Aufheben wieder in die Rolle der Hausfrau und Mutter dreier Kinder zurückgekehrt. Doch in letzter Zeit hatte sie sich immer stärker nach einer Aufgabe mit Perspektive gesehnt, und als sie vergangenes Jahr bei einer Freundin in Crystal Palace gewesen war, hatte sie eine gefunden. Ihre Freundin hatte Wein auf den Teppich verschüttet und Jennifer unverständlicherweise eine Straße weiter in eine Bücherei geschleift, und dort war Jennifer zum ersten Mal dem Konzept der Verleihbörse begegnet. Rebecca, die Gründerin, hatte gerade eine Präsentation für Interessierte beendet, die die Idee in ihren eigenen Gemeinden umsetzen wollten, und während ihre Freundin sich einen Teppichreiniger auslieh, meldete Jennifer sich für die nächste Präsentation an.
Als sie wenig später die Bücherei verließen, war Jennifer nicht nur von einem weiteren Glas Wein etwas angeheitert, sondern auch wie elektrisiert von der Idee, etwas Ähnliches in Cloverdale einzurichten. Zwei Wochen später besaß sie weitere Informationen und war wild entschlossen, dieses Projekt zu realisieren. Denn der vielgepriesene Gemeinschaftssinn Cloverdales, von dem ihre Mutter immer geschwärmt hatte, musste dringend wiederbelebt werden. Irgendwie war er dem Ort in der Hektik des modernen Lebens abhandengekommen, und Jennifer sehnte sich danach, ihn wieder zurückzuholen. Sie liebte das Dorf mit dem vielen Grün, dem Ententeich, der von einem weißen Lattenzaun umgeben war, dem Pub im Fachwerkhaus und den hübschen alten Häuschen in allen Größen und Farben. Es gab eine kleine Bäckerei, ein Postamt, dessen Verschwinden sehr traurig gewesen wäre, und einen Spielplatz auf der Wiese. Und es war ihr Zuhause.
Nach einem zweiten Treffen mit Rebecca hatte Jennifer die Besitzer der Buddleia-Farm angesprochen – einem wunderschönen Anwesen mit einem ummauerten Garten, einem Springbrunnen, üppigem Baumbestand und einem See, der von Eichen umgeben war. Der Hof wurde seit Generationen von einer Familie bewirtschaftet, deren Angehörige als großzügige Philanthropen bekannt waren und verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen unterstützten. Jennifer hatte ihre Chance gesehen, sie ins Boot geholt, mit dem Stadtrat Verbindung aufgenommen, und dann hatte sie loslegen können.
Und nun würde der Glücksverleih, wie sie ihn getauft hatten, hinter den gelben Türen endlich Realität werden, auf dass die Bürger Cloverdales sich bei der feierlichen Eröffnung unter freiem Himmel selbst ein Bild machen konnten, was diese neue Einrichtung zu bieten hatte.
Die unterschiedlichsten Gegenstände befanden sich in den Regalen an der Wand – vom Rasenmäher und Heckentrimmer bis zu einem Tapetenablöser und einer Nagelpistole. Die meisten Sachen waren brandneu; viele Händler hatten ihr satte Rabatte gewährt oder ihr die Stücke sogar geschenkt, nachdem sie ihnen vor ihrem Vorhaben berichtet hatte, andere wiederum waren Spenden von Mitbürgern, und nicht über alle war Jennifer glücklich gewesen. Als sie zu erklären begonnen hatte, wie ihr Plan aussah und warum sie zur Vorbereitung die Türen an dem Nebengebäude der Bücherei strich, brachten Einwohner ihr unter anderem alte Lampenschirme, Brettspiele und Puzzles, bei denen Teile fehlten, einen kaputten Projektor und einen Mixer, der schon so alt war, dass er sich nicht mehr ohne Risiko bedienen ließ. Und so hatte sich Jennifer gezwungen gesehen, einige Gaben höflich abzulehnen. Sehr willkommen dagegen war eine nagelneue Nähmaschine von Belinda, deren Kinder auf dieselbe Schule gingen wie Jennifers. Sie war von Beruf Schneiderin und hatte eine Maschine zum Vorzugspreis bekommen. Wesley, der Schreiner, spendete einen Bohrhammer, den er von seinem Vater zu Weihnachten bekommen hatte; er hatte kurz zuvor genau dasselbe Modell selbst gekauft, es jedoch nicht übers Herz gebracht, es seinem Vater zu sagen, der so unheimlich stolz auf seine Geschenkidee gewesen war. Und Danny, der zusammen mit Melody den Pub betrieb, schenkte ihr eine Astschere, die er im Ausverkauf in einem Haushaltswarenladen erstanden, aber nur einmal benutzt hatte. Es hätte keinen Sinn, das Ding zu behalten, hatte er ihr gesagt; er würde die Äste der Bäume im Biergarten frühestens in einem Jahr erneut stutzen müssen, und es würde ihm überhaupt nichts ausmachen, sich die Schere dann gegen eine kleine Gebühr auszuleihen.
»Guten Tag.« Adam tauchte als Erster auf, als sie die verbleibenden Türen aufschloss und die einzelnen Elemente zurückzuschieben begann, um die Verleihbörse in ihrer ganzen Pracht zu enthüllen.
»Warten Sie, lassen Sie mich«, sagte er und erledigte, ganz der Gentleman, die Aufgabe für sie.
»Danke.« Sie blickte hinaus, wo sich die ersten Neugierigen eingefunden hatten. Auf dem Parkplatz stand ein auf alt getrimmter Eiswagen und zog bereits Kunden an. Zwischen den Pfosten links und rechts von der Einfahrt zum Parkplatz flatterten bunte Wimpel, und der Grill wartete nur darauf, in Betrieb genommen zu werden. »Sind Sie noch immer gewillt, den Hot-Dog-Stand zu übernehmen?« Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, um ihm den Einstieg ins Gemeindeleben zu erleichtern, und wie ließe sich leichter mit anderen in Kontakt kommen, als ihnen etwas zu essen auszuhändigen? An einen fremden Ort zu ziehen, war immer schwer; ihr Sohn Archie hatte sich bereits mit Adams Zac angefreundet, und Jennifer hoffte, dass auch Adam sich bald heimisch fühlen würde, damit die Parkers auch auf lange Sicht in Cloverdale blieben.
»Und ob. Ich zahle Zac und Archie jeweils einen Zehner, damit sie mir unter die Arme greifen. Sie können die Würstchen in die Brötchen stecken, Servietten ausgeben und Bestellungen annehmen, während ich mich um den Grill kümmere. Zoe und Ava kassieren und wischen die Tische ab – auch gegen Entlohnung, versteht sich.«
Als Adam nach Zac und Archie rief, damit sie ihm dabei halfen, Brötchen, Würstchen und all die andere Utensilien nach draußen zu schleppen, wischte Jennifer zum zigsten Mal ein letztes Stäubchen vom Tresen, holte tief Luft und wagte sich dann hinaus. Dies war ihr Projekt; sie hatte sehr viel Arbeit und Energie hineingesteckt, und nun würde sie es Cloverdale vorstellen und allen zeigen, was für ein Gewinn es für diesen Ort darstellen würde.
Jennifer betrat ein improvisiertes Podest – es bestand aus einem Küchentritt –, und wandte sich an die Menge der Neugierigen. Sie erklärte, wie sie auf die Idee gestoßen war, wie die Verleihbörse funktionierte und was sie sich für Cloverdale vorstellte. Sie fasste sich kurz – sie wusste, dass die Leute lieber eintreten und sich selbst umschauen wollten –, und da sich bereits der Duft brutzelnder Würstchen über den Parkplatz legte, wurden die Kinder immer unruhiger, fürchteten sie doch, leer auszugehen, wenn sie sich nicht bald anstellten.
»Also, das ist ja schon mal großartig«, sagte Bill aus dem Ort, der als Erster nach Jennifer eingetreten war und einen Gegenstand in die Hand genommen hatte. Es war ein Laubbläser, den Jennifers Vater vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ihr Vater war kurze Zeit später gestorben, ohne das Gerät je benutzt zu haben. Bis vor Kurzem hätte es Jennifer vermutlich traurig gemacht, einem anderen den Laubbläser anzubieten, aber ihr Dad hätte ihn, das wusste sie, selbst ohne Bedenken verliehen, denn so war er eben gewesen – darauf bedacht, an andere zu denken, und immer bereit, etwas für die Gemeinschaft zu tun.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Bill, während er bereits das Plakat hinter dem Tresen studierte, auf dem die Gegenstände und ihre Preise aufgelistet waren.
In ihrer Eröffnungsrede hatte Jennifer anschaulich erklärt, wie der Verleih funktionierte, aber natürlich war ihr von vornherein klar gewesen, dass es sich um einen Lernprozess handeln würde. »Sie wollen den Laubbläser? Stellen Sie ihn bitte noch einmal kurz ab und kommen Sie her, dann zeige ich Ihnen die Abläufe. Sie können von zu Hause aus auf unserer Website einen Gegenstand reservieren, oder Sie kommen her, und wir machen es für Sie.« Nachdem sie ihn gefragt hatte, wie lange er den Laubbläser brauchen würde, buchte sie ihn ein, und er zog zufrieden ab, um das Gerät nach Hause zu bringen, versprach jedoch, zurückzukehren, um sich noch ein Würstchen zu sichern, ehe sie ausverkauft waren.
Elaine meldete ihren Anspruch auf den Brotbackautomaten an, den sie sich hatte vormerken lassen, und wäre vor Eifer, seiner habhaft zu werden, fast über ihre eigenen Füße gestolpert, als sie sah, wie eine andere Frau aus dem Ort das Gerät begutachtete. Fiona aus dem Tante-Emma-Laden borgte sich ein Badminton-Set, und die frischverheiratete Erin wollte für drei Tage das Waffeleisen haben. Adam würde nachher den Dampfreiniger mitnehmen, damit er sich, diesmal mit einem professionellen Gerät, ein zweites Mal am Teppich seines Sohnes versuchen konnte. Er hatte die Fasern mit einer Bürste bearbeitet und eine große saubere Stelle auf einem ansonsten schmutzigen Teppich erzeugt.
Jennifer sah zu Adam hinüber. Die Kinder kamen unter seiner Leitung mit dem Grill bestens zurecht, wie es schien. Zum Glück hatte er auf Jennifers Bitte hin Helfer rekrutiert. Ursprünglich hatte ihre jüngere Schwester Isla für heute zugesagt, aber wie immer dachte sie nur an einen einzigen Menschen, und das war sie selbst. Sie hatte am Morgen bereits zwei Nachrichten geschickt, in denen sie sich entschuldigte, sie müsse einen Yogakurs in elf Meilen Entfernung übernehmen, da der Lehrer wegen eines Magen-Darm-Virus’ ausgefallen war, und könne nicht rechtzeitig bei Jennifer sein, weil sie schließlich auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei.
Natürlich. Jennifer dachte nicht daran, sich durch Islas Unzuverlässigkeit die Eröffnung verderben zu lassen. Die Verleihbörse nahm ihren Betrieb mit oder ohne Isla auf, und man musste wohl anerkennen, dass ihre Schwester durchaus hilfsbereit zu sein schien – nur offenbar nicht gegenüber ihrer eigenen Familie.
Sie verdrängte ihren Ärger und blickte stattdessen erneut zu Adam hinüber, der seine Freiwilligen gerade mit irgendetwas zum Lachen brachte. Sie musste lächeln. Die Mädchen fraßen ihm aus der Hand, und die Jungs schienen seine Scherze zu mögen.
Alles fügte sich zusammen. Und ihre Idee würde wunderbar funktionieren.
Vierzehn Tage später hatte sich die Verleihbörse bereits zu einem Ort entwickelt, an dem man nicht nur Nützliches ausborgen konnte, sondern sich auch traf, um ein wenig zu plaudern oder Neuigkeiten auszutauschen. Was genau das war, was Jennifer im Sinn gehabt hatte.
»Morgen, Jennifer.« Bill, seit Kurzem Witwer, war schon Feuer und Flamme für dieses Unternehmen gewesen, noch ehe die gelbe Farbe der Türen richtig getrocknet gewesen war. Er saß im Stadtrat, und sie vermutete, dass er Druck gemacht hatte, damit die Verleihbörse rasch zu arbeiten beginnen konnte.
»Was haben Sie denn da?« Sie deutete mit dem Kopf auf den großen Karton, den er schon auf dem Tisch abgestellt hatte, auf dem die zurückgebrachten Sachen überprüft wurden, ehe sie wieder in ihre Fächer geräumt wurden.
»Ronnies Nähmaschine.«
»Kommen Sie denn auch zum Nähkurs?« Jennifer hatte sich vorgenommen, in den Räumlichkeiten auch Workshops anzubieten, durch die die Einwohner nicht nur Neues lernen oder ihre Fähigkeiten verbessern, sondern sich auch in einem ganz anderen Rahmen begegnen konnten. Heute Abend würde der erste stattfinden, bei dem sich alles ums Nähen drehte, doch sie hatte bereits zwei weitere Kurse in petto.
»Nichts gegen Handarbeiten, aber das ist wirklich nicht so meins. Dennoch wollte ich Ihnen die Maschine vorbeibringen. Vielleicht können Sie sie nutzen.«
»Danke, das ist sehr nett. Aber Sie wissen ja: Man ist nie zu alt, um etwas Neues zu lernen. Sie könnten es doch mit Ronnies Maschine versuchen. Andere bringen auch eine mit.«
»Ronnie würde sich im Grab umdrehen, wenn sie wüsste, dass ich ihre Nähmaschine benutze.« Er lachte leise. »Nein, danke, ich passe. Aber ›Bohren für Anfänger‹ interessiert mich. Ich habe mir eine nagelneue Bohrmaschine mit allen Schikanen gekauft und keine Ahnung, wie ich das Ding benutzen soll. Die Gebrauchsanweisung ist mir ein Rätsel.«
Jennifer trat an den Computer, rief den Kalender auf, suchte den besagten Workshop heraus und trug Bill ein. »Adam Parker macht das.« Sie berechnete eine geringe Gebühr für die Teilnahme an den Workshops, aber das Geld floss direkt in den Erhalt der Verleihbörse – Reinigungsmittel, Ersatzteile, den Betrieb der kleinen Küche hinten.
»Ich weiß nicht so recht, was ich von der Familie halten soll.«
»Von den Parkers? Sie sind nett.«
»Ja, das sind sie, aber auch irgendwie … verschlossen.«
»Inwiefern?«
»Na ja, wir wissen rein gar nichts über sie. Ist Adam geschieden? Verwitwet? Getrennt? Schwul?«
»Bill, ich finde es nicht fair, hinter seinem Rücken darüber zu reden.«
»Sie haben natürlich recht. Aber ich habe ihn schon ein paarmal im Pub gesehen, wo er sich immer in eine Ecke setzt, jeden Blickkontakt meidet und so aussieht, als laste die ganze Welt auf seinen Schultern.«
»Ich versuche, ihn bei möglichst vielen Gelegenheiten einzubinden. Vielleicht wagt er sich aus seinem Schneckenhaus, wenn er mehr Leute kennt.«
»Das kann sein. Und er wirkt auf mich wie ein guter Kerl – sein Heimwerkerkurs wird bestimmt gut. Wir lassen einfach nicht zu, dass er sich vor uns versteckt.«
Sie musste lachen. »So machen wir’s.«
»Sie sind wirklich ein Schatz, wissen Sie das? Ihre Idee mit der Verleihbörse – das war etwas, was viele Leute gebraucht haben, und ich gehöre dazu.«
Jennifer griff nach seiner Hand und drückte sie. »Danke. Das freut mich sehr.«
»Früher war ich eigentlich auch kein schlechter Heimwerker«, sagte er hastig, um ja nichts aufkommen zu lassen, was auch nur entfernt ans Emotionale grenzte. »Aber Ronnies Gerümpel hat dem ein Ende gesetzt.«
Bills Frau war im wahrsten Sinne des Wortes eine Sammlerin gewesen, ein Messie, und nach ihrem Tod hatte Bill schwer geschuftet, um sein Haus im Alleingang auszumisten. Drei Tage lang hatte ein Container vor seinem Haus gestanden, und als Jennifer ihn immer wieder mit vollen Armen von der Tür zum Abladeplatz hatte gehen sehen, hatte sie ihn gefragt, ob er umräumte. Eine Unterhaltung hatte sich entwickelt, und bald hatte er ihr gestanden, wie schwer es in den vergangenen vier Jahren für ihn gewesen war. Er und seine Frau hatten keine Kinder und niemanden außer einander zum Reden gehabt, und Bill war von der Einrichtung von Jennifers Gemeindeprojekt fast genauso begeistert gewesen wie Jennifer selbst. Er hatte diverse originalverpackte Gegenstände – ein Schraubendreherset, einen Sandwichmaker, verschiedene Backformen – gespendet, die Ronnie gekauft und niemals benutzt hatte, und Jennifer wusste, dass es ihm in dieser schwierigen Zeit geholfen hatte, sich eine Weile auf etwas vollkommen anderes konzentrieren zu können.
»Jedenfalls sind Sie herzlich willkommen, wenn Sie es sich doch noch anders überlegen«, sagte Jennifer nun. »Belinda leitet den Kurs, aber wenn Sie heute Abend nicht kommen können oder wollen, haben Sie in den kommenden Wochen noch andere Möglichkeiten.«
»Dann vielleicht das nächste Mal.« Er runzelte die Stirn. »Ich könnte nämlich durchaus ein paar neue Vorhänge gebrauchen, und in der Schublade liegt seit Jahren der passende Stoff dafür.«
Jennifer lehnte sich an den Tresen. Das war es, weswegen die Leute kamen – sie liehen sich nicht nur etwas, sie teilten auch ihre Geschichten. »Haben Sie viele Sachen Ihrer Frau behalten?«
»Na ja, Sie haben ja gesehen, was auf den Sperrmüll gegangen ist. Aber es gab ein paar Dinge, die definitiv zu schade dafür waren, und der Vorhangstoff ist ziemlich schick. Aus Samt, extralang und perfekt für das Fenster im Wohnzimmer.«
»Dann wäre der Basisnähkurs genau das Richtige für Sie.«
Er zwinkerte ihr zu. »Irgendwann mache ich es, versprochen.« Und vielleicht tat er es ja tatsächlich.
»Sind die Kinder wieder in der Schule?« Bill setzte seine Tweedkappe auf.
»Noch nicht. Zwei Tage noch. Eigentlich schade, man hat sonst so wenig von ihnen. Und Archie ist noch jung genug, dass er mit seiner Mutter kuscheln mag.« Jennifer vermutete, dass dieser besondere Luxus bald ein Ende haben würde. Der Junge war jetzt neun, die Zwillinge Amelia und Katie waren sechzehn geworden. Alles veränderte sich.
»Sie werden einfach zu schnell groß, nicht wahr?« Bill tippte sich zum Abschied an die Mütze.
»Denken Sie mal über den Workshop nach«, rief sie ihm hinterher.
Jennifer setzte sich an den Tresen vor den Computer, um die Buchungen durchzusehen, damit sie wusste, worauf sie sich einstellen musste. Es tat ihr gut, beschäftigt zu sein; manchmal brauchte sie diese Einrichtung mehr als jeder andere. »Jeder sollte ein Hobby haben«, hatte ihr Mann David gesagt, als sie ihm von dieser Initiative erzählt hatte. Es hätte nur noch gefehlt, dass er ihr gönnerhaft auf die Schulter geklopft hätte. Als Pharmavertreter war er viel beschäftigt, aber immer, wenn sie sich über seinen Mangel an Zeit für die Familie ärgerte, ermahnte sie sich, dass er ein guter, zuverlässiger Partner war, der sie und die Kinder versorgte – und der auch dann an ihrer Seite gewesen war, als sie sie alle in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Es gab schlechtere Daseinsformen. Dennoch fragte sie sich manchmal, wann sie aufgehört hatten, sich als Paar zu sehen.
Als sie David kennengelernt hatte, hatte sie für einen Topfriseur in Exeter gearbeitet, eine steile Karriere vor sich gehabt und von einem eigenen Geschäft geträumt. David war ihr am Strand von Cornwall begegnet. Er war Student und leidenschaftlicher Surfer gewesen und hatte nach dem Studium ziemlich bald eine Stelle in der Pharmaindustrie bekommen. David hatte nie einen Hehl aus seinen Ambitionen gemacht, und eine Weile lang stiegen sie beide die Karriereleiter empor. Ihr gemeinsamer Ehrgeiz schweißte sie zusammen und trieb sie im gleichen Tempo an, doch nachdem sie geheiratet hatten und die Zwillinge auf der Welt waren, war es damit vorbei. Ihre Karriere wurde auf Eis gelegt und damit ein Stück ihrer Persönlichkeit, das sie nie wieder vollständig zurückerlangt hatte. Einmal hatte sie es probiert, aber das war gründlich schiefgegangen, und beinahe hätte sie dadurch viele Existenzen ruiniert.
In der kommenden Stunde sorgte Jennifer dafür, dass die online reservierten Artikel zum Verleih bereit waren. Ihre Gedanken wanderten zu dem, was Bill über die Parkers gesagt hatte. Sie gaben wirklich nicht viel von sich preis, und Bill hatte recht: Manchmal wich Adam regelrecht aus, wenn man ihm eine Frage zu seinem früheren Leben stellte. Doch sie ging fest davon aus, dass er mit der Zeit seine Zurückhaltung aufgeben würde. Er war ihr bereits ein Freund geworden, der zuhörte, wenn sie sich etwas von der Seele reden musste. Während er die Regale aufgebaut hatte, hatte sie sich über das Verhalten ihrer Teenager und ihre mangelnde Wertschätzung beklagt, und gemeinsam hatten sie über den neuen Lehrer der Jungen gelacht, der vielleicht ein bisschen zu streng für eine Grundschulklasse war, den beiden aber helfen mochte, sich in den Schulalltag einzufügen. Alles in allem war das genau die Art von Geplauder, die Jennifer vermisste, weil ihr als Hausfrau und Mutter der Input von außen fehlte, und sie war froh, dass die Parkers hergezogen waren, was auch immer ihre Beweggründe dafür gewesen sein mochten.
Sie kontrollierte die Nudelmaschine und ging die Auflistung der einzelnen Teile durch, um sich zu vergewissern, dass alles da war. Freda Livingstone wollte sie für drei Tage haben, weil ihre Tochter, die Köchin werden wollte, gerade ihre Leidenschaft für Pasta entdeckt hatte. »Ich sehe nicht ein, wieso ich für ein Gerät blechen soll, an dem sie nach wenigen Tagen ohnehin das Interesse verliert«, hatte Freda gesagt, als sie bei Jennifer vorbeischaute, um nachzufragen, welche Küchengeräte verfügbar waren. Für eine anständige Pastamaschine musste man mindestens dreißig Pfund hinlegen, doch für weniger als einen Fünfer konnte Freda sie sich hier für ein paar Tage ausborgen und würde danach wissen, ob es sich lohnte, das Geld zu investieren. Freda hatte sich außerdem farbenfrohe Spaghettiteller reservieren lassen, damit ihre Tochter so tun konnte, als organisiere sie ein offizielles Essen, auch wenn sie letztlich nur ihre Familie verköstigte.
Als nächster erschien der einundzwanzigjährige Mason in der Tür und brachte eine Kiste voller Weingläser zurück.
»Wie war die Party?«, fragte Jennifer.
»Sehr cool.«
»Freut mich.«
»Soll ich besser warten, während Sie sie überprüfen? Es ist kein einziges zu Bruch gegangen, und ich habe alle gespült und abgetrocknet.«
Bisher hatten schon einige jüngere Leute aus Cloverdale etwas geliehen, und Jennifer hoffte, dass es noch mehr werden würden, damit der Glücksverleih noch viele Jahre bestehen konnte. »Ach, geh nur schon. Ich bin sicher, dass alles okay ist.«
Er bedankte sich und ging seiner Wege, und als Jennifer die Kiste durchsah und zufrieden feststellte, dass sie sie ohne Weiteres einräumen konnte, meldete ihr ihr Handy eine eingehende Nachricht von Isla, die ihr schrieb, sie sei auf dem Weg, um den Scheinwerfer abzuholen, den sie reserviert hatte.
Die Schwestern waren in mehr als einer Hinsicht unterschiedlich. Jennifer hatte von ihrer Mutter die schwarzen üppigen Locken geerbt, die sich standhaft an ihre Farbe klammerten, obwohl Jennifer nächstes Jahr bereits vierzig wurde, während Isla das kastanienbraune Haar ihres Vaters besaß, das vermutlich nach und nach ergrauen würde. Jennifer hatte ihre Karriere und ihre Träume für ihre Familie geopfert, während Isla, jung, frei und alleinstehend, gemäß dem Motto »Die Welt liegt dir zu Füßen« ausgiebig gereist war und sich amüsiert hatte. Hinzu kam, dass Jennifer für ihre beiden Eltern dagewesen war, als sie krankheitsbedingt Hilfe benötigt hatten. Isla dagegen hatte sich kaum blicken lassen.
Aber nun war sie zurück. Sie hatten ihre Mutter im Frühling verloren, und die Weltenbummlerin war endlich für mehr als nur eine Stippvisite nach Hause gekommen. Das Haus, in dem ihre Eltern Jahrzehnte lang gewohnt hatten und in dem Jennifer und Isla aufgewachsen waren, gehörte nun ihnen beiden, und sie würden sich bald überlegen müssen, was sie damit tun sollten. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass zunächst Isla dort einziehen und es im Hinblick auf einen Verkauf renovieren würde. Sobald sich der Immobilienmarkt erholt hatte, wollten sie es schätzen lassen und endgültige Entscheidungen treffen.
Nicht lange nach dem Eingang der Nachricht tauchte Isla selbst auf, um den Scheinwerfer zu bezahlen und abzuholen. »Wofür brauchst du ihn überhaupt?«, fragte Jennifer. Sie würde sich hüten, Isla spüren zu lassen, wie verärgert sie über ihre Unzuverlässigkeit war. Vielleicht würde sie prompt wieder abreisen, und wenn es etwas gab, das ihre Eltern sich gewünscht hatten, dann, dass die beiden Schwestern auf immer und ewig ein inniges Verhältnis haben würden. Und nach dem, was sie wegen Jennifer hatten durchmachen müssen, stand für sie außer Frage, dass sie ihre Wünsche respektierte. Daher biss sie sich auch jetzt auf die Zunge und gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. »Willst du wieder zu tanzen anfangen?«
Als Isla noch davon geträumt hatte, Tänzerin zu werden, hatte sie gerne für andere etwas aufgeführt und ihre provisorische Bühne in Ermangelung echter Scheinwerfer mit Tischlampen ausgeleuchtet.
Jennifer war nicht davon ausgegangen, mit ihrer Anspielung auf Islas Tanzkarriere, die sie von einem Tag auf den anderen beendet hatte, einen wunden Punkt zu treffen, aber nach Islas steifer Reaktion zu urteilen, hatte sie das augenscheinlich. Vielleicht hätte sie besser den Mund gehalten, als zu versuchen, Konversation zu machen.
»Ich muss auf den Dachboden. Ich habe es mit der Taschenlampen-App versucht, aber das Licht reicht nicht aus«, erklärte Isla von oben herab, als habe sie eine ausgesprochen dumme Frage gestellt. »Mit dem Scheinwerfer sollte es funktionieren.«
»Gibst du heute keine Kurse?« Vielleicht war es klüger, alle Themen zu meiden, die Isla reizen konnten. Jennifer war nicht in der Stimmung für eine Machtprobe.
»Nein. Heute nicht.«
»Und wie läuft es so?«
Isla hatte schnell Kontakte geknüpft; sie war als Geschäftsfrau weitaus effektiver, als Jennifer je für möglich gehalten hätte. Sie lehrte in verschiedenen Studios Yoga und gab außerdem Privatstunden, was mehr Geld einbrachte. Sie hatte sogar davon gesprochen, ein eigenes Studio im oder in der Nähe des Ortes einzurichten, was in Jennifers Augen so gar nicht zu der Isla passte, die keine fünf Minuten an einer Stelle bleiben konnte.
»Wenn das eine weitere Spitze werden soll, weil ich nicht bei deiner Eröffnung geholfen habe –«
»Nein, soll es nicht.« Das lief gar nicht gut. »Aber Moment mal. Ich dachte, Mum hätte den Dachboden schon vor einer Ewigkeit ausgeräumt.«
»Weißt du noch, wie du und ich in dem alten Verschlag im Garten ein Spielhäuschen bauen wollten?«
Jennifer empfand einen Stich Trauer, dass ihre Eltern nicht mehr bei ihnen waren. »Na klar, das werde ich wohl nie vergessen. Es war so ekelig – dass ich mich damals darauf eingelassen habe! Und du warst so gründlich und hast tatsächlich alle Schnecken und Krabbeltiere eingesammelt! Igitt!«
»Tja, Mum mag gesagt haben, dass das mit dem Dachboden erledigt ist, aber wenn ich an den Staub hinter der Garderobe, unterm Bett und hinten in der Vorratskammer denke, sehe ich mir das lieber noch einmal selbst an.« Sie zwinkerte ihr zu, und einen Moment lang war sie wieder die alte sorglose Isla. »Ich wollte mich von oben nach unten durcharbeiten. Wenn der Schmutz herabrieselt, muss ich wenigstens nur einmal putzen, ehe ich mit dem spaßigen Teil anfangen kann – gestalten und neu einrichten.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Schnur lang genug ist. Warte, ich gebe dir für alle Fälle das Verlängerungskabel mit. Probier es aus, und wenn du es nicht brauchst, bringst du es mir einfach wieder. Sonst wären es zwei Pfund am Tag.«
»Ich glaube, die zwei Pfund kann ich mir durchaus leisten.« Sie zog einen Fünfer aus der Tasche und legte das zusammengerollte Kabel in die Kiste für den Scheinwerfer. »Ich wünsche dir einen schönen Tag«, fügte sie lächelnd hinzu und ging federnden Schrittes davon.
Isla, Nesthäkchen der Familie, eigensinnig, wild, unberechenbar … und nun wieder zurück in Cloverdale. Stellte sich nur die Frage, ob sie diesmal wirklich zu bleiben gedachte. Und was sie damals ursprünglich zum Aufbruch bewegt hatte.