Das Buch
»James fiel auf, dass er die Landschaft jenseits des Umleitungsschilds überhaupt nicht beachtet hatte. Hinter der orangefarbenen Straßensperre hatte sich die Straße einfach weitergeschlängelt. Ihm kam ein verrückter Gedanke … was wäre, wenn es hinter der Sperre überhaupt keinen Erdrutsch gegeben hatte? Was wäre, wenn diese Umleitung nur eine Finte gewesen war, um sie hierher zu locken, genau wie den armen Glen Floyd?
Ein eisiger Schauer kroch seinen Rücken hinauf und blieb zwischen den Schulterblättern kleben. Wenn das hier eine Finte war, dann hatte sie bestens funktioniert. Zwei linksliberale Kalifornier einsam in der Wildnis zwischen roten Felsen mitten in der endlosen Prärie unter einer gnadenlosen Sonne. Um sie herum nur dorniges Gestrüpp und Tiere mit scharfen Krallen und Stacheln. Wenn hier jetzt ein weiteres Fahrzeug auftauchen würde, wäre das sehr wahrscheinlich ein ganz schlechtes Zeichen. Denn wenn man der eigenwilligen Logik von Deputy Doogie Howser folgte, dann konnte es sich bei dem Insassen nur um denjenigen handeln, der Glen Floyd ein Loch in den Kopf geschossen hatte.«
Der Autor
Taylor Adams ist Filmregisseur und Autor. Nach seinem Abschluss an der Eastern Washington University sorgte Adams für erstes Aufsehen, als sein Debütfilm auf dem Seattle True Independent Film Festival gezeigt wurde. Mit dem Thriller »No Exit« gelang ihm sein erster internationaler Erfolg als Autor, die Verfilmung ist in Vorbereitung. Adams lebt im Bundesstaat Washington.
Lieferbare Titel
NO EXIT
TAYLOR ADAMS
NO
MERCY
DIESE FAHRT ÜBERLEBST DU NICHT
THRILLER
Aus dem Englischen
von Robert Brack
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel EYESHOT.
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Deutsche Erstausgabe 01/2021
Copyright © 2014 by Taylor Adams
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Viktor Birkus, Ysbrand Cosijn, Sascha Burkard, Runrun2, Thorsten Nieder, Fiore, Dinga, piyaphong, Jared Quentin, saiko3p, Oleg Golovnev)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-26758-2
V001
www.heyne.de
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Für Mom, Dad, Riley und Jaclyn.
Vielen Dank für alles.
Für einen Killer machte William Tapp im Moment einen ziemlich lächerlichen Eindruck.
Rein äußerlich betrachtet, bestand er aus abstehenden Zweigen und verdorrtem Gras. Sah aus wie das Ding aus dem Sumpf, das jemand in der glühenden Sonne der Mojave-Wüste zum Trocknen ausgelegt hat. Jetzt kroch und kletterte er über eine Halde aus Geröll am Rand eines Berghangs. Er keuchte laut. Seine Knie schmerzten höllisch. Sein völlig überfordertes Herz pumpte verzweifelt das Blut in die danach lechzenden Körperteile.
Sein Outfit war auch nicht gerade hilfreich. Er trug einen selbst gebastelten Tarnanzug, unter anderem bestehend aus einem Volleyballnetz, in das er Jutestücke und Wüstengestrüpp als Camouflage eingefügt hatte. Es war ungefähr so komfortabel, als würde er ein verdammtes Treibhaus tragen. Hinhocken war kaum möglich, laufen ziemlich schwierig, und zwischendurch kurz mal zu pinkeln hatte sich als Desaster erwiesen.
Endlich erreichte er den Bergkamm. Über ihm dehnte sich der harsche blaue Himmel. Er setzte den Rucksack ab, in dem sich Cheetos, Weingummis und ein Sixpack Energydrinks befanden, und breitete seine Ausrüstung vor sich aus. Die Aussicht von hier oben war atemberaubend. Unter ihm erstreckte sich die Steppe von Nevada, aus der lavendelfarbene Berge ragten, die den Pulitzerpreis verdient hätten. Tapp nahm nichts davon zur Kenntnis.
Er zog die Kapuze seiner Tarnjacke tief ins Gesicht, spürte das Kitzeln des getrockneten Grases an den Lippen und verwandelte sich in einen kaum sichtbaren Schatten, der mit der Prärie verschmolz.
Jetzt machte William Tapp überhaupt keinen Eindruck mehr.
* * *
»Vorsicht!«
James Eversman trat auf die Bremse, und der Toyota RAV4 geriet ins Schlingern, wie ein Schnellboot, das während der Fahrt den Anker auswirft. Er wurde nach vorn geschleudert, dann rastete der Sicherheitsgurt ein und zerrte ihn zurück. Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Ob er mit den Lippen gegen das Lenkrad geknallt war oder sich bloß auf die Zunge gebissen hatte, war ihm nicht ganz klar.
Seine Frau Elle reagierte besser, weil ihre Reflexe von drei Tassen Kaffee am Tag geschärft waren. Es gelang ihr, sich mit den Händen am Armaturenbrett abzustützen. Die braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie zischte etwas, das in seinen Ohren wie »Arsch-Idiot« klang. Sie fluchte gelegentlich auf sehr eigenwillige Art.
Es war kein Unfall, aber es fühlte sich so an. Der geparkte Streifenwagen – ein braun-weißer Ford mit verstaubten Scheiben – war direkt hinter der S-Kurve vor ihnen aufgetaucht, die sie mit mehr als siebzig Meilen pro Stunde genommen hatten. Der Highway war hier praktisch tiefer gelegt und wurde seitlich von Granitwänden begrenzt, die die Sicht verdeckten. Wenn James nur einen winzigen Moment zu spät gebremst hätte, abgelenkt gewesen oder zu schnell gefahren wäre … Er schob diese Gedanken beiseite, weil sie völlig nutzlos waren. Dank des Anschauungsmaterials beim Erste-Hilfe-Kurs in der Firma wusste er, wie Autobahnunfälle aussahen – ein Kollege hatte das Opfer auf dem Schaubild als »tomatenähnliches Etwas« bezeichnet. Als das Blut wieder in sein Gehirn strömte und der beißende Geruch von verbrannten Bremsbelägen durchs Fenster drang, starrte er auf den Streifenwagen der Paiute County Police, der knapp sechs Schritte vor seiner Stoßstange stand, und dachte nur: Wahnsinn.
»Puh.« Elle schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Das wäre beinahe schiefgegangen.«
»Allerdings.«
»Wieso steht der hier mitten auf der Straße?«
»Keine Ahnung …« James’ Stimme klang heiser. »Na, da kommt er ja auch schon.«
Er war ein schmächtiger Deputy Sheriff, der nun auf sie zu trottete. Sein linker Arm hing seitlich herab, die rechte Hand hatte er an seinen gigantischen Stetson-Hut gelegt. Es war schon fast ein Sombrero. Er kam vom rechten Fahrbahnrand, wo James jetzt ein weiteres Fahrzeug bemerkte, das ganz dicht vor der Granitwand parkte. Ein nagelneuer weißer Pick-up-Truck. Er schien nicht beschädigt zu sein, war aber leer. James fragte sich, wo der Fahrer abgeblieben war.
»Ich …« Elle konnte ein Lachen kaum unterdrücken. »Ich glaub, der hat Smokey Bear seinen Hut geklaut.«
»Hör auf zu lachen.«
»Wie war das noch mal mit den zehn Regeln zur Unfallvermeidung?«
»Bitte Elle, reiß dich zusammen.« Er drückte auf den Knopf für das Seitenfenster und hatte das Gefühl, eine Luftschleuse zu öffnen. Stickige heiße Luft schwappte herein, und Kalkstaub drang in seine Nase.
Die Schritte des Sheriffs klatschten auf dem Untergrund, als hätte die Sonne den Asphalt zum Schmelzen gebracht. James atmete vorsichtig ein und hoffte, keinen Hustenanfall zu bekommen – er war nervös, und das war ihm ziemlich peinlich. Zugegeben, das hier war eine neue Erfahrung. Er war bisher noch nie von der Polizei angehalten worden, was er seinem auffällig unauffälligen Fahrstil zuschrieb. Elle hatte ihn mal mit einem dieser Staubsauger-Roboter verglichen, die reiche Leute sich anschaffen. Wie nannte man die noch mal?
»Es tut mir leid.« Der Cop atmete tief durch, als er eine Hand gegen die Tür legte. »Ich hätte das Blinklicht einschalten sollen.«
»Ist nicht so schlimm«, sagte James, obwohl er gegenteiliger Ansicht war. Er wunderte sich darüber, wie jung dieser Polizist war. Als käme er frisch von der Highschool. Er war ziemlich schmal und hatte Akne im Gesicht. Offensichtlich versuchte er gerade, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, mit mäßigem Erfolg.
»Ich wollte nur … Hier auf der Straße sind normalerweise höchstens drei Fahrzeuge pro Tag unterwegs. So ein Mist! Entschuldigung.« Der Junge räusperte sich und deutete auf den verlassenen weißen Pick-up am Straßenrand. »Da steht ein … so ein verlassener Truck einfach so herum. Die Türen sind nicht abgeschlossen. Der Motor läuft. Vierzig Dollar in einer Geldscheinklammer in der Mittelkonsole. Als wäre der Fahrer ausgestiegen, um sich zu erleichtern, und nicht mehr zurückgekommen. Das Ding steht da einfach so auf der Standspur, wie bestellt und nicht abgeholt.«
»Tja, er hat da wohl geparkt.« Elle schaute ihn fragend an. »Vielleicht hatte er ja was vor?«
James verstärkte sein falsches Lächeln.
Deputy Doogie Howser merkte es gar nicht. Er hatte eine eigenartige Art zu sprechen, betonte seine Satzanfänge, als wären sie Bullet Points in einer Präsentation. Vielleicht wollte er einen Akzent verbergen. Er entschuldigte sich noch mal (und noch mal) und fragte, ob sie jemanden am Straßenrand bemerkt hätten. Natürlich hatten sie das nicht. Die nächste Stadt war Mosby, ein Kaff mit einer Silbermine, das laut Aussage des Deputy »elf Ka-Emm in östlicher Richtung« lag. (Wieso rechnet der in Kilometern?, wunderte sich James.) Also war es eine eigenartige Idee, mitten in dieser Mondlandschaft ein funktionstüchtiges Fahrzeug stehen zu lassen. Und gefährlich.
Der Deputy sagte noch etwas, das James beunruhigte: »Sind Sie auch Polizist?«
»Nein.« Die Frage hatte ihn verblüfft. »Wieso?«
»Feuerwehr? Rettungssanitäter? Sicherheitsdienst?« Der Junge schaute ihn mit verkniffener Neugier an, als hätte er da einen Verdacht. »Ich schwöre Ihnen, ich kann einen Rettungshelfer auf Anhieb erkennen. Hat was mit den Augen zu tun. Sie haben so einen forschenden Blick.«
James zuckte mit den Schultern. »Nein, tut mir leid.«
»Er hat mal Medizin studiert«, sagte Elle. »Aber das ist lange her.«
»Nee«, sagte der Deputy seufzend. »Das zählt nicht.«
Sagt der Sheriff mit dem Sombrero, dachte James. Wahrscheinlich hatte Elle gerade eine noch witzigere Bemerkung auf der Zunge, die sie hoffentlich für sich behalten würde. Er ließ den peinlichen Moment so würdevoll wie möglich verstreichen und sagte dann: »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
Sheriff Doogie Howser kniff erneut die Augen zusammen. »Wenn Sie jemanden sehen, der allein am Straßenrand herumläuft, eine ältere oder verwirrte Person, dann rufen Sie mich bitte an. Hier in der Wüste gehen immer wieder Leute verloren. Es ist ein weites Land, und unsere Polizeistation ist ziemlich klein.«
»Wie klein denn?«
»Sie sprechen gerade mit fünfzig Prozent davon.«
Dann nickte er knapp zum Abschied, drehte sich um und ging zurück zu seinem Streifenwagen. Seine kleinen Stiefel schlurften über den Asphalt.
»Und er besteht zu dreißig Prozent aus Hut«, flüsterte Elle.
James nickte zerstreut und blieb wachsam.
Hier in der Wüste gehen immer wieder Leute verloren.
Der Deputy knallte die Tür zu, und es klang, als würde ein Schuss abgefeuert. Die Bremsleuchten flammten auf, als er den Streifenwagen zur Seite fuhr und sie mit der Hand durchwinkte. James ließ das Fenster wieder hoch und fuhr los, mit einem letzten verwunderten Seitenblick auf den verlassenen weißen Pick-up. Der Wagen sah völlig unscheinbar aus. Die Fenster reflektierten das grelle Sonnenlicht, sodass man nicht ins Innere schauen konnte. Er bemerkte einen Aufkleber mit den Buchstaben MPR an der Stoßstange, und dann waren sie vorbei, und das Fahrzeug verschwand hinter ihnen. Eine Weile überlegte er noch, wofür MPR stehen könnte – Mexican Public Radio?
Der Highway wurde kurvenreicher, und die Granitfelsen, die in der Wüste aufragten, sahen aus wie bloß gelegte Knochen. James schaute sich jeden Schatten genauer an, suchte die weite Fläche nach Anzeichen für einen herumirrenden Menschen ab, nur für alle Fälle. Er war kein Rettungssanitäter – nicht mal ansatzweise –, aber er wusste genug, um in einem Notfall nützlich zu sein. Tatsächlich war er bloß Vertreter.
Elle stieß hörbar die Luft aus. »Wie gut, dass du fährst wie ein Roomba.«
Er nickte. Ja genau, Roomba. So heißen diese Saugroboter.
Unangenehmes Schweigen brach aus, als die Eintönigkeit der Fahrt erneut Besitz von ihnen ergriff. In wenigen Minuten würden sie sich wieder in das unglückliche Paar verwandeln, das sie vor dem kleinen Zwischenfall gewesen waren. Würden in dieser eisigen Atmosphäre nebeneinandersitzen, während die Reifen über den Asphalt surrten. Der kleine Adrenalinstoß war ganz angenehm gewesen, dachte er. Sie könnten mehr davon gebrauchen, um das, was zwischen ihnen stand, zu überdecken.
»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
Gut. Er wollte nämlich auch nicht darüber sprechen.
* * *
Bis Tulsa war es noch weit. Sie hatten nicht mal die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Sechs Meilen später hielten James und Elle Eversman vor dem Mojave Fuel-N-Food an, um zu tanken – eine verschlafene Raststätte mit Zapfsäulen aus den Siebzigern und einem ebenso antiken Hotdog-Grill. Über zwei Picknicktischen aus Beton und einem geparkten Jeep stand ein verblichenes weißes Schild, das die Stadtgrenze von Mosby markierte (Einwohner: 88). Darunter stand in dicken Blockbuchstaben geschrieben: ALIENS STÜRZTEN BEIM VERSUCH, MOSBY ZU FINDEN, IN ROSWELL AB!!!!!
Fünf Ausrufezeichen, dachte James. Vier haben wohl nicht genügt.
Er war viel zu locker drauf, um wirklich als Grammatik-Nazi durchzugehen, aber so was fiel ihm ständig ins Auge. Zu Hause in Kalifornien hatte er in der Abteilung für Werbekundenakquise bei einem lokalen Radiosender gearbeitet, auch wenn seine zarten Hände ihm dabei manchmal peinlich waren. Niemand vertraute jemandem, der nicht mit den Händen arbeitete. Er hatte oft darüber nachgedacht, seine Handflächen mit Stahlwolle zu präparieren.
»Glaubst du, er beobachtet uns?«, fragte Elle verstohlen, während James ausstieg und in den Schatten der Tankspurüberdachung trat. Die Hitze war hier halbwegs erträglich, aber die Luft war trotzdem dick wie Gelatine.
»Wer denn?«
»Der Typ im Jeep.« Sie machte eine Kopfbewegung. »In dem schwarzen Jeep da drüben.«
James spähte über das Dach des Toyota. Der Jeep war höher gelegt, mit Staub bedeckt und parkte parallel zur Raststätte, ohne Rücksicht auf die weiße Parkplatzkennzeichnung. Die Sonne schien durch die getönten Scheiben und hob die Umrisse von zwei Kopfstützen und einem asymmetrisch geformten Gesicht hervor, das sie unverhohlen anstarrte. Der Kopf war so grotesk missgebildet (und würde wahrscheinlich unter keinen Hut passen), dass man zweimal hinschauen musste, um in ihm etwas Menschliches zu erkennen. Er war absolut bewegungslos.
James lief ein Schauer über den Rücken.
»Ich kann seine Blicke in meinem Nacken spüren.« Sie verriegelte ihre Tür und legte den Ellbogen vors Gesicht. »Sie kriechen hoch und runter. Ich hasse es, wenn man mich so anstarrt.«
»Noch zwei Minuten, dann sind wir weg.«
»Kein Wunder, dass hier Atombomben getestet wurden. Dieser Staat ist echt die Pest.«
Er nickte. »Man fragt sich wirklich, wieso die Mexikaner ihn zurückhaben wollten.« Er bezahlte das Benzin mit der Kreditkarte. Der altmodische Zapfhahn war verkantet und klemmte. Als er ihn endlich herausgezogen hatte, bemerkte er eine leichte Unruhe am Rand seines Sehfelds. Der Mann im schwarzen Jeep bewegte sich hinter der getönten Scheibe. Der merkwürdig asymmetrische Teil der Silhouette entpuppte sich als Walkie-Talkie, das er sich mit seinen breiten Händen ans Ohr hielt. Dann legte er das Funkgerät beiseite und schob die Tür auf, die ein metallisches Quietschen von sich gab.
Elle versank tiefer in ihrem Sitz.
James zapfte Benzin und bemühte sich, lässig zu erscheinen, was ihm nicht gelang.
Ein Mann von der Statur eines Bären stieg aus dem Jeep. Er trug einen langen Mantel aus Öltuch, der bei jedem Schritt ein schleifendes Geräusch machte. Wirkte ein bisschen wie der Marlboro-Mann, aber irgendwas an ihm war eigenartig. Er sah aus wie die Art Arschloch, die James Bond auf dem Weg in die geheime sowjetische Militärbasis aus dem Weg räumen muss. Sein schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und sein langer Bart war grau meliert. Er schob die Tür mit dem Fuß wieder zu und lief eilig auf das Fuel-N-Food zu, in der Hand ein silberner Thermobecher mit einem bunten Sticker, den James auf die Entfernung nicht genau erkennen konnte.
»Hello Kitty«, flüsterte Elle.
»Was?«
»Das ist ein Hello-Kitty-Aufkleber. Auf seinem Becher.«
»Oh.« James’ Magen rebellierte. »Oh, gut.«
Der Sowjet-Cowboy ging an der Flügeltür der Raststätte vorbei, setzte sich an einen der Betontische unter dem Mosby-Schild und sah nun genau in ihre Richtung. Er war kaum zehn Meter von ihnen entfernt. Hinter ihm erstreckte sich die unwirtliche Landschaft. Er nippte schweigend an seinem Thermobecher und starrte Elle an.
Sie schaute durch die Windschutzscheibe zu ihm hin und seufzte.
Die Tankuhr tickte gleichmäßig wie ein Metronom. Irgendwas in der Säule klapperte laut, also schaute James auf die Anzeige. Er hatte gerade mal vier Liter getankt. Er rüttelte am Zapfhahn und wartete darauf, dass Elle etwas sagte, zum Beispiel: Stell ihn nicht zur Rede, James. Lass es auf sich beruhen. Spiel nicht den Helden. Das macht alles nur noch schlimmer. Er wartete ein paar Sekunden lang, die Hand auf dem Zapfhahn, aber sie sagte nichts dergleichen. Sie wusste, dass er Pazifist war. Er konnte nicht mal von einer Kellnerin verlangen, ein verbranntes Steak wieder in die Küche zurückzubringen, ohne rot zu werden. Er hoffte trotzdem, dass sie es sagen würde, einfach aus Nettigkeit, wie sie es manchmal tat.
»Ich habe mich entschieden«, sagte sie.
Er schaute sie begriffsstutzig an. Sie saß auf dem Beifahrersitz, die Hände unter den Oberschenkeln, die Augen gesenkt, die Lippen geschürzt. Da wurde ihm klar, dass sie jetzt wieder bei diesem Thema angekommen waren. Und diesmal gab es keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. »Wozu hast du dich entschieden?«, fragte er und behielt dabei den Sowjet-Cowboy im Auge.
»Ich möchte nicht noch einmal schwanger werden.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
James spürte, wie die Wunde an seiner Lippe wieder aufsprang. Sie hatte kaum noch geblutet, aber jetzt brach sie auf, und es fühlte sich an wie bei diesen Fruchtgummis, deren weiche Füllung austritt, wenn man draufbeißt. Der metallische Geschmack setzte seinem Magen zu, aber er war froh über die Ablenkung, denn alles war besser als eine Unterhaltung über dieses Thema ausgerechnet in einer solchen Situation. Er würde glatt dem Sowjet-Cowboy da drüben eins in die Fresse geben, wenn er sich damit ein paar Minuten ohne dieses Thema erkaufen könnte.
»Tut mir leid, James.« Ihre Lippen bebten. »Ich kann das nicht mehr.«
Er spuckte in den Staub. Knallrot.
Der Sowjet-Cowboy nahm einen Schluck aus seinem Hello-Kitty-Thermosbecher, schlug den Mantel auseinander und warf ein Stück vergilbtes Papier auf den Tisch. Dann zog er drei kurze Stifte hervor, wischte kurz mit der Hand über jeden einzelnen davon und suchte sich dann den mittleren aus.
»Was macht er da?«, fragte Elle.
»Spielt keine Rolle.« James legte die Hände auf das heiße Wagendach und beugte sich zu ihr hinunter. »Wir fahren gleich weiter.«
Ein schabendes Geräusch war zu hören. Als würden Schlangen sich durch trockenes Gebüsch bewegen. Kohle auf Papier, ein Morsecode von kurzen und langen Strichen. Der Sowjet-Cowboy machte eine Skizze, so konzentriert, dass ihm die Zunge aus dem Mund hing. Er zeichnet ein Bild von uns, begriff James. Vielleicht auch nur von Elle.
»Die Hoffnung würde mich fertigmachen, glaube ich«, sagte sie.
»Wieso?«
Sie seufzte.
»Wieso, Elle?«
»Ich habe Angst vor einem positiven Testergebnis. Ich verabscheue diese beiden rosa Markierungen. Weil man erst glücklich sein muss, um richtig enttäuscht zu werden, und alles, was ich da sehe, ist eine weitere Fehlgeburt in drei Monaten. Und im Gegensatz zu dir, James, setzt es mir schwer zu, jedes Einzelne von ihnen als eine menschliche Seele zu betrachten.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die sandigen Haare, die schon langsam grau wurden, denn er näherte sich seinem dreißigsten Geburtstag. Er hatte Wert darauf gelegt, jedem ihrer ungeborenen Kinder einen Namen zu geben, und er konnte sie der Reihe nach aufsagen. Es hatte im Januar vor drei Jahren angefangen, nachdem sie geheiratet hatten – zuerst kam Darby, dann Jason, dann Adelaide (die beinahe das zweite Trimester geschafft hätte und Elle mit Hoffnung vergiftete), dann Ross … Mit dem letzten waren sie vor sechs Wochen gescheitert, und das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Da hatte die erschöpfte Elle entschieden, die alten Namen erneut zu benutzen, was James sehr verärgert hatte. Es war ihm unglaublich gefühlskalt erschienen. Selbst wenn es auch nur eine minimale Chance gab, dass ein menschliches Leben existierte, musste man ihm doch einen Namen geben. Und nicht einen gebrauchten noch mal benutzen.
»Wir schaffen das schon«, sagte er.
»Das weißt du doch gar nicht.«
Er imitierte den Suaheli-Akzent ihrer Ärztin: »Iiist nicht unmöglich. Iiist nur unwahrscheinlich.«
»Ja, genau. Ein Kind kriegen ist etwas Unwahrscheinliches.« Sie rollte demonstrativ mit den Augen, lächelte aber dabei. »Unwahrscheinlich ist es, dass sich unser Auto in einen sprechenden Roboter verwandelt. Obwohl es sich um ein japanisches Auto handelt, würde ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen.«
»Nein, das ist unmöglich«, sagte James. »Ein Lotteriegewinn, das ist unwahrscheinlich.«
»Dafür würde ich meine Hand auch nicht ins Feuer legen.«
»Es gibt aber immer wieder Gewinner.«
»Dann beweise es doch. Kauf dir eine Million Lose.«
»Klar.« James hielt kurz inne. »Sprechen wir jetzt von einer Lotterie oder von Sex?«
Sie lachte nicht. Der Witz blieb in der Luft hängen. Sie schaute nach unten, also gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und roch das billige Apfelshampoo, das sie im Motel in Fairview benutzt hatte. Er sah die Sommersprossen um ihre Augen und die Tränen, die an den Wimpern hingen wie kleine Tautropfen.
Die Tankanzeige tickte – vierzig Liter.
Der Sowjet-Cowboy wechselte den Stift und machte jetzt kürzere Striche. Offenbar war er bei den letzten Feinheiten angelangt. Ab und zu legte er eine Pause ein und wischte mit dem Daumen über das Papier. Dann schaute er auf und starrte James finster an, als wolle er sagen: Geh aus dem Weg.
James stellte sich breitbeinig hin und spuckte blutigen Rotz aus. Er hätte sich nur zu gern mit diesem Kerl angelegt, auch wenn das eine völlig blöde Idee war. Aber es wäre zumindest etwas. Vielleicht würde sein großes Problem zusammenschrumpfen, wenn er dieses kleine Problem hier an der Tankstelle ordentlich aufbauschte. Er hatte mal gehört, die Krise des modernen Mannes hinge damit zusammen, dass in unserer Welt zu viele Probleme existierten, die sich nicht ganz einfach mit einem Faustschlag ins Gesicht lösen ließen. Da Faustschläge ins Gesicht nicht gerade zu seinen Stärken zählten, hatte James sich ausgerechnet, dass er wahrscheinlich ganz gut an die Erfordernisse der modernen Welt angepasst war. Er war einfühlsam, intelligent und konnte gut zuhören – aber nichts davon nützte etwas, wenn das Thema auf Elles Fehlgeburten kam. Jetzt, in diesem Moment, hätte er liebend gern jemandem einen Schlag ins Gesicht verpasst. In seinem Kopf hörte er die düstere und befremdlich klingende Stimme seines Vaters: Sei immer höflich und zuvorkommend, aber sei auch immer bereit, alle zu töten, die dir in die Quere kommen.
Der Zapfhahn klickte. Das war’s.
Elles Lächeln verschwand. »Glaubst du wirklich an diesen ganzen optimistischen Blödsinn, denn du da redest?«
»Ja, tu ich«, log er.
Er zerknüllte die Quittung und schlug die Tür so fest zu, dass die Scheiben klirrten. Sie rieb sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Er drückte das Gaspedal seines Toyota durch und fuhr mit Vollgas zurück auf den Highway. Dann ließ er das Fenster herunter (»James, was machst du denn da?«), betätigte die Hupe und verabschiedete sich von dem Sowjet-Cowboy mit einem keck erhobenen Mittelfinger.
»Jawoll«, stieß er heiser hervor. »Das musste einfach sein.«
Sie schnappte nach Luft. »Bitte, fahr ganz schnell weiter.«
Das heruntergeschluckte Blut rumorte in seinem Magen, während er zusah, wie der Mann im Rückspiegel immer kleiner wurde. Der Kerl hatte sich extra umgedreht, um ihnen nachzuschauen, und hielt jetzt wieder dieses mysteriöse Funkgerät in der Hand (Mist, dachte James, das hatte ich ganz vergessen). Sie waren schon zu weit entfernt, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber James stellte sich vor, wie der Bursche selbstgefällig vor sich hin grinste. Er hoffte nur, dass er eben nicht den größten Fehler seines Lebens begangen hatte, hier in dieser abgelegenen Gegend, in der es gerade mal zwei Polizisten gab.
Warum habe ich das getan?
»Liebling …«
Der Tacho zeigte bereits über hundert Meilen pro Stunde an. James nahm den Fuß vom Gas und bremste ab. »Und so … beginnt die Geschichte von unserer Ermordung.«
»Wenn er uns folgt, schlage ich dich«, sagte sie.
Der Sowjet-Cowboy folgte ihnen nicht, was sich sogar als noch schlechter erweisen sollte. Sie waren bereits zwei Meilen durch unwirtliches Gelände gefahren, als das Radio des Toyota sich zurückmeldete. Die letzten vierzig Meilen hatte es nur statisches Rauschen von sich gegeben, aber jetzt war dahinter eine menschliche Stimme zu hören.