Cover

Das Buch

»Wie viel Zeit brauchst du denn, um Gottes willen?«, stößt Antoine hervor.

Es bricht mir das Herz, ihn in so einem Zustand zu sehen. Ich flüstere: »Sechs Monate.« Er senkt den Kopf, um zu überlegen, aber auch, damit ich nicht erkennen kann, ob er meiner Bitte nachgeben wird. Er lässt sich Zeit, bevor er antwortet, atmet tief ein.

»Gut, Meredith. Okay, ich gebe dir sechs Monate, um deine Entdeckungsreise durchzuführen und dann zu mir zurückzukehren. Aber ich warne dich: Ich halte es keinen EINZIGEN Tag länger aus!«

Ich mag es, wenn er den harten Mann spielt. Ich gehe auf ihn zu und umarme ihn und ignoriere dabei seine mürrische Miene.

»Noch etwas«, fügt er hinzu.

»Sag’s mir …«

»Während dieser Zeit möchte ich dich mindestens einmal sehen.«

»Versprochen.«

Antoine und Meredith lieben sich, seit sie sich das erste Mal begegnet sind. Eine gemeinsame Wohnung ist nach einiger Zeit der logische nächste Schritt für die beiden. Eigentlich. Denn Meredith packen plötzlich die Zweifel. Und sie schlägt ein gefährliches Experiment vor, eines, von dem weder sie noch Antoine wissen, wie es ausgehen wird …

Die Autorin

Raphaëlle Giordano hat Angewandte Kunst in Paris studiert. Nachdem sie lange in der Werbebranche tätig war, arbeitet sie heute als Malerin und Coach. Sie hat mehrere Sachbücher zu den Themen Persönlichkeitsentwicklung und emotionale Intelligenz veröffentlicht. Ihr erster Roman, »Dein zweites Leben beginnt, wenn du verstehst, du hast nur eins!«, wurde in Frankreich auf Anhieb zum Bestseller.

RAPHAËLLE

GIORDANO

Du und ich

und Amors

Pfeile

Aus dem Französischen

von Antoinette Gittinger

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Cupidon a des ailes en carton

erschien erstmals 2019 bei Éditions Eyrolles, Éditions Plon, Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 02/2022

Copyright © 2019 by Éditions Eyrolles,

Éditions Plon, Paris, und Raphaëlle Giordano

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joscha Faralisch

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(Magnia_Punkte, windesign, suns07butterfly,

Anastasiia Veretennikova, Gannie)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26761-2
V001

www.heyne.de

Und wenn das Geheimnis der großen Liebe darin bestünde,

dem anderen den Spiegel vorzuhalten,

damit er das erkennen kann,

was am schönsten an ihm ist?

»Das Verb lieben ist schwer zu konjugieren:

Seine Vergangenheit ist nicht einfach,

seine Gegenwart nur unverbindlich,

und seine Zukunft ist immer bedingt.«

Jean Cocteau

Kein Wort ist zu groß, zu verrückt, wenn es ihr gilt

Ich stelle sie mir vor, in einem Kleid aus Wolkenfäden

Und eifersüchtig gebe ich dem Engel seine Flügel zurück

Den Schwalben ihren Schmuck

Auf der Erde glauben die Blumen, sie seien verbannt worden

Louis Aragon, Les Yeux d’Elsa

Paris

SZENE 1

Meredith

Eine vornehme Einladungskarte, die höchsten ästhetischen Ansprüchen gerecht wird. Seidig glänzendes, perlfarbenes Papier und eine elegante Typografie. Antoines Name, in Goldlettern und Kursivschrift aufgedruckt, springt sofort ins Auge. Mein Name taucht dagegen nicht einmal auf. Begleitpersonen spielen hier wohl keine Rolle! Antoine wendet sich mir zu und lächelt. Er ahnt nicht, welche Gedanken mir durch den Kopf gehen. Seitdem wir in diese schwarze Limousine mit den getönten Scheiben gestiegen sind, haben wir noch kein Wort miteinander gewechselt, doch seine Hand hat meine nicht eine Sekunde lang losgelassen. Diese sanfte Berührung ist das Einzige, was mir die nötige Kraft für diesen Abend verleiht.

Der Chauffeur öffnet die Tür, und Antoine reicht mir höflich den Arm. Aus einer Limousine zu steigen ist eine Kunst für sich, wenn man dabei ein langes Abendkleid trägt, eine Stola, die ständig verrutscht, und noch dazu gefährlich instabile High Heels. Die Gäste strömen herbei. Jeder Einzelne von ihnen meldet sich bei den Empfangsdamen, die die Namen derjenigen abhaken, die Einlass in diesen prestigeträchtigen Raum erhalten.

Die Gastgeberin lächelt Antoine zu. Ihr Gebiss ist makellos weiß – ist es möglich, solche Zähne zu haben? Dann wendet sie sich mir zu, mit diesem prüfenden Blick, der sofort mein Hochstapler-Syndrom aktiviert.

»Und Sie sind Madame …?«

Antoine tut die Frage mit einer raschen Geste ab.

»Madame begleitet mich.«

»In diesem Fall …«

Sie lässt uns vorbei und wünscht mir mit dieser gekünstelten Höflichkeit, die mich immer auf die Palme bringt, einen schönen Abend.

Wir befinden uns auf einer Benefizgala für die Bewahrung des kulturellen und künstlerischen Erbe Frankreichs. Die gesamte Schickeria hat sich eingefunden, bunt zusammengewürfelte Gäste aus den unterschiedlichsten Bereichen. Star-Moderatoren, Politiker, Leute von Welt, reiche Erben, Vorsitzende von börsennotierten Unternehmen, Intellektuelle und Künstler. Und ich … ich, die ich nur ein ganz kleines Ich bin.

Seit gut einer halben Stunde nippen wir an unserem Willkommensdrink und stehen unter all diesen Leuten, das Champagnerglas in der Hand, mit wachsamem Blick hier und da grüßend, vor allem aber, um eventuelle Bekannte zu erspähen und sie zu begutachten. Antoine ist ganz in seinem Element. Da er einen angesehenen Posten bei einem der größten Rundfunksender Frankreichs bekleidet, kennt er hier jeden, der Rang und Namen hat.

»Alles in Ordnung, Liebes?«, haucht er mir ins Ohr.

Wie könnte ich es wagen, ihn zu enttäuschen? Es hatte ihm so am Herzen gelegen, dass ich ihn begleite! Und er scheint so stolz darauf zu sein, mich vorstellen zu können. Ein Paar nähert sich, und ich erkenne sofort die Moderatorin einer bekannten Fernsehsendung. Sie hat sich bei einem berühmten Sportler eingehakt.

»Antoine!«

Es folgt eine überschwängliche Begrüßung, die eine gewisse Vertrautheit vorgaukeln möchte, aber trotz aller Bemühungen nicht echt wirkt. Schließlich bemerken sie mich und werfen mir einen fragenden Blick zu. Wer ist die denn?

»Das ist meine Lebensgefährtin Meredith«, verkündet Antoine voller Stolz.

Die Moderatorin mustert mich von Kopf bis Fuß. Sie kramt in ihrer Erinnerung nach irgendeinem Anhaltspunkt; fragt sich, woher sie mich kennen könnte. Doch ohne Ergebnis.

»Und was tun Sie so im Leben, Meredith?«

»Ich bin Schauspielerin …«

»Ah, sehr schön.« Dabei kneift sie die Augen zusammen, und ihr Blick wird gallig. Ich tue so, als entginge mir ihr Sarkasmus, als sie ihr Gift verspritzt.

»Und wo haben Sie so mitgespielt?«

Voll ins Schwarze getroffen!

Die letzten fünf Jahre meines ziellosen Herumruderns treiben mir die Scham in die Wangen und überziehen sie mit Röte. Die Frau lässt ihren Finger noch für ein paar weitere Momente in der Wunde meiner Minderwertigkeitskomplexe liegen, sie scheint geradezu ein boshaftes Vergnügen daran zu haben! Warum sollte sie auch nicht die Gelegenheit nutzen? Ist doch eine willkommene Ablenkung von der Langweile dieses angespannten Ambientes. Ich leere mein Champagnerglas in einem Zug.

Endlich wird zum Dinner gebeten. Doch ich sitze nicht neben Antoine! Über die Pflanzendekoration hinweg, die eine Barriere zwischen den Reihen der Gäste bildet und jegliche Unterhaltung unmöglich macht, wirft er mir einen enttäuschten Blick zu. Meine einzig möglichen Gesprächspartner sind meine beiden Nachbarn zur Linken und zur Rechten. Auf der einen Seite sitzt eine distinguiert wirkende Person, die wohl von Anfang an beschlossen hat, mir den Rücken zuzuwenden und mir zur Unterhaltung nur ihren gewaltigen Haarknoten anzubieten. Bleibt noch mein Nachbar auf der anderen Seite, ein grauhaariger Herr mittleren Alters, der mit genügend Selbstbewusstsein ausgestattet ist, um sich mir gegenüber sofort ein paar Anzüglichkeiten herauszunehmen.

Für einen kurzen Moment halte ich seiner lüsternen Bedrängnis stand. Doch als ich es nicht mehr aushalte, stehe ich auf, um mich in die menschenleere Toilette zu flüchten. Dort schließe ich mich in einer Kabine ein. Ich würde am liebsten für immer hierbleiben und nie mehr hinausgehen. Dann betreten zwei Damen die Toilette. Sie frischen ihr Make-up auf und unterhalten sich über Gott und die Welt. Ich erkenne die Stimme der Moderatorin von vorhin. Offensichtlich bietet ihr diese kurze Pause eine Gelegenheit, um die Gäste in Gedanken Revue passieren zu lassen. Jeder Einzelne wird mit einer ätzenden Bemerkung bedacht. Es ist wie im Film. Antoine und ich bilden da keine Ausnahme. Vor allem ich nicht. Und ihr Urteil ist gnadenlos: Ich sei ein hübsches Mädchen, aber eine zweitklassige Schauspielerin, die jedoch fein heraus ist, weil sie sich eine gute Partie geangelt hat …

Ich bin kurz davor, mich zu übergeben. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlassen die beiden endlich die Toilette. Ich strafe sie Lügen: Denn als ich wieder mit Antoine zusammentreffe, erweise ich mich als erstklassige Schauspielerin: Ich lächle ihn an und lasse mir nichts anmerken.

SZENE 2

Meredith

Ich stoße die Türen des Massagesalons auf, der in einem kleinen Gässchen meines Viertels liegt, mitten im 19. Arrondissement von Paris. Seit Tagen schon denke ich jedes Mal, wenn ich daran vorbeilaufe: Ich brauche dringend eine Massage. Seit dem Galadinner spüre ich Verspannungen im Rücken, und bekanntlich lügt der Körper nicht. Die Benefizveranstaltung hat viele Dinge in mir wieder aufgewirbelt, die ich lieber hätte ruhen lassen. Doch jetzt, da sie wieder an die Oberfläche gedrungen sind, läuft bei mir nichts mehr normal …

Der Salon ist zwar winzig, aber eine wahre Wohlfühloase, ausgestattet mit Geschmack und Raffinesse. Eine gewisse Lamaï wird sich um mich kümmern. Die junge Frau geleitet mich zum Behandlungsraum, der mit einer Buddha-Statue und Kerzen dekoriert ist. Im Hintergrund ist sanfte Musik zu hören, alles ist in gedämpftes Licht getaucht. Gerne nehme ich diese Einladung zur Entspannungsreise an, um mir eine Atempause zu gönnen. Ich entkleide mich rasch. Lamaï klopft an die Tür. Ihre einnehmende Stimme, ihr sanfter Blick und ihre zarte Berührung beruhigen mich sofort. Sie lächelt und fordert mich auf, mich hinzulegen. Der Duft von ätherischen Ölen umhüllt mich, ihre Hände machen sich an die Arbeit.

Während Lamaï geschickt meine Verspannungen lockert, bringt sie mich nicht weniger behutsam dazu, auch meine Zunge zu lösen.

»Ich weiß nicht mehr, wo ich stehe«, höre ich mich sagen. »Ich bin gerade in einer schwierigen Phase …«

Anfangs kommen mir die Worte nur schwer über die Lippen. Doch dann, beseelt von dem wohligen Gefühl, das sich in mir ausbreitet, sprudeln sie nur so aus mir heraus.

»Ich liebe … einen Mann. Aber … Es ist seltsam, denn es gelingt mir trotzdem nicht, mich dabei in meiner Haut wohlzufühlen. Obwohl er mich auch liebt! Gegenseitige Liebe ist so selten, finden Sie nicht?«

Lamaï stimmt mir schweigend zu, sie will mein Eingeständnis nicht durch überflüssige Worte unterbrechen. Sie ist es wohl gewohnt, sich die Gemütszustände unbekannter Kundinnen anzuhören. Wohlwollend lauscht sie meinen Worten, und ich lasse mich von ihrer stillen Anteilnahme davontragen.

»Wissen Sie, ich habe keinen Grund, stolz auf mich selbst zu sein. Ich habe das Gefühl, ein Niemand zu sein …«

»Wie kommen Sie darauf, ein Niemand zu sein?«, hakt Lamaï nach.

»Nun, er hat sich bereits seinen Platz im Leben erkämpft, er ist erfolgreich. Aber meine Karriere steckt noch in den Kinderschuhen. Und wer weiß, ob ich es je schaffe, aus seinem Schatten herauszutreten?«

»Erlauben Sie mir eine Bemerkung: Sie sind schon jemand.«

Ich seufze tief, innerlich zerrissen.

»Nun ja, aber noch lange nicht diejenige, die ich gern wäre. Ich habe das Gefühl, nur ein Entwurf, eine Skizze meiner selbst zu sein, verstehen Sie?«

Im Halbdunkel habe ich das Gefühl, dass die Masseurin, die im Augenblick auch meine Psychologin ist, lächelt.

»In Asien sind wir besonders empfänglich für den Reiz des Unvollendeten, des Unfertigen …«

Das ist leichter gesagt als getan. Ich möchte nicht einzig und allein durch seinen Blick existieren! Auch verspüre ich nicht die geringste Lust, von ihm abhängig zu sein, um mich lebendig zu fühlen.

»Solange man sich nicht selbst gefunden hat, ist es schwierig, jemand anderen zu lieben.«

Lamaïs Worte bleiben einen Augenblick lang im Raum stehen. Sie lösen etwas in mir aus. Da die Anwendung zu Ende ist, zieht sie sich zurück und lässt mich in der halbdunklen Nische allein. Ich nehme mir Zeit, um mich zu sammeln. In Gedanken lasse ich einige der Männer vor Antoine Revue passieren und erinnere mich an meine gescheiterten Liebesgeschichten. Ich habe sie mehr oder weniger selbst sabotiert, indem ich es immer wieder geschafft habe, die Männer durch Zweifel und verborgene Komplexe abzuschrecken. Werde ich zulassen, dass meine Beziehung mit Antoine dasselbe Schicksal erleidet?

Ich horche in mich hinein. Nein. Dafür liebe ich ihn zu sehr. Ich muss lernen, ein eigenständiges Leben führen. Nur wie?

Während ich mich ankleide, nimmt eine verrückte, kühne und gewagte Idee in meinem Kopf langsam Form an.

SZENE 3

Antoine

»Ich muss mit dir reden«, hatte sie gesagt. Für gewöhnlich kein gutes Zeichen, wenn deine Partnerin mit so etwas ankommt. Aber in diesem Moment hatte ich ihren Worten keine Bedeutung beigemessen, denn auch ich musste mit ihr reden. Voller Vorfreude auf die Überraschung, die ich ihr bereiten wollte, hatte ich die Gegenwinde nicht gespürt. Das war vor sechs Stunden, in einem anderen Leben – dem Leben vor ihrer Ankündigung.

Im Augenblick sitzen Meredith und ich an meinem festlich gedeckten Tisch, der plötzlich allen Glanz für mich verloren hat. Der perlende Champagner, der Lachs und die Kerzen … die ganze Aufmachung erscheint plötzlich lächerlich, in einem Zuhause, das in Kürze unser gemeinsames hätte werden sollen. Ich war kurz davor, ihr meine Zweitschlüssel zu geben, damit sie bei mir einziehen kann. Damit wollte ich ihr zeigen, dass ich es ernst meine! Doch vielleicht ist genau das das Problem.

Meredith ist noch nicht bereit. Das versucht sie mir gerade mit allen Mitteln zu erklären. Aber das kann den Schmerz, der mich wie ein Messer durchbohrt, nicht lindern.

Sie möchte sich Zeit lassen, um sich selbst zu finden, ihren eigenen Weg zu gehen und in einer besseren Verfassung zu mir zurückzukehren. Ihre Vision: Sie möchte ihre nächste Gastspielreise nutzen, um sie als eine Art »Love Tour« zu gestalten: eine Reise, um wieder zu mir und zu uns zu finden – eine Reise der Liebe. Als ob man dazu eine Reise machen könnte …

Ich verstehe lediglich, dass sie sich von mir entfernen wird. Und dann verstehe ich gar nichts mehr. Ungläubig starre ich auf ihre Lippen, die sich bewegen und mir sagen, wie leidenschaftlich sie mich liebt. Und gerade deswegen wolle sie diese Liebe nicht aufs Spiel setzen. Die Worte schießen wie ein Schrei aus ihr heraus, kommen direkt aus ihrem Herzen. Auch sie scheint zu leiden. Aber warum, um Gottes willen, tun wir uns das dann an?

Wie hypnotisiert von ihren eigenen Worten redet sie immer weiter, sagt Dinge wie: Sie wolle unserer Liebe gewachsen sein. Ihrer Meinung nach muss man sich eine echte Liebe erst verdienen, sich darauf vorbereiten … Sie habe den Eindruck, im Vergleich zu mir nur ein Entwurf, eine Rohfassung von dem zu sein, was sie sein könnte, und diese Vorstellung findet sie unerträglich. Am liebsten würde ich ihr entgegenrufen, dass sie sich täuscht, aber wie soll ich gegen eine derart fest verankerte Vorstellung ankommen? Sie sagt, sie könne einfach nicht stolz auf sich selbst sein und ist vollkommen davon überzeugt, dass dieser Mangel an Selbstbewusstsein ihre Gefühle zwangsläufig zerrütten würde. Ihre fehlende Selbstachtung würde unsere Beziehung immer mehr belasten und sie letztendlich zerstören. Meredith erklärt es mir so: »Du hast schon alles. Du wirst geachtet, bist anerkannt.« Ich sei ja schließlich der Produzent beliebter Rundfunksendungen. Dann kommt sie auf die Benefizveranstaltung zu sprechen, die wir vor Kurzem gemeinsam besucht haben, und beschreibt das Unbehagen, das sie empfindet, wenn ich sie anderen vorstelle. Sie erklärt mir, wie sehr es sie nervt, wenn man sie fragt, in welchem Stück sie denn schon aufgetreten sei. Auch, dass sie das verlegene oder spöttische Lächeln, mit dem man sie ihrer Meinung nach bedenkt, nicht mehr erträgt. Das ist dieser verdammte Minderwertigkeitskomplex, den sie seit ein paar Jahren wie eine schwere Last mit sich herumschleppt, nachdem ihre Familie, die der Provinz-Bourgeoisie angehört, nicht akzeptieren wollte, dass sie Künstlerin wird, und ihr seitdem die kalte Schulter zeigt. Vergeblich versuche ich, ihr klarzumachen, dass ich an sie glaube, auch wenn sie im Augenblick noch nicht den »großen Durchbruch« geschafft hat! Doch sie möchte erst »jemand« werden, bevor sie sich in das Abenteuer stürzt, ihr Leben mit einem anderen Menschen zu verbringen, der dann »der Eine« sein soll. Dieser andere Mensch bin ich. Eins und eins macht drei, doch sie glaubt noch nicht daran. Gerne würde ich ihr erklären, dass ich mich nicht an ihrem kleinen Mangel an emotionaler Reife störe, sondern gut damit zurechtkomme. Es stimmt schon – man würde sie nicht für eine Frau von zweiunddreißig Jahren halten, mit ihren kindlichen Marotten, die sie wie widerspenstige Sommersprossen unter einem Erwachsenenhabitus zu kaschieren versucht, mit ihrer Überempfindlichkeit, dem seltsamen Vergnügen, das sie dabei empfindet, die Prinzessin auf der Erbse zu spielen, und mit ihren Anfällen von Größenwahn, die ich aufs Korn nehme, indem ich den Gockel vor ihr spiele, um sie zum Lachen zu bringen. Ich genieße ihr einzigartiges Lachen, das meine Tage mit Farbe und Würze erfüllt, und meine Nächte mit ihr noch viel mehr – ihre samtweiche Haut, die ich wie ein verrückt gewordener Barjavel bis ans Ende meiner Tage liebkosen würde …

Verrückt geworden, das ist es. Es ist verrückt.

Die Ader auf meiner Stirn pocht im Takt meiner Verzweiflung.

Ich betrachte sie, diese Närrin, diese Gauklerin – meine Geliebte. Wie schön sie doch ist, wenn sie die Fassung verliert.

Siebenunddreißig Jahre lang habe ich darauf gewartet, sie zu finden. Alle meine Beziehungen vor ihr sind in meiner Erinnerung verblasst, seit sie mit einem einzigen Blick, mit nichts weiter als ihrem Lächeln, alles andere in den Hintergrund gedrängt hat. Und jetzt, nachdem ich endlich die Liebe meines Lebens gefunden habe, möchte sie das Weite suchen, mich verlassen? Das Leben macht keinen Sinn.

Meredith setzt ihre aus absurden Argumenten bestehende Überlegung fort.

»Ich tue das, weil ich dich liebe«, ruft sie schließlich. »Ich muss das Risiko eingehen, dich zu verlieren, um mich selbst zu finden und danach in besserer Verfassung wieder auf dich zuzugehen, verstehst du?«

Noch nie habe ich einen solchen Unsinn gehört. Ich muss sagen, für eine noch ziemlich unerfahrene Schauspielerin besitzt sie bereits einen beachtlichen Sinn für Dramatik.

»Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt«, versucht sie mich zu beruhigen.

»Ach so, dann ist ja gut«, erwidere ich verbittert. »Kann ich vielleicht sogar mit ein paar SMS rechnen?«

»Antoine! Es wird nicht so schlimm werden, das verspreche ich dir. Du wirst sehen, wir telefonieren und schreiben uns Mails und SMS … unsere Nachrichten und Gespräche werden uns wie der Faden der Ariadne den Weg weisen. Dass wir uns eine Weile nicht sehen, bedeutet nicht das Ende unseres Begehrens, unserer Liebe – im Gegenteil. Wir könnten diesen Mangel sogar lieben lernen …«

Noch einmal schöpfe ich Hoffnung und versuche, sie zur Vernunft zu bringen, indem ich sie behutsam an den Schultern packe und schüttle.

»Meredith, wir sind hier nicht auf der Bühne. Du fantasierst … Du teilst mir eiskalt mit, dass du mich im Stich lässt, um irgendwelchen existenziellen Fragen in Bezug auf dich, mich, das Leben, die Liebe und wer weiß was noch auf den Grund zu gehen?«

»Du verstehst das nicht …«

»Ah ja? Verzeih, dass ich es tatsächlich nicht verstehe.«

»Antoine, ich lasse dich doch nicht im Stich. Ich tue es, weil du im Mittelpunkt all meiner Zukunftspläne stehst, weil ich über alle Maßen an dir hänge und unserer Liebe die Chance geben will, ein gutes Ende zu nehmen«.

»Und ich? Glaubst du denn nicht, dass auch ich über alle Maßen an dir hänge? Hast du überhaupt die geringste Ahnung, was du mir gerade antust? Schau mich an!«

Ich fasse sie energisch am Kinn, um sie zu zwingen, mich anzusehen. Sie versucht, sich meinem Griff zu entziehen. Eine verräterische Träne rollt über ihre Wange. Mir wird etwas leichter ums Herz. Ich wusste bisher nicht, wie viel sie für mich empfindet.

Und plötzlich schwankt mein Widerstand, meine Vorbehalte lösen sich in nichts auf. Meine Stimme streicht wie eine Liebkosung über ihre Lippen. Ich hauche ihr tausendmal Ich liebe dich gegen den Hals, bis sie erschaudert. Meine Meredith! Sie ist unglaublich sensibel, wie eine Stradivari.

Meredith

Noch ein gehauchtes Ich liebe dich, und ich verliere jegliche Würde ihm gegenüber. Ich beiße die Zähne zusammen, um das Schluchzen, das sich in mir aufbaut, zu unterdrücken. Er darf mir nicht noch mehr Dinge zuflüstern, die mir die Tränen in die Augen treiben.

»Sei still!«

»Niemals.«

Antoine! Wenn ich ihn zehnmal k. o. schlagen würde, würde er sich elfmal wieder aufrappeln. Ich mag diese Hartnäckigkeit an ihm. Ich blicke in seine klaren dunkelbraunen Augen mit dem bernsteinfarbenen Schimmer. Unwillkürlich fahre ich mit der Hand durch sein dichtes, seidiges braunes Haar, was einen wohligen Schauder in mir auslöst.

Unsere Lippen verschmelzen. Ich schmiege mich an ihn, fühle mich wie ein Schiff, das seinen Hafen wiederfindet. Wie soll ich es nur schaffen, mich von ihm loszulösen?

Aber mein schlimmster Albtraum geistert mir wieder durch den Kopf: Ich sehe mich in fünf Jahren, festgefahren in bürgerlicher Routine, »die Frau von …«, die man belächelt, wenn sie von ihrer Karriere redet, die nicht einmal eine Karriere in Anführungszeichen ist, sondern löchrig wie ein Schweizer Käse, bei dem nicht einmal eine Maus etwas zum Nagen finden würde. Und das zu Recht. Die reizende kleine Gattin, die dem Mann, den sie liebt, zwei Kinder geschenkt hat. Natürlich schuftet er viel. Natürlich muss einer der beiden mehr auf dem Posten sein, um die kleine Familie zu unterhalten. Ihr hübsches Kleid ist weder mit Strass noch mit Pailletten verziert, sondern mit der Marmelade, die ihr Baby darauf ausgespuckt hat. Ihre Nägel sind so kurz, dass kein Nagellack mehr draufpasst. Es ist praktischer so. Und der Blick ihres geliebten Mannes wird von Tag zu Tag ausdrucksloser, wenn er sie ansieht …Unsere Liebe darf so nicht enden. Nicht unsere Liebe, nicht bei uns!

Also muss ich nach Lösungen suchen. Natürlich versteht er mich im Augenblick nicht. Aber ich muss stark sein für zwei …

Ich löse mich aus seiner Umklammerung.

»Antoine, ich gehe jetzt«, sage ich so entschlossen wie möglich. »Ich gehe jetzt, aber ich komme wieder, das schwöre ich dir.«

»Wann?«

»Ich weiß nicht … Ich …«

»Meredith, das ist zu vage, das ertrage ich nicht. Das, was du mir da aufzwingst, ist ohnehin schon am Rande des Erträglichen. Ich liebe dich, aber ich kann nicht ewig auf dich warten. Das tut zu weh …«

Mit zusammengepressten Kiefern schenkt er sich noch ein Glas Champagner ein und leert es in einem Zug. Dann irrt er im Zimmer umher, als versuche er, seine Angst zu vertreiben. Ich betrachte ihn besorgt und ringe um eine Lösung.

»Ein Jahr und einen Tag«, verkünde ich plötzlich, als handle es sich um die Aufbewahrungsfrist von Fundsachen. »Ein Jahr und einen Tag, dann gehöre ich dir für immer.«

»Meredith, schlägst du mir da grade einen Countdown vor? Du hast wirklich Sinn für Theatralik …«

Trotz seiner Verärgerung scheint er über meinen Vorschlag nachzudenken, auch wenn ihm dieser nicht zu gefallen scheint. Gegen das Fenster gelehnt, kehrt er mir zunächst den Rücken zu, dreht sich dann jedoch ruckartig um.

»Meredith, sei realistisch. Das ist viel zu lange, das halt ich nicht aus.«

Innerlich stimme ich ihm zu. Antoine hat einen anderen Vorschlag.

»Warum nicht 80 Tage? Wie bei Phileas Fogg in Jules Vernes’ Roman?«

Ich sehe, wie ein Hoffnungsschimmer in seinen Augen aufblitzt. Also überschlage ich das Ganze: Es wären weniger als drei Monate. Ich betrachte ihn und ziehe voll Bedauern die Mundwinkel runter.

»Ich fürchte, das wäre zu kurz, Liebling.«

Er ist enttäuscht.

»Wie viel Zeit brauchst du denn, um Gottes willen?«, stößt er hervor.

Es bricht mir das Herz, ihn in so einem Zustand zu sehen. Ich flüstere: »Sechs Monate.« Er senkt den Kopf, um zu überlegen, aber auch, damit ich nicht erkennen kann, ob er meiner Bitte nachgeben wird. Er lässt sich Zeit, bevor er antwortet, atmet tief ein.

»Gut, Meredith. Okay, ich gebe dir sechs Monate, um deine Entdeckungsreise durchzuführen und dann zu mir zurückzukehren. Aber ich warne dich: Ich halte es keinen EINZIGEN Tag länger aus!«

Ich mag es, wenn er den harten Mann spielt. Ich gehe auf ihn zu und umarme ihn und ignoriere dabei seine mürrische Miene.

»Noch etwas«, fügt er hinzu.

»Sag’s mir …«

»Während dieser Zeit möchte ich dich mindestens einmal sehen.«

»Versprochen.«

Er stößt einen herzerweichenden Seufzer aus.

»Meredith, bist du dir wirklich sicher, dass du das alles willst?«

Ich spüre, wie die Wärme seines Körpers sich gefährlich verlockend auf meiner Haut ausbreitet, und fürchte, meine Entschlossenheit könnte ins Wanken geraten. Sanft schiebe ich ihn von mir.

»Ganz sicher.«

Ich tue so, als würde ich den Schleier von Traurigkeit, der sich über seine Augen legt, nicht wahrnehmen.

»Hast du jetzt besser verstanden, warum ich das alles versuchen will?«

Er betrachtet mich mit unendlicher Zärtlichkeit.

»Ja.«

Ich weiß, welche Überwindung es ihn kostet, mir diese Art von Segen zu erteilen. Es ist sein Abschiedsgeschenk, damit ich beruhigt meiner Wege ziehen kann. In diesem Augenblick liebe ich ihn umso mehr.

Schnell. Bevor ich meine Meinung ändere, muss ich mich jetzt schnell von ihm verabschieden.

Er nimmt mich ein letztes Mal in die Arme. Als ich mich umwende, um mich von ihm zu lösen, sind unsere Hände immer noch ineinander verschlungen, aber wir reißen uns jetzt endgültig voneinander los.

Mit zitternden Knien greife ich nach meinem Mantel und eile aus dem Zimmer. Auf der Türschwelle drehe ich mich um, um ihm einen letzten Blick zuzuwerfen. Nicht unbedingt eine gute Idee. Hastig ergreife ich die Flucht.

Auf der Straße klappern meine Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Das Geräusch untermalt rhythmisch die vielen Gedanken, die mir durch den Kopf schwirren und mir einhämmern: Du bist verrückt. Völlig verrückt.

Einem letzten Impuls folgend blicke ich zum zweiten Stockwerk hoch. Er ist da, halb verborgen hinter dem schweren Vorhang. Ich könnte schwören, dass eine Träne in seinem Augenwinkel glitzert. Ich fühle mich innerlich zerrissen und schleiche mich wie eine Diebin davon, mit einer seltsamen Beute – einer unvollendeten Liebesgeschichte, die nach Ablauf von sechs Monaten noch wertvoller … oder völlig wertlos sein wird.

Es regnet. Nein, es sind meine Tränen.

In meiner Manteltasche vibriert es. Eine SMS. Von ihm. Zum ersten Mal seit unserem Abschied vor fünfzehn Minuten atme ich wieder durch und lese:

»Geh und lebe – und komm zu mir zurück.«

Formulieren kann er. Doch seine Talente beschränken sich keineswegs darauf. Ich befinde mich nun im Exil, so wie in dem Film Geh und lebe von Radu Mihaileanu.

Das Besondere daran ist aber, dass es meine Entscheidung war, dass ich es so wollte …

»Als ich das bittre Brot des Bannes aß.« Danke, Shakespeare. Ich hatte nicht mit diesem Geschmack von Stahl im Mund gerechnet. Und von rostigem Metall! Man sollte Kaugummis mit dieser Geschmacksnote herstellen. Ich habe diesen Sturm selbst heraufbeschworen, aber im Augenblick bin ich nicht bereit dafür. In dieser Situation kommt mir nur ein Name in den Sinn: Rose.

Ich wähle ihre Nummer. Als sie meine Stimme hört – ich bin kurz davor zu weinen –, bedarf es keiner weiteren Erklärungen.

»Komm sofort her!«, befiehlt sie.

Ich lasse mich nicht zweimal bitten, sondern springe ins nächstbeste Taxi und fahre zu meiner Klempnerin für gebrochene Herzen.

SZENE 4

Rose

Als Meredith vor der Tür steht, wirkt sie völlig aufgelöst. Ich nehme sie in die Arme und drücke sie an mein Herz. Gegen zwei Airbags voller Zärtlichkeit.

»Mein Gott, meine Süße, wie siehst du denn aus? Komm schnell rein, du bist ja völlig durchgefroren.«

»Danke, Rose, ist lieb von dir …«

»Psst, sei leise, Késia schläft nebenan.«

Meine kleine Prinzessin soll nicht gestört werden. Denn das würde wieder drei Geschichten und zwei Abzählreime bedeuten – vorher schläft sie nicht ein.

Meredith kommt wie selbstverständlich herein, zieht ihre High Heels aus, um es bequem zu haben, und kuschelt sich auf das Sofa. Sie kennt sich hier aus.

»Warum plärrrrst du?«

»Psst, Roméo. Sei still!«

Roméo ist mein Kakadu. Ein rosafarbener Prachtkerl, den ich zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen habe. Zwanzig Jahre in Liebe und Einvernehmen verbinden uns jetzt. Roméo ist das zweite Königskind hier im Haus. Ich liebe ihn sehr, zumal er kein gewöhnlicher Papagei ist. Seine kognitiven Fähigkeiten sind überdurchschnittlich, deshalb wird er regelmäßig von einem Team von Wissenschaftlern begutachtet, die ihn allen möglichen Tests unterziehen. Ich lasse es zu, solange es ihn zu amüsieren scheint. Da er besonders empfänglich für Gefühle ist, versteht er auf Anhieb, dass mit meiner Freundin etwas nicht stimmt. Mit drei Flügelschlägen flattert er zu ihr.

»Na, wie geht’s, meine Süße?«, krächzt er.

Meredith schenkt dem rosafarbenen Vogel mit den grauen Flügeln ein klägliches Lächeln. Er zeigt sich von seiner besten Seite, indem er seinen Erdbeer-Tagada-Kamm, wie ihn meine Tochter nennt, aufplustert. Mit einer Hand streichelt Meredith über sein Gefieder und versucht mit der anderen, die Mascaraspuren auf ihren Wangen wegzuwischen.

Ich seufze, halb aus Mitleid, halb aus Ärger, denn trotz der großen Zuneigung, die ich für Meredith empfinde, verstehe ich sie nicht: Sie hat diesen absurden Plan, Antoine zu verlassen, um sich auf diese seltsame Reise zu sich selbst zu begeben. Ich habe ihr das nicht gesagt, um sie nicht zu kränken, aber ich bleibe skeptisch … 

Wenn jeder so lange warten würde, bis er bereit für die große Liebe und ein gemeinsames Leben ist, gäbe es auf dem Planeten Erde nicht mehr viele Paare. Ehrlich gesagt … glaube ich vor allem, dass sie Muffensausen bekommen hat. Antoine schien es ernst zu meinen. Ich frage mich sogar, ob er nicht im Begriff war, ihr einen Antrag zu machen! Aber Meredith ist noch nicht reif genug, um den großen Sprung ins Eheleben zu wagen. Nein, wirklich nicht.

Wir haben stundenlang über diese Geschichte diskutiert, bis uns der Kopf schwirrte. Und ich, mit meinem gesunden Menschenverstand, kann nicht begreifen, warum sie diese Beziehung nicht einfach genießt, ganz ohne Rückversicherung. Einem Mann wie Antoine begegnet man nicht alle Tage! Wenn ich daran denke, dass ich die beiden einander vorgestellt habe.

Ich habe versucht, Meredith zur Vernunft zu bringen, sie vor den Risiken gewarnt. Keine Chance! Meredith ist davon überzeugt, dass ihr hirnrissiger Plan wohlbegründet ist. Nur diese Love Tour und ihre ausgiebige innere Erkundungsreise würden die Geheimnisse einer wahren Liebe enthüllen, die, wie im Märchen oder in einem Hollywoodfilm, Bestand haben und ein glückliches Ende finden würde. Ich aber kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich dabei vor allem um eine Flucht nach vorne handelt.

Doch wenn ich sie so zusammengekauert auf dem Sofa sehe, ein erbarmungswürdiges Häufchen Elend, habe ich Mitleid mit ihr. Ich werde noch etwas abwarten und sie dann fragen, was passiert ist …

»Was willst du denn trinken, Liebes? Kaffee oder Tee mit viel Rum?«

Etwas Humor ist stets heilsam. Mein Großvater Victorin aus Martinique hat mir das immer gepredigt.

Merediths Stimmung bessert sich allmählich.

»Tee mit Rum, bitte.«

Immerhin ist sie noch nicht ganz neben der Spur, das lässt hoffen.

Ich begebe mich in die Küche, um das beruhigende, wenn auch etwas ungewöhnliche Getränk zuzubereiten.

Ich kenne Meredith seit fünf Jahren. Sie ist nicht nur eine Freundin, sondern auch eine Schwester für mich. Und zurzeit auch meine Bühnenkollegin. Wir sind sozusagen unzertrennlich. Damals, als sie beim Schauspielunterricht in der Rue Frochot aufkreuzte, wirkte sie ziemlich abgebrannt, aber auch irgendwie unwiderstehlich und zog damit jeden in ihren Bann. Natürlich vor allem die Männer. Ich glaube, einer nach dem anderen hat sich damals in sie verliebt. Auch ich fand sie, wie alle anderen, umwerfend. Nicht hübsch im herkömmlichen Sinne, sondern auf eine ergreifende Art und Weise, auch wenn sie sich selbst dessen nicht unbedingt bewusst war. Ihre kastanienbraunen Haare mit den weizenblonden Reflexen fallen ihr kaskadenartig auf die Schultern, wobei ihr fransiger Schnitt einen ungestylten Eindruck vermittelt. Ihr Mund sieht aus, als habe ihn Rodin gemeißelt. Und dann sind da noch ihre kleine Stupsnase mit den unauffälligen Sommersprossen und ihre smaragdgrünen Augen … Zum Glück bewahren ihre winzigen Brüste und ihre abgeknabberten Fingernägel sie davor, mit ihrer Schönheit allzu sehr zu provozieren. Damals hatte ich zwei Optionen: sie zu hassen oder sie zu meiner besten Freundin zu machen. Ich habe mich für die zweite Option entschieden.

Der Teekessel pfeift, und ich höre, wie das Wasser darin sprudelt. Ich nehme zwei Teebeutel und gieße in jeden Becher einen guten Schluck Rum. Damit könnte man Tote erwecken!

Meredith steht in der Tür.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, kuschel dich schnell wieder unter deine Decke, ich bin gleich da.«

Ich blicke ihr nach und lächle innerlich. Niemand kennt die seltsamen Widersprüchlichkeiten dieser kleinen Frau besser als ich. Mal ist sie die Katze, mal die Pantherin … Zärtlich und heftig. Schüchtern und kess. Alles zusammen und dann wieder genau das Gegenteil. Eine seltsame Mischung, die niemanden unberührt lässt. Am merkwürdigsten sind die unverkennbaren Überreste ihrer bürgerlicher Erziehung, die sie mit rebellischen Eigenschaften und einem hitzigen Charakter, der jedoch durch ihre eingebildeten Minderwertigkeitskomplexe gedämpft wird, in Einklang zu bringen versucht.

Ich erinnere mich an ihre ersten Auftritte auf der Bühne. Vor jedem Textabschnitt, den sie vor der Gruppe rezitieren musste, grub sie ihre künstlichen Fingernägel in meinen Vorderarm, denn sie hatte panische Angst. Ihr Lampenfieber macht ihr schwer zu schaffen, und dennoch war und ist die Bühne ihr Rettungsanker! Später erfuhr ich, dass sie in einem Anflug von Rebellion ihrem Heimatort und ihrer Familie den Rücken gekehrt hatte. Ihre Eltern stellten sich gegen ihre Schauspielpläne, die sich schlecht mit ihrer Vorstellung eines ordnungsgemäßen Lebens vereinbaren ließen. Studium, Karriere, Heirat, Kinder … die sogenannte Normalität – was für ein übles Wort! Doch immerhin, sie hatte es versucht. Um ihren Eltern zu gefallen, hatte sie drei Jahre lang an der Universität von Lille Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. Sie hatte sich in eine Uniform gezwängt, die ihr nicht passte, und nicht sofort bemerkt, dass sie darin verkümmerte und sich Jahr für Jahr selbst verriet. Das Ganze endete in einer schlimmen Depression. Einer echten Depression, bei der man nicht mehr aufstehen möchte und bei der eine Runde um die Häuser bereits einer olympischen Disziplin gleichkommt. Eine Folge der übermäßigen Anpassung, des Gefallenwollens. Nachdem sie über einige Monate ihr Leben wie ein Schatten in einer Atmosphäre der familiären Kritik und der Selbstzerstörung gefristet hatte, war der Tod ihrer geliebten Großmutter der heilsame Auslöser für ihre Rebellion. Die alte Dame, ihre engste Vertraute, war die Einzige, die schon früh das Talent ihrer Enkelin entdeckt hatte. Unermüdlich ermunterte sie Meredith, es mit der Schauspielerei zu versuchen. Doch schließlich musste ihre Omi sie für immer verlassen. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Ereignis Meredith ermutigt hat, sich endgültig von ihrem Elternhaus zu lösen und es zu wagen, das Leben zu führen, von dem sie immer geträumt hatte: das Leben einer Gauklerin.

Ich kehre mit den beiden dampfenden Bechern ins Wohnzimmer zurück und stelle sie auf den Couchtisch. Dann werfe ich Meredith einen eindringlichen Blick zu und fordere sie auf:

»Nun erzähl!«

Meredith

Meine Rose. Als sie mir vorhin die Tür geöffnet hat, überrollte mich eine Welle der Dankbarkeit. In wenigen Jahren ist sie für mich Mutter, Schwester und Freundin zugleich geworden. Sie ist wie eine »Vielzweckfamilie« für mich, eine Familie für alle Fälle. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, aber Rose gehört zu den wenigen Menschen, bei deren bloßem Anblick man gute Laune bekommt. Sie ist ein ein Meter achtzig langer Sonnenstrahl; nicht zu übersehen.

Als sie mir jetzt so liebenswürdig und geduldig zuhört, während ich ihr von meinem Galadinner berichte, fällt mein Blick auf ihr faszinierendes krauses Haar, das wie ein Glorienschein ihren Kopf umrahmt.

Wie schön sie ist! Ihre Mutter hat sie zu Ehren der Sängerin Calypso Rose so getauft. Sie verehrte sie sehr und konnte von ihren Liedern nicht genug bekommen; ließ sich von der Heiterkeit dieser »Cesária Évora der Karibik« und ihrem fröhlichen Gesang anstecken.

Als ich ihr von meinem Gespräch mit Antoine berichte, füllen sich meine Augen mit Tränen, und ich sehe, wie sie die ihren zusammenkneift und die haselnussfarbenen Pupillen vor Verärgerung funkeln.

»Siehst du nicht, in welche Verfassung dich das versetzt? Dein Vorhaben schlägt mir schlichtweg aufs Gemüt. Man könnte meinen, es mache dir Spaß, dir das Leben zu verderben …«

Ihre Kreolen bewegen sich im Rhythmus ihrer Entrüstung. Ich bin gerührt, dass sie sich solche Sorgen um mich macht.

»Das ist es nicht, Rose … Glaube mir, ich habe das von allen Seiten beleuchtet. Auch wenn es sehr hart werden wird, sehe ich in dieser Reise die einzige Lösung, um den Rückzug anzutreten, um zu verstehen, weshalb ich mich so blockiere, und um herauszufinden, ob unsere Liebe eine Chance hat …«

Sie murrt, wenig überzeugt. Und ich trinke einen Schluck von dem heißen Tee.

»Pass auf«, warnt mich meine innere Stimme. »Es reicht, dass du dir wegen der Liebe die Flügel verbrennst, da muss nicht noch mehr dazukommen.«

Eine Tür wird geöffnet, und eine Kinderstimme flüstert:

»Mama! Was ist los?«

Rose stößt ein paar Flüche auf Kreolisch aus. Késia ist aufgewacht! Ich war wohl zu laut. Die Kleine ist so süß in ihrem Nachthemd mit dem aufgedruckten Einhorn. Sie hat ihr Lieblingsstofftier, einen Hasen, fest an sich gedrückt. Ihm fehlt ein Ohr, und sein Fell ist kaum noch vorhanden. Im Lauf von fünf Jahren hat er in Késias Armen allerhand mitgemacht.

»Warum schläfst du nicht? Morgen in der Schule fallen dir die Augen zu. Also marsch, zurück ins Bett.«

Rose packt ihr verirrtes Schäfchen mit einem geschickten Griff und nimmt die Kleine huckepack. Der Kontrast zwischen Rose und ihrer Tochter ist frappierend. Késia wirkt in den großen Armen ihrer Mama wie eine kleine Krabbe. Eine Krabbe mit milchweißer Haut, langen kastanienbraunen Haaren, die glatt wie Savannengras sind, und großen blauen Augen. Nichts lässt darauf schließen, dass sie Rose’ Tochter ist. Wie oft schon hat sich meine Freundin geärgert, weil man sie für die Babysitterin hielt! Die Gesetze der Genetik bleiben ein Geheimnis … Das kleine Mädchen scheint ganz seinem Vater nachzuschlagen, einem attraktiven schwedischen Steward. Während eines Aufenthalts in Paris hat er Rose verführt. Sobald er aber von ihrer Schwangerschaft erfuhr, machte er sich aus dem Staub. Késia schlingt ihre mageren Beinchen um die breiten Hüften ihrer Mutter und klammert sich an sie wie eine Napfschnecke an ihr kräftiges Gehäuse.

»Mama, spiel mit mir Reiten«, bettelt die Kleine.

»Nicht um diese Zeit, mein Herzblatt.«

»Los, los! Bitte!«

Rose trottet in Richtung Schlafzimmer.

»Hü, hott«, spornt die Kleine sie begeistert an. So ist der Weg in die Heia viel lustiger.

Meine Freundin lässt ihr donnerndes Lachen hören, das ich so mag, und entblößt ungeniert ihre Zahnlücke. Gutmütig macht sie die Spiele ihrer Tochter mit. Ich weiß, dass sie ihr kaum etwas abschlagen kann. Roméo mischt sich ein und fängt an, das Pferdewiehern nachzuahmen. Jedes Mal staune ich von Neuem über seine Talente als Imitator. Er flattert auf Rose’ freie Schulter und pickt mit dem Schnabel gegen ihren Hals, während er weiterwiehert wie ein Pferd. Ein regelrechter Wanderzirkus! Um für Ruhe zu sorgen, tut Rose so, als wäre sie verärgert, und verscheucht ihn mit einer Handbewegung.

»Komm schon, es reicht. Es ist halb eins. Das ist ja das reinste Tollhaus!«

»Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein, du rührst dich nicht von der Stelle. Und du – du kehrst in deinen Käfig zurück! Und du machst jetzt, dass du zurück ins Bett kommst. Aber dalli!«

Wenn sie wie ein Hauptfeldwebel klingt, stehen alle stramm. Als alleinerziehende Mutter muss sie alle Rollen übernehmen. Sie ist die Verwöhnmama, aber auch die feuerspeiende Drachenmama … Sie bietet eine ganze Palette von Nuancen.

Während Rose damit beschäftigt ist, Késia wieder ins Bett zu bringen, bin ich mit Roméo allein. Er ist etwas beleidigt, weil er kurz zuvor zurechtgewiesen wurde. Jetzt schmollt er und wirft mir einen finsteren Blick zu. Ich verstehe ihn.

»Ja, mein Guter, das Leben ist nicht immer ein Honigschlecken.«

»Kein Honiiiglecken«, wiederholt er und betont dabei die zweite Silbe.

Als Rose wiederauftaucht, gönne ich mir gerade eine Zigarette auf dem winzigen Balkon. Sie ruft mich zur Ordnung.

»Los, geh schnell wieder rein, du holst dir noch den Tod. Wann willst du endlich mit dem Rauchen aufhören?«

Ich denke: »Wenn ich richtig glücklich bin«, und schlucke die Antwort hinunter.

Da sie nur zwei Zimmer hat und in einem davon ihre Tochter schläft, zieht sie schnell die Schlafcouch aus.

»Es wird ein wenig eng werden«, sagt sie, ist aber keineswegs verlegen deswegen.

Statt eines Nachthemds leiht sie mir eines ihrer T-Shirts, die viel zu weit für mich sind und mir bis zum Knie reichen. Ich putze mir die Zähne, um den Rauchgeschmack zu vertreiben, und schlüpfe unter die Bettdecke. Die Strumpfhose behalte ich an, denn ich zittere vor Kälte. Aber nicht nur deswegen.

Wir reden noch eine Weile.

»Schluss jetzt, morgen ist auch noch ein Tag.«

»Aber …«

Rose knipst das Licht aus und wünscht mir eine gute Nacht. Ich weiß, dass es für mich vor allem eine lange Nacht sein wird.