Betsy, für immer
DAVID QUAMMEN
SPILLOVER
Der tierische Ursprung
weltweiter Seuchen
Aus dem Englischen von
Sebastian Vogel
Pantheon
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Die Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel Spillover. Animal Infections and the Next Human Pandemic bei W. W. Norton, New York.
Copyright © 2012 David Quammen
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by
Deutsche Verlags-Anstalt, München,
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Pantheon Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Jorge Schmidt, München
Lektorat: Susanne Warmuth
Satz: Brigitte Müller
Gesetzt aus der Jenson
ISBN 978-3-641-27078-0
V001
www.pantheon-verlag.de
Betsy, für immer
Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: Der Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die wilden Tiere auf Erden.
OFFENBARUNG 6:8
Das Virus, das heute unter dem Namen »Hendra« bekannt ist, war nicht der erste neue, Angst einflößende Krankheitserreger und schon gar nicht der schlimmste. Im Vergleich zu manchen anderen erscheint es eher unbedeutend. Seine tödliche Wirkung war und ist, zahlenmäßig betrachtet, relativ gering, die geographische Verbreitung blieb begrenzt. Seinen ersten Auftritt hatte das Virus 1994 in der Nähe der australischen Stadt Brisbane. Es gab zunächst zwei Fälle bei Menschen, davon einen tödlichen. Aber daneben litten und starben viele Pferde; ihre Geschichte ist wesentlicher Teil meines Berichts. Denn, wie wir noch sehen werden, die Krankheiten von Menschen und Tieren sind eng miteinander verflochten.
Beim ersten Auftreten des Hendra-Virus hielten sich Schrecken und mediale Aufmerksamkeit sehr in Grenzen, wenn man nicht gerade im Osten Australiens wohnte. An ein Erdbeben, einen Krieg, den Amoklauf eines Schülers oder einen Tsunami reichte sein Nachrichtenwert nicht heran. Und doch war es etwas Besonderes. Es war gespenstisch. Heute ist das Hendra-Virus zumindest bei Experten für Infektionskrankheiten und bei Australiern ein wenig besser bekannt und damit weniger gespenstisch. Aber etwas Besonderes ist es immer noch. Es erscheint paradox: Dieses Virus ist unbedeutend, selten und doch in einem gewissen Sinn repräsentativ. Genau aus diesem Grund ist es ein guter Ausgangspunkt, wenn wir verstehen wollen, warum neue Krankheitserreger auf der Erde auftauchen – Erreger, die seit 1981 für den Tod von mehr als 30 Millionen Menschen verantwortlich sind. Dahinter steht ein Phänomen, das Biologen und Mediziner als »Zoonose« bezeichnen.
Eine Zoonose ist eine Infektionskrankheit bei Tieren, die auf Menschen überspringen kann. Es gibt mehr solcher Krankheiten, als man vielleicht glauben würde. Eine davon ist AIDS. Ihre Existenz bestätigt wieder einmal die alte darwinistische Erkenntnis (die zwar allgemein bekannt ist und doch ständig vergessen wird): Der Mensch ist ein Tier und als solches untrennbar mit anderen Tieren verbunden, in Ursprung und Abstammung, in Krankheit und Gesundheit. Wenn wir Zoonosen betrachten – wobei wir mit diesem relativ exotischen Fall aus Australien beginnen wollen –, werden wir auf heilsame Weise daran erinnert, dass alles, auch Seuchen, von irgendwoher kommt.
Nur wenige Monate nach den Ereignissen im Stall von Vic Rail kam es zu einem anderen Spillover, dieses Mal in Zentralafrika. Am Oberlauf des Flusses Ivindo im Nordosten Gabuns, nicht weit von der Grenze zur Republik Kongo, liegt ein kleines Dorf namens Mayibout 2. Es ist eine Art Satellitensiedlung des Dorfes Mayibout, das rund eineinhalb Kilometer weiter stromabwärts liegt. Anfang Februar 1996 wurden 18 Menschen in Mayibout 2 plötzlich krank, nachdem sie gemeinsam einen Schimpansen zerlegt und aufgegessen hatten.
Die Symptome waren Fieber, Kopfschmerzen, Erbrechen, blutunterlaufene Augen, Zahnfleischbluten, Schluckauf, Glieder- und Halsschmerzen und blutiger Durchfall. Alle 18 Patienten wurden auf Anweisung des Dorfvorstehers flussabwärts in ein Krankenhaus in der Distrikthauptstadt Makoku gebracht. Von Mayibout 2 nach Makoku sind es weniger als 80 Kilometer Luftlinie, aber auf dem gewundenen Ivindo dauert die Bootsfahrt sieben Stunden. Vier Patienten waren bei der Ankunft bereits todkrank und starben innerhalb der nächsten beiden Tage. Die vier Leichen wurden nach Mayibout 2 zurückgebracht und nach traditionellem Ritus bestattet, ohne dass man besondere Vorsichtsmaßnahmen gegen die Übertragung von irgendetwas, an dem sie gestorben waren, ergriffen hätte. Ein fünftes Opfer floh aus dem Krankenhaus, kehrte auf eigene Faust ins Dorf zurück und starb dort. Wenig später kam es zu Sekundärfällen unter Personen, die sich bei der Versorgung der ersten Opfer – ihrer Angehörigen und Freunde – oder durch den Umgang mit den Toten angesteckt hatten. Am Ende waren 31 Menschen erkrankt, von denen 21 starben: eine Sterblichkeitsrate von fast 68 Prozent.
Diese Fakten wurden von einem gabunisch-französischen Medizinerteam zusammengetragen, das während der Epidemie nach Mayibout 2 kam. Zu der Gruppe gehörte Eric M. Leroy. Der energische Franzose hatte in Paris Tiermedizin und Virologie studiert und dann am Centre International de Recherches Médicales de Franceville (CIRMF) in Franceville gearbeitet, einer bescheidenen Stadt im Südosten Gabuns. Leroy und seine Kollegen fanden im Probenmaterial einiger Patienten Indizien für das Ebolavirus und schlossen daraus, dass der zerlegte Schimpanse mit dem Erreger infiziert war. »Bei dem Schimpansen handelt es sich offensichtlich um den Indexfall für die 18 primären Fälle unter Menschen«, schrieben sie.7 Bei den Untersuchungen stellte sich außerdem heraus, dass der Schimpanse nicht von Jägern aus dem Dorf getötet worden war, man hatte ihn vielmehr tot im Wald gefunden und mitgenommen.
Vier Jahre später saß ich an einem Lagerfeuer am Oberlauf des Ivindo mit einem Dutzend einheimischer Männer zusammen, die als Hilfsmannschaft für eine außergewöhnliche Expedition arbeiteten. Die meisten von ihnen stammten aus Dörfern im Nordosten Gabuns und waren schon wochenlang zu Fuß unterwegs gewesen, als ich mich ihnen anschloss. Ihre Aufgabe bestand darin, schwere Gepäckstücke durch den Dschungel zu tragen und jeden Abend ein einfaches Lager für den Biologen Mike Fay zu errichten, dessen Hartnäckigkeit und eiserner Wille die Triebkraft des ganzen Unternehmens war. Fay ist selbst nach den Maßstäben von Feldbiologen ein ungewöhnlicher Mann: ungemein kräftig, ausdauernd, offen, klug und ein vehementer Verfechter des Naturschutzes. Sein Projekt mit dem Namen »Megatransect« war eine biologische Übersichtsuntersuchung, für die er zu Fuß mehr als 3000 Kilometer durch die wildesten noch verbliebenen Waldgebiete Zentralafrikas zurücklegte. Auf jedem Schritt seines Weges sammelte er Daten: Er erfasste Dunghaufen von Elefanten, Leopardenfährten, Sichtungen von Schimpansen und Pflanzen, die er bestimmt hatte. Tausende von Notizen hielt er in seiner krakeligen Linkshänderschrift in wasserfesten gelben Notizbüchern fest, während die Begleitmannschaft seine Computer, das Satellitentelefon, Spezialinstrumente und Zusatzakkus schleppte, aber auch Zelte, Lebensmittel und medizinische Versorgungsgüter für die ganze Gruppe.
Als Fay in diesen Teil Gabuns kam, war er bereits seit 290 Tagen zu Fuß unterwegs. Er hatte die Republik Kongo mit einer Mannschaft aus dschungelerfahrenen Einheimischen durchquert, aber ihnen hatte man an der Grenze zu Gabun die Einreise verweigert. Deshalb war Fay gezwungen gewesen, in Gabun ein neues Team zusammenzustellen. Er rekrutierte die Leute zum größten Teil in einer Reihe von Goldgräberlagern am Oberlauf des Ivindo. Die harte, beschwerliche Arbeit bei ihm – Pfade frei schlagen, Kisten schleppen – war offenbar immer noch besser, als im Schlamm Äquatorialafrikas nach Gold zu wühlen. Ein Mann diente nicht nur als Gepäckträger, sondern auch als Koch: Jeden Abend bereitete er am Lagerfeuer riesige Mengen Reis oder fufu (ein stärkehaltiges Grundnahrungsmittel aus Maniokmehl, das essbarem Tapetenkleister ähnelt) zu und verzierte das Gericht mit einer undefinierbaren braunen Soße. Diese enthielt als Zutaten wechselweise Tomatensoße, Trockenfisch, Dosensardinen, Erdnussbutter, gefriergetrocknetes Rindfleisch und pili-pili (scharfen Paprika) – sie alle galten als miteinander verträglich und wurden nach dem Geschmack des Chefkochs kombiniert. Niemand beklagte sich. Alle hatten ständig Hunger. Nur eines war am Ende eines anstrengenden Tagesmarsches durch den Dschungel schlimmer als eine große Portion von dem Zeug: eine kleine Portion. Ich selbst sollte im Auftrag von National Geographic Fay und der Gruppe auf dem Fuße folgen und in einer Reihe von Artikeln seine Arbeit und die ganze Wanderung beschreiben. Ich begleitete ihn hier zehn Tage, dort zwei Wochen und flüchtete mich zwischendurch nach Hause in die Vereinigten Staaten, wo ich meine Füße abheilen ließ (wir hatten Badesandalen getragen) und eine Fortsetzungsfolge schrieb.
Jedes Mal, wenn ich wieder zu Fay und seiner Gruppe stieß, war die Verabredung logistisch anders arrangiert, je nachdem, wie abgelegen sein derzeitiger Aufenthaltsort war und wie dringend er Nachschub brauchte. Von der Zickzacklinie seiner Wanderungsroute wich er nie ab. Es war meine Sache, mich zu ihm durchzuschlagen, egal ob per Buschflieger oder Motorkanu. Manchmal reiste ich in Begleitung von Fays zuverlässigem Logistikmanager und Quartiermeister, dem japanischen Ökologen Tomo Nishihara. Wir quetschten uns zwischen das Material, das er für die nächste Etappe von Fays Wanderung mitnahm: Säcke mit Fufu, Reis und Trockenfisch, Kisten mit Sardinen, Öl und Erdnussbutter, Pili-Pili und AA-Batterien. Aber selbst ein Einbaumkanu konnte nicht immer bis zu der Stelle vordringen, an der Fay und seine Crew ausgehungert und verdreckt auf uns warteten. Einmal hatten die Wanderer ein großes Waldgebiet namens Minkébé durchquert; Tomo und ich knatterten mit einem Hubschrauber des Typs Bell 412 aus dem Himmel heran, einem riesigen 13-Sitzer, den wir für teures Geld bei der gabunischen Armee gechartert hatten. Das Kronendach des Waldes, das an anderen Stellen dicht und undurchdringlich aussah, war hier von mehreren großen Granitblöcken unterbrochen, die wie Gummidrops aussahen und sich mehr als 100 Meter über die Umgebung erhoben. Auf einem dieser Inselberge befand sich der Landeplatz, zu dem Fay uns dirigiert hatte. Er lag rund 70 Kilometer westlich von Mayibout 2.
Für die Mannschaft war es ein relativ einfacher Tag gewesen: keine Sümpfe, die es zu überqueren galt, keine dichte Vegetation, die einem die Haut zerschnitt, keine angriffslustigen Elefanten, die Fay mit seinem Wunsch, sie aus nächster Nähe zu filmen, provoziert hätte. Sie hatten ihr Lager errichtet und auf den Hubschrauber gewartet. Jetzt war der Nachschub eingetroffen – sogar Bier! Am Lagerfeuer herrscht eine entspannte, gesellige Atmosphäre. Wenig später weiß ich, dass zwei Mitglieder der Mannschaft, Thony M’Both und Sophiano Etouck, ihre Wurzeln in Mayibout 2 haben. Sie waren im Dorf gewesen, als das Ebolavirus zuschlug.
Thony, ein leutseliger, schlanker Mann, ist schnell bereit, davon zu erzählen. Er spricht Französisch, während sein Freund Sophiano, ein schüchterner Typ mit Ziegenbärtchen und der Statur eines Bodybuilders, schweigend danebensitzt. Wie Thony berichtet, musste Sophiano zusehen, wie sein Bruder und der größte Teil von dessen Familie starb. Seine Erinnerungen stimmen, abgesehen von kleinen Abweichungen bei Zahlen und Details, recht gut mit dem Bericht des CIRMF-Teams aus Franceville überein. Aber er schildert die Abläufe stärker aus persönlicher Sicht.
Thony spricht von l’épidémie. Ja, sagt er, es geschah 1996, ungefähr zu der Zeit, als ein paar französische Soldaten mit einem Expeditionsschlauchboot nach Mayibout 2 gekommen waren und in der Nähe des Dorfes ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ob die Soldaten ernsthafte Absichten verfolgten – sollten sie vielleicht eine alte Landepiste wieder herrichten? – oder sich nur amüsieren wollten, war nicht klar. Sie schossen mit ihren Gewehren. Vielleicht, so vermutet Thony, verfügten sie auch über eine Art chemische Waffe. Er erwähnte solche Details, weil er glaubt, sie könnten für die Epidemie von Bedeutung gewesen sein. Eines Tages gingen ein paar Jungen aus dem Dorf mit ihren Hunden auf die Jagd. Sie hatten es auf Stachelschweine abgesehen. Aber statt der Stachelschweine stießen sie auf den Schimpansen – nein, den hatten nicht die Hunde getötet. Er war schon tot, als sie ihn fanden. Sie brachten ihn ins Dorf. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt, so erzählt Thony, der Magen stank und war aufgedunsen. Aber das machte nichts: Die Leute freuten sich über das Fleisch. Sie zerlegten den Schimpansen und aßen ihn auf. Dann ging alles ganz schnell: Innerhalb von zwei Tagen wurde jeder, der das Fleisch auch nur angerührt hatte, krank.
Sie mussten erbrechen und hatten Durchfall. Manche fuhren mit dem Boot flussabwärts nach Makoku ins Krankenhaus. Aber sie hatten nicht genug Benzin, um alle Kranken zu transportieren. Elf Personen starben in Makoku, weitere 18 im Dorf. Ja, sagt Thony, dann seien sehr schnell die Spezialisten aus Franceville gekommen, mit weißen Anzügen und Helmen, aber sie haben niemanden gerettet. Sophiano verlor sechs Angehörige. Eine davon, eine Nichte, starb in seinen Armen. Dennoch wurde Sophiano selbst nicht krank. Nein, und ich auch nicht, sagt Thony. Die Ursache der Krankheit war unklar und gab den Anlass zu düsteren Gerüchten. Thony äußert den Verdacht, dass die französischen Soldaten den Schimpansen mit ihren chemischen Waffen getötet und achtlos zurückgelassen haben, damit sein Fleisch die Dorfbewohner vergiftete. Jedenfalls hatten er und die anderen Überlebenden ihre Lektion gelernt. Bis auf den heutigen Tag, so erklärt er, würde in Mayibout 2 niemand mehr einen Schimpansen essen.
Ich erkundige mich nach den Jungen, die auf die Jagd gegangen waren. Die, sagt Thony, sind gestorben, alle. Die Hunde starben nicht. Ob er zuvor schon einmal eine solche Krankheit, eine solche Epidemie gesehen hätte? Nein, erwidert Thony, noch nie.
Aber inmitten des Chaos und Entsetzens im Dorf hatten er und Sophiano noch etwas Bizarres beobachtet: Im Wald, ganz in der Nähe, lagen 13 Gorillas auf einem Haufen, alle tot. Das erzählt er von sich aus. Nach toten Wildtieren habe ich nicht gefragt. Natürlich sind Einzelfallberichte in der Regel schillernd, ungenau, manchmal auch falsch, und das selbst dann, wenn sie von Augenzeugen stammen. Menschen lagen im Sterben. Erinnerungen verwischen sich. Doch ich glaubte ihm, dass er die toten Gorillas gesehen hatte, dass es ungefähr 13 waren und dass sie vielleicht nicht auf einem Haufen, aber nebeneinander gelegen hatten; vielleicht hatte er sie sogar gezählt. Das Bild von 13 im Laub verstreuten Gorillakadavern war entsetzlich, aber plausibel. Später stellte sich heraus, dass Gorillas höchst anfällig für Ebola sind.
Das Gegenstück zu solchen Einzelfallberichten sind wissenschaftliche Daten. Sie kommen ohne schillernde Details, poetische Ausschmückungen und fantasievolle Interpretationen daher. Sie sind genau definiert, quantifizierbar, handfest. Penibel gesammelt und systematisch geordnet, können sie neue Erkenntnisse liefern. Das war der Grund, warum Mike Fay mit seinen gelben Notizbüchern durch Zentralafrika wanderte: Er suchte nach großen Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Masse kleiner Daten herauskristallisieren könnten.
Am nächsten Tag setzten wir unsere Wanderung durch den Wald fort. Immer noch waren wir mehr als eine Woche von der nächsten Straße entfernt. Es war ein großartiger Lebensraum für Gorillas, gut strukturiert, reich an ihren Lieblingsfutterpflanzen und von Menschen nahezu unberührt: keine Pfade, keine Lager, keine Spur von Jägern. Die Gegend hätte voller Gorillas sein müssen. Und vor nicht allzu langer Zeit war das auch so gewesen: Eine Zählung der Menschenaffenpopulationen in Gabun, die zwei Wissenschaftler des CIRMF zwanzig Jahre zuvor vorgenommen hatten, war allein für das Waldgebiet von Minkébé auf mindestens 4171 Gorillas gekommen. Dennoch sahen wir während der Wochen, in denen wir uns durch den Busch kämpften, keinen einzigen. Dass Gorillas und ihre Spuren fehlten, war seltsam – so seltsam, dass Fay es geradezu für dramatisch hielt. Genau solche – positiven oder negativen – Gesetzmäßigkeiten wollte er mit seinen Methoden ans Licht bringen. Während seines gesamten Megatransect-Projekts vermerkte er in seinen Notizbüchern jedes Gorillanest, das er sah, jeden Haufen Gorilladung, jeden Baumstamm, an dem Gorillazähne genagt hatten – ebenso wie er Elefantendung, Leopardenfährten und ähnliche Spuren anderer Tiere festhielt. Am Ende unserer Etappe durch Mikébé stellte er seine Daten zusammen. Dazu verbarrikadierte er sich ein paar Stunden in seinem Zelt und gab die neueste Ernte seiner Beobachtungen in sein Laptop ein. Dann kam er wieder heraus.
Nach seinen Befunden waren wir in den letzten 14 Tagen auf 997 Dunghaufen von Elefanten gestoßen, aber in keinem einzigen Fall hatten wir Gorillaexkremente gefunden. Wir waren an Millionen Stängeln großer, krautiger Pflanzen vorübergekommen, darunter einige Arten (aus der Familie Marantaceae), deren nahrhaftes Mark die Gorillas für ihr Leben gern fressen; aber soweit er bemerkt hatte, trug kein einziger dieser Stängel die Spuren von Gorillazähnen. Wir hatten in null Fällen das Imponiergehabe von Gorillas gehört, die sich auf die Brust klopfen, und null Gorillanester gesehen. Es war wie bei der merkwürdigen Geschichte mit dem Hund in der Nacht – ein Kläffer, dessen Schweigen Sherlock Holmes den beredten Hinweis lieferte, dass etwas nicht stimmte. Die einst in so großer Zahl vorhandenen Gorillas von Minkébé waren verschwunden. Der unausweichliche Schluss lautete also: Sie waren an irgendetwas gestorben.
7 Georges et al. (1999), S. 70
Ronald Ross kam 1874, mit 17 Jahren, aus Indien nach London, um am St. Bartholomew’s Hospital Medizin zu studieren. Später beschäftigte er sich mit der Erforschung der Malaria.
Ross war ein echter Sohn des Empire. Sein Vater, General Campbell Ross, ein Offizier mit Wurzeln in den schottischen Highlands, hatte in der britischen Indienarmee gedient. Ronald, der »daheim« in England bereits ein Internat besucht hatte, träumte davon, Dichter oder Maler oder vielleicht auch Mathematiker zu werden. Aber er war das älteste von zehn Kindern, und sein Vater hatte entschieden, dass er in den Indian Medical Service (IMS) eintreten sollte. Nach fünf lustlosen Jahren am St. Bartholomew’s Hospital fiel Ronald Ross bei der Aufnahmeprüfung des IMS durch, ein wenig verheißungsvoller Anfang für einen späteren Medizin-Nobelpreisträger. Im zweiten Anlauf bestand er die IMS-Prüfung knapp und wurde auf einen Posten in Madras abgeordnet. Dort fielen ihm zum ersten Mal die Mücken auf. Sie waren ihm lästig, suchten sie doch sein Sommerhaus in großer Zahl heim.
Anfangs tat sich Ross nicht gerade als medizinischer Detektiv hervor. Jahrelang stöberte und trödelte er herum, hin- und hergezogen von seinen divergierenden Interessen. Er schrieb Gedichte, Theaterstücke, Musik, schlechte Romane und mathematische Gleichungen, die er für bahnbrechend hielt. Seine medizinischen Pflichten am Krankenhaus von Madras, zu denen neben anderen Aufgaben auch die Behandlung malariakranker Soldaten mit Chinin gehörte, nahm ihn höchstens zwei Stunden am Tag in Anspruch, so dass er viel Zeit für nebenberufliches Herumexperimentieren hatte. Schließlich führte ihn diese Tätigkeit auch zu neuen Fragen nach der Malaria. Was war ihre Ursache – Miasmendämpfe, wie man allgemein annahm, oder irgendwelche ansteckenden Keime? Und wenn es Keime waren, wie wurden sie übertragen? Wie konnte man die Krankheit unter Kontrolle bringen?
Nach siebenjähriger, unspektakulärer Tätigkeit kehrte er auf Heimaturlaub nach England zurück, belegte einen Kurs in öffentlichem Gesundheitswesen, lernte mit dem Mikroskop umzugehen, fand eine Ehefrau und nahm sie mit nach Indien. Dieses Mal war sein Posten ein kleines Krankenhaus in Bangalore. Dort fing er an, sich Blutabstriche von fieberkranken Soldaten unter dem Mikroskop anzusehen. Intellektuell führte er ein isoliertes Leben, weit weg von wissenschaftlichen Gesellschaften und anderen Forschern, aber 1892 erfuhr er verspätet, der französische Arzt und Mikroskopiker Alphonse Laveran, der in Algerien und dann in Rom tätig war, habe im Blut vom Malariapatienten winzige Parasiten (heute sprechen wir von Protisten) entdeckt. Diese Parasiten, so Laveran, verursachten die Krankheit. Während eines weiteren Londonaufenthalts konnte Ross, angeleitet von einem angesehenen Dozenten, die »Laveran-Körperchen« erstmals mit eigenen Augen im Blut eines Malariakranken sehen. Von da an war er in dieser Hinsicht von der Idee des Franzosen überzeugt.
Laveran hatte damit nachgewiesen, dass Malaria nicht von schlechter Luft verursacht wird, sondern von Mikroorganismen. Die weiter gefasste Frage, wie diese Mikroorganismen sich im menschlichen Organismus fortpflanzen und wie sie von einem Wirt zum anderen weitergegeben werden, blieb jedoch weiter ungeklärt. Wurden sie wie die Keime, die Cholera auslösen, mit Wasser übertragen und aufgenommen? Oder verlief der Ansteckungsweg vielleicht über den Stich eines Insekts?
Wie Ronald Ross am Ende den von Mücken vermittelten Lebenszyklus der Malariaparasiten aufklärte und dafür 1902 den Nobelpreis bekam, ist eine berühmte Geschichte aus den Annalen der Krankheitsforschung, die ich hier nicht noch einmal erzählen möchte. Sie ist kompliziert, denn einerseits ist der Lebenszyklus der Parasiten ungemein komplex, und andererseits stand Ross, der selbst ein schwieriger Charakter war, unter der Wirkung zahlreicher Einflüsse, Konkurrenten, Feinde und nicht nur richtiger, sondern auch falscher Gedanken, die ihn ablenkten und verstimmten. Es reicht, wenn ich zwei Punkte herausgreife, die den Zusammenhang seiner Geschichte mit unserem Thema, den Zoonosen, deutlich machen. Erstens beschrieb Ross die Lebensgeschichte der Malariaparasiten nicht so, wie er sie bei der Infektion von Menschen beobachtet hatte, sondern wie sie bei der Infektion von Vögeln abläuft. Vogelmalaria unterscheidet sich von der Malaria des Menschen, diente ihm aber als großartige Analogie. Und zweitens erkannte er in der Krankheit ein Thema für die angewandte Mathematik.
Ende Februar 2003 stieg SARS in Hongkong in ein Flugzeug und flog nach Toronto.
Seine Ankunft in Kanada wurde nicht großartig angekündigt, aber dann machte es sich innerhalb weniger Tage deutlich bemerkbar. Es tötete die 78-jährige Großmutter, die es ins Land gebracht hatte, eine Woche später starb ihr erwachsener Sohn, und dann verbreitete es sich in dem Krankenhaus, in dem der Sohn behandelt worden war. Recht schnell steckten sich mehrere Hundert weitere Bürger Torontos an, von denen 31 am Ende starben. Zu den Infizierten gehörte auch eine 46-jährige Frau von den Philippinen, die in Ontario als Schwesternhelferin arbeitete. Sie flog zu Ostern nach Hause auf die Philippinen, fühlte sich am Tag nach ihrer Ankunft nicht wohl, blieb aber aktiv, ging einkaufen und besuchte Verwandte und setzte so auf der Insel Luzon eine neue Ansteckungskette in Gang. Damit war SARS innerhalb von sechs Wochen mit zwei Langstreckenflügen um die halbe Welt hin- und zurückgereist. Unter anderen Voraussetzungen – weniger Verzögerung am Boden in Toronto, ein Besucher, der zu einem früheren Zeitpunkt von dort nach Luzon, Singapur oder Sydney gereist wäre –, hätte die Krankheit ihre Weltumrundung noch viel früher vollenden können.
Die Behauptung, SARS sei in ein Flugzeug gestiegen, ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Was ich damit meine, ist klar: In Wirklichkeit ging in beiden Fällen eine unglückliche Frau an Bord, die einen infektiösen Erreger in sich trug. Die Großmutter aus Toronto und die philippinische Schwesternhelferin werden aus Gründen des medizinischen Datenschutzes in den offiziellen Berichten nicht mit Namen genannt, sondern (wie der malariakranke Landvermesser BW) nur anhand von Alter, Geschlecht, Beruf und Initialen kenntlich gemacht. Und was den Erreger angeht: Er wurde erst Wochen nach Beginn der Epidemie identifiziert und mit einem Namen versehen. In diesem frühen Stadium konnte niemand genau sagen, ob es sich um ein Virus, ein Bakterium oder irgendetwas anderes handelte.
Mittlerweile war er auch in Singapur, Vietnam, Thailand, Taiwan und Peking eingetroffen. Singapur wurde zu einem weiteren Brennpunkt. Ein chinesisch-amerikanischer Geschäftsmann, der die Infektion aus Hongkong mitgebracht hatte, erkrankte in Hanoi so schwer, dass er von Dr. Carlo Urbani untersucht wurde, einem italienischen Parasitologen und Experten für übertragbare Krankheiten, der sich im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation in der Stadt aufhielt. Zehn Tage später war der Geschäftsmann tot, nach einem weiteren Monat auch Dr. Urbani. Der Italiener starb in einem Krankenhaus in Bangkok; dorthin war er zu einer Parasitologen-Tagung geflogen, teilnehmen konnte er allerdings nicht mehr. Wegen seiner in der WHO vielfach bewunderten Arbeit wurde sein Tod zu einem Musterbeispiel für die allgemeine Gesetzmäßigkeit, die sich später herauskristallisierte: hohe Ansteckungsrate und hohe Sterblichkeit bei medizinischem Personal, das mit der neuen Krankheit in Kontakt gekommen war; diese gedieh offenbar in Krankenhäusern und verbreitete sich per Flugzeug.
Nach Peking kam sie mit zwei Verkehrsmitteln. Eines davon war der Flug 112 der China Airlines aus Hongkong am 15. März. (Im zweiten Fall reiste die Krankheit per Auto nach Peking, weil eine erkrankte Frau aus der Provinz Shanxi in die Hauptstadt fuhr, wo sie sich eine bessere Behandlung erhoffte. Wie sie sich angesteckt hatte und an wen sie die Krankheit ihrerseits weitergab, ist eine andere Geschichte.) Der Flug CA112 hob an jenem Tag mit 120 Menschen an Bord in Hongkong ab. Unter den Passagieren war ein Mann mit Fieber und einem Husten, der sich ständig verschlimmerte. Als die Maschine drei Stunden später in Peking landete, hatten sich 22 andere Passagiere und zwei Flugbegleiter von dem hustenden Mann eine ansteckende Dosis zugezogen. Anschließend verbreitete sich die Krankheit in Peking auf mehr als siebzig Krankenhäuser – ja, es waren wirklich siebzig. Infiziert wurden fast 400 Angehörige des medizinischen Personals, außerdem andere Patienten und ihre Besucher.
Ungefähr zur gleichen Zeit lösten die Beamten in der Genfer WHO-Zentrale wegen der ungewöhnlichen Atemwegserkrankung aus Vietnam und China weltweit Alarm aus. (Kanada und die Philippinen wurden nicht erwähnt, weil man noch nicht wusste, dass auch diese Länder betroffen waren.) In der Erklärung hieß es, in Vietnam sei eine Epidemie von einem einzigen Patienten ausgegangen (dem Mann, den Carlo Urbani untersucht hatte), und dieser sei »zur Behandlung schwerer, akuter Atemwegsbeschwerden unbekannter Herkunft ins Krankenhaus aufgenommen worden«.38 Einige Tage später, als das Muster der hier und dort aufflackernden Epidemie immer deutlicher wurde, veröffentlichte die WHO eine weitere Warnmeldung. Sie war als Reisewarnung formuliert und kennzeichnet den Übergang von der Umschreibung zur Benennung der Krankheit. Dort hieß es: »Während der letzten Woche sind bei der WHO Berichte über mehr als 150 neue Verdachtsfälle eines schweren, akuten Atemwegssyndroms (severe acute respiratory syndrome, SARS) eingegangen; es handelt sich um eine atypische Lungenentzündung, deren Ursache bisher nicht ermittelt wurde.«39 Die Warnung zitiert Dr. Gro Harlem Brundtland, die damalige Generaldirektorin der WHO, mit den unverblümten Worten: »Dieses Syndrom namens SARS ist jetzt eine weltweite Gesundheitsgefahr.« Sie fügte hinzu, es sollten nun alle zusammenarbeiten, um die Ursache der Krankheit zu finden und ihre Ausbreitung zum Stillstand zu bringen.
Bedrohlich wurde SARS vor allem durch zwei Eigenschaften: Es ist – insbesondere im Umfeld medizinischer Einrichtungen – sehr infektiös, und es ist mit einer viel höheren Sterblichkeit verbunden als die bekannten Formen der Lungenentzündung. Rätselhaft war außerdem, dass der neue Erreger offenbar sehr gut mit dem Flugzeug reisen konnte.
Auch wenn die Häufigkeit in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, ist das Auftauchen neuer zoonotischer Krankheiten kein typisches Phänomen unserer Zeit. Dies wird an drei Geschichten deutlich.
Erstens: das Q-Fieber. Rund sechzig Jahre vor Hendra, sechzig Jahre bevor bei Vic Rail die Pferde starben, schaffte ein anderer Erreger ganz in der Nähe seinen ersten nachgewiesenen Übersprung. Er war kein Virus, obwohl er sich in mancherlei Hinsicht so verhielt, sondern ein Bakterium, allerdings ein ziemlich ungewöhnliches. (Ein Bakterium unterscheidet sich normalerweise sehr deutlich von einem Virus: Es ist kein subzelluläres Teilchen, sondern eine Zelle. Es ist viel größer als ein Virus. Es vermehrt sich nicht dadurch, dass es in eine Zelle eindringt und deren biochemischen Apparat zum Kopieren seiner eigenen genetischen Information umfunktioniert, sondern indem es sich teilt. Und es kann in der Regel mit Antibiotika abgetötet werden.) Der neue Erreger verursachte eine Krankheit, die einer echten Grippe oder vielleicht auch dem Typhus ähnelte. Die ersten Fälle traten 1933 in Brisbane bei Schlachthofarbeitern auf, die mit Rindern und Schafen zu tun hatten. Die Ärzte, die sie behandelten, bezeichneten die Krankheit anfangs als »Schlachthoffieber«,53 später setzte sich aber ein eher undurchsichtiger Name durch: Q-Fieber. Lassen wir die Herkunft dieser Bezeichnung zunächst einmal außer Acht. Am bemerkenswertesten ist am Q-Fieber, dass es selbst heute, im Antibiotikazeitalter, zu einer schwerwiegenden Erkrankung werden kann; Grund dafür sind die ungewöhnlichen biologischen Eigenschaften des Erregers.
Zweitens: die Papageienkrankheit. In den 1930er Jahren, ungefähr zur gleichen Zeit wie das Q-Fieber, machte eine weitere seltsame bakterielle Zoonose Schlagzeilen. Sie hatte ebenfalls Verbindungen nach Australien, war aber weltweit verbreitet. In die Vereinigten Staaten kam sie anscheinend erstmals mit einer Lieferung erkrankter Papageien aus Südamerika. Das war Ende 1929, gerade rechtzeitig zu Weihnachten, der Hauptsaison für Papageiengeschenke. Auch Lillian Martin aus Annapolis in Maryland bekam einen von ihrem Mann. Am Weihnachtstag fiel der Vogel tot um – ein schlechtes Omen; fünf Tage später fühlte sich Mrs. Martin nicht wohl. Der Fachausdruck für die Krankheit, die sie sich zugezogen hatte, lautet Psittakose. Sie springt von Vögeln (insbesondere solchen aus der Ordnung Psittaciformes, zu der die Papageien und ihre Verwandten gehören) auf Menschen über, verursacht Fieber, Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Lungenentzündung und kann tödlich enden. Unter dem Namen »Papageienfieber« löste sie in den Vereinigten Staaten Anfang 1930 große Unruhe aus, als vor allem in Maryland weitere Personen erkrankten, die mit infizierten importierten Vögeln in Kontakt gekommen waren. Die Reaktionen der Öffentlichkeit waren zum Teil so heftig, dass ein Kommentator das Ganze als Beispiel für eine »Massenhysterie« bezeichnete und sie mit dem Eifer von Flagellanten und Hexenverfolgern im Mittelalter verglich.54
Und drittens schließlich gibt es die Lyme-Krankheit, die auch als Borreliose bezeichnet wird. Sie ist ein relativ junges Beispiel für das Auftauchen unheimlicher neuer Bakterien. Mitte der 1970er Jahre bemerkten zwei aufmerksame Mütter in der Ortschaft Lyme, Connecticut, dass man nicht nur bei ihren eigenen, sondern auch bei ungewöhnlich vielen anderen Kindern in der Umgebung eine jugendliche rheumatoide Arthritis diagnostiziert hatte. Dass es sich bei einer solchen Häufung von Fällen um Zufall handelt, war ziemlich unwahrscheinlich. Nachdem das Gesundheitsministerium des Bundesstaates und die medizinische Fakultät der Yale University auf den Fall aufmerksam geworden waren, stellten die Wissenschaftler fest, dass bei allen diagnostizierten Arthritisfällen ein charakteristischer Hautausschlag aufgetreten war: ein roter Ring, der sich von einer Stelle aus ausbreitete, wie es manchmal nach Zeckenstichen zu beobachten ist. Zecken der Gattung Ixodes, umgangssprachlich auch »Holzböcke« genannt, kommen in den Wäldern im Osten von Connecticut und den umgebenden Regionen massenhaft vor.
Anfang der 1980er Jahre fand der Mikrobiologe Willy Burgdorfer im Darm einiger Ixodes-Zecken eine neue Bakterienart, die sofort als Erreger in Verdacht geriet. Es handelte sich um Spirochäten, lange, korkenzieherförmige Zellen, die stark anderen Spirochäten der Gattung Borrelia ähnelten. Nachdem weitere Forschungsarbeiten ihre Beteiligung an dem arthritisähnlichen Krankheitsbild bestätigt hatten, wurde das Bakterium zu Ehren seines Entdeckers auf den Namen Borrelia burgdorferi getauft. Die Lyme-Krankheit ist heute in Nordamerika die am weitesten verbreitete von Zecken übertragene Krankheit. Problematisch ist sie vor allem, weil Borrelia burgdorferi einen sehr komplexen Lebenszyklus hat, in dem weit mehr als nur Zecken und Menschen eine Rolle spielen.
Lyme-Krankheit, Psittakose und Q-Fieber: Obwohl sie im Detail sehr verschieden sind, haben diese Krankheiten zwei gemeinsame Merkmale. Es sind alles Zoonosen, und sie werden von Bakterien verursacht. Damit erinnern sie uns eindringlich daran, dass nicht jeder üble, hartnäckige neue Erreger ein Virus ist.