Auf fremden Wegen
Roman
Impressum
© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel
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Umschlag und Satz: |
Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld |
Umschlagsbild: |
Aquarell von Cornelia Ziegler, Basel |
Druck und Einband: |
CPI books GmbH, Ulm |
Verwendete Schriften: |
Adobe Garamond Pro, Actium |
Papier: |
Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck matt, holzfrei; |
ISBN 978-3-907146-73-6
eISBN 978-3-907146-82-8
Printed in Germany
www.muensterverlag.ch
Für Hartmut
Die Handlung des Romans ist frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Prolog
Schwarzwald
Basel
Kenia
Cornwall
Basel
Epilog
Dank
«Welche Pracht!», rief Sarah und stieg vom Fahrrad. Sie ging auf einen Baum zu, dessen Blütenfülle ihn von den restlichen Kirschbäumen der Hochebene abhob. Während sie den knorrigen Stamm umarmte, knipste Hannes sie mit seinem Smartphone. Dann nahm er sie in den Arm und küsste sie aufs Haar. «Lass uns weiterfahren», sagte er. «Am liebsten durch den Wald.»
Nach einem oder zwei Kilometern entdeckten sie eine Gedenkstätte, die an 108 Menschen erinnerte, die umkamen, als am 10. April 1973 die Maschine 435 aus Bristol im Anflug auf Basel-Mulhouse abstürzte.
Sarah Penrose war knapp 20 Jahre nach dem Unglück in Cornwall geboren. Doch so zufällig, wie sie jetzt an diesem Unglücksort bei Hochwald stand, hatte sie drei Jahre zuvor eine Überlebende der Katastrophe getroffen.
«Die Frau stammte aus Taunton», sagte sie jetzt zu Hannes. «Sie hat mir beschrieben, wie weiss und weich die Landschaft am Unglückstag dagelegen, und wie es Schneeflocken, so gross wie Bettlaken durch die Luft gewirbelt habe. Die Wolken hingen tief und schwer, der Nebel klebte an den Bäumen.»
«Im April! Unvorstellbar!», überspielte Hannes seine Betroffenheit.
«Es ist genau 40 Jahre her», nickte Sarah.
«Wie hat die Frau geheissen?»
«Ich weiss es nicht mehr. Ich habe ihren Namen vergessen.»
«Ist auch nicht wichtig. Komm. Ich will weg von hier. Irgendwo in der Nähe gibt es eine Bauernwirtschaft», sagte Hannes und radelte Sarah voraus.
Später, als sie sich auf der von der Sonne erwärmten Terrasse des Gasthauses stärkten, sprach Hannes mit einem alten Mann am Nebentisch, der in kleinen Schlucken seinen Wein trank. Sarah erriet mehr als sie verstand, dass er Hannes in behäbigem Schweizerdeutsch vom Flugzeugabsturz erzählte.
«Er hat den Opfern damals erste Hilfe geleistet. Er war einer der ersten an der Absturzstelle», berichtete Hannes, nachdem der Mann von der Terrasse ins Haus geschlurft war. «Es sind fast nur Frauen umgekommen. Sie wollten für einen Tag in die Schweiz und kehrten am Abend nicht zurück.»
«Ich weiss. Viele waren Mütter aus dem Süden Englands», ergänzte Sarah. «Es war grässlich. Ich habe selbst Ähnliches erlebt. Mein Vater ging nach dem Frühstück zur Arbeit und am Feierabend segeln. Ein Sturm zog auf. Er kam nicht zurück. Nie mehr, nicht einmal sein Körper wurde gefunden.»
Hannes wusste, dass Sarah ohne Vater aufgewachsen war und ihren Onkel Finlay als Ersatzvater betrachtete. Er hatte sie im vergangenen November während eines Urlaubs in Kenia kennengelernt. Ende Jahr schliesslich war er nach London geflogen, wo sie im Haus von Sarahs Onkel den Jahreswechsel feierten.
Am Neujahrstag hatte Finlay einen ruhigen Moment abgepasst, Sarah zur Seite genommen, und ihr, obwohl sie kaum Alkohol trank, in der Küche einen Glenfiddich eingeschenkt.
«Ohne Studium haben junge Leute heute sehr schlechte Karten auf dem Arbeitsmarkt», hatte er zu einem Gespräch angesetzt. «Es ist nicht mehr wie früher, als man per Zufall in einem guten Job landen und sich mit Fleiss bewähren, weiterbilden und vorwärts kommen konnte.»
Sarah nippte an ihrem Getränk und fragte sich, warum alte Männer Whisky mögen. Und die Vorstellung, viel Geld zu verdienen. Die Möglichkeit, in Luxus zu leben. Sie hatte sich gefreut, dass ihr Onkel sie und Hannes zu sich eingeladen hatte. Doch nun, sozusagen als Neujahrsvorsatz, versuchte Finlay, sie zu einem Studium zu überreden. So sehr sie auch überlegte, sie konnte sich kein Fach vorstellen, über das sie Dutzende von Studien und Büchern hätte lesen, in das sie für mehrere Jahre hätte eintauchen wollen. Finlay fand, der Appetit komme mit dem Essen. Sarah zweifelte. «Viel lieber als Vorlesungen zu besuchen, möchte ich die Welt entdecken, dabei etwas Geld verdienen und erneut nach Afrika reisen», versuchte sie zu argumentieren und etwas versöhnlicher: «Später bleibt mir noch genügend Zeit für ein Studium.»
Als sie an jenem Abend nicht einschlafen konnte, fragte sie Hannes: «Was soll ich bloss tun? Seinen Vorstellungen entsprechen?»
«Er würde dich bestimmt unterstützen. Du könntest aber auch mit mir ziehen. Mir wird schon etwas einfallen. Ich liebe dich. Dir stehen viele Wege offen», hatte Hannes sie beruhigt.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, unterbreitete ihr Hannes den Vorschlag, sie solle erst einmal Deutsch lernen. Er könne ihr dabei helfen. Er kenne die Inhaber eines bekannten Nobelhotels in seinem Heimatort im nördlichen Schwarzwald. Sie suchten ein Au-Pair für ihre vier kleinen Kinder.
Sarah mochte Kinder, sie lernte leicht Sprachen. Die Idee schien ihr ein Weg aus der Sackgasse. Hannes rief Rudi Rothfuss, den Inhaber und Direktor des Hotel Tannwald in Fleckenbronn an und vereinbarte alles Notwendige. Ein Vorstellungsgespräch vor Ort erübrigte sich. Rudi vertraute Hannes’ Empfehlung. Nach einem längeren Telefongespräch, das Sarah von London aus mit der Mutter der Kinder führte, erhielt sie die Zusage für den Job.
«Es geht also doch», triumphierte sie, als sie Finlay ihren Entschluss mitteilte. «Mit guten Beziehungen findet man auch heute noch einen Job. Hannes hat mich vermittelt. Izzy Rothfuss ist Amerikanerin. Sie freut sich, in mir so schnell ein Englisch sprechendes Kindermädchen gefunden zu haben.»
Finlay hatte sie bloss schräg angeschaut, und zwar nicht unfreundlich, aber doch unmissverständlich ‘Kindermädchen’ gemurmelt.
Seit Mitte Januar betreute Sarah nun in Hannes’ Heimatort Fleckenbronn, diesem kulinarischen Sterne-Mekka, vier Kinder und lernte dabei Deutsch. Mit Hannes traf sie sich nur an den Wochenenden. Er lebte in der Schweiz und arbeitete in der Nähe von Basel als Textilingenieur, sodass die beiden ihre freien Tage mit Fahrradtouren abwechselnd bei ihm oder bei ihr verbrachten.
An jenem Apriltag, als Sarah keuchend die steile Strasse von Dornach nach Hochwald geradelt war, immer bemüht, Hannes’ Tempo mitzuhalten, hatte sie sich zum x-ten Mal gefragt, warum sie stets bestrebt war, es anderen Leuten recht zu machen. Zugegeben, Hannes’ guter Ruf und das Ansehen seiner Eltern öffneten ihr in Fleckenbronn viele Türen. Doch dafür hatte sie es sich nun mit Finlay verscherzt. Bis jetzt hatte er ihr jedenfalls keinen Brief und auch keine einzige, noch so kurze, E-Mail geschrieben.
‘Beleidigte Leberwurst’, dachte Sarah und wunderte sich über diesen Ausdruck, den sie kürzlich in ihrem Edelhotel aufgeschnappt hatte.
Sarah warf einen Blick auf die Uhr. Schon Viertel nach sieben. Sie sass in der kleinen, modern eingerichteten Küche, deren Induktionsherd und Backofen mit Dampfgarer nie gebraucht wurden. Im Kühlschrank standen nur Milch und Fruchtsäfte. Izzy Rothfuss trank hier morgens einen eiligen Kaffee aus der Kapselmaschine, und Rudi Rothfuss köpfte spätabends eine Flasche Wein aus dem Klimaschrank. Zu viel mehr wurde die Küche nicht benutzt.
Nun wartete Sarah noch auf die Brötchen, den Käse und die Salami aus der Hotelküche. Die Kinder blödelten. Jens, der Jüngste blies in seine Schokomilch. «Ich habe solchen Hunger», zwängelte er, während seine ältere Schwester Jessica mit ihren nackten Beinen baumelte und ihn mit den Zehenspitzen unermüdlich anstiess. Um acht begann die Schule.
Ich werde Mäxle und Mo mit ins Auto packen, erst Jessica in die Schule fahren und die Zwillinge danach im Kindergarten abliefern, beschloss Sarah. An den Rechtsverkehr hatte sie sich problemlos gewöhnt und steuerte ihren nicht ganz neuen SUV aus dem stattlichen Fahrzeugpark des Hotels recht flott durch den Ort. Aber mit den Kindern im Auto fuhr sie vorsichtiger. Die beiden mittleren Buben hiessen natürlich weder Mäxle noch Mo, sondern Max und Maurice. Doch Sarah und die Eltern riefen die aufgeweckten Zwillinge, ausser wenn es Schelte gab, liebevoll bei ihren Spitznamen.
Sarah hörte das Summen des Aufzugs. Endlich kam Karin, die Bedienung vom Restaurant mit den bestellten Sachen.
«Sorry, Sarah. Heute war die Hölle los am Frühstücksbuffet und Hanna ist krank. Ich habe es nicht früher geschafft.»
Sie murmelte: «Thanks. Is kain Problem», und Mäxle und Mo griffen mit ihren Fingern nach den Wurst- und Käsescheiben, anstatt wie Jessica die Gabel zu benützen. Sie wies die Kleinen kategorisch zurecht, da ausgerechnet jetzt die Mutter der Kinder auftauchte. Trotz der frühen Stunde war Izzy topp angezogen, das Haar hatte sie gekonnt zerzaust und das Augen-Make-Up vermittelte ihr einen Bambi-Look. Nur die Lippen waren blass.
Ungeschminkter Mund, damit sie ihre Sprösslinge, bevor wir das Haus verlassen, küssen kann, ohne Spuren zu hinterlassen, dachte Sarah. Sie selber machte sich bloss für den Ausgang zurecht. Jetzt lächelte sie ihrer attraktiven Chefin freundlich zu und ermahnte die Kinder, nicht zu trödeln.
Izzy Rothfuss-Jacobs war die Tochter des Inhabers einer grossen Hamburgerkette in den USA. Sie hatte den Hotelier Rudi Rothfuss knappe zehn Jahre zuvor an einer Tagung in New York kennengelernt, danach Urlaub im Schwarzwald gemacht, geheiratet und vier Kinder geboren. Wenn Sarah ehrlich war, beneidete sie Izzy ein bisschen, denn deren Leben schien ihr perfekt, hatte sie doch alles, was man sich wünschen konnte: Geld, Ansehen, eine grosse Familie und genug Personal, das ihr ein sorgenfreies Leben erlaubte. Auf die Idee, dass sich Izzy an die fremden örtlichen Gegebenheiten erst hatte gewöhnen und sich mit den allfälligen Macken ihres Mannes hatte arrangieren müssen, wäre Sarah in ihrer jugendlichen Naivität nie gekommen.
Sie freute sich wie an jedem Morgen, an dem das Wetter mitmachte, darauf, den Vormittag mit Jens auf dem Waldspielplatz zu verbringen und, sobald das Kind nicht mehr spielen wollte, zusammen Bäume zu umarmen und das blühende Dickicht des Waldbodens zu erkunden und nach Hasen, Rehen und Auerhähnen zu spähen. Ursprünglich habe der Schwarzwald aus Buchen und Tannen bestanden, die über die Jahre durch Fichten und Kiefern verdrängt wurden, hatte sie nachgelesen. Sie dachte an ihre Zugfahrt vom Flughafen Frankfurt nach Karlsruhe, an ihre Hoffnung, dass sie sich gut mit ihren Arbeitgebern verstehen würde und dass die Kinder gut erzogen waren. An ihr Herzklopfen, als sie später im überhitzten Abteil des Regionalzugs für eine Weile eingenickt war und plötzlich aufschreckte und meinte, den Bahnhof verpasst zu haben. Doch als sie auf die Uhr geblickt und realisiert hatte, dass sie erst in einer halben Stunde in Fleckenbronn ankommen würde, hatte sie fasziniert aus dem Fenster geschaut. Die märchenhafte Winterlandschaft, die sie erblickte, bestärkte ihre Vorahnung, dass sie sich hier, trotz der Vorbehalte ihres Onkels, wohl fühlen würde. Hoch und schlank, wie junge Bräute im Hochzeitskleid, hatten die Bäume die Bahnlinie gesäumt und sich später, als sie in ihrem Zimmer im Personalhaus die Koffer auspackte, in der tintenblauen Dämmerung vor ihrem Fenster, als gezackte Silhouetten vom orangen Westhimmel abgehoben. Sarah war vom ersten Moment an von der Schönheit der Natur überwältigt gewesen. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Chefin Izzy sie ein paar Tage später zu einer Pferdeschlittenfahrt eingeladen hatte.
«Es ist zwar absolutely freezing. Das Thermometer hat in der Früh minus 18 Grad angezeigt», hatte Izzy, die gerne zeitig aufstand, an Sarahs erstem Sonntag im Schwarzwald gesagt. «Dazu kommt der Wind chill factor. Doch da die Sonne scheint, gehen wir trotz der Kälte raus. Die frische Luft wird uns und den Kindern gut tun. Rudi kommt nicht mit. Er muss heute im Restaurant nach dem Rechten sehen, denn unser Geschäftsleiter hat seinen freien Sonntag.»
Nach dem Mittagessen hatten Sarah und Izzy mit den in Daunenjacken verpackten Kindern unter Schichten von Wolldecken gesessen, die dicken Stiefel vergraben im Stroh, das der Kutscher in mehreren Schichten auf den hölzernen Boden gestreut hatte. Genau wie die Pferde, zwei Schwarzwälder Braune, so hauchten auch die Menschen weisse Dampfwolken aus. Sarah war froh um ihren Montgomery Dufflecoat und ihre Wollmütze, die sie sich über die Ohren ziehen konnte. Trotzdem reichte ihr Izzy, die einen karamellfarbenen Lammfellmantel trug, ein Halstuch aus feinster Kaschmirwolle und gebot ihr, sich dieses gleich mehrmals um den Kopf zu schlingen. «Keine Sorge, ich habe ein zweites mit, damit keine von uns beiden frieren muss.»
Tatsächlich hatte Sarah einen unvergesslichen Tag erlebt und – nach rasanter Fahrt durch tief verschneite Wälder und über eine gefrorene Hochebene – bei Kaffee und Schnaps, und heisser Schokolade und Kuchen für die Kinder, erstmals die Grosszügigkeit ihrer Arbeitgeberin erfahren.
Sarah hatte sich überglücklich gefühlt, diesen tollen Job mit einer ebenso tollen Chefin ergattert zu haben.
Jetzt, Mitte Juni, war purer Sonnenschein prognostiziert, mit Gewittern, die sich, wenn überhaupt, erst gegen Abend entladen würden. Sarah konnte sich die bittere Januarkälte im Schwarzwald kaum mehr vorstellen. Längst sassen keine Schneebäuschchen mehr auf den Tannen und Gartenzäunen. Im Sommer sorgten weisse Pelargonien für helle Tupfer in den Blumenkästen am Balkongeländer und auf der Brüstung der Sonnenterasse des Tannwald, das sich dadurch von den Hausfassaden im Dorf abhob. Gewöhnlich sah man im Schwarzwald rote und rosarote Geranien, doch Izzy liebte weisse Blumen.
Heute wollte Sarah mit Jens Waldkräuter sammeln, diese später für Jessicas Album pressen und deren Namen, Verwendungszwecke und Heilkräfte gelegentlich in ihrem botanischen Lehrbuch nachschlagen. Obwohl sie Nässe und Wind von Cornwall her gewohnt war und dies auch bei schlechtem Wetter getan hätte, musste sie sich dann für Jens etwas anderes einfallen lassen. Er schrie wie am Spiess, wenn sie versuchte, ihm seine Windjacke und Gummistiefelchen anzuziehen. Sobald die ersten Tropfen fielen, wollte er lieber im Zwergenhort, dem für den Nachwuchs der Hotelgäste eingerichteten Baumhaus, spielen. Sie gab dem Zwängen des Kleinen für gewöhnlich nach und lieferte ihn bei der Kindergärtnerin ab. In der dadurch gewonnenen Freizeit studierte sie die deutsche Grammatik oder las ein deutsches Buch.
Überhaupt war der Hotelbetrieb mit seinen vielen Angestellten ein Glück, das sie erst seitdem sie den Job inne hatte, richtig einzuordnen vermochte. Sie und die Kinder assen mittags am Stammtisch in der alten Gaststube, wo sich die Kleinen für gewöhnlich vorbildlich benahmen. Gäste gab es dort zu dieser Zeit nur wenige. Das Frühstück und Abendessen der Kinder wurden in die Wohnung hochgebracht, die auf der obersten Etage im Hauptgebäude lag und von der Putzequipe des Hotels aufgeräumt und sauber gehalten wurde. Mit einem Online-Lehrgang und dank ihrer Schützlinge, die einzig mit ihrer Mutter Englisch sprachen, lernte sie schnell Deutsch. Schon nach wenigen Wochen las sie den Kleinen Grimms Märchen und Legenden aus dem Schwarzwald vor und überwachte Jessicas Hausaufgaben. Nach dem abendlichen Baderitual folgten Gutenachtgeschichten, ein kurzes Gebet, und dann war Schlafenszeit und Sarah konnte tun und lassen, was sie wollte. Meist las sie oder schrieb begeisterte Mails nach Cornwall.
«Mmmhhh», machte Hannes, der mit Sarah auf der Terrasse des Café Frey sass und plötzlich Izzy und die Kinder erblickte. Es war ein heisser Samstagnachmittag im Juli und der auffallend leicht gekleideten Mutter war der Rocksaum hochgerutscht, als sie aus ihrem SUV stieg.
«Schön, dass sie sich heute um die Kleinen kümmert», stichelte Sarah. «Ich habe nicht den Dunst einer Idee, was sie sonst mit ihrer vielen Zeit anstellt.»
«Mmmhhh, was wohlhabende Frauen halt so tun. Sie spielt regelmässig Golf. Sie hat ein respektables Handicap, habe ich gehört …»
«Stimmt, und sie fährt zum Friseur und zum Shoppen nach Baden-Baden», unterbrach Sarah und provozierte Hannes schon wieder: «Du musst nicht ‘mmmhhhen’. Vielleicht weisst du ja, wen sie ausser ihren Freundinnen dort noch so trifft. Du scheinst gut informiert zu sein.»
«Och, komm schon. Möchtest du noch etwas trinken?»
«Danke, ich habe noch. Jetzt lenke mal nicht vom Thema ab. Die Heinzelmännchen vom Hotel, auf die sie sich blind verlassen kann, meinen, die liebe Izzy dürfte sich öfter um ihre Familie kümmern. Einige munkeln: Nicht bloss um die Kinder. Auch um ihren Ehemann.»
«Aber das tut sie doch! Rudi beklagt sich jedenfalls nicht.»
«Nun. Er turtelt ganz flott mit seiner Assistentin, legt ihr den Arm um die Schultern, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Ich habe die beiden auch nach Dienstschluss öfter die Köpfe zusammenstecken sehen.»
«Er turtelt mit Susanne? Dieser Bohnenstange im Dirndl?»
«Ja, genau mit ihr», präzisierte Sarah und fühlte sich gemein dabei. Rudi war stets freundlich. Sie hatte keinen Grund, schlecht über ihn zu reden.
«Eigentlich geht es uns ja nichts an», lenkte sie ein.
«Richtig. Mein Vater lässt fragen, ob wir ihm morgen bei der Vorbereitung des Frühstückbuffets helfen könnten. Ich habe zugesagt, für mich jedenfalls. Machst du mit?»
Sarah nickte. Hannes Eltern, Gustav und Emma Frey, führten eine Bäckerei mit einem florierenden kleinen Café, wo sich Sarah gerne mit Hannes traf. Anders als in ihrem Edelhotel begegnete sie im Café Frey neben Touristen auch Einheimischen.
«Übernachtest du hier?», fragte er. «Morgen sollten wir um sechs aus den Federn.»
«Warum nicht? Wenn das Frühaufstehen nicht der einzige Grund ist», witzelte sie.
«Ist es nicht», sagte Hannes und fragte, ob sie am Nachmittag Zeit und Lust habe, mit ihm auf den Kniebis zu radeln.
«Machen wir. Ich habe immer Lust», feixte sie und freute sich auf das freie Wochenende, das sonnig und trocken vor ihnen lag.
Sarah und Hannes hatten ihre Räder an einen Baum gelehnt und ruhten sich an einem der grossartigsten Aussichtpunkte aus. Sie dachte über Izzy und Rudi Rothfuss nach.
«Weisst du, wie eine perfekte Ehe funktioniert?», fragte sie, als Hannes und sie auf den verlandenden Ellbachsee hinunter und über die endlosen Tannenwälder blickten. «Ich habe nämlich keine Ahnung. Nach dem Unglück meines Vaters, damals, als er von einem Tag auf den anderen aus unserem Leben verschwand, hat Mum niemanden mehr kennengelernt. Sie und meine Schwester, und natürlich auch Onkel Finlay und Tante Claire, waren meine Familie», sagte sie, und da Hannes sich nicht dazu äusserte, doppelte sie nach: «Ich spüre, dass in der Beziehung von Izzy und Rudi etwas nicht stimmt. Die beiden sind mir ein Rätsel. Ich frage mich, ob sie zusammen schlafen. Obwohl. Sie haben vier Kinder.»
«Sie sieht jedenfalls sehr sexy aus», schwärmte Hannes. «Um fit zu bleiben, rennt sie in enger pinker oder mintfarbener Jogginghose, und bei Regen mit farblich passender Badekappe, durch den Wald.»
«Woher weisst du das?», fragte Sarah, bevor Hannes noch mehr Details aufzählen konnte. Er zog seine Schultern hoch. «Ach, ich hab’ es halt so gehört. Rudi sei vergleichsweise träge und bieder, sagt man.»
«Im Gegensatz zu Izzy gehe ich im Schlabberlook joggen», sagte sie.
«Jetzt schnapp nicht gleich ein. Es geht nichts über den Kontrast deiner dunklen Löckchen zu deinen hellen, wachen Augen», antwortete Hannes. Besänftigend verstrubbelte er ihr vom Radeln verschwitztes kurzes Haar und drückte ihr einen Kuss auf die feuchte Stirn. Er war einen guten Kopf grösser als sie und vermittelte Sarah stets ein Gefühl von Geborgenheit.
«Danke. Doch im Moment mache ich mir Gedanken über meine Chefin», sagte Sarah. Sie fragte sich, warum Izzy nicht nur nach Baden-Baden, sondern oft auch nach Frankfurt fuhr. Einmal, als Sarah gelauscht hatte, wie Izzy mit ihrer Oma telefonierte, erkundigte sie sich, nachdem Izzy das Gespräch mit einem tiefen Seufzer beendet hatte, vorsichtig nach dem Befinden der alten Frau.
«Wie viele alte Menschen lebt sie in der Vergangenheit», antworte Izzy. «Doch für meine Oma ist dies schrecklich. Sie wurde in Frankfurt als Kind jüdischer Eltern geboren und verliess Deutschland 1939 mit einem der letzten Kindertransporte. Ihre Erinnerungen holen sie jetzt, im hohen Alter, ein.»
«Oh Gott», entfuhr es Sarah.
«Ja. Während des Nazi-Terrors hat sie ihre Eltern und die gesamte Verwandtschaft verloren. Ihr einziges Glück war die englische Familie, von der sie aufgenommen wurde, und dass sie schliesslich mit ihrer Entschädigung für erlittenes Leid in die USA auswandern konnte.»
«Und wurde sie dort wenigstens glücklich?», hatte Sarah scheu gefragt.
«Nun, sie hat zum Christentum konvertiert und geheiratet.»
Sarah hatte geschwiegen. Sie wusste nur wenig über das Dritte Reich. Im Geschichtsunterricht hatte sie geschlafen, und sie wollte sich vor Izzy nicht blamieren. Nun berichtete sie Hannes von diesem Gespräch.
«Dass sie dir das alles so erzählt hat», staunte er.
«Hat sie aber. Wenn sie Englisch spricht, ist sie immer sehr offen. Wie Amerikaner so sind», nickte Sarah. «Sie muss sich hier oft sehr einsam fühlen.»
Hannes zog die Augenbrauen hoch.
In der Hotelhalle lag die «Frankfurter Allgemeine» auf. Sarah warf einen Blick in die Zeitung. Es war beinahe einundzwanzig Uhr. Sie wartete auf ihre Freundin Brigitte, die als Rezeptionistin im Tannwald arbeitete und jeden Moment ihren Dienst beenden, eine Wolljacke über das spitzenbesetzte Dekolleté ihres grünen Dirndls ziehen und die Schuhe wechseln würde.
Sarah hatte Brigitte zum ersten Mal beim winterlichen Joggen getroffen. Die grossgewachsene Deutsche hatte mit einem übertretenen Fuss im Schnee am Wegesrand gesessen, und wie sie ihr später erzählte, festgestellt, dass sie ohne ihr Telefon unterwegs war. Als Sarah grüssend vorbeilaufen wollte, hatte die Frau laut aufgestöhnt. Sarah erkannte, dass sie helfen musste, stellte sich vor, beugte sich über die Verunfallte, und nachdem sie das Problem erkannt hatte, stopfte sie kurzerhand Schnee in Brigittes Socken. Schliesslich half sie ihr aufzustehen und, gemeinsam humpelnd schafften die Frauen die zwei Kilometer in den Ort, wo sie feststellten, dass sie im selben Personalhaus wohnten und Arbeitskolleginnen waren.
Als Brigitte am gleichen Abend mit hochgelagertem Fuss in ihrem Zimmer mutmasste, wann sie ihr umgeknicktes Sprunglenk wieder belasten dürfe, bot Sarah an, in der Hotelküche Quark zum Kühlen zu holen.
«It helps», hatte sie gesagt, und obwohl sie noch kaum Deutsch und Brigitte nur das für den Hotelbetrieb notwendige Englisch sprach, hatten sich die beiden auf Anhieb verstanden.
Nun wollten sie noch ausgehen, Pizza essen und ein paar Bekannte treffen, die in den umliegenden Hotels ihre Ausbildung oder ein Praktikum absolvierten. Sarah verkürzte sich das Warten auf ihre Freundin, indem sie die Kurzmeldungen in der Zeitung überflog.
Landstreicher findet Leiche im Park
Vermisster 98-Jähriger aus Frankfurt tot aufgefunden
Frankfurt am Main. Die Leiche des 98-jährigen Mannes, der am Dienstag aus einem Seniorenheim in Sachsenhausen verschwunden war, wurde noch gleichentags von einem Obdachlosen gefunden.
Der seit Dienstagvormittag vermisste Senior wurde am späten Abend in einem Frankfurter Park aufgefunden. Das bestätigte die Polizei am Mittwochmorgen. Er habe den gut gekleideten, leblosen Körper unter einer Trauerweide entdeckt, als er sich dort sein Nachtlager habe aufschlagen wollen und umgehend die Polizei verständigt, erzählte der Obdachlose. Vermutlich war der Verstorbene erst wenige Stunden tot gewesen. Bislang haben die Ermittlungen nach Angaben der Polizei keinen Hinweis auf ein Verbrechen ergeben.
Als Sarah am nächsten Morgen zusammen mit den Kindern auf das Frühstück warten musste, griff sie nach einem von Izzys Modemagazinen, die sich auf der Küchenablage türmten. Dabei fand sie die herausgerissene Zeitungsseite mit jener Kurznachricht, die sie am Vorabend in der Hotelhalle gelesen hatte. Sarah drehte die Seite um und warf einen Blick auf den Wetterbericht auf der Rückseite. Es würde schön bleiben.
«Wer will am Nachmittag ins Schwimmbad im Ort gehen?», fragte sie die Kinder. «Ich! Super!», rief Jessica, und die anderen drei nickten eifrig. Sie alle mochten das öffentliche Gartenbad lieber als jenes im Hotel. Während Sarah noch überlegte, ob sie sich Lunchpakete packen lassen oder über Mittag besser etwas Kleines in der Gaststube essen sollten, kam auch schon Karin mit dem reichlich gefüllten Frühstückskorb vom Restaurant hoch. Sie stöhnte wie beinahe jeden Tag: «Sorry, Sarah. Entschuldige die Verspätung.»
Sarah nickte und bestellte bei Karin die Lunchpakete. Dann legte sie den Kindern je ein Vollkornbrötchen und eine Wurst- und eine dünne Käsescheibe auf die Teller und platzierte die Joghurts und Früchte in der Tischmitte. Sie selbst genehmigte sich ein Hörnchen und dazu einen Kaffee.
Izzy erschien an jenem Morgen nicht in der Küche des Apartments. Vermutlich war sie schon früh zum Joggen gegangen. Auch Sarah wollte den Vormittag, während Jessica in der Schule und die Zwillinge im Kindergarten waren, für sich nutzen. Sie würde Jens im Zwergenhort abgeben und im Wald radeln gehen. Bald begannen die Schulferien und damit eine Zeit intensiver Kinderbetreuung. Die Familie Rothfuss machte im Sommer keinen Urlaub, und vom Au-Pair wurde erwartet, dass sie den ihren erst im November bezog.
Zwei Stunden später legte Sarah ihr Rad am Wegrand ins Gebüsch, stieg zur Himmelsliege hoch und blickte, bevor sie sich darauf legte, zur anderen Talseite. Der Priorstein war ihr liebster Aussichtspunkt. Sie beobachtete die harmlos dahinziehenden Schäfchenwölkchen, dachte ans Petermännle und wie sie den Kindern seine Legende erzählen würde. Besonders Jessica wollte immer wieder aufs Neue hören, wie Peter, der Jäger im Dienst der Reichenbacher Mönche, abends auf seinem Stein sass und welche Tricks er sich überlegte, um die einfachen Leute, welche die Tiere des Waldes verscheuchten, vom Beerensammeln abzuhalten.
Sarah, die im Wald wochentags für gewöhnlich keiner Menschenseele begegnete, hörte eine Frau sprechen. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, dass es Izzys wohlklingende Stimme war.
«He’s gone. Dead and gone.»
Dann war Stille. Sarah ahnte, dass Izzy auf einer Holzbank sass, bloss einen Steinwurf entfernt und telefonierte. Gebüsch trennte den Picknickplatz von der Himmelsliege. Sie konnte Izzy nicht sehen, doch jedes ihrer Worte verstehen.
«Don’t fret. Nobody suspects anything. He trusted me. He adored my little cakes. Gobbled them in the park. No, don’t. Please. Don’t fret. Nobody saw us. Gran, he did harm you. He deserved it all right.»
Sarah schlich sich davon, stieg auf ihr Rad und sauste den steilen Weg hinunter ins Tal. Während der Fahrtwind ihre heissen Wangen kühlte und ihr durchs feuchte Haar strich, fragte sie sich, warum Izzy ausgerechnet auf dem Priorstein eine Pause eingelegt und wessen Geschichte sie ihrer Oma erzählt hatte. Izzy hatte von einem Mann gesprochen, der etwas verdient habe. Auch von Keksen, die er verschlungen, und von Vertrauen, das er ihr entgegengebracht habe. Zudem hatte Izzy einen Park erwähnt. Sarah war verwirrt, ihr Hirn stellte eine Verbindung her, doch sie hatte jetzt nicht die Zeit, diese zu Ende zu denken. Sie musste die Kinder von der Schule abholen.
«Du hast genau zwei Möglichkeiten, deine doch sehr gewagte Vermutung zu überprüfen», sagte Hannes, als er Sarah am folgenden Samstag traf und sie ihm bei einer Tasse Kaffee von ihrem diffusen Verdacht berichtete, den sie aufgrund der merkwürdigen Konversation auf dem Priorstein geschöpft hatte.
«Ob Izzy tatsächlich mit New York telefoniert hat? Bedenke den Zeitunterschied. Aber du kannst sie ja darauf ansprechen … oder der Frankfurter Polizei einen Hinweis übermitteln», foppte Hannes und streckte seine Hand nach Sarahs aus.
«Alte Menschen schlafen schlecht. Vielleicht ist Izzys Oma schon in aller Herrgottsfrüh munter. Oder die beiden wollten in einem ruhigen Moment telefonieren», murmelte Sarah und zog ihre Hand zurück. «Zudem ist Izzy an besagtem Dienstag, als der Senior angeblich umkam, irgendwo unterwegs gewesen.»
«Genau deshalb wäre ich vorsichtig», schlussfolgerte Hannes.
Sarah wusste nicht, was sie von seiner Bemerkung halten sollte. Sie wagte einen letzten Versuch, ihn zu überzeugen.
«So überlege doch», flüsterte sie: «Izzys Oma ist in Frankfurt geboren. Ein jüdisches Mädchen, das, als sie mit einem Kindertransport nach England gebracht wurde, zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt gewesen sein musste. Der Frankfurter Tote war 98.»
«Zeitlich mag es ja hinkommen», gab Hannes zu, «doch der Rest ist reine Fantasie. Deine Fantasie.»
Als Sarah schwieg, fragte er sie: «Warum vergisst du die Geschichte nicht einfach? Du bildest dir den Zusammenhang bloss ein.»
Doch Sarah glaubte sowohl an Zufälle wie auch an ihr Bauchgefühl.
Mitte August war es heiss und gewittrig. Die Kinder hatten Ferien, und alle vier spielten an jenem schwülen Vormittag im Zwergenhort. Izzy schlich mit verweinten Augen durchs Hotel und schliesslich in Rudis Büro. Sarah dachte als erstes an einen Ehekrach. Doch Izzy und Rudi stritten sich nie. Wenigstens nicht vor ihren Angestellten oder den Kindern. Zudem war Rudi an jenem Vormittag mit seinen F&B Manager unterwegs auf Schloss Eberstein, um regionalen Wein zu kosten. Es musste etwas anderes sein. Sarah hatte Zeit. Sie setzte sich vors Büro und wartete. Als Izzy eine Stunde später heraustrat und Sarah erblickte, schien sie gefasster.
«Das trifft sich gut, dass du hier bist, Sarah. Komm, ich brauche dich. Meine Oma ist gestorben», sagte sie. «Ich habe für mich und die Zwillinge für morgen einen Flug nach New York gebucht.»
Sarah kondolierte und fragte, was mit Jessica und Jens passiere.
«Sie bleiben bei Rudi und dir. Ich kann nicht alle vier mitnehmen. Und die Zwillinge kann ich nicht trennen. Rudi kann nicht weg vom Hotel. Das Haus ist zu 90 Prozent belegt. Es ist der ungünstigste Zeitpunkt.»
«Könnte ich dich nicht begleiten? Damit du alle vier mitnehmen könntest.»
«Nein, danke, Sarah, das ist lieb von dir. Aber wir machen es so, wie ich sagte. Ich habe es mir hin und her überlegt. Jens und Jessica sind hier im Hotel, bei dir und bei ihrem Vater, besser aufgehoben.» Sarah fand es etwas seltsam, dass Izzy ihren Jüngsten zurücklassen wollte. Doch es war ja nicht für lange, und tatsächlich wurden der kleine Jens, mit seinen goldenen Löckchen und strahlend blauen Augen, und die für ihre acht Jahre schon sehr vernünftige Jessica von den Hotelangestellten mehr verwöhnt als die lebhaften Zwillinge.
«Darf ich dir wenigstens beim Packen helfen?», fragte Sarah. «Max und Maurice brauchen Kleider und ihre Plüschtiere.»
Während Izzy und die Zwillinge in Manhattan und Jessica und Jens in Sarahs Obhut waren, arbeiteten Rudi und Susanne beinahe Tag und Nacht. Die Bohnenstange im Dirndl, wie Hannes die Hotelsekretärin heimlich nannte, hatte an Gewicht zugelegt. Von einem Tag auf den anderen ging im Haus das Gerücht um, sie sei schwanger.
«Der Chef de Service meint, dass Rudi der Vater wäre», raunte Brigitte Sarah zu, als die beiden wieder einmal beim Pizzaessen waren.
«Ich weiss nicht, ob das stimmt», wandte Sarah ein. Sie wollte nicht zu dem Geschwätz beitragen. «Er ist Susannes Chef und zudem verheiratet.»
«Eben», sagte Brigitte und wechselte das Thema, als zwei Azubis vom zweitbesten Hotel am Ort das Lokal betraten und auf ihren Tisch zusteuerten.
Als Izzy zum Schulbeginn ihrer Kinder noch immer bei ihren Eltern in Manhattan weilte und keiner wusste, für wie lange noch, fasste sich Sarah ein Herz und fragte Rudi, wann genau er sie zurückerwarte.
«Ich weiss es nicht», sagte er. «Ich hoffe, bald. Aber Izzy hängt extrem an ihren Eltern und Brüdern, und dieser Todesfall hat der gesamten Familie zugesetzt. Ihre Oma war eine aussergewöhnliche Frau.»
«Aber …» setzte Sarah an. Sie sah noch immer Izzy vor sich, wie sie am Tag vor ihrer Abreise mit rotgeränderten Augen und zitternden Händen ein paar wenige Kindersachen packte. Wie sie ihr dabei erzählt hatte, dass ihre Oma als Mädchen in Frankfurt missbraucht worden war, und nun ihre Erlösung gefunden habe. So schrecklich diese Geschichte auch war, so hatte Sarah doch gespürt, dass die Niedergeschlagenheit ihrer Chefin nicht nur darauf zurückzuführen war. Doch sie hatte nicht nachgefragt.
«Jens und Jessica vermissen ihre Mutter», murmelte sie mehr zu sich als zu Rudi. Beim Frühstück hatte sich Jessica mit dem Messer, das sie abschleckte, in die Zunge geschnitten, und Jens war, als er das Blut sah, vor Aufregung aus seinem Hochstuhl gerutscht. Rudi wusste nichts davon, und sie wollte ihm ihre momentane Überforderung auch nicht eingestehen. Ihre Aufgabe hatte sich schliesslich nicht geändert. Rudi hatte Karin zum sporadischen Kinderhüten vom Service freigestellt, damit Sarah ihre Ruhezeiten einhalten konnte. Er hatte scheinbar alles im Griff.
«Lass uns abwarten. Sie wird sich melden», sagte er. «Bitte rufe sie nicht an. Wenn du Probleme mit den Kindern hast, wendest du dich an mich.»
Eine Woche nach dem Gespräch flog Rudi nach New York zu einem Gastronomentreffen. Sarah vermutete, dass das Meeting ein Vorwand war. Er wollte seine Frau zurückholen. Sarah war derweil alleine mit den Kindern. Schon am ersten Tag stürzte Jens unglücklich vom Klettergerüst, und sie fragte sich, ob sie ihn tagsüber nicht besser im Zwergenhort abgeben sollte, damit die Kindergärtnerin die Verantwortung für ihn trug. Ein Hotelangestellter hatte sie mit Jens zum Arzt gefahren, der die Platzwunde nähte. Nun, mit zum Teil abrasierten Haaren und seinem runden, roten Kinderpflaster auf dem Kopf, sah das Kind aus wie ein kleiner Punk. Doch seit dem Sturz wollte er sich nicht mehr von Sarah trennen. Er klebte förmlich an ihr, hatte plötzlich begonnen, zu fremdeln. Sogar bei Karin, die ihn mit Süssigkeiten zu trösten versuchte.
Sarah hatte sich immer über die Offenheit der Kinder gefreut; über ihre Unbefangenheit, mit der sie auf Fremde zugingen und auch über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich von den Angestellten und den Gästen verwöhnen liessen. Hier gab es eine Zärtlichkeit oder gar ein Eis von einem Mitarbeiter; dort ein Plüschtier oder ein Holzspielzeug von einem Stammgast.
Die Welt der Kinder war solange in Ordnung gewesen, wie sich Sarah in der Nähe aufgehalten hatte und die Eltern regelmässig nach ihnen schauten. Doch das war vorbei. Ende Woche kam Rudi Rothfuss alleine zurück, mit der Nachricht, dass er und Izzy sich scheiden lassen würden.
«Unglaublich. Izzy wird mit Mäxle und Mo in Amerika bleiben», rapportierte Sarah Hannes’ Eltern. Sie konnte die Nachricht nicht für sich behalten bis sie Hannes wieder sah. Doch anrufen wollte sie ihn auch nicht.
Ihr Chef hatte sie gestern Abend zu sich ins Wohnzimmer des Apartments gebeten und ihr ein Glas von seinem teuren Rotwein angeboten.
«Es tut mir leid, Sarah. Meine Frau kommt nicht zurück. Weder sie noch die Zwillinge. Die drei bleiben in New York, bei den Jacobs, ihrer Familie.»
«Aber, das kann doch nicht sein!», hatte sie erschrocken erwidert und Rudi gefragt, ob dies denn legal sei. Kinder vorübergehend mit ins Ausland zu nehmen und sie nicht zurückbringen.
«Izzy und ich haben es so vereinbart. Susanne wird zu mir ziehen. Sie erwartet mein Kind und wird auch Jessica und Jens eine gute Mutter sein.»
Sarah hatte der Mund offen gestanden. «Aber …», hatte sie erneut angesetzt, doch nichts einzuwenden gewagt. Ihr war gewesen, als hätte Rudi sie geschlagen. Doch der grosse, selbstsichere Mann sass vornübergebeugt, so, als trage er das ganze Elend dieser Welt auf seinen breiten Schultern.
Dafür war er es gewesen, der die neue, in Sarahs Augen folgenschwere Situation ausgelöst hatte. Sie dachte an seine Flirts mit Susanne, daran, wie unglücklich Izzy gewesen war. Bisher hatte Sarah alles verdrängt. Sie war nach den langen Tagen mit den Kindern zum Nachdenken zu müde gewesen. Lieber hatte sie ihre Nase in ein Buch gesteckt oder einen Film angeschaut.
Jetzt sass sie mit Gustav und Emma in deren Wohnung und vertraute sich ihnen an. Sie fühlte sich elend.
«Rudi Rothfuss wird Jens und Jessica hier behalten und sie zusammen mit seinem neuen Kind erziehen. Susanne ist also tatsächlich in Erwartung. Die Geburt sei im Dezember fällig, sagt Brigitte. Ist das nicht verrückt?»
Emma, Hannes’ Mutter, nickte bedächtig und servierte Sarah einen Cappuccino, während ihr Mann Gustav allerlei andere, ähnlich wilde, Familiengeschichten vom Ort erzählte.
«Ich will nicht für Susanne arbeiten. Obwohl Rudi mir versichert hat, dass mein Vertrag weiterläuft. Er schätze mein Verantwortungsbewusstsein. Über Jens’ hässlichen Kurzhaarschnitt hat er nur gelächelt und gemeint, kleine Jungs fielen von Zeit zu Zeit auf die Nase. Das sei normal. Ich solle mir keine Vorwürfe machen, sondern mich weiterhin gut um die Kinder kümmern.»
«Ja, sie brauchen dich jetzt mehr als zuvor. Bis diese Susanne ihr Baby kriegt, dauert es noch. Überstürze nichts. Warte einmal ab, was Hannes am Wochenende dazu meint», beruhigte Gustav sie, und Emma nickte erneut. Sarah vermutete, dass Gustav an seinem Stammtisch im Ochsen noch einiges mehr zum Thema erfahren würde.
Hannes verbrachte das Wochenende im Schwarzwald, und zwischen ihm und Sarah gab es kein Thema ausser Rudi und Izzys bevorstehende Scheidung.
«Es weiss es schon halb Fleckenbronn. Manchmal habe ich den Eindruck, die tratschen hier alle», sagte sie abschätzig.
«Nun, der Ort hat jedenfalls seinen Skandal, die Vögel pfeifen es von den Dächern, und du navigierst im Auge des Taifuns», lachte Hannes.
«Ich finde es überhaupt nicht lustig, mitten drin zu stehen. Ich frage mich, was in den Personalräumen des Hotels, im Café Frey und an den Stammtischen alles gemunkelt wird.»
«Da musst du durch. Wenn es dir zu viel wird, kannst du jederzeit zu meinem Eltern flüchten.»
«Stimmt. Emma und Gustav sind so etwas wie ein ruhender Pol. Doch ich kann nicht verstehen, wie Rudi die Kinder so auseinander reissen kann. Jessica bekommt einiges mit. Jens gottlob noch nicht.»
«Es braucht immer beide Eltern dazu», wandte Hannes ein. «Izzy muss einverstanden sein. Sonst ginge das nicht. Jedenfalls nicht so einfach.»
«Hör mal. Er ist schuld. Er hatte diese Affäre mit Susanne. Und die blöde Gans packt die Gelegenheit und wird schwanger.»
«Sarah, das kann passieren. Was hast du gegen Susanne?»
«Nichts. Ich habe nichts gegen sie. Doch sie hat mir von Anfang an zu verstehen gegeben, das ich nur das Kindermädchen bin. Dazu eine Ausländerin, leicht bedeppert, weil ich ihren schwäbischen Dialekt nicht auf Anhieb verstand. Sie behandelt mich von oben herab.»
«Nun denn. Bald ist sie nicht mehr Rudis Sekretärin, sondern Frau Direktor Rothfuss», hob Hannes Susannes sozialen Aufstieg hervor.
Sie wurde wütend. «Genau. Und was soll ich nun tun?»
«Du kannst nicht viel ändern. Sobald etwas Gras über die Sache gewachsen ist, wird es besser werden. Es gibt viele Patchwork-Familien, die funktionieren. Am Ende wird oft alles gut.»
«Für Männer ist es so einfach. Neue Frau, neues Kind. Alles gut.»
«Sarah, du darfst das so nicht verallgemeinern. Es gibt durchaus treue und fürsorgliche Männer. Genauso wie wortbrüchige Frauen.»
«Wortbrüchig? Bin ich etwa auch wortbrüchig, wenn ich jetzt vom Tannwald weg will?»
«Nein, die Rothfussens sind nicht deine Familie. Wenn du Susanne nicht magst, kannst du das Arbeitsverhältnis auflösen.»
«Ja, und dann stehe ich auf der Strasse.»
«Du kannst dich neu orientieren. Nichts ist für die Ewigkeit.»
«Ich will mich aber nicht neu orientieren. Sie waren eine perfekte Familie», trotzte sie.
«Aber nicht deine Familie, mein Herz. Jede zweite Ehe wird geschieden …»
«Am besten kehre ich gleich nach England zurück. Krieche bei Finlay zu Kreuze und bitte ihn um ein Stipendium.»
«Nein, Sarah. Meine Eltern würden dich schon morgen als Bedienung im Café oder als Hilfe in der Backstube einstellen. Sie mögen dich beide. Oder du kommst zu mir in die Schweiz», besänftigte sie Hannes. Sarah tat es plötzlich leid, dass sie den Streit mit ihm gesucht hatte.
Als Sarah Brigitte das nächste Mal in deren Personalzimmer abholte, übergab diese ihr einen Brief aus Frankreich.
«Er ist heute gekommen. Ich habe ihn zufällig gesehen und an mich genommen», sagte sie und fragte: «Wer schreibt dir denn per Schneckenpost?»
«Danke. Keine Ahnung», sagte sie, griff nach einer Schere, die auf Brigittes Tisch lag und schlitzte damit den Umschlag auf. Ihre Freundin musste sich noch umziehen, so konnte Sarah den Inhalt in Ruhe lesen.
Der kurzen Mitteilung ihrer Tante Claire war eine Einladungskarte zu einer Vernissage einer Frankfurter Galerie beigelegt. Der Termin war zwar bereits vorüber, doch die Ausstellung dauerte noch weitere zwei Monate. Sie zeigte einen Teil von John-Pierres Nachlass. Sarah beschloss, hinzufahren.
«Komm, lass uns zu Pino gehen», schlug sie vor, nachdem Brigitte nach ihrer Jacke, Tasche und ihrem Schlüsselbund gegriffen und ihre Zimmertür im Personalhaus zugesperrt hatte. «Bei ihm können wir uns eine Pizza teilen.»
«Wer hat dir geschrieben?», fragte Brigitte während sie in der Pizzeria auf den gemischten Salat als Vorspeise warteten.
«Meine Tante Claire. Schau, die Karte sieht super aus.»
«So schön», sagte Brigitte.
«Ja, es ist eines von John-Pierres schönsten Bildern. Es hing im Haus, er wollte es nie verkaufen.»
«In welchem Haus?», fragte Brigitte.
«In seinem, in Cancale. Claire und er lebten bis zu seinem Tod vor einem Jahr dort. Seither pendelt sie zwischen Frankreich und England.»
«Woran ist er gestorben? Du hast mir nie von ihm erzählt», sagte Brigitte und lächelte Pino an, der ihnen, da sie lange warten mussten, einen Drink spendierte.
«Herzstillstand. Er war 21 Jahre älter als meine Tante Claire. Und sie wiederum ist neun Jahre älter als meine Mum. Ich habe seine Beerdigung verpasst, da ich letzten Sommer in Florenz lebte und weder die Zeit noch das Geld hatte, nach Frankreich zu fahren. Zudem war ich in jener Woche krank. Aber ich mochte ihn. Sehr sogar. Er war sehr einfühlsam und sehr charmant.»
«Wie alt war er nun wirklich, als er starb?»
«Über 80. Claire ist dieses Jahr 62. Sie verkauft alles. Sie braucht das Geld, um zu leben. Daher die Ausstellung in Frankfurt.»
«Fährst du hin?», fragte Brigitte.
«Nach dem Drama im Tannwald brauche ich einen Szenenwechsel.»
«Aber dein Abgang ging ja sehr gesittet über die Bühne. Ich hatte nicht den Eindruck, dass du im Streit gegangen bist.»
«Nein, natürlich nicht. Die Kinder waren traurig, und Rudi hat mir eine anständige Abfindung bezahlt», nickte sie. «Aber mit Susanne hatte ich ganz zum Schluss noch einen heftigen Zusammenstoss.»
«Aua. Erzähl schon. Davon weiss ich gar nichts.»
«Umso besser», seufzte Sarah. «Ich möchte nicht darüber reden. Wichtiger ist Izzy. Sie hat mir ein sehr nettes Dankes-E-Mail aus New York geschickt.»
«Und nun kannst du erst einmal Urlaub machen», sagte Brigitte.
Sarah überlegte, dass Claires Einladung genau zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen war. Eigentlich hatte sie nun, da sie keine Arbeit mehr hatte und seit Ende Oktober bei Gustav und Emma Frey wohnte, für eine Woche nach Berlin reisen wollen. Doch da diese Galerie nun John-Pierres Werke ausstellte, würde sie stattdessen nach Frankfurt fahren.
Brigitte seufzte: «Ich käme fürs Leben gerne mit. Meine Eltern wohnen zwar mittlerweile nicht mehr in Frankfurt, aber meine Oma väterlicherseits lebt immer noch dort, in der Goldenen Abendsonne, einer Seniorenresidenz in Sachsenhausen …»
Sachsenhausen, sann Sarah, rings a bell …
Brigitte plauderte weiter « … und sie ist auch über 80. Sie hat aber gottlob ein starkes Herz und fühlt sich wohl ….»
Sarah blinzelte ihrer Freundin zu, die in Jeans und Karohemd, mit ihrem kurzen, weizenblonden Haar androgyn auftrat. Sarah mochte die feinen hellen Strähnchen. Brigitte sah in ihrer Freizeit-kleidung ganz anders aus als im Dirndl, das sie bei der Arbeit trug. Dort bewunderte Sarah jeweils den mit Spitzen besetzten Ausschnitt. Wann immer Brigitte sich vornüberbeugte, fragte sich Sarah, wie das milchige Dekolleté auf Männer wirken mochte. Zudem zeigte Brigitte mit ihrer links der Taille gebundenen Dirndlschleife, dass sie single war. Jedenfalls jenen, die sich auskannten.
Eine Woche später, an einem strahlenden Novembernachmittag, stand Sarah mit Pralinen am Empfang einer gepflegten Seniorenresidenz in Frankfurt Sachsenhausen und fragte nach Frau Bohnert.
«Adele Bohnert. Zimmer 417, vierte Etage. Wen darf ich melden?»
Sarah nahm den Lift in den vierten Stock und folgte auf dem Gang den Zimmernummern. Die Tür zum Zimmer 417 stand bereits offen und eine gebückte Frau mit schlohweissen Haaren schaute ihr erwartungsvoll entgegen.
«Frau Bohnert?», fragte sie, plötzlich etwas schüchtern. «Ich bin Sarah Penrose und bringe Ihnen schöne Grüsse von Brigitte.»
«Ja, das bin ich», erwiderte die alte Frau. «Aber kommen Sie doch herein.»
Sarah bemerkte erst jetzt, dass sich Adele Bohnert auf einen Gehstock stützte. Brigitte hatte ihr erzählt, dass ihre Oma nicht nur zusehends schwerhörig, sondern auch etwas vergesslich geworden sei. Doch auf Sarah machte die alte Dame einen aufgeweckten Eindruck.
«Wie geht es meiner Brigitte?», erkundigte sich Frau Bohnert als Erstes.
«Danke, gut, sie arbeitet sehr gerne im Tannwald», antwortete Sarah und stellte ihr rosa Schächtelchen auf den kleinen Tisch im Zimmer.
«Ist das etwa für mich?», fragte die alte Frau, und als Sarah bejahte, strahlte sie. «Sie sind ein echter Goldschatz. Ich danke Ihnen sehr herzlich.»
Nachdem sich Sarah gesetzt hatte, wollte Adele Bohnert wissen, wie und wo genau Sarah Brigitte kennengelernt habe, ob sie auch an der Rezeption arbeite, und so weiter und so fort.
«Ich war übrigens einmal in Cornwall. Das war vor mehr als 40 Jahren mit meinem Mann selig. Ich erinnere mich noch an die Blumen und die Palmen, die ich dort so nicht erwartet hätte», plauderte sie weiter. Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie klingelte nach einer Pflegerin und bestellte ein Kännchen Schwarztee für Sarah und einen Kaffee Latte für sich. Schliesslich öffnete sie die Pralinenschachtel.
«Ich las im Sommer einen Kurzbericht in der FAZ», wechselte Sarah das Thema. «Ein alter Mann aus einem Frankfurter Seniorenheim wurde vermisst und später tot in einem Park aufgefunden.»
«Vermisst?», höhnte Adele und steckte sich eine weisse Trüffelpraline in den Mund. «Kein Mensch hat den Alten vermisst.»
«Wirklich? Kannten Sie den Mann?», fragte Sarah höflich.
«Ja, der Adolf Müller, der wohnte hier im Erdgeschoss. Brüstete sich noch immer mit Weibergeschichten. Soll glauben, wer es will. Ich bin jedenfalls nicht auf ihn eingegangen», sagte Adele und kicherte: «Wenn es früher bloss Männer wie ihn gegeben hätte, wäre ich ledig geblieben. Sie wissen schon, er war einer, dem keine Frau nachts hätte alleine über den Weg laufen wollen.»
«Ist es denkbar, dass er keines natürlichen Todes starb?», fragte Sarah.
«Wie denn sonst? Mit beinahe 100!»
Nach ihrer Rückkehr aus Frankfurt traf Sarah Brigitte zufällig im Zentrum von Fleckenbronn.
«Super, dich zu sehen», rief Sarah. Sie bedauerte, dass Brigitte keine Zeit für einen Kaffee und einen Schwatz hatte und rasselte die Neuigkeiten im Stehen herunter.
«Du glaubst es nicht! Die Kunstgalerie mit John-Pierres Bildern lag in Sachsenhausen, bloss ein paar Meter entfernt von der Seniorenresidenz deiner Oma. So kaufte ich spontan Pralinen und ging deine Oma besuchen. Sie lässt dich herzlich grüssen»
«Oh, das ist so lieb von dir. Sie hat sich bestimmt gefreut. Sie hat ja kaum je Besuch», antwortete Brigitte und fragte «Ist sie gesund und munter?»
«Ziemlich. Unglaublich wach und an allem interessiert schien sie mir. Da war meine Granny, die Mutter meiner Mutter, ganz anders. Sie hat sich nach dem Tod meines Grossvaters in ihre eigene Welt zurückgezogen …»
«Ja, erzähl ein anderes Mal. Jetzt muss ich sausen, sonst komme ich zu spät zum Dienst», drängte Brigitte und als Nachgedanke: «Ich fahre übrigens nach Hamburg, zu meinen Eltern. Ich muss Urlaubstage einziehen und Überstunden kompensieren. Im Hotel herrscht Flaute. Ich melde mich.»