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Hanspeter Born

Staatsmann im Sturm

Pilet-Golaz und das Jahr 1940

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Impressum

© 2020 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagsgestaltung:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

ISBN 978-3-907146-72-9

www.muensterverlag.ch

Inhalt

1.Wieder Krieg

2.Einziger Romand im Bundesrat

3.Wie sich vor Spionage und Sabotage schützen?

4.Tücken der Zensur

5.Geistige Landesverteidigung im Äther

6.«Ein flotter Gruss an unsere Soldaten»

7.Abhörprotokolle

8.Nachrichten aus dem Reich

9.Der Novemberalarm

10.Alltag

11.Ein Elefant im Porzellanladen

12.Der Nationalrat muckt auf

13.Zum zweiten Mal Bundespräsident

14.Durchzogene Festtage

15.In den Fettnapf getreten

16.Gäste aus West

17.Abschied von einem Grossen

18.Drôle de guerre

19.Umschiffte Klippen

20.Erste Tage als Aussenminister

21.Wieder vollzählig

22.«Euse General»

23.Weckruf

24.Abkommen mit den Alliierten

25.Aprilwetter

26.Fingerspitzengefühl

27.Ribbentrop droht

28.Sturm nach der Stille

29.«Fall Gelb»

30.Verschnaufpause

31.Debakel

32.Luftgefechte über dem Jura

33.Englische Bomben, deutsche Bombenleger

34.Frankreich kapituliert

35.Die Schlinge um den Hals

36.Waffenstillstand

37.Genesis einer Rede

38.Lost in Translation

39.Tatsachen

40.«Fall Schweiz zur Zeit nicht akut»

41.Seelisches Durcheinander

42.Die Ehre bewahren, die Zukunft retten

43.Mers-el-Kébir

44.Réduit

45.Solothurner folgt auf Solothurner

46.Es gibt auch «gute» Deutsche

47.Trumps unerwünschte Einmischung

48.Weisungen an den General

49.Hitler spricht

50.Die Verschwörung des Lull zu Luzern

51.Auf Kapitulationskurs?

52.«Ich will nicht mehr»

53.Die Schweiz bleibt im Völkerbund

54.Bundesfeiertag

55.Rütli

56.Berlin ist verstimmt

57.«Kronrat»

58.Das Kreuz mit der Armee

59.Blaupause für die «neue» Schweiz

60.Grimm

61.Gestörte Ferien

62.Professor Burckhardt und die germanische Kultur

63.Dr. Grawitz besucht die Schweiz

64.Battle of Britain

65.Landammann Etter?

66.«Durer»

67.Waadtländer bon sens

68.Dammbruch

69.Schriftsteller Jakob Schaffner

70.Ein Gespräch zu viert und ein Besuch am Scheuerrain

71.Schadensbegrenzung

72.Manöverluft

73.M Pilet-Golaz glaubte nicht an einen deutschen Endsieg

74.Schützenhilfe

75.Es wird dunkel

76.Herr Schulthess möchte nochmals nach Berlin

77.Für den General wird es ungemütlich

78.Der Bundesrat handelt

79.Die Schweiz atmet auf

80.Wahltheater

81.Feldgrüne Intrigen

82.Hausamanns Erzählungen

83.Jongleurakt

84.Brot und Arbeit

85.«Dutti» schlägt die Tür zu

86.Bukarest, Lissabon, Washington

87.Bürde abgelegt

Nachwort

Personenverzeichnis

«Les peuples n’aiment guère la vérité…Peut-être les historiens pas non plus …».

(Marcel Pilet-Golaz, in einem Brief vom 30.12.1948 an Sir David Kelly, britischer Gesandter in der Schweiz von 1940–1942)

1. Wieder Krieg

Noch vor Morgengrauen schreckt das Geknatter von Fliegerabwehrkanonen Clare Hollingworth aus dem Bett. Es ist Freitag, der 1. September 1939. Aus ihrem Hotelzimmer im polnischen Kattowitz sieht die junge englische Journalistin deutsche Bomber nach Osten vorüberfliegen. Sie telefoniert der britischen Botschaft in Warschau, um den Beginn der Feindseligkeiten zu melden. Ein Diplomat am andern Ende der Leitung glaubt der Reporterin des Daily Telegraph nicht. Darauf hängt sie den Telefonhörer aus dem Fenster. Der Mann hört das Knallen der Geschütze. Es ist Krieg.

An jenem Freitag tritt die Schweizer Landesregierung um 10 Uhr zusammen. Der Bundesrat hat natürlich erfahren, dass in der Nacht Hitlers Luftwaffe polnische Flugplätze und Städte bombardierte. Deutsche motorisierte Divisionen und Panzerverbände sind in Polen eingefallen. Die Bundesräte – und nicht nur sie – fragen sich, ob Frankreich und Grossbritannien ihre Bündnisverpflichtung gegenüber Polen einhalten und Deutschland den Krieg erklären werden. Kommt es zu einem neuen Weltenbrand, der noch schrecklicher sein könnte als der Grosse Krieg 1914 bis 1918? Wird die neutrale Schweiz wie damals verschont bleiben oder gegen ihren Willen in das Kriegsgeschehen verwickelt werden?

An der Bundesratssitzung vom 1. September nimmt zeitweise auch der tags zuvor von der Bundesversammlung zum General gewählte und nachher vom Berner Volk begeistert gefeierte Henri Guisan teil. Per Flugzeug hat man ihn aus Lausanne kommen lassen. Post- und Eisenbahnminister Marcel Pilet-Golaz ist glücklich über die Wahl seines Waadtländer Landsmannes, unter dessen Kommando er als Offizier in der 1. Division einst Dienst geleistet hat. Einige Tage zuvor läutete in der Wohnung am Berner Scheuerrain das Telefon. Der 19-jährige Maturand Jacques, einziges Kind des Ehepaars Pilet-Golaz, ging an den Apparat. Am andern Ende der Leitung meldete sich «le commandant de corps Guisan». Guisan wollte vom Bundesrat wissen, wie seine Chancen bei der unmittelbar bevorstehenden Generalswahl stünden. Pilet konnte ihn beruhigen. Guisan war der Wunschkandidat sämtlicher Bundesräte. Die Bundesversammlung werde ihn mit grosser Mehrheit wählen, was sie dann auch tat.

An der Sitzung referiert Militärminister Rudolf Minger über die aussenpolitische Lage, «die sich in den letzten Tagen zugespitzt hat». Er hält es für dringend notwendig, «die Sicherheit der Landesgrenzen und den Schutz unserer Neutralität der Armee anzuvertrauen.» Minger kennt die Meinung des Generalstabs, wonach mit der Möglichkeit eines französischen Entlastungsangriffs durch Schweizer Gebiet zu rechnen ist. Der neue General, der gute Beziehungen zu höchsten französischen Heerführern unterhält, teilt die Ansicht des Generalstabs nicht. Für Guisan, wie für den Grossteil der schweizerischen Öffentlichkeit, kommt die einzige Gefahr aus dem Norden. Der General schlägt dem Bundesrat vor, die Armee aufzubieten und ihr den Schutz unserer Neutralität anzuvertrauen.

Für Pilet-Golaz lassen die von der Nachrichtensektion festgestellten französischen Truppenkonzentrationen an der Westgrenze auf die Furcht Frankreichs «vor einem deutschen Überfallangriff auf die Schweiz schliessen.» Guisan und Pilet sind sicher, dass die auf Verteidigung eingestellte französische Armee unsere Neutralität respektieren wird. Wie Minger nimmt er an, dass die «internationale Situation sich sehr rasch verschlimmern werde». Im Gegensatz zu Aussenminister Motta glaubt Pilet nicht an eine Verständigung zwischen London und Berlin in letzter Minute. Einmütig beschliesst der Bundesrat die sofortige vollständige Mobilmachung der Armee.

Im Anschluss an die Bundesratssitzung werden dem General die Instruktionen der Regierung für seine Aufgaben als Oberbefehlshaber ausgehändigt. Er hat die «Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Landes mit allen möglichen militärischen Mitteln zu schützen». Alle seine Massnahmen soll er «unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Neutralität treffen». Die Instruktionen halten deutlich fest, dass «das Recht der Kriegserklärung und des Friedensschlusses» ebenso wie der «Abschluss von Allianzen» beim Bundesrat bleibt.

430 000 Mann Kampftruppen und 200 000 Hilfsdienstpflichtige rücken tags darauf geordnet und ohne wesentliche Komplikationen ein. Für ein Land von wenig über 4,2 Millionen Einwohnern ist dies eine enorm umfangreiche Armee. Die Schweiz ist auf einen Krieg vorbereitet, das Volk geeint, die aufgebotenen Soldaten entschlossen, ihre Pflicht zu tun:

Samstag, den 2. September 1939. 7.00 Erster Mobilmachungstag. Die Armee rückt ein. An einem solchen Tag keinen Waffenrock anziehen zu dürfen, ist grenzenlos, unsäglich bitter.

Dies schreibt Markus Feldmann in sein Tagebuch. Der einflussreiche Nationalrat und Chefredaktor der Neuen Berner Zeitung ist wegen Herzschwäche dienstuntauglich.

Kanonier Max Frisch, im Privatleben Architekturstudent und angehender Schriftsteller, hat durch Glockengeläute erfahren, dass auch er an die Grenze muss. Sein Einrückungsort liegt «am andern Zipfel unseres Landes», im Tessin:

Wir fahren durch die Nacht; die Fenster sind nun schwarz, als führe man durch einen endlosen Tunnel. Auch hier scheint eigentlich niemand überrascht, nur ein gewisser Ernst, eine gewisse Bitterkeit ist da, dass es wirklich gekommen ist, wie man dachte. Etliche tun, als schlafen sie. Damit sie die Augen schliessen können. Es ist ein rascher Abschied gewesen. Andere sitzen einfach da, die Ellbogen auf den Knien und blicken auf die Schuhe. Gesungen wird nicht, zum Glück, und man hört auch keine grossen Redensarten. Was will man schon sagen?

Am 1. September, dem Tag des deutschen Einfalls in Polen, sprechen die Botschafter Frankreichs und Grossbritanniens an der Wilhelmstrasse in Berlin vor und fordern die Einstellung der militärischen Operationen und den Rückzug der deutschen Truppen aus Polen. Einflussreiche Politiker in Berlin, London, Paris und Rom suchen verzweifelt nach einer Verhandlungslösung, um die gefürchtete Katastrophe eines grossen europäischen Kriegs abzuwenden. Der italienische Aussenminister Ciano bemüht sich um die Organisation einer Friedenskonferenz in letzter Minute. Feldmarschall Göring streckt heimliche Friedensfühler nach England aus. Unter dem Druck des Unterhauses bleibt das Kabinett Chamberlain nach kurzem Zögern hart. Man hat 1938 Hitler - Österreich und dann im vergangenen März auch noch die Tschechoslowakei schlucken lassen, obschon der Diktator sein in München gegebenes Wort nicht gehalten hatte. Premier Chamberlain und Ministerpräsident Daladier wollen sich nicht wieder täuschen lassen. Jetzt muss Hitlers neuer Aggression militärisch entgegengetreten werden.

Hitler selber glaubt nicht, dass die Engländer und Franzosen nur wegen Polen einen grossen europäischen Krieg vom Zaune brechen werden. Die beiden Alliierten sind in ihrer Rüstung gegenüber dem Reich zurückgeblieben und haben keine Möglichkeit Polen militärisch wirksam zu unterstützen. Am Abend des 2. September erfährt Hitler von Botschafter Attolico, dass die italienischen Vermittlungsbemühungen gescheitert sind. Frankreich und England wollen nur dann verhandeln, wenn die deutschen Truppen Polen wieder geräumt haben.

Am Samstag, 3. September, um 9 Uhr spricht der britische Botschafter Henderson im Auswärtigen Amt an der Wilhelmstrasse vor. Ribbentrop, der Ungutes ahnt, lässt sich durch Dolmetscher Schmidt vertreten. «Ich muss Ihnen leider im Auftrage meiner Regierung ein Ultimatum an die Deutsche Regierung überreichen», sagt Henderson zu Schmidt: «Wenn die Regierung Seiner Majestät nicht vor 11 Uhr britischer Sommerzeit befriedigende Zusicherungen über die Einstellung aller Angriffshandlungen gegen Polen und die Zurückziehung der deutschen Truppen aus diesem Lande erhalten hat, so besteht von diesem Zeitpunkt an der Kriegszustand zwischen Grossbritannien und Deutschland.»

Dolmetscher Schmidt geht mit dem Ultimatum in der Aktentasche in die Reichskanzlei, wo Hitler und Ribbentrop gespannt auf seine Mitteilung warten:

Ich blieb in einiger Entfernung vor Hitlers Tisch stehen und übersetzte ihm dann langsam das Ultimatum der britischen Regierung. Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille. Wie versteinert sass Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es wieder andere wissen wollten. Er sass völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster geblieben war. «Was nun?» fragte Hitler seinen Aussenminister mit einem wütenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: «Ich nehme an, dass die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden.»

Als Schmidt den im Vorraum von Hitlers Arbeitszimmer wartenden Parteigrössen berichtet, dass in zwei Stunden zwischen England und Deutschland Kriegszustand sein werde, herrschte auch dort Totenstille:

Göring drehte sich zu mir um und sagte: «Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein.» Goebbels stand in einer Ecke, niedergeschlagen und in sich gekehrt, und sah buchstäblich aus wie ein begossener Pudel.

Als das Ultimatum Londons um 12 Uhr mittags abläuft, erklärt sich England im Kriegszustand mit Deutschland. Eine halbe Stunde später empfängt Ribbentrop den französischen Botschafter Coulondre, der ihm das erwartete, auf 5 Uhr nachmittags befristete Ultimatum aus Paris vorliest. Die Antwort der deutschen Regierung auf das Ultimatum ist negativ. Darauf erklärt Coulondre:

Ich habe die schmerzhafte Aufgabe, Sie zu benachrichtigen, dass ab heute, 3. September die französische Regierung gezwungen ist, die Verpflichtungen, die Frankreich gegenüber Polen eingegangen ist und der deutschen Regierung bekannt sind, zu erfüllen.

«Gut», antwortet Ribbentrop mit tonloser Stimme, «Frankreich wird der Aggressor sein». «Die Geschichte wird urteilen», antwortet Coulondre und zieht sich zurück.

2. Einziger Romand im Bundesrat

Am Abend jenes schicksalsschweren Sonntags, 3. September, setzt sich Bundesrat Pilet in seiner Berner Wohnung am Scheuerrain 7 an den Schreibtisch, um seinem Waadtländer Landsmann General Guisan einen warmen Glückwunschbrief zu schreiben.

Obwohl erst 49-jährig, ist Marcel Pilet-Golaz nach dem schon 1911 gewählten Doyen, dem Tessiner Giuseppe Motta, der amtsälteste Bundesrat. Er gehört seit 1929 der obersten Landesbehörde an, zuerst als Vorsteher des Departements des Innern und dann, während eines vollen Jahrzehnts als derjenige des Post- und Eisenbahndepartements. Die Kollegen respektieren ihn wegen seines Allgemeinwissens, seiner raschen Auffassungsgabe, seiner juristischen Kenntnisse, seiner sprachlichen Fertigkeit. Auch wegen seines Waadtländer bon sens. Diejenigen, die ihn näher kennen – und das sind nicht viele – schätzen seine Loyalität und seine menschliche Wärme, die er allerdings gut verbirgt. Zu den Personen, denen er vertraut und die ihm vertrauen, gehören vor allem alte Kollegen aus der Studentenverbindung Belles-Lettres oder dem Advokatenstand, politische Kampfgefährten aus der Waadt oder ehemalige Dienstkameraden. Die Bundesratskollegen Rudolf Minger und Philipp Etter, wohl auch Hermann Obrecht, schätzen ihn als Freund. Mit ihnen und mit Ernst Wetter ist Pilet per Du, mit den älteren Motta und Baumann per Sie.

Pilets selbstsicheres, gelegentlich überhebliches Wesen, seine Ungeduld mit schwerfälligeren Geistern und seine oft lose Zunge haben ihm in Verlaufe seiner langen politischen Karriere das Misstrauen von diversen Politikern, Verbandsvertretern und Journalisten eingetragen. Seine bissige, manchmal auch gegen sich selbst gerichtete Ironie kommt bei Deutschschweizern und auch einigen Romands schlecht an. Pilet ist ein eindrücklicher Redner, der ein welsches Publikum überzeugen und begeistern kann. Für den Durchschnittsdeutschschweizer allerdings sind sein kultiviertes Französisch und seine literarischen Anspielungen nicht leicht verständlich.

Wie es sich für einen nonkonformistischen Lausanner gehört, kleidet sich Pilet unkonventionell. An Militärmanövern erscheint er mit Béret, Pullover und Knickerbockers, was in der Deutschschweiz als frivol gilt. Wenn an einem offiziellen Ausflug andere Bundesräte sich schwarz kleiden, zieht er statt Nadelstreifen- helle Hosen an und trägt manchmal – horribile dictu – weisse Gamaschen. Nicht zu vergessen die Nelke oder Rose, die er sich ins Knopfloch steckt, wenn er eine Rede hält. Der Doppelname Pilet-Golaz, den er sich 1915 bei seiner Heirat zugelegt hat, halten viele für angeberisch. Man kann ja nicht wissen, was er damit zeigen will: Für ihn sind Mann und Frau in der Ehe gleichwertig. Auch wenn er selbst private Briefe beharrlich mit Pilet-Golaz oder P.-G. signiert, nennen ihn die meisten Leute und Zeitungen einfach Pilet.

Wie seine freisinnigen Waadtländer Parteifreunde ist Pilet überzeugter Föderalist, Liberaler und Patriot. Liberté et Patrie ist das stolze Motto des grössten und einflussreichsten Kantons der welschen Schweiz. Pilet verabscheut wie fast alle welschen Bürgerlichen den Bolschewismus und sieht in ihm eine ständige Gefahr für Freiheit und Unabhängigkeit. Den Faschismus lehnt er ab, fürchtet ihn aber nicht. Hingegen ist ihm als Liberaler, Christ und Schweizer der Nationalsozialismus zutiefst zuwider. Von Haus und Erziehung aus ist er frankophil. Politisch allerdings hat er seine Vorbehalte gegenüber der grossen Nachbarrepublik mit ihren unablässigen Regierungswechseln, ihrer wirtschaftlichen und sozialen Instabilität, der Korruption ihrer Elite.

Pilet fühlt sich dem «lateinischen» Kulturkreis zugehörig und hat nur bedingte Sympathien für deutsches Wesen. Ein Studienhalbjahr in Leipzig 1910, kurz vor Ausbruch des Weltkriegs, hat seine Abneigung gegen deutschen Kollektivismus und Militarismus nicht mildern können. Mit teutonischen Sitten und Gebräuchen wird er sich nie anfreunden. Hingegen bewundert er deutsche Musik, deutsche Wissenschaft, deutsche technische Errungenschaften, deutsches Organisationstalent. Die Deutschen sind arbeitsam, methodisch, diszipliniert, mutig. Wenn sie sich nur nicht als «Herrenvolk» aufführten!

Als pragmatischer Traditionalist hängt er an der gewachsenen, spezifisch schweizerischen Form der Demokratie – Föderalismus, Exekutive in der Form eines kollegialen Direktoriums, Volksabstimmungen. Wenn der Bundesrat eine Volksabstimmung verliert, akzeptiert er das Verdikt des Souveräns. Gleichzeitig ist der der Meinung, dass es jedem Volk freistehe, die ihm passende Regierungsform zu wählen. Schon als Student in Leipzig konnte er verstehen, wenn die Sachsen ihrem König zujubelten. Er hält es nicht für die Aufgabe der Eidgenossenschaft, anderen Ländern Lehren in Demokratie zu erteilen. Aber was die Schweiz selber anbelangt, kann er sich keine andere Regierungsform vorstellen als die direkte Demokratie.

Mit der Bürde ständiger SBB-Defizite beladen, hat Pilet als Eisenbahnminister in den Dreissigerjahren manchen Strauss mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten ausgefochten. Viele im linken Lager haben ihm seinen ersten grossen Auftritt als Nationalrat im Jahr 1926 nicht verziehen, als er, juristisch gewandt, den Bundesbeamten das Streikrecht absprach. Mittlerweile hat sich Pilet mit dem mächtigen Gewerkschaftsführer Robert Bratschi und dem bedeutendsten aller Schweizer Sozialisten, Robert Grimm, versöhnt. Mit beiden hat er ein gutes politisches, wohl auch menschliches Einvernehmen gefunden.

Unter den sieben Bundesräten – vier Freisinnigen (die in der Westschweiz radicaux heissen), zwei Katholisch-Konservativen (wie die Vertreter der Konservativen Volkspartei genannt werden) und einem Mitglied der BGB (Bauern- Gewerbe-, und Bürgerpartei) – herrscht ungewöhnliche Harmonie. Keine persönlichen Rivalitäten wie seinerzeit die zwischen Wirtschaftsminister Schulthess und Finanzminister Musy vergiften die Atmosphäre. In wichtigen Fragen ist man sich einig. Seit dem Anschluss Österreichs im März 1938, erst recht seit der Zerschlagung der Tschechoslowakei ein Jahr später, bereitet sich die Regierung gewissenhaft auf den von fast allen für unvermeidlich gehaltenen Kriegsausbruch vor. Die Unabhängigkeit der Schweiz muss unter allen Umständen verteidigt werden. Die Bundesräte wissen, dass ein neuer europäischer Krieg noch verheerender sein wird als der letzte. Fünf der sieben Bundesräte – Baumann, Obrecht, Minger, Etter und Pilet – haben zwischen 1914 und 1918 während Hunderten von Tagen als Bataillons- oder Kompaniekommandanten Dienst geleistet. Als höhere Offiziere a. D. bleiben sie an militärischen Fragen interessiert. Pilet hat die Revue militaire suisse abonniert. Er erhält in Bern den Kontakt mit ehemaligen Offizierskameraden und Vorgesetzten aufrecht. Im Bundesrat setzt er sich für die Anliegen des vornehmlich französischsprachigen 1. Armeekorps und seiner Chefs ein.

Nicht alle Landesväter haben bei der Kriegsvorbereitung gleich schwere Aufgaben. Die grösste Verantwortung lastet auf dem für die wirtschaftliche Kriegsvorsorge verantwortlichen Hermann Obrecht. Der tatkräftige Solothurner hat sich als erfolgreicher Unternehmer ein umfassendes Wirtschaftswissen angeeignet hat und verfügt in allen Kreisen über erstrangige Beziehungen. Ihm ist es gelungen, für den Kriegs- oder Mobilisationsfall eine Notverwaltung ins Leben zu rufen. Ausgewiesene Fachleute, die nicht im Bundesdienst stehen, stellen sich teilzeitlich als Führungskräfte für besondere Aufgaben zur Verfügung. Zu ihnen gehören nicht nur einflussreiche Wirtschaftsführer und Universitätsprofessoren, sondern auch Politiker, die sich in Stadt oder Kanton als tüchtige Verwalter bewährt haben. Zu den Letzteren gehört auch der Sozialistenführer Robert Grimm. Er ist Chef der Sektion «Kraft und Wärme», welche die Versorgung des Landes mit flüssigen und festen Brennstoffen sichern soll.

Am 16. März 1939, zwei Tage nachdem der nach Berlin beorderte, kranke tschechoslowakische Präsident Hácha eingeknickt war und den Einmarsch deutscher Truppen nach Prag gebilligt hatte, sprach Oprecht in einer Rede in Basel berühmt gewordene Sätze:

Das Ausland muss es wissen: Wer uns ehrt und in Ruhe lässt, ist unser Freund. Wer dagegen unsere Unabhängigkeit und unsere politische Unversehrtheit angreifen sollte, dem wartet der Krieg! Wir Schweizer werden nicht zuerst ins Ausland wallfahrten gehen.

Die Worte haben Obrecht zum Symbol des schweizerischen Widerstandswillens gemacht.

Aussenminister Giuseppe Motta und seinem gut eingespielten Team im Politischen Departement kommt es zu, die Beziehungen zu allen Kriegsparteien korrekt und wenn möglich freundschaftlich aufrechtzuerhalten und zu erreichen, dass sie unsere Neutralität respektieren. Schon sofort nach Kriegsausbruch 1914 baten die verfeindeten Staaten die Schweiz um die Wahrnehmung ihrer Interessen bei der Gegenseite. Das Politische Departement übernahm die schwierige Aufgabe, die unserem Land hüben und drüben viel guten Willen brachte. Der kluge, umgängliche Motta spielte während Jahren im Völkerbund eine wichtige Rolle und ist europaweit anerkannt und geschätzt wie kein anderer Schweizer Bundesrat.

Mit der Ernennung des Generals muss Militärminister Rudolf Minger viele seiner Kompetenzen an die Armeeführung abgeben, bleibt aber Bindeglied zwischen Bundesrat und Armee. Der Berner Bauernbundesrat aus dem Seeland ist wegen seiner kernigen Sprüche und seines unermüdlichen Eintretens für Armee und Landwirtschaft beim Volk beliebt. Er ist der einzige Bundesrat ohne den damals für einen hohen Magistraten fast obligatorischen Doktorhut. Witze über den bauernschlauen, ungebildeten «Rüedu», meist frei erfunden, tun seiner Popularität keinen Abbruch, im Gegenteil.

Innenminister Philipp Etter, wie Minger auf einem Bauernhof (in Menzingen, Kanton Zug) aufgewachsen, kümmert sich um «die schweizerische Kulturwahrung und Kulturwerbung». Angesichts der intensiven Propagandatätigkeit aller Grossmächte und insbesondere der vom Reich inszenierten raffinierten psychologischen Kriegsführung hat die sogenannte geistige Landesverteidigung eine Bedeutung erhalten wie nie zuvor in der Geschichte der Schweiz. Der strikte Katholik Etter galt einst als eifernder Kulturkämpfer, hat sich als Bundesrat gemässigt und wird wegen seiner umfassenden Bildung und seiner tiefen Heimatliebe geschätzt. Nicht zuletzt von Pilet, mit dem ihn die Liebe zur Literatur verbindet. Beide sind eingefleischte Föderalisten und gläubige Christen. Gerne unterhalten sich Pilet und Etter über philosophische und theologische Fragen und empfehlen sich gegenseitig Werke aus diesen Fachgebieten.

Der für die Finanzen zuständige Zürcher Ernst Wetter muss die durch die Mobilisation und die Zerrüttung des Welthandels entstandenen Mehrausgaben, das Bundesdefizit und die Inflation in erträglichen Grenzen halten. Er denkt sich Sparmassnahmen und neue Steuern aus, von denen er annehmen kann, dass sie sowohl von der Rechten wie von der Linken geschluckt werden. Als ehemaliger Handelslehrer kann er rechnen, als langjähriger Delegierter des «Vororts», wie der Schweizerische Handels- und Industrieverein gemeinhin genannt wird, hat er beste Beziehungen zu Zürcher Finanz- und Wirtschaftskreisen.

Für Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Lande, für die Sicherung der Rechte und Freiheiten des Bürgers ist theoretisch Justiz- und Polizeiminister Johannes Baumann verantwortlich, doch in der Praxis tut dies jetzt die Armee. Der brave frühere Landammann von Appenzell-Ausserrhoden hat nicht die Statur seines Vorgängers Heinrich Häberlin, des «Gewissens des Bundesrats». Baumann hat die undankbare Aufgabe, sich in Zensurfragen mit der vielgestaltigen, unabhängigen und oft kritiksüchtigen Presse herumzuschlagen. Die wichtige Flüchtlings- und Fremdenpolitik fällt in seinen Bereich, wird allerdings faktisch vom Leiter der Polizeiabteilung, dem dominanten Heinrich Rothmund, gemacht. In Fragen des Staatsschutzes vertraut er auf seine Chefbeamten, Bundesanwalt Stämpfli und Bundespolizeichef Balsiger.

Und Pilet, der Vorsteher des PED, des Post- und Eisenbahndepartements? Er hat seine Abteilungen minuziös auf den Krieg vorbereitet. Die Pläne für den Mobilisationsfall sind ausgearbeitet und können sofort in Kraft treten. Die Verwaltung von Post, Telefon und Telegraf, die in der Schweiz ohnehin besser funktionieren als anderswo, ist für den Ernstfall gewappnet. Massnahmen für eine vorsichtige Überwachung von Postsendungen und Telefongesprächen sind – mehr oder weniger heimlich und ohne solide Verfassungsgrundlage – bereits in Kraft. Die verschiedenen Ämter im Departement Pilet können auch mit einem wegen der Generalmobilmachung beschränkten Personalbestand ihre Aufgabe erfüllen. Auf den 2. September tritt provisorisch ein Kriegsfahrplan in Kraft. Pilet übernimmt die im Mobilmachungsfall vorgesehene Kontrolle des Radios, das in den letzten zehn Jahren als Unterhaltungs-, Informations- und vor allem auch Propagandamedium eine ungeahnte Bedeutung erlangt hat.

Der Schweizer Bundesrat ist eine Kollegialbehörde, und jedes Mitglied trägt für alle von ihm getroffenen Entscheide die Mitverantwortung. Mehr als seine Kollegen Bundesräte kümmert sich Pilet um die juristische und sprachliche Sauberkeit von Bundesratsbeschlüssen. Er misstraut allzu eifriger Betriebsamkeit und wird nicht müde, vor überstürztem Handeln zu warnen. Als Waadtländer Pragmatiker sucht er gangbare Lösungen, als eingefleischter Liberaler wehrt er sich gegen eine überflüssige Einmischung des Staats in das Privatleben des Bürgers.

In Pilets Notizen vom 3. September zu seinem persönlichen Gebrauch ärgert er sich über das «Fieber und den Totalitarismus des Generalstabs der Armee», die ihm schon am ersten Tag des deutschen Angriffs auf Polen aufgefallen sind. So wollte der Telegrafenchef der Armee «zweifellos im Auftrag des Unterchefs des Generalstabs Frick», dass die Verwaltung das wichtige Transitkabel Deutschland – Italien durch den Gotthard durchschneide. Haben die unbedarften Militärs denn keine Ahnung, was eine derartig drastische Massnahme wirtschaftlich und politisch bedeuten würde? Pilet befiehlt seinen Beamten, nichts ohne seine Zustimmung zu tun. Er telefoniert Minger, um Einwand zu erheben. Minger muss ihn enttäuschen: Die Armee befiehlt jetzt. Der Militärminister hat «nichts mehr zu sagen». Wenigstens kann Minger Pilet seinen Verbindungsoffizier Major Bracher schicken. Pilet erklärt Bracher, wieso die Durchschneidung des Kabels ein Fehler wäre, und sendet diesen zu Oberst Hans Frick. Mit Erfolg. Wenig später teilt Frick Pilet mit, dass er auf die Massnahme verzichte und «dass das Kabel wiederhergestellt sei». Wiederhergestellt? Pilet notiert spöttisch: «Der Arme: er glaubt, man hätte es durchschnitten!»

In den ersten Tagen nach der Mobilmachung widersetzt sich Pilet anderen unverständlichen Anordnungen oder Wünschen der Armeeleitung. So verlangt das Militär in Basel vierzig Eisenbahnwagen, um Schützengräben zu blockieren. Wissen die nicht, dass alles Rollmaterial gebraucht wird, um die aufgebotenen Truppen zu transportieren! Als Pilet tags darauf an der Bundesratssitzung die Geschichte den Kollegen erzählt, «heben sie die Hände zum Himmel».

Eine militärische Massnahme, die PTT-Generaldirektor Hans Hunziker und Pilet für unsinnig halten, ist das am 3. September verhängte Verbot aller privaten Telefongespräche mit dem Ausland. Schon am nächsten Morgen, einem Montag, klagen Gemüse-, Kohlen- und Getreideimporteure ebenso wie die Betreiber der Rheinschifffahrt, dass sie sich nicht telefonisch im Ausland über den Stand ihrer Transporte erkundigen können. Darauf hebt Hunziker auf eigenes Risiko das Verbot in vielen Fällen auf. Brieflich berichtet er am 6. September seinem Chef Pilet über die Schwierigkeiten, die das hastige Vorgehen der Armeestellen verursacht hat:

Man kann einem Korrespondenzmittel wie dem Telephon nicht ohne nachteilige Folgen Hindernisse in den Weg legen, wenn auf dem ganzen Netz in normalen Zeiten täglich 800 000 und in den Krisentagen, die wir durchleben, 1200 000 Kommunikationen ausgetauscht werden. Da wo militärische Interessen auf dem Spiel stehen, versteht jeder vernünftige Abonnent die auferlegten Einschränkungen – und billigt sie sogar –, aber wenn dies nicht der Fall ist, muss man extrem vorsichtig sein.

Hunziker fügt hinzu, man wundere sich in Mailand darüber, dass der Telefonverkehr zwischen dem nichtkriegführenden Italien und der neutralen Schweiz unterbunden sei, während man aus Italien problemlos via die Schweiz mit den Neutralen Belgien, Holland und sogar mit Grossbritannien, das im Krieg steht, telefonieren könne.

Dank dem Verständnis von Oberst Hasler, dem Chef der «Abteilung Presse und Funkspruch», werden die vom Armeekommando verhängten schädlichen Massnahmen bald wieder aufgehoben. Pilet wird den Militärs und ihrem oft voreiligen Vorgehen gegenüber misstrauisch bleiben.

Die Bundesräte sehen während des im Blitztempo ablaufenden Polenfeldzugs keine direkte Gefahr für die Schweiz. Am 11. September schreibt Bundespräsident Etter seinem mit Schmerzen im Bett liegenden Freund, dem mächtigen Luzerner Nationalrat Heinrich («Heiri») Walther, er solle sich schonen und der Septembersession fernbleiben:

Die Räte werden wahrscheinlich keine weltbewegenden Probleme wälzen. Aussenpolitische Fragen stehen kaum auf der Tagesordnung. Im übrigen gibt es für uns jetzt nichts anderes als ruhig abzuwarten, wie die Dinge auf den Kriegsschauplätzen sich weiter entwickeln. Dauert der Krieg lange, was wahrscheinlich ist, so werden wir erhebliche Schwierigkeiten in Kauf nehmen müssen, und unser Volk wird inbezug auf die Tragkraft seiner Opferbereitschaft auf eine harte Probe gestellt. Wir wollen hoffen, dass es sich bewähren wird. Psychologisch war es noch nie so gut vorbereitet wie heute. Aber wir werden dafür sorgen müssen, dass die Spannkraft erhalten bleibt.

3. Wie sich vor Spionage und Sabotage schützen?

Im April 1939, wenige Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei, lag auf dem Tisch des Bundesrats ein Entwurf einer «Verordnung über die Wahrung der Sicherheit des Landes». Sie sollte in Kriegszeiten Spionage und Sabotage bekämpfen. Im Bundesrat erinnerte man sich an die Zeit zwischen 1914 und 1918, als die Schweiz zu einem europäischen Agentennest geworden war. Mit Beunruhigung hatte man beobachtet, welche perfiden Methoden die Nazis in Österreich und der Tschechoslowakei anwandten, um diese Staaten auszulöschen. Der Bundesrat kannte auch die von Moskau gesteuerten Wühlereien der Kommunisten in Frankreich und Spanien. An der Notwendigkeit einer gegen Extremisten von links und rechts gerichteten Staatsschutzverordnung bestand «kein Zweifel».

So bat denn Bundespräsident Etter seinen Kollege Pilet, den vorgelegten Gesetzesentwurf genau anzuschauen. Pilet, zweifellos der beste Jurist im Bundesrat, war entsetzt über das, was das Militärdepartement ausgebrütet hatte. Am 26. April teilte er Etter in einem vierseitigen Brief seine Bedenken gegenüber den geplanten Staatsschutzmassnahmen mit. Seiner Meinung nach ging die Vorlage in den «Verpflichtungen, die sie den Einwohnern des Landes im Interesse der nationalen Verteidigung auferlegt, sehr weit». Er verstehe dies, glaube aber, dass «gewisse Grenzen nicht überschritten, gewisse Prinzipien respektiert und gewisse Missbräuche vermieden werden müssten.»

Pilet strich im Entwurf mit dem von ihm gerne verwendeten blauen Farbstift vieles durch und formulierte einige Artikel neu. Er wollte die Befugnisse der Armee beschränken und sicherstellen, dass die letzte Verfügungsgewalt beim Bundesrat bleibt:

Es scheint mir gefährlich vorzusehen, dass allein das Armeekommando die notwenigen Massnahmen für die Sicherheit des Landes ergreift. Das Armeekommando ist hauptsächlich für den Krieg, für die militärischen Operationen da, es ist nicht da, um Ruhe und Ordnung im Land aufrechtzuerhalten, ausser es werde von den verantwortlichen zivilen Behörden dazu aufgefordert.

Zum Schluss seines Briefs an den Bundespräsidenten wünschte Pilet, dass der vom Militärdepartement vorgelegte Entwurf vom Justiz- und Polizeidepartement und vom Gesamtbundesrat einer genauen Prüfung unterzogen werde. In der gegenwärtigen Form wäre es für ihn «mehr als schwierig» ihm zuzustimmen. Da keine Eile geboten war, wurde das Projekt im April auf die Seite gelegt.

Vier Monate später, am 2. September, kommt der Verordnungsentwurf «Wahrnehmung der Sicherheit des Landes» erneut vor den Bundesrat. Jetzt soll alles schnell gehen. Schriftlich warnt Pilet Bundespräsident Etter:

Ich habe die Ehre, Ihnen zu bestätigen, dass ich dieses Projekt für unannehmbar halte. Es zu verabschieden, wäre eine politische Verirrung, die uns bald grosse Schwierigkeiten bereiten würde.

Er schickt Etter ein eigenes Projekt mit einer Liste von Abänderungsvorschlägen. Der Waadtländer meint, es bestehe keine Notwendigkeit, die Verordnung sofort zu erlassen. Das Justiz- und Polizeidepartement solle zuerst noch einmal «die Sache sehr aufmerksam prüfen».

Die Hauptarbeit an der endgültigen Abfassung der Staatsschutzverordnung übernimmt Professor Walther Burckhardt, ein eminenter Staats- und Völkerrechtler. Schon als Jus-Student hat Pilet den weisen Rechtsgelehrten bewundert. Er teilt Burckhardts Ansichten über das Völkerrecht, über das Wesen und die Rolle der Schweiz, und geht auch in Einzelfragen mit ihm einig. So etwa misstrauen beide dem Proporzwahlsystem und ziehen den Majorz vor.

Wenn der Bundesrat von seinem «Kronjuristen» Burckhardt etwas will, dann ist dieser zur Stelle. Wie er einmal sagte:

Welch traurige Figur macht der gelehrte Jurist, der über alle Verschnörkelungen eines vielleicht verfehlten Gesetzbaues Bescheid weiss, aber stumm bleibt, wenn man ihn fragt, was das Gesetz denn wert sei und wie es verbessert werden könne!

Am 5. September schreibt Burckhardt dem «hochgeachteten Herr Bundesrat» Pilet:

Darf ich Ihnen hier, mit einigen erläuternden Bemerkungen, den Entwurf einer Sicherheitsverordnung schicken, wie man sie am ehesten redigieren könnte. Dass ich nicht ganz überzeugt bin von der Notwendigkeit einer solchen Verordnung und von der Vortrefflichkeit aller ihrer Bestimmungen, habe ich in den beiliegenden Bemerkungen schon gesagt. Dass ich meine Vorschläge, mangels Zeit, nicht gründlich überlegen konnte, brauche ich nicht zu sagen.

Burckhardt hat seine «Bemerkungen» auf sechs maschinengeschriebenen A3-Seiten festgehalten und handschriftlich korrigiert. Das Dokument zeugt von der Gewissenhaftigkeit, mit welcher der 68-jährige Burckhardt seinen Gegenentwurf ausgearbeitet hat.

«Da ich dich telefonisch nicht erreichen konnte», schickt Pilet den Entwurf Burckhardts per Feldpost Oberst Logoz. Prof. Paul Logoz ist der juristische Berater des Armeekommandos, das eben nach Spiez übersiedelt ist. Er und Pilet kennen sich seit langem. 1928 hatten die Sozialdemokraten bei der Bundesratswahl den parteiunabhängigen Logoz als Gegenkandidat des Radikalen Pilet unterstützt. Nach der Wahl war Logoz spontan zu Pilet gegangen und hatte seinem siegreichen Gegner herzlich die Hand geschüttelt.

Logoz schlägt vor, den Entwurf Burckhardts noch einem pénaliste vorzulegen. Prof. Ernst Hafter, ein anerkannter Strafrechtler, arbeitet zusammen mit Logoz und Oberauditor Trüssel eine definitive Fassung aus. An einer Konferenz, an der Hafter, Logoz, Burckhardt, Oberauditor Trüssel und Bundesanwalt Stämpfli teilnehmen, wird der Text der Verordnung bereinigt. Bundeskanzler George Bovet gibt der französischen Fassung den sprachlichen Feinschliff. Pilets Vorstoss bei Bundespräsident Etter hat sich gelohnt. Die Vorlage ist nun «in Ordnung».

Am 22. September verabschiedet der Bundesrat den Entwurf und am gleichen Tag erhält die Presse ein erklärendes Communiqué. Erhaltene handschriftliche Notizen – mit Streichungen und Korrekturen – zeigen, dass Pilet die bundesrätliche Mitteilung verfasst hat. Gleich zu Beginn des Communiqués steht eine Bemerkung, die das Denken Pilets illustriert:

Angesichts der gegenwärtigen Lage wird jedermann die Notwendigkeit [der Verordnung] einsehen, selbst wenn er mit lebhaftem Bedauern feststellt, dass unsere freiheitlichen Gewohnheiten vorübergehend eingeschränkt werden. Das Wohl der Allgemeinheit fordert heute eine Begrenzung von Persönlichkeitsrechten, die nur unter normalen Verhältnissen gefahrlos ausgeübt werden können.

Pilet ist es auch – nicht Minger oder Baumann, in deren Departemente die Verordnung eigentlich gehört –, der an einer Pressekonferenz die erlassenen Massnahmen erläutert und die Journalisten beruhigt:

Die guten Bürger haben nichts zu befürchten. Die verdächtigen Elemente werden unter Kontrolle gehalten.

Die Presse begreift das Vorgehen des Bundesrats, allerdings mit Vorbehalten. Der Chefredaktor der Basler Nachrichten, Nationalrat Albert Oeri, stellt fest, dass keine «einzige Massnahme» während der letzten Weltkriegszeit so weit gegangen ist wie in dem neuen Erlass. Oeri misstraut den «zuständigen militärischen Stellen» und meint, Artikel 1 statuiere «die Diktatur der Militärgewalt».

In der Tribune de Genève beruhigt ihr Berner Korrespondent Léon Savary seine welschen Freunde, die in der Verordnung bereits die Inquisition wittern:

Die Verfügung sieht natürlich strenge Massnahmen vor, aber sie richten sich nur gegen die Spione, die Agenten der ausländischen Propaganda, die dubiosen Emissäre, die auf neutralem Gebiet zwischen den Pflastersteinen spriessen, sobald es Krieg gibt.

Savary hat das Gefühl, die Militärs erhielten «ein wenig allzu weite Kompetenzen». Um Überwachungen durchzuführen und Untersuchungen zu leiten, seien die zivilen Behörden mit ihrer darin geübten Polizei besser geeignet. Der vermutlich von Pilet selber eingeweihte Savary verrät seinen Lesern in diesem Zusammenhang noch ein Geheimnis:

Aber es scheint, dass ein Sonderdienst geschaffen werden wird, um generell die Aufgabe der Spionageabwehr zu übernehmen, und dass ein gut bekannter und unbestritten kompetenter Fachmann sie leiten wird. Tant mieux.

Ein geheimer Bundesratsbeschluss hat sofort nach der Mobilmachung den Spionageabwehrdienst, SPAB, wie man ihn nennen wird, ins Leben gerufen und seine Führung dem mit Pilet eng befreundeten Waadtländer Polizeikommandanten, Oberst Robert Jaquillard, übertragen. Jaquillard wird seine Aufgabe in Zusammenarbeit mit den andern kantonalen Polizeichefs derart diskret erfüllen, dass ausserhalb der Waadt kaum jemand seinen Namen kennt. (Jaquillard hat bis zum heutigen Tag nicht einmal Einzug ins Historische Lexikon der Schweiz gefunden.) Jaquillard und Pilet waren früher im selben Regiment Bataillonskommandanten und duzen sich. Jaquillard wird als Chef der Gegenspionage Dinge erfahren, die auch Bundesräten verborgen bleiben. In den folgenden vier Jahren wird er es nicht unterlassen, seinen Freund Pilet regelmässig über trübe Vorgänge auf dem Laufenden zu halten – nicht zuletzt über gegen ihn persönlich gerichtete Intrigen.

Die Staatsschutzverordnung, die Professor Walther Burckhardt verfasst hat, ist jetzt in Kraft. Der Berner Ordinarius hat der Eidgenossenschaft zum x-ten Mal einen wertvollen Dienst erwiesen. Es wird sein letzter sein. Nachdem er sein Leben lang für die Völkerverständigung gekämpft hat, lässt ihn der Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung verzweifeln. Er, der sich der deutschen Kultur verbunden fühlt, verabscheut den Nationalsozialismus und muss jetzt ohnmächtig zusehen, wie Hitler die westliche Zivilisation in den Abgrund zu stürzen droht. Seine vor ein paar Monaten verstorbene Frau fehlt ihm. Er besucht seinen Sohn, der in den Bergen Militärdienst leistet. Anfang Oktober hält Prof. Burckhardt für einen vom Tod früh aus dem Leben gerissenen begabten Studenten die einfühlsame Grabesrede.

Zwei Wochen später holt der zunehmend Vereinsamte und Verzweifelte seine Armeepistole aus der Schublade, verzieht sich in das Putzkämmerlein und gibt sich den Tod.

4. Tücken der Zensur

Am Samstag, 2. September, besprach der Bundesrat in einer dringlichen Sitzung ein vom Militärdepartement vorgelegtes Projekt zur Kontrolle «von Nachrichten und Äusserungen insbesondere durch Post, Telegraph, Telephon, Presse, Nachrichtenagenturen, Radio und Film zu überwachen». Angegebener Zweck der geplanten Massnahmen ist die «Aufrechterhaltung der Neutralität», weshalb Pilet das Ding «Neutralitätsverfügung» nennt.

Pilet hatte das Gefühl, die von der Armee gewünschte Zensurvorlage «ersticke alles», sei «une aberration». Auf seinen Antrag hin verschob der Bundesrat den Entscheid. Die Kollegen gaben ihm Zeit, ein Gegenprojekt auszuarbeiten.

Wie im Fall der Staatsschutzverordnung schlug Pilet Änderungen vor, die er wiederum Oberst Logoz übermittelte. Der juristische Berater der Armee teilte auch hier die Auffassung des Waadtländer Bundesrats, der sich notierte:

Sehr liebenswürdig verspricht er [Logoz], uns zu helfen, dem ‹militaristischen› Clan Widerstand zu leisten und sich zu meiner Verfügung zu stellen, wenn er mir nützlich sein kann.

Pilet konsultierte weitere Juristen. Zum Schluss einigte er sich mit dem Zensurbeauftragten des Armeekommandos, Oberst und Bundesrichter Hasler, auf eine neue Fassung, welcher der Bundesrat diskussionslos zustimmte. Der Bundesbeschluss über die Zensur tritt am 8. September in Kraft.

Pilet hat sich im Laufe Zeit beträchtliche staatsrechtliche Kenntniss erworben. Auch in diesem Fall ist es dem Juristen Pilet gelungen, den Text substanziell zu verbessern und die Stellung des Bundesrats gegenüber dem Armeekommando zu stärken. Die von ihm durchgesetzte Hauptänderung betrifft die Vorzensur, deren Erlass nicht mehr im freien Ermessen des Armeekommandos liegt, sondern «nur mit Ermächtigung des Bundesrats verfügt werden» kann.

Der Erlass führt ein Beschwerderecht ein. Wer sich von der Überwachungsstelle ungerecht behandelt fühlt, kann bei einer Rekurskommission Einspruch erheben. Vorsitzender ist ein Bundesrichter. Ihre Mitglieder sind geachtete Persönlichkeiten aus allen politischen Lagern. Auch zwei Sozialdemokraten sind in der Kommission: Regierungs- und Nationalrat Ernst Nobs und Prof. Max Weber, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Beide betätigen sich publizistisch und verstehen etwas vom Pressewesen. Es sind gradlinige, patriotische Politiker. Pilet kennt und schätzt sie. Nobs wird 1943 als erster Sozialdemokrat in die Landesregierung gewählt und Weber 1951 dessen Nachfolger als Bundesrat.

Die von zur Überwachung von Presse, Radio, Telegraf, Telefon, Post, Buchhandel und Film eingesetzte «Abteilung für Presse und Funkspruch» wird von Bundesrichter Oberst Eugen Hasler kommandiert. Das Departement Pilet ist für die Kontrolle von Telefongesprächen, Telegrammen, Postsendungen und Radioprogrammen zuständig. Die bestehende Überwachung von Telefonaten, Briefen und Paketen wird erweitert und verschärft. An der Praxis ändert sich wenig. Die Überwachungsarbeit liegt weiterhin bei Mitarbeitern der PTT-Verwaltung. Die Protokolle von abgelauschten Telefongesprächen gehen zum Chef der Telegrafendirektion Dr. h.c. Alois Muri. Muri leitet Kopien von Berichten, die er für brisant hält, an Pilet weiter. Oft fügt er mit Rotstift kleine, manchmal ironische Randbemerkungen hinzu.

Als Oberst Hasler Pilet schriftlich über die von der Armeeleitung verfügten neuen Zensurmassnahmen für die Briefpost und den Telegrammverkehr benachrichtigt, legt Pilet sein Veto ein. Solche Massnahmen dürften nur mit seinem, Pilets Einverständnis erlassen werden:

Aus den Gründen, die ich Ihnen mündlich genannt habe, habe ich momentan nicht die Absicht, die mir zukommenden Kompetenzen zu delegieren.

Für Telefon, Telegraf und Radio sei die Lage geregelt. Für die Post im eigentlichen Sinne will Pilet sich an die Bestimmungen des Postgesetzes von 1924 halten: «Dies soll genügen.»

Besondere Bedeutung kommt der Beaufsichtigung des Radios zu. Das Radio – das deutsche Wort «Rundfunk» ist in der Schweiz verpönt – hat einen schwindelerregenden Aufschwung erlebt. Die Zahl der Radiohörer im Inland hat sich vervierfacht – aus 150 000, die 1930 für ihre Empfangskonzession Gebühren zahlten, sind 1939 fast 600 000 geworden. 80 Prozent der Haushalte haben einen Empfänger, bei dem es sich meist um ein massives, kunstvoll gefertigtes Möbelstück handelt. Die Besitzer sind stolz auf ihren teuren Apparat. Wenn in der Deutschschweiz um 12.30 Uhr nach dem «Zeitzeichen aus Neuenburg» die Mittagsnachrichten gesendet werden, läuft in den Wohnstuben das Radio, und die Familie schweigt. Dann wird in den Wirtschaften auf den Einstellknopf gedrückt. die Die Gäste spitzen die Ohren.