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Stefan Hohler

13 Mordfälle

und eine Amour fou

Die spannendsten Kriminalfälle
des Tages-Anzeiger Polizeireporters

Impressum

© 2. Auflage, 2019, Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Liebefeld

Umschlagsbild:

Simon Eppenberger

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Garamond Pro, Artegra Sans

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend, holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck bläulichweiss, 1,75-fach, holzfrei

ISBN 978-3-907146-48-4

www.muensterverlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Moorleiche

Kopfschuss

Hanfpapst

Sadist

Salmiakgeist

Amnesie

Vierfachmord

Junkies

Vatermord

Spurlos verschwunden

Nebenbuhler

Exekution

Escortgirl

Flucht

Nachwort

Dank

Vorwort

Von Marco Cortesi

Ein Kapitalverbrechen wie ein Tötungsdelikt ist glücklicherweise auch für mich als langjährigen Medienchef der Stadtpolizei Zürich nicht alltäglich. Wenn ich zu so einem Ereignis gerufen werde, ist auch bei mir immer noch eine gewisse Anspannung vorhanden. Was erwartet mich, wie sieht es vor Ort aus? Müssen jetzt bereits erste Massnahmen eingeleitet werden? Während der Fahrt erhalte ich laufend weitere detaillierte Informationen von der Einsatzzentrale zum Ereignis. Das führt dazu, dass Szenen oder Bilder, die ich bereits gesehen oder erlebt habe, in mir aufsteigen.

So zum Beispiel der Fall Günther Tschanun, der als Chef der Zürcher Baupolizei 1986 vier seiner leitenden Angestellten erschoss. Damals war ich noch Aspirant und weit weg von der brutalen Wirklichkeit. Vier Jahre später, als ein Mann im Restaurant Strohhof in der Zürcher Innenstadt um sich schoss und dabei Menschen tötete beziehungsweise schwer verletzte, hatte ich erstmals einen polizeilichen Auftrag an einem «grossen» Tatort. Dabei kam es auch zu ersten Kontakten mit Medienschaffenden. Der Tatort wurde abgesperrt und verhindert, dass Unbeteiligte sich dem Restaurant näherten. Eine Medienzone wurde eingerichtet und wartende Journalisten betreut, bis der damalige Medienchef Bruno Kistler erste Informationen preisgab. Obwohl ich als Streifenwagenpolizist nur von weitem zuschauen konnte, spürte ich die gedrückte aber spannungsgeladene Stimmung hinter den Absperrbändern. Alle starrten gebannt zum Strohhof. Spekulationen und Gerüchte machten die Runde und einzelne Radioreporter eilten zum nahen Paradeplatz, um in einer Telefonkabine die «ersten Erkenntnisse» an die Redaktion weiterzuleiten.

Einige Jahre später, inzwischen war ich bereits Medienchef bei der Stadtpolizei Zürich, kam es im Sommer 2004 am Tessinerplatz zu einem Amoklauf mit grossem Aufsehen. Ein ZKB-Angestellter erschoss seine beiden Vorgesetzten und beging Selbstmord. Innerhalb von 10 Jahren hatte sich die Medienwelt stark verändert. Damals berichtete Tele Züri bereits mit einem Spezialfahrzeug in einer Livesendung direkt vor Ort. Viele Medienschaffende waren mit grossen Kameras und Fotoapparaten mit leistungsstarken Zoomobjektiven unterwegs und die Radioreporterinnen und -reporter konnten mit Mobiltelefonen direkt in die Redaktionen telefonieren. Radio 24 berichtete live und ich war der Meinung, schneller geht’s bestimmt nicht mehr.

Auch heute rufen solche Ereignisse selbstverständlich immer noch eine grosse Medienschar auf den Platz. Insbesondere, wenn die Tat im öffentlichen Raum geschah. Innert Minuten kursieren heute bereits Push-Meldungen, erste Bilder, Spekulationen und Fake-News im Netz, bevor die Polizei vor Ort ist und sich selbst einen Überblick verschaffen konnte. Hier beginnt das Infotainment. Action und Unterhaltung ist gefragt. Dies hat zur Folge, dass der Mediendienst sofort mit telefonischen Anfragen überhäuft wird, obwohl auch in der modernen Zeit, die Fakten nicht schneller als früher vorliegen. Was ist passiert? Wer ist schuld? Wie konnte das geschehen? Warum wurde es nicht verhindert? Was macht die Polizei nun? Wie geht es weiter?

Derweil stelle ich mir immer wieder dieselben Fragen: «Schnell vor Richtig?», «Transparenz oder Datenschutz?», «Hypothese oder Tatsache?», «Sensations- oder Faktenjournalismus?». Dass Medien und Öffentlichkeit nach spektakulären Ereignissen gieren und sofort detaillierte Informationen verlangen, ist verständlich. Im Zeitalter von News-Rooms, Twitter, Instagram, Facebook und anderen Social-Media-Kanälen ist der Informationsfluss noch viel schneller geworden. Jetzt, sofort, subito! News ohne Rücksicht auf «Verlust». Heute geht es um Klicks, das bringt Werbegeld und Anerkennung im Team, ist cool und in.

Die Medienschaffenden möchten Informationen und zwar so rasch wie möglich. Da sind alle in Uniform «herumwuselnden» Personen als Ansprechpersonen recht. Vielleicht bekommt man ja von jemandem einen Tipp oder eine Information, die noch niemand erhalten hat.

Absperrungen haben für Einzelne nur wegweisenden Charakter. Man könnte doch sicher noch etwas näher an den Ereignisort heranpirschen, um bessere Bilder oder spannendere Infos zu bekommen. Alle wollen den Primeur, die Ersten sein, die alles wissen um eine Push-Meldung absetzen zu können.

Einer der sich da anders verhält, ist Stefan Hohler. Bei ihm spielt der sonst oft vergessene Faktor Mensch eine wichtige Rolle. Er ist einer der beim «Hypermodus», welcher in den Redaktionen nach Grossereignissen ausbricht, nicht mitmacht. Er ist sich bewusst, dass hinter den tragischen Geschichten immer Menschen mit deren persönlichen Schicksalen stehen. Trotz Smartphone, Online- und Push-Meldungen und den von den Medien herangezüchteten Leser-Reportern, die in rasantem Tempo Bilder und Informationen in Umlauf bringen, arbeitet er gelassen und leise, aber akribisch im Hintergrund, um mir wenig später die richtigen, wichtigen und schwierigen Fragen zu stellen. Er entzieht sich dem Drang, sensationelle Informationen exklusiv und rasch an die Leser zu bringen und arbeitet wie wir nach dem Motto: «Richtig vor Schnell».

Stefan Hohler bevorzugt es, fundierte Recherchen zu publizieren und scheut sich auch nicht davor, bei politisch heiklen Themen mit spitzer Feder seine persönliche Meinung in Form eines Kommentars darzulegen, nachzuhaken, wenn etwas unklar ist, aber auch mal einen Schritt zurückzustehen und die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen.

Durch diese professionelle, ruhige, überlegte Vorgehensweise zeichnet sich der Buchautor aus, und er ist dennoch oder gerade deswegen stets auf der Höhe des Geschehens. Er ist ein Reporter, der zuerst reflektiert und dann berichtet. Darum erhält er nicht nur in Polizei- und Justizkreisen, sondern auch von Politikern und Medienschaffenden grosse Wertschätzung.

Marco Cortesi, Leiter Mediendienst Stadtpolizei Zürich

Einleitung

In den 15 Jahren, die ich beim Zürcher Tages-Anzeiger als Polizei- und Gerichtsreporter tätig war, habe ich über Hunderte von Prozessen und unzählige Unfälle und Verbrechen berichtet. Dabei erhält man einen Einblick in menschliche Abgründe, die einem sonst verschlossen sind. Vor Gericht erhalten die Täter, die bislang der breiten Öffentlichkeit meist unbekannt waren, erstmals ein Gesicht. Während des Prozesses wird das Delikt auch aus ihrer Optik beschrieben, die oft diametral zur Anklageschrift steht.

In meinem Buch stelle ich 13 Mordfälle vor, eine Auswahl der spektakulärsten Fälle. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Vierfachmord von Rupperswil. Dieses brutale Verbrechen hat landesweit für Entsetzen gesorgt und auch mich von all den in den letzten Jahren erlebten Fällen weitaus am meisten erschüttert. Der vierzehnte Fall ist eine verrückte Liebesgeschichte, eine Amour fou, die von der Flucht einer Gefängnisaufseherin mit einem Häftling erzählt.

Die Texte basieren auf eigenen Unterlagen, Gerichtsakten sowie eigenen und fremden Zeitungsartikeln. Die meisten beginnen mit einem szenischen Einstieg, bei dem ich mir eine gewisse journalistische Freiheit erlaubt habe. Dann aber halte ich mich an die realen Aussagen der Beschuldigten, Angehörigen, Staatsanwälte oder Richter. Einzig beim Kapitel über den Vierfachmord in Rupperswil habe ich mich nur chronologisch an den Tatverlauf gehalten. Abschluss der blutigen Artikelserie ist ein unblutiges Thema: die dramatische Flucht des Ausbrecherpärchens aus dem Gefängnis Limmattal in Dietikon nach Italien.

Die Namen von Opfern und Tätern im Buch habe ich geändert, ausser die in den Medien bereits namentlich erwähnten Personen: Céline Franck (Kopfschuss), Robert Frommherz (Hanfpapst), Ladarat und Mike A. (Sadist), Thomas N. und seine vier Opfer (Vierfachmord), Mario Filardi (Junkies), Gino Bornhauser (Spurlos verschwunden) sowie Angela Magdici und Hassan Kiko (Flucht).

Bis auf das letzte Kapitel der Amour fou handelt es sich bei den beschriebenen Fällen um Tötungsdelikte. Das Schweizerische Strafgesetzbuch (StGB) qualifiziert sie verschieden, die wichtigsten Tötungsdelikte sind:

Vorsätzliche Tötung: Die meisten Tötungsdelikte fallen unter diese Kategorie. Die Minimalstrafe liegt nicht unter fünf Jahren, die Maximalstrafe beträgt 20 Jahre.

Mord: Für die Mordqualifizierung muss der Täter besonders skrupellos und verwerflich bezüglich Tatmotiv, Zweck der Tat oder Tatausführung gehandelt haben. Das Strafmass liegt zwischen zehn Jahren und einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe; Lebenslänglich bedeutet, dass eine bedingte Entlassung nach 15 Jahren möglich ist. Sie kann aber grundsätzlich bis zum Ableben des Täters vollzogen werden.

Totschlag: Hier muss der Täter in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung gehandelt haben. Das Strafmass liegt zwischen einem und zehn Jahren. Entschuldbar muss nicht die eigentliche Tötung, sondern die Gemütsbewegung oder die seelische Belastung sein.

Weitere Tötungsdelikte sind: Tötung auf Verlangen, Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord, Kindestötung, sowie fahrlässige Tötung.

Moorleiche

Mit Schlagzeilen wie «Die Moorleiche» oder «Die Tote vom Katzensee» hat ein Tötungsdelikt im April 2010 in der Öffentlichkeit für grosses Aufsehen gesorgt. Die Klärung des Falls ist ein Meisterwerk der Forensik. Die Arbeit der Kriminaltechniker erinnert an die TV-Serie «CSI - Crime Scene Investigation».

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Den 1. Mai, den Tag der Arbeit, nimmt Alfred Sennhauser wörtlich: Der selbständige Pensionskassenberater und Mathematiker arbeitet und wälzt Akten bis am Abend. Auf der Heimfahrt mit dem Auto von Zürich zu seiner Wohnung in einer Vorortsgemeinde kommt er am Katzensee vorbei, einem Naturschutzjuwel im Norden der Stadt. Sennhauser will nach diesem anstrengenden Tag vor dem Nachtessen in einem Restaurant noch schnell die Beine vertreten und ein wenig frische Luft schnappen. Diesen Entscheid wird der 50-Jährige in den nächsten vier Wochen noch unzählige Male bereuen.

Sennhauser parkiert den Wagen beim Hänsiried, einem Flachmoor, das an den Katzensee angrenzt und nur auf ausgeschilderten Wegen betreten werden darf. Gedankenversunken schlendert er durch die Riedlandschaft. Schmale Trampelwege führen in die Moorlandschaft hinein zu den inzwischen abgerissenen Wochenendhäuschen. Er geniesst die idyllische Abendstimmung mit quakenden Fröschen und Seerosen bedeckten Tümpeln. Plötzlich bleibt Sennhauser wie angewurzelt stehen. Er traut seinen Augen nicht: Da liegt eine Schaufensterpuppe im Tümpel. Unglaublich was die Leute alles entsorgen, ärgert er sich. Als er sich dem Tümpel nähert, zuckt er zusammen: Das ist ja keine Puppe, das ist eine Leiche! Nur der Oberkörper ragt aus dem Wasser, bekleidet mit einem Sweatshirt. Die auf dem Rücken liegende Tote ist schon stark verwest. Der rechte Arm ist nach hinten gedreht, der Kopf ruht auf der Hand. Der linke Arm umfasst einen Birkenstamm, der über ihrem Körper liegt. Weitere Äste und Schilfhalme bedecken den Rumpf. Zusätzlich ist der Körper mit einer Metallstange beschwert – einer so genannten Kardanwelle (Antriebswelle) eines Autos.

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In der Sendung «Einstein» im April 2015 von SRF wurde über die Spurensicherung der Polizei beim Mordfall am Katzensee berichtet.

Sennhauser alarmiert die Polizei, die mit einem Grossaufgebot ausrückt: Spurensicherung, Staatsanwalt, Rechtsmediziner und weitere Spezialisten. Der Pensionskassenberater, der zuhause jeweils mit Vergnügen die amerikanische Gerichtsmediziner-TV-Sendung «CSI, den Tätern auf der Spur» schaut, ist in seinem Element. Er erklärt den Polizisten, dass die Frau sicher schon seit einem Monat tot sein müsse, denn darauf deute der Verwesungsgrad. Eine Aussage, die sich als wahr erweist. Der Hobbyermittler bricht nun aus ihm heraus und scherzhaft meint er: «Ich könnte auch der Mörder sein, der zum Tatort zurückkehrt.» Diese und weitere Spekulationen machen die Polizisten misstrauisch. Die Handschellen klicken, und Sennhauser wird als Tatverdächtiger abgeführt. Erst knapp einen Monat später wird er aus der Untersuchungshaft entlassen. Zwar wird er finanziell entschädigt, ärgert sich aber über die lange Haftdauer.

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Einen knappen Monat zuvor, am Morgen des 4. April, stand ein junger Mann in Kroatien am Busbahnhof in Zagreb und wartete auf seine Mutter aus Zürich. Doch Samira Maric tauchte nicht auf. Der Sohn erkundigte sich beim Busunternehmen, aber ihr Name stand auch nicht auf der Passagierliste. Er versuchte sie anzurufen, aber die Mutter konnte den Anruf nicht entgegennehmen: Denn die 49-jährige Bosnierin war tot. Der Sohn aus erster Ehe wollte die Mutter abholen und mit ihr in die knapp 200 Kilometer entfernte Stadt Banja Luka in Bosnien fahren. Dort wohnte Samira Marics Familie. Doch die Mutter, welche in Zürich in einem Postverteilungszentrum Briefe und Pakete sortierte, wollte nicht nur ihre Familie besuchen, sie hatte auch einen Gerichtstermin. Auf den 6. April war die Scheidungsverhandlung im örtlichen Bezirksgericht angesetzt. Samira Maric wollte sich von ihrem Mann trennen – sie hatte seine ständigen Frauengeschichten satt. Wann Samira Maric starb, ist nicht bekannt, vermutlich am Nachmittag des 3. April. Denn um 19 Uhr war der Reisebus beim Zürcher Busbahnhof nach Zagreb abgefahren – ohne sie. Das letzte Mal hatte Samira Maric am Abreisetag um 15 Uhr noch mit einem Onkel telefoniert und erzählt, dass sie mit ihrem Mann heftig gestritten habe. Dieser habe ihr gedroht, dass sie nicht mehr lebend zurückkehren werde. Nach 19 Uhr, der fahrplanmässigen Abfahrtszeit des Reisebusses, war sie auf dem Handy nicht mehr erreichbar. Was in den vier Stunden passierte, weiss nur ihr Mörder.

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Seit Stunden brütet der Staatsanwalt über der Anklageschrift. Der erfahrene Untersuchungsrichter hatte schon Hunderte von Anklageschriften verfasst. Aber ein solcher Fall wie jener der getöteten Samira Maric war auch für ihn Neuland. Keine Fakten, bloss Vermutungen. Die einzige Gewissheit war, dass es sich bei der Toten wirklich um Samira Maric handelte, dies hatte die DNA-Analyse bestätigt. Der Staatsanwalt weiss, eine Anklageschrift muss möglichst kurz und präzise Tatort, Tatzeit und Todesart umschreiben. Dies verlangt die Strafprozessordnung, damit der Angeklagte weiss, wogegen er sich verteidigen muss. Der Staatsanwalt ist überzeugt, dass der Verteidiger die lückenhafte Anklageschrift erbarmungslos zerzausen wird, denn diese ist der Schwachpunkt. Ein Trost bleibt ihm: In der Vergangenheit gab es einen ähnlichen Fall. Gabor Bilkei, ein Tierarzt aus Dübendorf hatte seine Ehefrau Heike 1996 umgebracht. Die Leiche wurde nie gefunden, der abgetrennte Kopf erst ein Jahr später. Der Tierarzt bestritt die Tat zwar vehement, trotzdem wurde er in einem Indizienbeweis vom Geschworenengericht wegen vorsätzlicher Tötung zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl Ort, Zeit und Handlung der Tat nicht genau bestimmbar gewesen waren, wurde die Anklageschrift vom Bundesgericht dennoch akzeptiert.

Im Fall der Moorleiche Samira Maric waren Tatzeit, Tatort und Todesart ebenfalls unbekannt. Wann die Frau gestorben war, konnte der Rechtsmediziner nicht mehr eruieren. Aufgrund der Verwesungsspuren musste sie beim Auffinden schon einige Wochen tot gewesen sein. Als Tatort vermutet der Staatsanwalt die eheliche Wohnung am Stadtrand von Zürich. Das dritte Rätsel war die Todesart. Die Obduktion der Leiche hatte keine Hinweise auf schwere Gewalteinwirkungen ergeben. Die Rechtsmediziner fanden weder eine Erkrankung noch Gift- oder Alkoholspuren in ihrem Körper. Vermutlich war sie erstickt worden. Der Staatsanwalt schloss auch einen Selbstmord oder einen Unfall aus. Denn die Frau lag nur mit einem BH und einem Sweatshirt bekleidet im ungefähr ein Meter tiefen Wassertümpel und war mit einem Baumstrunk, mit Ästen und einer Autokardanwelle bedeckt. Zudem fanden Polizeitaucher bei der Bergung des toten Körpers zwei Gartenplatten aus Zement, die ebenfalls der Beschwerung dienten. Obwohl der Körper mit diesen Gegenständen bedeckt war, gelangte die Leiche wieder an die Wasseroberfläche – durch die Gase des Verwesungsprozesses.

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Zoran Novak ist kein Mensch, den man als Sympathieträger bezeichnen würde. Der 51-jährige serbisch-schweizerische Doppelbürger ist Taxifahrer und war früher während 18 Jahren als Chauffeur bei den städtischen Verkehrsbetrieben tätig. Da er mehrmals mit dem Handy in der Hand am Bussteuer erwischt und schon früher wegen disziplinarischer Verfehlungen verwarnt wurde, musste er seinen Job aufgeben und wurde Taxifahrer. Auch privat lief es in der Ehe mit seiner Frau Samira nicht rund. Häufig gab es zwischen den beiden Streit, vor allem wegen Geld und seiner Untreue. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu seiner dritten Scheidung käme. Eine solche hätte für ihn allerdings Konsequenzen gehabt: Er hätte einen Teil seiner drei Häuser verloren, die er im Laufe der Zeit erworben hatte. Darunter auch das Reiheneinfamilienhaus am Stadtrand, in dem das Paar unweit des Tatorts wohnte. Hierin sah der Staatsanwalt auch das Tatmotiv, seine «fast krankhafte Gier nach Geld und Besitz». Dass es in der Ehe von Samira Maric und Zoran Novak kriselte, war auch der Polizei nicht verborgen geblieben. Denn während die Angehörigen in Bosnien sich grosse Sorgen machten, weil Samira Maric am Morgen des 4. Aprils nicht in Zagreb ankam, war Zoran Novak gänzlich unbesorgt. Erst auf wiederholtes Drängen der Angehörigen, machte er sich am nächsten Tag auf den Weg zur Polizei, um seine Frau als vermisst zu melden. Und während die aufwendigen Suche lief, rief er sie kein einziges Mal auf dem Handy an.

Novak kam als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft. Dort stritt er jegliche Schuld ab, so dass es zu einem reinen Indizienprozess kam – kein Zeuge hatte die Tat gesehen oder etwas Verdächtiges gehört. Der Staatsanwalt musste das Gericht anhand eines Indizienmosaiks von der Schuld des Ehemannes überzeugen. Vielfach ist auch von einer Indizienkette die Rede, ein Begriff, der den Sachverhalt nicht genau erfasst. Denn bricht ein Glied aus dieser Kette, gehen hintere Teile der Kette verloren. Die (Indizien)-Kette ist unvollständig. Im Gegensatz dazu gibt ein Mosaik oder Puzzle ein Gesamtbild, auch wenn einzelne Teile fehlen. So ist eine bekannte Persönlichkeit in einem Mosaik zu erkennen, auch wenn im Gesicht noch Löcher sind.

Die «Moorleiche vom Katzensee» war ein Schulbeispiel der Forensik. Der Staatsanwalt listete rund ein Dutzend «harte» und «weiche» Indizien auf. Bei den «harten» Indizien spielten zwei alte Zementplatten, die im Wassertümpel gefunden wurden, die Hauptrolle. Es handelt sich um zwei Jahrzehnte alte Gartenplatten, mit denen der Täter die Leiche im Wasser beschwert hatte. Sie waren in einen Holzrahmen gegossen, dessen Unterlage eine Ausgabe des Tagblatts der Stadt Zürich vom 2. Februar 1939 bildete. Auf den beiden Platten waren die spiegelverkehrten Zeitungsabdrucke auch nach über 70 Jahren noch klar zu erkennen: so wurden unter anderem ein Vortrag über Arbeitsrecht an der Universität Zürich angekündigt, Grundpfandverwertungen veröffentlicht und Arbeiten für ein neues Hallenbad ausgeschrieben. Zwölf gleich alte Zementplatten haben die Polizisten im Garten vor dem Haus des Ehepaares gefunden – ebenfalls mit den gleichen spiegelverkehrten Zeitungsabdrucken. Die Platten lagen vermutlich schon im Garten, als Zoran Novak das Haus gekauft hatte. Für die chemische Analyse der Zementplatten zog die Polizei einen Fachmann für Baustoffe der Eidgenössischen Technischen Hochschule bei.

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Die Zeitungsseiten des Tagblatts der Stadt Zürich vom 2. Februar 1939 waren auf den Zementplatten spiegelverkehrt abgedruckt.

Als wäre das Zementplatten-Indiz nicht schon genug beweiskräftig, zauberte der Staatsanwalt am Prozess noch ein zweites Indiz hervor, das vermutlich ebenfalls allein für einen Schuldspruch gereicht hätte. Es betraf die neun Kilogramm schwere Kardanwelle, die der Spaziergänger Alfred Sennhauser bei der toten Frau gesehen hatte. Die Welle, das Verbindungsstück zwischen Motor und Hinterachse, diente ebenfalls der Beschwerung der Leiche. Die Ermittlungen brachten ans Licht, dass diese Kardanwelle zwischen 1996 und 2004 in BMWs der Modelle 540i verbaut wurden. Ein Zeuge konnte sich daran erinnern, dass der Sohn von Zoran Novak einen solchen Wagen besessen hatte. Der Sohn stammte aus einer früheren Ehe des Mannes. Dieser hatte mit dem BMW in Serbien 2009 im Jahr zuvor einen Unfall mit Totalschaden gebaut und brachte das zerstörte Auto in die Schweiz, um die Einzelteile zu verkaufen. Das Getriebe samt Kardanwelle lagerte er im Garten des Einfamilienhauses seines Vaters. Er wollte die Teile auf der Internetplattform Ebay verkaufen.

Polizei-Recherchen ergaben, dass die Kardanwelle vom 31. März bis zum 7. April 2010 online zum Verkauf ausgeschrieben wurde – das Teil lag also am 3. April, dem mutmasslichen Tattag, noch im Garten. Auch, dass Zoran Novak bereits wenige Tage nach dem Verschwinden der Ehefrau deren Krankenkassenprämie sistieren wollte, ist für den Staatsanwalt ein Indiz, dass der Ehemann vom Tod seiner Frau gewusst haben musste. Weitere Indizien lieferten die Auswertung des Taxi-Fahrtenschreibers. Zoran Novak hatte in der Tatnacht exakt die Strecke zurückgelegt, die er von zu Hause zum Tatort brauchte, was Vergleichsfahrten der Polizei ergaben. Nur zwölf Minuten später fuhr er 1800 Meter weiter – zu seinem Stamm-Taxistandplatz ganz in der Nähe. In dieser Zeit hatte Nowak die Tote in einem Tümpel im Hänsiried versteckt, sie beschwert und mit Schilf und Ästen überdeckt. Dass der Mann sich in diesem Zeitraum im Haus oder der nahen Umgebung befand, konnte ebenfalls bewiesen werden: Sein Handy hatte sich in einer örtlichen Antenne eingeloggt. Die Forensiker entnahmen am Leichenfundort Bodenproben und verglichen sie mit Erdresten an den Schuhen des Ehemanns – sie waren identisch.

Neben diesen «harten» Indizien präsentiert der Staatsanwalt noch eine ganze Reihe von «weichen» Indizien. So schickte Zoran Novak in der Tatnacht seiner Geliebten in Bosnien über 30 SMS und empfing mehr als 20 SMS. Auch während der Zeit, als seine Ehefrau von der Polizei und den Angehörigen gesucht wurde, rief Zoran Novak nie auf ihr Handy an. «Er wusste ja, dass sie tot war», sagte der Staatsanwalt. Im Juni schickte er an seine Geliebte in Bosnien folgende Kurznachricht: «Meine Probleme wurden mit dem Todesfall gelöst.» Und nicht nur das: Zoran Novak legte unfreiwillig ein schriftliches Geständnis ab. An der letzten Ruhestätte seiner Ehefrau in Bosnien, ritzte Novak in die frisch betonierte Mauer neben dem Grab auf kroatisch «Ponijela svoju tajnu u Grob», was übersetzt auf deutsch heisst: «Ihr Geheimnis hat sie mit ins Grab genommen.»

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Mit seinem Indizienmosaik konnte der Staatsanwalt das Bezirksgericht Zürich überzeugen. Dies, weil die wesentlichen Mosaiksteine vorlagen. Als wichtigstes Indiz wertete das Gericht die Zementplatten mit dem spiegelbildlichen Abdruck des «Tagblatts der Stadt Zürich», welche eine Verbindung vom Fundort der Leiche zum Haus des Ehemanns herstellten. «Nach der Indizienlage spricht alles für die Anklage und nichts dagegen», sagte der Gerichtsvorsitzende. Dass eine Drittperson die Frau getötet haben soll, dafür gebe es keine Hinweise. Das Opfer habe auch keine Fremdbeziehung gehabt – im Gegensatz zum Ehemann. Für das Gericht ist klar: «Es gibt keinen Zweifel, dass der Mann seine Ehefrau getötet hat.» Es verurteilte Zoran Novak wegen vorsätzlicher Tötung zu 15 Jahren. Die Tat liege nahe bei Mord, sie sei aber nicht von langer Hand geplant worden. Der Mann habe aus krass egoistischen Gründen gehandelt, um «das Problem mit der Frau zu lösen», wie er in einer SMS an seine Geliebte geschrieben habe. Das Gericht blieb damit ein Jahr unter dem Antrag des Staatsanwaltes. Der Ehemann nahm das Urteil ohne erkennbare Gefühlsregung auf. Er zog das Urteil weiter ans Obergericht, welches ebenfalls nicht der Überzeugung war, dass der Anklagegrundsatz verletzt wurde.

So hatte der Verteidiger vergeblich argumentiert, weil die genauen Angaben zu Tatort, Todesursache und Todeszeitpunkt in der Anklageschrift fehlten. Er hatte für seinen nicht geständigen Mandanten mangels Beweisen einen Freispruch nach dem Grundsatz «in dubio pro reo» (Im Zweifel für den Angeklagten) verlangt. Zudem hatte er eine Genugtuung für die knapp dreijährige Haft von 100‘000 Franken und 180‘000 Franken für den Erwerbsausfall des Taxifahrers gefordert. Auch das Bundesgericht, dass sich ebenfalls mit dem Fall befasste, gab den Richtern der Vorinstanz recht und bestätigte den Schuldspruch wegen vorsätzlicher Tötung und die Freiheitsstrafe von 15 Jahren.

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Der Ehemann hat sich keinen Gefallen getan, indem er trotz erdrückender Indizien auf seiner Unschuld beharrte. Warum er dies tat, kann nur gerätselt werden. Ob er durch seinen Verteidiger falsch beraten wurde oder ob er schlichtweg «beratungsresistent» war, ist nicht bekannt. Der Versuch, einen unbekannten Täter als – theoretischen – Mörder ins Spiel zu bringen, zeigte aber den Argumentationsnotstand der Verteidigung anschaulich. Spätestens vor Obergericht hätte der Ehemann reinen Tisch machen sollen, war doch schon am Prozess vor dem Bezirksgericht allen im Gerichtssaal bewusst, dass nur er der Mörder seiner Frau sein kann. Und dass bei einer bereits verwesten Leiche der Todeszeitpunkt und die Todesart in der Anklageschrift nicht mehr genau beschrieben werden kann, ist jedem klar. Der Beschuldigte hätte sich möglicherweise etliche Jahre im Gefängnis ersparen können, wenn er schon von Anfang an ein Geständnis abgelegt und sein Verteidiger im Rahmen der vorsätzlichen Tötung strafmildernde Argumente geltend gemacht hätte, zum Beispiel Handeln in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung.

Kopfschuss

Ein junger Verkäufer richtet im März 2009 mit einem Schuss in den Kopf seine knapp 17-jährige Freundin hin – im Auto auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Es war eine Exekution ohne nachvollziehbares Motiv. Der Kosovar und Waffennarr behauptet, es sei ein Unfall gewesen. Das glauben die Richter nicht und verurteilen ihn wegen Mordes.

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