Dilek Gürsoy mit Doreen Brumme
Ich stehe hier, weil ich gut bin
Allein unter Männern: Eine Herzchirurgin kämpft sich durch
eISBN: 978-3-95910-287-2
Eden Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
Copyright © 2020 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edenbooks.de | www.edel.com
1. Auflage 2020
Einige Personen sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.
Projektkoordination: Nina Schumacher
Lektorat: Katharina Theml
Covergestaltung: Favoritbüro
Covermotiv: © Sebastian Knoth
E-Book-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Auf die Bühne, fertig, los!
Medizinerin werden
»Ich werde Ärztin!«
Deutsche Heimat, türkische Wurzeln
Medizin, ich komme!
Medizinerin sein
Die Schönheit der Herzchirurgie
Auf zu neuen Ufern!
Meine erste eigene Herz-OP
Warum ich am Kunstherz forsche
Oberärztin in der Herzchirurgie
Herzchirurgie ist Frauensache
Meine erste komplett eigenständige Kunstherzimplantation
Meine Kunstherzpatienten
Raus aus der Komfortzone
Plötzlich bekannt
Mein Sprung in fremde Gewässer
Vernetzt
Auf internationaler Mission
»Medizinerin des Jahres 2019«
Jede Frau braucht einen Plan B
Warum ich dieses Buch geschrieben habe
Für Mama
»Ich stehe hier, weil ich gut bin.«
Stille.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. In meinen Ohren rauschte das Blut. Ich wartete auf die Menschen im Saal. Wie würden sie reagieren? Hatten sie mich gehört? Hatte ich die richtigen Worte gefunden?
Ich stand allein auf der Bühne. Zum ersten Mal vor so vielen Menschen, die keine Mediziner waren. Meine bisherige Bühnenerfahrung beschränkte sich auf medizinische Konferenzen und Kongresse. Da war ich unter Weißkitteln, unter Leuten meines Faches. Und wurde nach meinen Vorträgen mitunter regelrecht auseinandergenommen. Meinen sogenannten Impulsvortrag hier auf der Messe herCAREER sollte ich dagegen vor Nichtmedizinern halten. Ganz ohne weißen Arztkittel. Wie würden sie mich und meine Leistung beurteilen?
Das kleine weiße Mikrofon schmiegte sich an meine Wange, festgeklemmt an meinem rechten Ohr. Es war an: Alle konnten meinen Atem hören! Meine Rede hatte ich nicht vorbereitet. Einfach losplaudern, ein bisschen was zu mir und meinem Werdegang erzählen. Das hatte mir die Moderatorin des Abends, Anke Fabian, die mich auch als Erste begrüßt und zu meinem Platz gebracht hatte, gerade eben noch hinter der Bühne mit auf den Weg ins Rampenlicht gegeben, bevor sie mich dem Publikum ankündigte, um mir nach dem kurzen Begrüßungsapplaus eben diese Bühne ganz zu überlassen. Hier stand ich nun. Das Licht der Scheinwerfer blendete mich. In der Menge vor mir konnte ich kein Gesicht ausmachen. Keine Gemütsregung ablesen. Was die wohl von mir erwarteten? Ich kannte hier niemanden, und mich kannte auch keiner. Noch nicht. Ich war angespannt. Fühlte mich irgendwie fehl am Platz.
Kurz vor meinem Bühnenauftritt hatte ich mit der damals amtierenden Bundesministerin für Wirtschaft und Energie im Kabinett III von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Brigitte Zypries (SPD), zusammengesessen. Als wir einander vorgestellt wurden, fragte mich die Frau Ministerin, ob ich die Dame von der Lufthansa sei. Ich klärte sie auf und fragte mich insgeheim, was ich auf dieser Veranstaltung sollte. Und als ich der gestandenen Politikerin erzählte, was ich tue, hörte sie mir ganz gespannt zu. Die Aufmerksamkeit, die Frau Zypries mir schenkte, ihr offenbar echtes Interesse an meiner Arbeit ehrten mich und erfüllten mich auch mit Stolz. Dann war da aber auch noch dieser Herr Staatssekretär, seinen Namen habe ich mir nicht gemerkt, der mich, nachdem wir uns einander vorgestellt hatten, mit den Worten begrüßte: »… ah, das gute Beispiel für Erfolg trotz Migrationshintergrund«. Sein aufgesetztes Lächeln konnte ich nicht erwidern. Ich war doch nicht hier, weil ich türkische Wurzeln hatte! Höflich wandte ich mich von ihm ab. Gern wäre ich in diesem Moment gegangen.
Ich war nicht vorbereitet auf diese Messe. Eine Karrieremesse, die vor allem Frauen zusammenbrachte, um sich auszutauschen, zu vernetzen und zu unterstützen. Ich kannte weder das eine noch das andere aus meinem Job. Dort war ich oft die einzige Ärztin in einer Männerrunde am Tisch – im OP-Saal wie in der Kantine. Und wenn ich auf Kolleginnen stieß, dann war ich trotzdem allein. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Ärztin eine Kollegin unterstützt hat.
Die Frauen, die ich hier auf der Messe traf, waren Frauen, die gerade noch studiert hatten und jetzt versuchten, in ihren Berufen Fuß zu fassen. Frauen, die gegründet hatten und sich gerade ihre selbstständige Existenz aufbauten. Und Frauen, die es bereits geschafft hatten und hochrangige Fach- und Führungspositionen besetzten. Aber waren sie Frauen wie ich? War ich wie sie? Passte ich dazu? War ich auf dieser Messe richtig?
Als ich am Veranstaltungsort eintraf, hatte ich keinen blassen Schimmer, was mich dort erwartete. Ich war weder auf die Gespräche noch auf das Netzwerken und schon gar nicht auf den Stil dieser Veranstaltung vorbereitet. Die meisten waren an diesem Abend elegant gekleidet und hatten sich offensichtlich extra zurechtgemacht. Mir ging beim ersten Anblick der gestylten Frauen tatsächlich das Wort »Tussen« durch den Kopf. Doch was wusste ich damals schon?
Ich war vollkommen unbedarft und, zumindest was den Charakter einer solchen Veranstaltung betraf, naiv. An diesem Abend im Oktober 2017 in München fühlte ich mich nicht zugehörig. Was redeten die? Und was hatten die an? Ich war im Hotelzimmer nur schnell in einen meiner beiden Anzüge gestiegen, die mir seit 15 Jahren passten und gute Dienste leisteten und immer dann zum Einsatz kamen, wenn ein geschäftlicher Termin anstand. Nichts Modernes, Standard halt. Etwas, in dem ich mich wohlfühlte. Für heute erschien mir der hellbraune Zweiteiler passend. Schwarzes T-Shirt drunter. Fertig. Meine Haare hatte ich wie immer nur kurz mit den Fingern zurechtgewuselt. Die Locken fielen sowieso, wie sie fielen. Schon immer. Jegliche Mühe, sie anders als natürlich zu stylen, war vergebens. Da in der knappen Zeit, die mir bis zum Beginn der Abendveranstaltung noch blieb, nicht viel zu machen war, ließ ich es mit einer Frisur gleich ganz. Make-up trug ich sowieso nie. Warum sollte ich das heute anders machen? Ich schlüpfte noch schnell in meine schwarzen Pumps mit einem kleinen Absatz – Hauptsache: bequem! Mir gefiel mein Spiegelbild. Ich hatte mich nie für besonders schön, dafür aber immer schon für unverwechselbar gehalten. Die auffallenden dunklen Augenbrauen über meinen grünbraunen Augen haben etwas Charismatisches. Ich mag mein Lächeln und sehe mich gern lachen, so richtig aus vollem Herzen mit weit aufgerissenem Mund. Nun gut, nach Lachen war mir gerade nicht zumute. Ich griff nervös an meine Kette. Ein bisschen Bling-Bling ist das Einzige, worauf ich immer Wert lege. Ich hatte mich heute für eine kurze Kette mit einem Aquamarin entschieden. Blau ist meine Lieblingsfarbe, und der strahlende kleine Anhänger mein Talisman. Und mit dem stand ich jetzt auf der Bühne. Allein.
Ich blinzelte im Scheinwerferlicht. Ich, die im OP-Saal die Ruhe in Person ist, wenn die Scheinwerfer angehen, die mit Selbstsicherheit einen Brustkorb öffnet und sich geduldig bis zum schlagenden Herz vorarbeitet, es mit den eigenen Händen herausnimmt, Schnitt für Schnitt heraustrennt und mit einem Kunstherz ersetzt, stand hier aufgeregt auf der Bühne und wartete ungeduldig auf die Reaktion der Besucher. Auf ein Zeichen von irgendjemandem. Irgendeins. Wie lange wartete ich schon? Es können nur Bruchteile von Sekunden gewesen sein, die sich für mich jedoch hinzogen wie Minuten.
Nichts. Kein Ton. Als würde die Zeit stillstehen.
Dann hörte ich sie. Zwei Worte: »Ja, genau!« Tosender Beifall brandete auf und schwappte wie eine große Welle auf die Bühne bis vor meine Füße. Der Applaus, den ich erntete, war so viel stärker als der eben zu meiner Begrüßung. Ich war darüber verwundert, hatte ich mit dem einen Satz doch nur gesagt, was ich denke, und mich gezeigt, wie ich bin. Ich atmete tief durch. Als das Klatschen abebbte, tat ich genau das, was mir Anke zuvor geraten hatte. Ich redete einfach drauflos: »Einen wunderschönen guten Abend! Danke für die Einladung, Natascha Hoffner«, sagte ich und wandte mich damit direkt an die Frau, die die Messe ins Leben gerufen hatte. »Mein Name ist Dilek Gürsoy. Ich bin Herzchirurgin und die erste Frau, die in Europa ein komplettes Kunstherz implantiert hat.« Ich sah, wie die Menschen vor der Bühne aufmerksam wurden. Sich aufrechter hinsetzten, neugierig zu mir aufschauten, mich wirklich ins Auge fassten. Das gab mir ein gutes Gefühl. Verlieh mir noch mehr Sicherheit. »Ich wurde 1976 in Neuss geboren. Meine Eltern waren türkische Gastarbeiter«, erzählte ich den Menschen vor mir weiter. Mit jedem Satz, den ich in den Raum sprach, fühlte ich mich sicherer. Ich ließ meinen Blick über die vielen Köpfe schweifen und erkannte unter ihnen einzelne Gesichter. Unbekannte, aber durchaus wohlwollende und gespannte Augenpaare schauten mich an. Der Großteil des Publikums war weiblich. Auch darin unterschied sich dieser Bühnenauftritt von meinen vorherigen. In meinem Metier, der Herz- und Kunstherzchirurgie, gibt es fast nur Männer. Ich stand zum ersten Mal vor einem fast ausschließlich weiblichen Publikum! Manche der Frauen lächelten mir aufmunternd zu. Die wollten offenbar hören, was ich zu sagen hatte.
Ich sprach ganz kurz über meine Kindheit und Schulzeit. Und dann redete ich über meine Arbeit. Ich erzählte von meinem Weg in die Herz- und Kunstherzchirurgie, einer bis heute von Männern dominierten Disziplin, die mitunter auch als Königsdisziplin der Medizin bezeichnet wird. Ich berichtete davon, wie es ist, die erste Frau Europas zu sein, die ein komplettes Kunstherz implantiert hatte. Dafür erntete ich spontanen Beifall aus allen Ecken des Saales. Als ich darüber sprach, dass ich für meine außerordentliche Leistung als Kunstherzchirurgin nicht nur kollegiale Anerkennung, sondern auch Neid und Missgunst erfuhr, nickte so manche meiner Zuhörerinnen wissend. Ich spickte meine Erzählung mit beiläufigen Anekdoten aus dem Klinikalltag. So, wie sie mir gerade einfielen. Als ich erwähnte, dass es nach der allmorgendlichen Besprechung immer die Herren waren, die jedes Mal wie mit der Peitsche getrieben den Konferenzraum verließen und eilig an mir vorbeidrängelten, mich dabei teilweise sogar zur Seite schubsten, als ginge es darum, der Erste im Ziel zu sein – welches Ziel? –, lachten viele Frauen im Saal laut auf.
Mit dieser Zustimmung hatte ich an dieser Stelle nicht gerechnet. Doch klar, ein solches Verhalten männlicher Kollegen hatten viele der Zuhörerinnen sicher selbst schon erlebt. Ganz gleich, ob in einem DAX-Unternehmen, einer Kanzlei, einer Redaktion oder, wie bei mir, in einer Klinik, es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass ein Mann den Konferenzraum vor dem Chef oder zumindest an dessen Seite verlassen müsse. Ein Chef, der sich, je nach Charakter mal mehr, mal weniger in der ihm zuteilwerdenden Aufmerksamkeit sonnte. Wahrscheinlich gingen viele der Frauen, die mich jetzt anblickten, genau wie ich immer als eine der Letzten aus dem Raum, in normalem Tempo. Hinter dem Chef. Mit Blick auf die Rückseite der Horde voranstürmender Männer – nicht: Gentlemen.
Nach gut zwanzig Minuten beendete ich meine Rede. »Ich stehe hier, weil ich gut bin. Warum ich das sage? Weil es sonst keiner tut.« Und dann stand ich da, mitten im nicht enden wollenden Applaus. Das erste Mal in meinem Leben klatschten so viele Menschen mir zu.
Weil ich eine Frau war, die es geschafft hatte.
– • –
Kaum war ich an diesem Abend von der Bühne runter, kamen Unzählige der Frauen, die eben noch im Publikum saßen, mir zugehört und mich beklatscht hatten, schnurstracks auf mich zu. Oh mein Gott! Was wollten die alle von mir? Ich war aufgeregter als zuvor oben auf der Bühne. Wenn sich das überhaupt noch steigern ließ!
Doch anstatt mich zu umringen und mich von allen Seiten zu bedrängen, um irgendwie meine Aufmerksamkeit zu erheischen, bildeten die Frauen eine Warteschlange. So, wie wir uns in Deutschland immer hintereinander anstellen, wenn wir etwas haben wollen, das zugleich auch viele andere gern hätten. In dieser Schlange vor mir wurden keine Ellenbogen ausgefahren, keine Frau drängelte sich vor, und es beschwerte sich auch keine. Mit offenem Mund staunend stand ich da, versuchte, meine Fassung zu wahren, und reichte der Ersten in der Schlange meine Hand.
Die Frauen hinter ihr warteten geduldig, bis sie direkt vor mir standen. Eine nach der anderen, manche auch zu zweit, begrüßte mich, stellte sich mir vor, schüttelte herzlich meine Hand und wechselte ein paar Worte mit mir. Während die einen mir begeistert zu meiner Rede gratulierten, sich für meine offene, ungezwungene Art auf der Bühne bedankten und mir kurz von ihren eigenen, ähnlichen Erlebnissen in der Berufswelt erzählten, fragten die anderen interessiert nach meiner Arbeit in der Klinik und der Forschung. Die Frauen baten mich um meine Meinung, wollten wissen, wie ich über dies und jenes denke. Ganz viele drückten mir ihre Visitenkarte in die Hand und baten mich darum, sie unbedingt zu kontaktieren. Per E-Mail, soziale Medien oder Anruf. Xing- und LinkedIn-Adressen flogen mir nur so um die Ohren – und ich dachte nur, dass ich meine eigenen Accounts in diesen sozialen Netzwerken jetzt erst mal auf Vordermann bringen müsste! Das würde ich schleunigst tun, am besten gleich morgen, nahm ich mir vor. Ich bekam auch Einladungen zu weiteren Veranstaltungen. Eine Journalistin vereinbarte einen Interviewtermin mit mir. Und natürlich wurden ohne Ende Fotos von und mit mir gemacht.
In diesem Moment spann ich die ersten Fäden meines Netzwerks und verknüpfte sie mit Frauen aus ganz Deutschland und teilweise sogar aus dem Ausland. Ein Netzwerk, das mir fortan stabilen Rückhalt bieten und noch so manche Tür öffnen sollte. Die Tragweite dessen war mir damals allerdings noch gar nicht bewusst. Ich ahnte nur, dass gerade etwas Neues begonnen hatte. Indem ich der Einladung von Natascha Hoffner auf diese Messe gefolgt war, hatte ich eine Weiche gestellt. In meinem Leben würde sich künftig etwas ändern. Hätte mir an diesem Abend jemand gesagt, dass ich von nun an häufiger im Rampenlicht stehen und auf Veranstaltungsbühnen, in Zeitungen, im Radio und sogar im TV über mich, meine Arbeit und meine Vision sprechen würde, ich hätte vehement den Kopf geschüttelt. Doch davon später mehr.
Ich erlebte an diesem Abend in München ein bis dahin nie da gewesenes Interesse an meiner Person, meiner Arbeit und meiner Meinung. Ich wurde angenommen, so wie ich gekommen war: ehrlich. Ungeschminkt. Und in meinen Schuhen, den gefühlt flachsten der ganzen Veranstaltung.
Natürlich baute ich an diesem Abend auch mein Vorurteil ab: Ich hatte bei keinem Gespräch, das ich auf der herCAREER führte, das Gefühl, die Begegnung sei oberflächlich. Keine der Frauen, die ich dort kennenlernte, bestätigte meinen ersten Eindruck von einer Tussi-Veranstaltung. Im Gegenteil: Jede dieser gestandenen Frauen, die wegen meiner Geschichte an mich herangetreten war, hatte ihre eigene Geschichte erlebt und mitgebracht, die sie mir kurz erzählte und die sie zu der machte, die sie ist. Und darum ging es hier in diesen »Biografie-Gesprächen« ganz offensichtlich. Sich einander die eigene Geschichte zu erzählen und Gemeinsamkeiten zu finden: Erfahrungen, Motive, Visionen. Schließlich sind Frauen mit derartigen Gemeinsamkeiten Gleichgesinnte, die nicht selten zu Verbündeten werden. Das durfte ich nach der herCAREER noch oft genug selbst erfahren.
Für mich war dieser Abend meine erste Lehrstunde im Netzwerken gewesen. Ich stand spätabends im Hotelzimmer, die Hand voller Visitenkarten, den Kopf voller Gesprächsfetzen. In dem Moment war ich vor allem von der Herzlichkeit schwer beeindruckt, mit der mich die herCAREER über Stunden umarmt hatte. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich bin heute, in der Rückschau, sehr froh darüber und dankbar dafür, dass Natascha Hoffner mich als impulsgebenden Überraschungsgast auf ihre Messebühne geholt hatte, und staune ehrlich gesagt noch immer darüber, dass ich die Einladung überhaupt angenommen hatte. Doch warum auch nicht!
Als Natascha mich zunächst per LinkedIn, dann per Mail und schließlich auch am Telefon fragte, ob ich bereit wäre, auf ihrer Messe einen Impulsvortrag zu halten, fühlte ich mich sehr geehrt und brauchte gar nicht lange zu überlegen, um ihr zuzusagen. Aber ja doch, gern! Ich bin dabei! Ich war damals ziemlich neugierig und spürte auch Nataschas Neugier durchs Telefon, die, wie ich später erfuhr, während unseres ersten Telefonats mitten im Leben stand – in ihrer Küche zwischen Mehl und Milch, um mit ihren Kindern Muffins zu backen. Wie hatte sie mich eigentlich gefunden? Als ich sie später danach fragte, sagte Natascha Hoffner mir: »Wir organisieren einmal jährlich die herCAREER als ein Leitevent für die weibliche Karriereplanung in München und inzwischen weit darüber hinaus. Wir sprechen Frauen an, die etwas erreichen wollen und denen Erfolg im beruflichen Kontext wichtig ist. Die Idee dabei ist, von den Erfahrungen anderer zu profitieren und Studierende, Absolventinnen, aber auch Frauen in Fach- und Führungspositionen sowie Gründerinnen Möglichkeiten zu bieten, sich über Hierarchien hinweg zu vernetzen. Am Abend des ersten Messetags veranstalten wir ein ganz besonderes Event: die herCAREER@Night mit rund 40 bis 45 sogenannten table captains – Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik. Der Abend wird immer mit einem Impulsvortrag angereichert, und als Impulsreferentin wählen wir bewusst eine Frau aus, die uns in ihrem Tun und Handeln überzeugt, deren Geschichte uns bewegt und die trotz aller Widerstände ihren Weg gegangen ist und geht. Auf Facebook bin ich bei meinen Recherchen auf eine Seite gestoßen, auf der Frauen spannende Artikel über role models teilten. Als ich den Artikel aus der Rheinischen Post mit der Überschrift ›Tochter von türkischen Gastarbeitern aus Neuss: Wie Dilek Gürsoy Herzchirurgin wurde‹ las, hatte ich meine Wunschrednerin gefunden. Also habe ich sofort nach Informationen über dich im Internet gesucht und dich über deinen LinkedIn-Account kontaktiert. Es war an einem Wochenende, das weiß ich noch genau.«
Ich sollte die Besucher der herCAREER 2017 also als unbekanntes Gesicht mit meiner unbekannten Geschichte überraschen. Doch zugleich wurde auch ich überrascht: von einem Netzwerk, das dieses Land umspannt. Gewebt von Frauen, die sich ihrer Rolle im Arbeitsleben durchaus bewusst sind und diese auf ihre ganz eigene Art und Weise ausfüllen möchten – selbstbestimmt, selbstbewusst, intelligent, emotional, solidarisch, weiblich. Und ich war jetzt eine von ihnen, denn diese Frauen machten an ihren Lebensstationen genau dasselbe durch wie ich. Ich war auch von mir selbst überrascht: Meine Wirkung auf andere, wie ich sie heute erlebt hatte, war mir bis dahin nicht bewusst.
1Quelle: www.bmbf.de/de/patienten-profitieren-langfristig-10733.html, zuletzt abgerufen am 11.06.2020
2Quelle: www.dso.de/organspende/statistiken-berichte/organtransplantation zuletzt abgerufen am 11.06.2020
3Quelle: de.statista.com/statistik/daten/studie/200758/umfrage/entwicklung-der-anzahl-der-medizinstudenten, zuletzt abgerufen am 11.06.2020
4Quelle: www.aufgutemgrund.net/#dilek-guersoy, zuletzt abgerufen am 12.06.2020
5Quelle: www.mags.nrw/pressemitteilung/gutachten-empfiehlt-grundlegende-reform-der-krankenhausplanung-nordrhein-westfalen, zuletzt aufgerufen am 12.06.2020
6Quellen: www.bmbf.de/de/patienten-profitieren-langfristig-10733.html und de.wikipedia.org/wiki/Herzinsuffizienz, zuletzt abgerufen am 12.06.2020
Ich werde häufig gefragt, warum ich Medizinerin geworden bin. Ganz ehrlich? Ich wusste das schon immer. Hat mich als Kind jemand nach meinem Berufswunsch gefragt, habe ich schon mit »Ärztin!« geantwortet, mit der Betonung auf dem Ausrufezeichen wohlgemerkt.
Viele glauben, ich sei Herzchirurgin geworden, weil mein Vater, Ihsan Ali Gürsoy, an plötzlichem Herzversagen starb, als ich zehn Jahre alt war. Ich schlief damals nachts mit im Zimmer meiner Eltern, mein Bruder Fikri im Nebenzimmer. Mein Vater war zu der Zeit krank, aber nicht so, dass wir mit seinem Tod rechneten. Er war tagsüber beim Arzt gewesen und hatte von diesem eine Spritze bekommen. Ich brachte ihm nach der Schule einen Tee ans Bett, sprach mit ihm. Ich erinnere mich bis heute sehr gut daran, dass mich beim Anblick meines Vaters ein komisches Gefühl beschlich. Ich war um ihn besorgt, wich ihm am Abend nicht von der Seite. Irgendwann schlief ich dann aber doch neben ihm ein. Sein Tod kam in der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 1987 um null Uhr zwanzig und überraschte uns alle. Meine Mutter Zeynep und ich schliefen fest. Fikri hörte meinen Vater plötzlich laut seufzen, wir beide nicht, obwohl wir neben ihm lagen. Fikri weckte meine Mutter. Ich wachte von allein auf. Benommen vom Schlaf sah ich, wie meine Mutter zur Wohnungstür rausrannte. Sie lief zu Verwandten um die Ecke, damit diese einen Arzt holten.
Mein Vater war tot.
Unser Schlafzimmer war plötzlich ein Totenzimmer. Ich hörte Fikri im Wohnzimmer laut schluchzen. Ich war ganz allein mit meinem Vater im Raum. Er lag da, ganz friedlich. Ich näherte mich ihm. Stück für Stück, ganz dicht rückte ich an ihn ran. Er sah aus, als würde er schlafen. Seine Augen waren geschlossen. Ich beugte mich über das Gesicht und küsste meinen Vater auf die noch warme Stirn. Dann sagte ich ihm ganz leise, dass ich ihn lieb hätte. Oder dachte ich die Worte nur? Mir war die Endgültigkeit der Situation durchaus bewusst. Ich wusste, dass ich damit für immer von meinem Vater Abschied nahm.
Ein Cousin kam kurz darauf mit meiner Mutter zurück in unsere Wohnung. Alle standen am Bett. Er tastete nach dem Puls, horchte nach seinem Herz. Nichts. Sein leerer Blick sagte mehr als seine Worte: »Er ist tot.« Meine Mutter holte zwei gehäkelte Tücher aus dem Schrank und band eines davon meinem Vater so um den Kopf, dass sein Mund geschlossen blieb und sein Unterkiefer nicht herunterklappen konnte. Dann band sie das zweite Tuch um seine beiden Füße. Die Polizei und der Notarzt, die gerufen worden waren, trafen ein. Ein sehr erfahrener Kriminalbeamter befragte meine Mutter zu den Sterbeumständen meines Vaters. Dann kamen die Bestatter ins Haus. Während sie meinen Vater für den Transport bereit machten, bat man uns ins Wohnzimmer und schloss die Tür zum Flur. Dort saßen wir und warteten. Bis auf mich, die alles sehr klar wahrnahm, schienen alle benommen, wie gelähmt: meine Mutter, mein Bruder, der Cousin und dessen Frau, die inzwischen auch herbeigeeilt war. Ich hörte Geräusche im Flur. Ich sprang auf, ich wollte meinen Vater noch einmal sehen. Ich stürzte zur Tür, doch die wurde von außen zugehalten. Ich zog mit aller Kraft daran und konnte sie schließlich etwas öffnen. Durch den Spalt sah ich aus dem Augenwinkel gerade noch, wie mein Vater in einem grauen Sack verpackt auf der Trage abtransportiert wurde. Das war’s. Er war weg. Weg aus meinem Leben.
Ich hatte meinen Vater immer geliebt, liebe ihn bis heute. Und ich war mir seiner Liebe immer sicher gewesen. Es gab keinen Grund für mich, jemals daran zu zweifeln. Meine Mutter erzählt oft, dass mein Vater jedes Mal zu ihr gesagt hätte, »Warte erst mal ab!«, wenn sie ihm, schwanger mit mir, erklärte, dass ich ein Mädchen sei. Mein Vater wünschte sich offensichtlich einen Jungen. Noch einen. Meine Mutter dagegen hatte nach vier Jungen keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich ein Mädchen zu bekommen. Sie sagt, sie sei sich absolut sicher gewesen, dass ich ein Mädchen werden würde. Mein Vater hatte damals nicht mal einen Mädchennamen für mich im Kopf, meine Mutter dagegen schon: Dilek. Und diesen Namen gab sie mir an meinem Geburtstag, dem Nikolaustag 1976, im Krankenhaus in Neuss: Das türkische Wort lässt sich mit »Wunsch«, »Geschenk« oder »Bitte« ins Deutsche übersetzen. Und genau das verkörperte ich wohl für meine Mutter: Ich war ein Geschenk, eines, das sie sich innigst gewünscht und um das sie Tag für Tag gebeten hatte.
Und mein Vater? Der überraschte wohl vor allem meine Mutter mit seiner Reaktion auf mich, seine erste und einzige Tochter. Sie hatte Zurückhaltung, vielleicht sogar Ablehnung erwartet und wurde von meinem Vater eines Besseren belehrt. Von dem Augenblick an, als er mich das erste Mal in seinen Armen hielt, war da Liebe. Ganz viel davon. Mein Vater hatte mit mir seine Prinzessin bekommen. Und die blieb ich zeit seines Lebens.
Der Tod meines Vaters traf mich schwer. Ich mochte meinen Vater immer mehr als meine Mutter. Er war ja auch der Mann in meinem Leben, der mir bislang jeden Wunsch erfüllte, manchmal noch bevor ich ihn aussprach. Ich war nach meines Vaters Tod zutiefst betrübt. Am Esstisch und in meinem Leben blieb sein Platz leer. Ich spürte die Lücke, die er zurückließ, mit meinem ganzen Körper. Die Leere schmerzte mich regelrecht. Umso mehr hing ich an Dingen, die er mir geschenkt hatte, zum Beispiel meine Schultasche aus braunem Leder, die er mir fürs Gymnasium gekauft hatte. Er war so stolz auf mich. Und die Tasche erinnerte mich jeden Tag daran. Unser Familienleben veränderte sich danach sehr: Meine Mutter musste uns Kinder plötzlich allein durchbringen. Sie erhöhte recht schnell die Stundenzahl, die sie täglich am Fließband stand, um alle Rechnungen bezahlen zu können. Von 7 bis 16 Uhr war sie von nun an aus dem Haus.
Mir wurde bei aller Trauer um meinen Vater schnell klar, dass ich mich jetzt zusammenreißen musste, auch, um ihn zu ehren. Ich ging als Einzige von uns aufs Gymnasium und war schon seit geraumer Zeit diejenige, die sich um alle Briefe kümmerte, die unserer Familie von Behörden und sonst woher ins Haus flatterten. Kam ich aus der Schule heim, holte ich die Post aus dem Postkasten und sortierte sie. Ich öffnete alle Briefe, las sie durch und tat, so gut ich es konnte, was zu tun war, um sie richtig zu beantworten. War es mal etwas ganz Kompliziertes, ging meine Mutter mit dem Anliegen zu einer der Sekretärinnen in ihrer Firma, die half ihr dann weiter.
Für meine Mutter war es selbstverständlich, dass sie alles für uns Kinder tat. Sie tut das übrigens bis heute. »Die Kinder sollen gut aufwachsen!«, sagt sie immer noch. Für sie war wichtig, dass wir die Schule abschlossen und eine gute Ausbildung bekamen. Welchen beruflichen Weg wir einschlugen, das überließ sie unserer Wahl, wobei sie sich für mich schon ausdrücklich wünschte, dass ich zur Universität ging und diese auch abschließe, denn mit dem Abschluss in der Tasche hätte ich finanziell ausgesorgt. Die Jungs könnten sich zur Not ja auf dem Bau verdingen, um finanziell auf eigenen Beinen zu stehen.
Unsere Mutter umsorgte uns Kinder von klein auf an. Sie hielt uns den Rücken frei, sodass wir uns ausschließlich um die Schule kümmern konnten: Kam sie abends müde von der Arbeit heim, putzte sie und machte das Essen für uns. Sie bereitete die Schulbrote für den nächsten Tag vor und räumte die Wohnung auf. Als mein Vater noch lebte, bekamen wir Kinder fürs Treppe- oder Bettenmachen ab und an eine kleine Belohnung, das behielt meine Mutter auch nach seinem Tod bei. Doch die meiste Hausarbeit erledigte sie selbst – ohne jemals zu murren. Im Gegenteil: »Ich war sowieso kaputt von der Arbeit, da konnte ich zu Hause auch noch weitermachen«, sagt sie heute. Warum meine Mutter so dachte und handelte, das erklärt ihre Geschichte.
Wir Kinder waren und sind das Ein und Alles im Leben meiner Mutter. Wir waren und sind Ausdruck der Freiheit, die sie sich selbst genommen hatte. Meine Mutter wurde Anfang der 1950er-Jahre in der Türkei, mitten in einer dörflichen Gemeinschaft geboren. Sie war das zweite Kind und das älteste Mädchen. Ihre Familie ließ sie nicht zur Schule gehen wie die anderen Geschwister. Stattdessen musste sie daheimbleiben und sich um Haus und Hof kümmern. Während ihre Brüder und Schwestern zur Schule gingen, putzte meine Mutter das Haus, machte die Wäsche und kochte. Sie lernte nie zu lesen und zu schreiben. Sie führte schon als junges Mädchen das Leben einer Dienstmagd und träumte von etwas Besserem.
Die Ehe mit meinem Vater, der im Dorf Aybastı in der Nähe der Stadt Ordu als Standesbeamter arbeitete, sah meine Mutter als Schritt in die Freiheit an. Raus aus dem Joch der Familie, in die sie zwar hineingeboren war und zu der sie sich dennoch nicht zugehörig fühlte. Doch so kam es nicht. Noch nicht. Meine Mutter hatte in der Schwiegerfamilie, bei der sie nach der Hochzeit mit noch nicht mal zwanzig Jahren als jüngste der angeheirateten Schwägerinnen lebte, wieder nur den Status einer Dienstmagd. Das Leben dort war für sie besonders schwer zu ertragen, als mein Vater 1969 nach Deutschland vorausging und sie ihn nur sah, wenn er zum Urlaub nach Hause in die Türkei kam. Meine Mutter wurde bei einem dieser Urlaube schwanger und bekam 1970 ihr erstes Kind, meinen ältesten Bruder Fikret.
Sie blieb mit ihm und schwanger mit meinem zweitältesten Bruder Korkmaz zurück in der Türkei und wartete sehnlichst auf den Tag, an dem sie meinem Vater endlich folgen konnte – nach Deutschland. Dort, so erhoffte sie sich, würde sie die Freiheit finden. Doch Fikret wurde schwer krank. Meine Mutter wünschte sich damals nichts sehnlicher als einen Arzt im Dorf. Oder noch besser: einen Arzt in der Familie. Fikret starb mit nur zehn Monaten. Ich kann mir kaum vorstellen, was sein Tod mit meiner Mutter machte, kaum nachfühlen, wie sie gelitten haben muss.
Der ältere Bruder meines Vaters lebte bereits im nordrhein-westfälischen Neuss. Er hatte dort eine Arbeit gefunden. Das bedeutete das große Los, denn so verdiente er Geld und konnte seine Familie in der Türkei unterstützen, in der damals viele von Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut bedroht waren. Der Onkel besorgte auch meinem Vater einen Job in Neuss. Deshalb ging dieser 1969 zu seinem Bruder. Zunächst wohnten die Männer in einem Heim. Als klar war, dass ihre Frauen aus der Türkei kommen würden, mieteten sie eine Wohnung in Neuss/Kaarst an, in der sie beide mit ihren Familien zusammenwohnen wollten.