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Wer durch Berlin flaniert, wird schnell feststellen, dass die Hauptstadt eine ausgeprägt süße Seite hat. 9000 Cafés soll es heute hier geben. Sie haben eine lange Tradition: Das Café des Westens, das berühmte Romanische Café, in dem Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler und viele andere Literat*innen Stammgast waren. Das Café Kranzler, die Konditorei Buchwald. Dazu kommen Manufakturen wie Sawade, Hamann Schokoladen, Rausch, die über hundert Jahre alt und heute noch – oder wieder – Hot Spots für Tourist*innen und Einheimische sind.

Aus dem Café Kranzler wurde inzwischen die urbane Coffee Roastery The Barn und überall entstehen neue Manufakturen und Läden wie Belyzium und Sugarfari, Konfiserien und Cafés wie Five Elephant und Olivia, gegründet von jungen Leuten mit viel Phantasie und Unternehmensgeist, die die alte Tradition fortsetzen und weiterentwickeln.

Tanja Dückers setzt ihre 60 Lieblingsorte in Szene. Führt uns in die einzelnen Berliner Stadtteile zu den Chocolatiers, den Pralinen-, Kuchen- und Eismanufakturen, in die multikulturelle Szene der türkischen, japanischen oder portugiesischen Cafés und erzählt en passant die Geschichte Berlins von seiner Schokoladenseite.

Tanja Dückers, Schriftstellerin und Journalistin, lebt in Berlin. Sie schreibt Romane, Lyrik, Sachbücher, Kinderbücher. Zuletzt erschien der Roman Hausers Zimmer (2011), Mein altes West-Berlin. Berliner Orte (2016), und Schoki-Doki. Geschichten einer Schokoladenliebhaberin (2018). Mit dem Berliner Chocolatier Christoph Wohlfarth produziert sie seit 2017 erfolgreich ihre eigene Schokolade Preußisch Süß – Berliner Stadtteilschokolade.

Mit farbigen Fotografien
von Anton Landgraf

Insel Verlag

INHALT

Ist Berlin süß? – Einführung

Charlottenburg – Wilmersdorf – Halensee – Dahlem – Grunewald

Roca im Waldorf Astoria

KaDeWe Feinkostetage, Die Sechste

Erich Hamann – Bittere Schokoladen

Sawade

Nicos Süßes Atelier

Wald Königsberger Marzipan

Patisserie Gil Avnon

Goldhahn und Sampson

Schoko-Engel

Berliner Kaffeerösterei

Wiener Conditorei Caffeehaus

Weitere Empfehlungen

Schöneberg – Friedenau – Tempelhof

Winterfeldt Schokoladen

Makrönchen Manufaktur

Sissi Tortenmanufaktur

Das süße Leben

Café Komine

Süßkramdealer

Mamsell

Walter Confiserie

Weitere Empfehlungen

Friedrichshain – Kreuzberg

Chocolateria Sünde

Kuchen Kaiser

Art en chocolat

Frau Behrens Torten

Berliner Naschmarkt

pars pralinen – Kristiane Kegelmann

Alles Zucker! Deutsches Technikmuseum

Olivia

Herr Nilsson GODIS

Verzuckert

Cupcake Berlin

Sugarclan – Berliner

Velicious – vegane Versuchung

Weitere Empfehlungen

Neukölln

Coda – Dessert Dining

Konditorei Damaskus

Fräulein Frucht

Konditorei und Bäckerei Umkalthum

Weitere Empfehlungen

Mitte – Tiergarten – Wedding

Bonbonmacherei Kolbe & Stecher

Aseli – handgemachter Schaumzucker

Princess Cheesecake

Das Josty

Konditorei & Café Buchwald

Tigertörtchen

Goldacker

Du Bonheur

Rausch Schokoladenhaus

Kleine Mensa

Rosa Parks Café

Wohlfarth Schokolade

dilekerei

Weitere Empfehlungen

Prenzlauer Berg – Pankow – Weißensee

Bäckerei & Konditorei Siebert

Berliner Schokoladen Manufaktur 31°

Bekarei – portugiesisch-griechische Cafékultur

Preussisch süß

Sugafari

Schwesterherz

Holger in’t Veld

Brammibal’s Donuts

Werkstatt der Süße

Fräulein Schneefeld & Herr Hund – Chocolaterie und Buchhandlung

Popkornditorei Knalle

Jubel – feine pâtisserie

Blumencafé

Café Sommerlust im Schlosspark Schönhausen

Café mint

Milchhäuschen

Friedas Glück

Weitere Empfehlungen

Marzahn

Konditorei & Feinbäckerei Engel

Café am Wolkenhain

Weitere Empfehlungen

Lichtenberg

Canapé – Bäcker und Café

Nadia + Kosta

Köpenick

Altstadtcafé Cöpenick

Weitere Empfehlungen

Reinickendorf

Konditorei & Café Kandulski

Kaffeehaus Zeltinger

Spandau

Konditorei Fester

Florida Eiscafé

Steglitz – Zehlendorf – Kleinmachnow

Das Café in der Gartenakademie

Doçura + Schokoladenkammer

Weitere Empfehlungen

Süße Orte in bitteren Zeiten?

Bibliografie – Empfehlungen

Dank

Ist Berlin süß?

Verbindet man mit Berlin nicht eher das Schräge, Verrückte, das Herbe, Saure oder gar das Bittere, als ausgerechnet das Süße? Goethe sagte bekanntlich über die Berliner: »Es lebt aber dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten.« Klingt nicht so delikat. Vielleicht passt doch eher das Herzhafte nach Berlin? Die Currywurst soll angeblich aus der Spreemetropole stammen. Wobei auch die Hamburger diese Wurst für sich reklamieren. Wie steht es also um die süßen Seiten der Hauptstadt?

Wer in Berlin flaniert, wird feststellen, dass die Hauptstadt durchaus eine süße, verzuckerte, schokoladenbraune oder karamellfarbene, gelegentlich sogar erdbeerbonbonhafte Seite hat. Und wer sich mit Berlins Historie beschäftigt, wird erstaunt sein, welch große Rolle die Kaffeehauskultur, Schokoladen- und Pralinenmanufakturen und die edlen Patisserien in Preußen eingenommen haben. Berlin kann man bis heute getrost als Wien des Nordens bezeichnen.

Im 17. Jahrhundert erreichte die Schokolade das damalige Preußen. Natürlich blieben kakaohaltige Getränke auch hier, wie im übrigen Europa, zunächst den Kaisern und Königen, später Adeligen, vorbehalten. Der Trinkschokolade haftete stets das Image verschwenderischen, höfischen Lebens an.

Vom Volk wurde Kakao vor allem als Arzneimittel konsumiert. In Apotheken angepriesen, wurde er pur oder mit Zusätzen als Heil- und Stärkungsmittel teuer angeboten. Auch Theodor Fontane hat ihn in seiner Apotheke (im heutigen Kunstquartier Bethanien) verkauft. Die historische Apotheke kann man noch heute besichtigen. Ebenso die denkmalgeschützte Apotheke am Winterfeldtplatz in Schöneberg, in der heute passenderweise Winterfeldt Schokoladen untergebracht ist.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Kakao in Berlin nicht länger nur als Getränk und von Adligen auf dem Kanapee genossen oder in der Apotheke gekauft, sondern zunehmend vom neuen Bürgertum und als Tafelschokolade. 1845 stellte der Schweizer Konditor Sprüngli die erste feste Schokolade her. In England, einem Pionier der Industrialisierung, ging die erste Blockschokolade vom Band. In Deutschland wurde zunächst Dresden zum Zentrum der Schokoladenherstellung. Als der Schweizer Henry Nestlé 1867 ein Verfahren zur Herstellung von Milchpulver entwickelte, war der Schritt zu Rezepturen für Milchschokolade gemacht. Das Angebot an Schokoladenprodukten boomte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Markennamen wie Stollwerck, Sarotti oder Halloren gewannen an Bedeutung. In der Schweiz entstanden die großen Schokoladenfabriken von Suchard, Toblerone, Lindt und Sprüngli. Da Zölle und Steuern gesenkt wurden oder entfielen, wurden kakaobasierte Produkte erschwinglicher. Ferner löste die Einigung Deutschlands nach dem deutsch-französischen Krieg (1870-71) einen Gründerboom aus. Französische Reparationszahlungen und vereinfachter Handel zwischen den deutschen Ländern führten zu wirtschaftlichem Aufschwung. Der Krieg selber kam den deutschen Schokoladenproduzenten nicht ungelegen, verschwanden so doch die hochwertigen französischen Produkte für eine Weile vom Markt.

Zudem wurde die Herstellung von Schokolade durch eine agrarindustrielle Revolution kostengünstiger: Mit der Zuckerrübe erschloss sich eine neue Zucker-Quelle aus eigener Produktion. So ersparte man sich den umständlichen Import von Zuckerrohr aus den Kolonien. Für den Verzicht auf Zuckerrohr spielten damals humanitäre Aspekte weniger eine Rolle als ökonomisch-logistische (mehr darüber kann man in der sehenswerten Dauerausstellung Alles Zucker! im Deutschen Technikmuseum erfahren). Kakaobohnen wurden weiterhin aus den Kolonien importiert. Bis heute ist die Wertschöpfungskette bei vielen Schokoladenproduzenten nicht »fair«.

Immer mehr wandelte sich das Image der Schokolade hin zum begehrten Luxusprodukt. Die ersten Schokoladen- und Pralinen-Manufakturen gründeten sich in der preußischen Hauptstadt. Firmen und Betriebe wie Erich Hamann – Bittere Schokoladen (1912), die Pralinenmanufaktur Sawade (1880), die Confiserie Reichert (1882), die Konditorei Buchwald (1852), die Walter Confiserie (1915), Fassbender (1863, später mit Rausch fusioniert) (1918), die Bäckerei Siebert (1906), die Konditorei Fester (1926), Aseli (1921) oder die Florida-Eis Manufaktur (1927) – um nur einige Beispiele zu nennen – haben zum Teil eine weit über hundertjährige Geschichte, oft am selben Standort und oft noch in Hand der Gründerfamilie. Sie alle zeugen von einer vielgestaltigen, äußerst lebendigen Tradition des Süßen in Berlin.

Um die Jahrhundertwende war die Praline ein Trendprodukt für junge, wohlsituierte, etwas dekadente Leute, deren Leben sich irgendwo auf der Chaiselongue zwischen Ennui und Lustbarkeit abspielte – und Berlin war die Hochburg der Confiserie-Kunst.

Süße Massenware wird ebenfalls seit Langem in Berlin produziert. Bahlsen, Storck und Stollwerck haben hier immer noch Werke. Sarotti wurde 1852 in Berlin gegründet, später ging die Firma in Stollwerck auf.

Daneben gab es zahlreiche andere Schokoladen- und Pralinenfirmen, zum Teil mit zirkushaften Namen wie Frisöni, Nizelli, Kynast, Kwieschinsky und Cyliax. Die zwanziger Jahre waren in Berlin ebenso süß wie verrückt: Das Kaffeehaus übernahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rolle früherer bürgerlicher Salons. Das Café des Westens (vom Volksmund Café Größenwahn genannt), das berühmte Romanische Café, in dem Gottfried Benn, Erich Kästner, Else Lasker-Schüler, Bertolt Brecht, Mascha Kaleko und viele andere Literaten Stammgäste waren, das Café Josty (erwähnt von Erich Kästner in Emil und die Detektive) waren Treffpunkte der Szene – Alkohol und Kuchen wurden oft zusammen konsumiert.

Von der Herrlichkeit des Süßen wusste auch ein weltberühmter Berliner – Walter Benjamin – zu berichten: In seinem im Exil verfassten Erinnerungsbuch Berliner Kindheit um 19hundert beschreibt er in Die Speisekammer lustvoll den nächtlichen Diebstahl von Köstlichkeiten aus der elterlichen Speisekammer im Haus der Familie in Grunewald. Dies ist eine der schönsten literarischen Reflexionen über die Lust und Freude am Süßen.

Während des Zweiten Weltkriegs galt Schokolade als Luxusartikel. Ab 1939 wurde die Schokoladenproduktion stark gedrosselt, ab September 1942 war die Verarbeitung von Rohkakao verboten – außer für kriegswichtige Zwecke wie Soldatenverpflegung. Ab Januar 1944 war jegliche Süßwarenproduktion untersagt – abgesehen von staatlichen Aufträgen. 339 von 400 Betrieben der deutschen Süßwarenindustrie mussten ihre Produktion einstellen, nur wenige wurden als »kriegswichtig« eingestuft. Diese produzierten während des Zweiten Weltkriegs u. a. Schokolade, die unter der Bezeichnung Fliegerschokolade als Luftwaffenverpflegung der Wehrmacht verwendet wurde. Scho-Ka-Cola, ein Gemisch aus Schokolade mit Kaffee und Cola, galt als Wachmacher an der Front. Einige als kriegswichtig eingestufte Berliner Süßwaren-Unternehmen beschäftigten Zwangsarbeiter, darunter Sarotti und Bahlsen (Bahlsens Hauptsitz befindet sich heute zwar in Hannover, aber das Unternehmen hat auch eine Fabrik mit Outlet in Berlin).

Die Berliner haben zum Süßen noch eine besondere historische Beziehung: Während der Luftbrücke vom 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949 wurden Tausende von Schokoladenpäckchen über dem Flughafen Tempelhof abgeworfen. Noch heute erzählen alte Berlinerinnen, wie gut ihnen diese Schokolade – es war Hershey’s – geschmeckt habe.

Krieg, Nachkriegsnot und Mauerbau setzten vielen süßen Betrieben und Unternehmen in Berlin sehr zu. Für Luxus und Genuss war nicht recht Zeit und Geld vorhanden. Schokolade und andere Süßwaren wurden vor allem als industriell gefertigte Massenartikel wahrgenommen, man hatte kein Geld. Der Preisverfall war enorm. Über ethische oder ökologische Aspekte, Ausbeutung, Kinderarbeit, Monokulturen und giftige Pestizide dachte noch niemand nach. Der schwäbische Hersteller Ritter Sport produzierte Westdeutschlands beliebteste Schokolade. Sein Werbeslogan Quadratisch. Praktisch. Gut sagte viel aus über die innere Haltung der Westdeutschen gegenüber dem süßen, eigentlich ziellosen, nur sich selbst genügenden Genuss.

Immerhin überlebten einige der alten Vorkriegs-Kaffeehäuser. Das Kranzler und die Möhring-Cafés verströmten bis weit in die neunziger Jahre hinein eine etwas plüschige »Man gönnt sich jetzt wieder etwas«-Behaglichkeit.

In der DDR erlebte die Süßwarenkultur keine Höhenflüge. Manche alten Firmen konnten sich halten, wie Halloren (1804 in Halle gegründet). Die VEB-Elfe-Schokoladenfabrik, 1921 in Berlin-Weißensee als Elfe Schokoladenfabrik gegründet, war der größte Süßwarenhersteller in der DDR. Als Jahreshöchstproduktion (1988) des VEB Elfe sind 28 Millionen Tafeln überliefert worden. Da jedoch die für die Schokoladenproduktion benötigten Kakaobohnen für Valuta auf dem Weltmarkt eingekauft werden mussten, gab es frühzeitig Bestrebungen, aus einheimischen Lebensmitteln sogenannte kakaoähnliche Produkte zu entwickeln. Zuvor wurde mit Kakaoschalen experimentiert, das Ergebnis ließ viele Wünsche offen. Zumindest fiel den ostdeutschen Käufern auf, dass die Schokoladenmasse der Tafeln selten glatt gerührt war. Eher wies sie die Konsistenz von feinem Sand auf. Genauere Inhaltsangaben wurden nie veröffentlicht. 1984 hatten DDR-Chemiker einen Schokoladen-Ersatzstoff aus zerstoßenen roten Rüben gefunden. Aus erhitzten Getreidekeimen und Zucker wurde ein weiterer Ersatzstoff geschaffen. Besonders überzeugt waren die Kunden auch davon nicht. Nach der Wende wurde Elfe abgewickelt, u. a. weil die Kundschaft nun andere Schokoladenerzeugnisse bevorzugte.

Im Windschatten des omnipräsenten Schokoladenherstellers Ritter Sport und im Schatten des staubigen VEB Elfe haben auf beiden Seiten der Mauer jedoch eine Reihe alteingesessener Manufakturen und Familienbetriebe überwintert. Gerade in der DDR setzten kleine Schokoladenmanufakturen aus der Not heraus auf bean to bar, kauften also nur Kakaobohnen ein, die sie selber zum Teil mit uralten Maschinen verarbeiteten. Jahrzehnte später feiern Hipster in Mitte und Prenzlauer Berg bean to bar als letzten Schrei am schokoladenbraunen Nachhaltigkeitshimmel.

Nach dem Mauerfall wuchs Berlins süße Mitte wieder zusammen.

Insgesamt hat sich die kulinarische Vielfalt in Berlin seit der Wende enorm vergrößert. Neue Gourmet-Restaurants haben sich in Berlin niedergelassen; die Zahl der Cafés explodierte, 9000 soll es in der Hauptstadt geben. Engagierte junge Leute, mit guten Ideen, aber oft wenig Kapital, wagen den Schritt, kleine Manufakturen, Confiserien und Cafés aufzumachen. Rund 100 Jahre nach dem Boom zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzt eine neue Glanzzeit des Süßen in der neu gekürten Hauptstadt ein.

Plötzlich öffnen Schlag auf Schlag in’t Veld am Helmholtzplatz, Doçura in Kreuzberg, Der Süßkramdealer und Frau Behrens Torten in Friedenau, Das süße Leben, Mamsell und Winterfeldt Schokoladen in Schöneberg, das Cupcake und das Olivia in Friedrichshain – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Diese Pioniere starten kulinarische Kleingewerbe, als die Mieten in Berlins Innenstadt noch bezahlbar sind.

Aufwind bekommt die bis dato eher kleine, feine Szene Ende 2000, als die tausendfach variierte Geiz-ist-geil-Mentalität abnimmt. Die Trendwende zeigt sich auch bei den Süßwaren: Auf einmal will man statt einem unkaputtbaren Muffin, den man nach einem 8-Stunden-Tag noch heil aus dem Parka befördern kann, lieber ein Stück mächtiger Orangen-Buttercremetorte nach Tante-Erna-Rezept (gern auch in veganer Variante) verspeisen. Und statt hässlichen To-go-Müll zu produzieren, möchte man seinen Kaffee nun aus einer nachhaltigen – und schönen – Porzellantasse trinken. In nur zehn Jahren (2008-2018) hat sich in Berlin die Zahl der Konditoreien fast verdreifacht: von 44 auf 110 Betriebe.

Die Berliner entdecken wieder ihre Freude an handwerklich hergestellten Qualitätslebensmitteln, auch wenn die meisten verkauften Schokoladen- und Backerzeugnisse nach wie vor Industriemassenprodukte aus dem Supermarkt sind. Aber Schokolade, Pralinen und Gebäck gelten nun auch wieder als hochwertige edle Produkte, die man zum Glas Wein oder zum guten Buch nascht – gern bio, bean to bar, handgeschöpft, mit Fair-Trade-Siegel. Die Konsumenten zeigen größeres Interesse an Themen wie Nachhaltigkeit und fairen Arbeitsbedingungen. Man möchte keine »Kinderarbeitsschokolade« mehr essen. Auch fragt die Öffentlichkeit bei Traditionsunternehmen kritisch nach, ob während der Nazizeit Zwangsarbeiter beschäftigt wurden. Das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide hat hierzu viel Material zusammengetragen.

Es fällt auf, dass im ersten und zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine gewisse Feminisierung der Kaffeehauswelt stattgefunden hat. Hundert Jahre zuvor waren Kaffeehäuser oft dunkle, verräucherte Stuben für Herren im Zylinder mit Zeitung und Zigarre. Frauen waren eher unerwünscht. Manche Cafés hatten ein Raucher- und ein Billardzimmer, zu denen dem weiblichen Geschlecht der Zutritt verwehrt wurde. Frauen sollten sich mit dem Damensalon begnügen oder zu Hause bleiben.

Der Trend geht auch jetzt weg von Ritter Sport hin zu Frau Behrens Torten (mit Standorten in Charlottenburg, Friedenau und Kreuzberg), zur Mamsell (Schöneberg) oder Friedas Glück (Weißensee). Die Aufwertung der Confiserien gehört dazu, oft ein Ein-Frau-Unternehmen, ohne Scheu vor fliederfarbenem Dekor und Blümchentapete (wenngleich oft halbironisch zitiert).

Die Berliner Avantgarde bedient im Zeitalter des Individualismus einen ausdifferenzierten Geschmack: Heute reicht es nicht mehr, Schokolade in drei Sorten – Zartbitter, Vollmilch, Nuss – anzubieten. Eine neue Lust am Experimentieren zeichnet die jungen Patissiers und Konditoren aus. Auf dem Naschmarkt in der Markthalle Neun in Kreuzberg – einem Fest der guten süßen Dinge und der Handwerkskunst – kann man staunen, was es für originelle Manufakturen auf dem süßen Sektor in Berlin und Brandenburg gibt.

Bemerkenswert ist, wie viele der süßen Pioniere aus dem europäischen Ausland, aber auch aus Japan, Syrien, der Türkei, Israel, Brasilien und den USA stammen – oder im Ausland, zum Beispiel in Paris, Singapur oder Tokio, in Patisserien gearbeitet haben, um dann ihren Traum vom eigenen Café oder der kleinen Manufaktur in Berlin zu verwirklichen.

Seitdem ich selber vor drei Jahren eine Schokoladenmarke – Preussisch süß  Berliner Stadtteilschokolade – gegründet und mich intensiv mit der handwerklichen Seite von süßen Kreationen beschäftigt habe, weiß ich das Können von Berlins Spitzenpatissiers, Konditoren, Bäckern und Chocolatiers noch mehr zu schätzen.

Es fiel mir schwer, eine Auswahl an süßen Orten für dieses Buch zu treffen. Mühelos hätte ich die doppelte Zahl an Seiten füllen können. Aus Platzgründen konnte ich viele wunderbare Cafés, Konditoreien, Confiserien und Manufakturen, die ich besucht habe, nicht berücksichtigen. Der unglaublichen Vielfalt an Eis-Cafés in Berlin kann ich in diesem Buch nicht gerecht werden. Nur eine kleine Auswahl davon stelle ich hier vor. Traditionsunternehmen haben mich ebenso interessiert wie neue süße Orte mit innovativem Ansatz. Ich habe ferner türkische, syrische, israelische, amerikanische, irische, portugiesische, französische, italienische, japanische, schwedische, österreichische, schweizerische und polnische Seiten der Süßspeisenkultur berücksichtigt, denn Berlin ist multikulinarisch!

CHARLOTTENBURG – WILMERSDORF – HALENSEE – DAHLEM – GRUNEWALD