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Misa – Die Geisterkatze von Stralsund

Janika Hoffmann

Buch 1 der Katzenreihe





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Für Calypso
Du lehrst mich Geduld.




© Janika Hoffmann 2020

Machandel Verlag Haselünne

Charlotte Erpenbeck

Cover-Gestaltung: Charlotte Erpenbeck

Coverkatze: lunokat/shutterstock.com

Innen-Illustration: Diana Finch/shutterstock.com

1. Auflage 2020

ISBN 978-3-95959-271-0

Über diese Geschichte und die historischen Ereignisse in Stralsund


„Misa – Die Geisterkatze von Stralsund“ erzählt eine Geschichte, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Hafenstadt spielt. Und auch, wenn es Sie vielleicht überraschen mag – diese Geschichte lehnt sich an reale Ereignisse an. Nicht die Katze Misa selbst; auch von Erzählungen um einen guten Geist, der über die Stadt wacht, habe ich nie gehört. Aber die Geschichte um die schwere Sturmflut – die ist wahr.

Als mir die Idee zu dieser Geschichte kam, lautete der Arbeitstitel noch „Die Katzen von Rotterdam“. Er hatte für mich einfach einen schönen Klang, und die Idee einer Katze in einer Hafenstadt gefiel mir sehr gut. Der Verlag äußerte dann jedoch den Wunsch, die Geschichte wenn möglich in Ostdeutschland anzusiedeln. Nun gut, grundsätzlich kein Problem, es gab dort ja durchaus einige Küstenstädte zur Auswahl. Aber wenn ich schon diesen Auftrag erhalten hatte, dann wollte ich es schon richtig machen. Also begann ich über Städte in Ostdeutschland Ende des 19. Jahrhunderts zu recherchieren – kurz vor der Erfindung des Automobils, das war mir wichtig, denn ich wollte nicht, dass Misa von einer neuen Erfindung überfahren wird und ihr das als Unwissenheit ausgelegt werden kann. Das hätte ihrem innigen Wunsch, das Katzenjunge zu retten, dass sie alles darüber vergisst, die Tiefe genommen.

Ich stieß also auf Zeichnungen von Stralsund und dachte mir: Ja, das passt. Im Laufe dieser Recherchen las ich mich auch in die Stadthistorie ein. Ich hatte damals die Idee, die Feuerszene als Finale der Geschichte zu setzen, und wollte schauen, ob es zufällig einen passenden Brand innerhalb der gesuchten Zeitspanne gab. Stattdessen fand ich die verheerende Ostseesturmflut von 1872 und wusste, dass ich ein neues Ende entdeckt hatte. Zwar gab es auch in jener Nacht ein Feuer – eine Kalkniederlage geriet in Brand, und es gibt sehr anschauliche Augenzeugenberichte über das Zusammenspiel beider Naturgewalten Feuer und Wasser –, doch die Berichte über die zwei Menschen auf dem Mast eines Schiffes im Hafen waren noch eindringlicher. Mir war schnell klar, dass dieser Bericht zu gut archiviert war, um genau diese beiden Menschen für die Geschichte herzunehmen und doch noch zu retten, und so erhielten sie zwar ihren Auftritt, mussten aber doch untergehen. Stattdessen erfand ich die Geschichte rund um einen Arbeiter, der in einem der Speicher übernachtet hatte und darüber fast ertrunken wäre.

An dieser Stelle findet der historische Bezug sein Ende. Die Stadttore gab es wirklich, auch wenn zwischenzeitlich leider viele von ihnen weichen mussten. Ich hatte an die Geschichte allerdings nie den Anspruch, eine historische Begebenheit akkurat wiederzugeben und mit fiktiven Elementen zu verweben. Die komplette restliche Geschichte ist daher frei erfunden.

Dennoch hege ich die Hoffnung, dass einige von Ihnen nun vielleicht Interesse daran verspüren, Stralsund einmal zu besuchen oder nachzulesen, wie es zu jener schweren Ostseesturmflut kommen konnte.

Und selbst wenn nicht, so hoffe ich, dass Sie wenigstens eine schöne Zeit beim Lesen meiner Geschichte gehabt haben. Und wenn Sie einmal nach Stralsund kommen und dort auch übernachten, denken Sie daran, der Geisterkatze ein Schälchen mit guten Gaben hinauszustellen. Misa wird es Ihnen danken.


Janika Hoffmann


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Über die Buchreihe


Die Katzen-Reihe im Machandel Verlag entstand als reines Spaß-Projekt. Ich fand einige Katzenbilder, die ich bei shutterstock.com sah, so schön, dass ich sie gerne auf einem Buchcover gesehen hätte. Deshalb stellte ich diese Bilder im Tintenzirkel-Autorenforum vor und fragte die Autorinnen und Autoren, ob sie passend zu den Bildern eine Geschichte schreiben mochten. Ziemlich schnell meldeten sich ziemlich viele Teilnehmer, Katzen haben offenbar eine breite Fan-Basis. Am Ende beschlossen wir ein Experiment. Jede Katzengeschichte, egal, wie lang oder wie klurz sie ist, bekommt ihr eigenes Buch, und es sollte 2020/2021 ein Jahr lang jede Woche eine Katzengeschichte erscheinen.

Ja, und dann kam Corvid-19. Die Leipziger Buchmesse 2020 fiel aus, die Buchhandlungen schlossen, Amazon stellte vorübergehend den Buchversand komplett ein und die Verlage gerieten ebenso wie die Autoren ins Schlingern. Am Ende lief es darauf hinaus, dass die Geschichten trotzdem alle erscheinen, wie geplant jede in ihrem eigenen Buch, aber dass sie über einen größeren Zeitraum verteilt werden mussten und die Reihenfolge ihres Erscheinens sich stark verschob.

Irgendwann im kommenden Jahr wird die ganze Reihe hoffentlich komplett sein. Freuen Sie sich jetzt schon auf 52 Bücher Katzengeschichten!


Charlotte Erpenbeck, Verlegerin

In den Fluten


Entsetzt kroch Misa an die Kante des Dachs und spähte in die Tiefe. Unter ihr schwappte das Wasser, trieb voran gegen die Stadtmauer und trug Trümmer und Müll mit sich. An der Mauer prallte es ab, strömte nach beiden Seiten hinter die Speicher, ehe es zurück gen Meer gesogen wurde, um sich mit einer neuen Welle zu vermengen.

Misa konnte nicht fassen, dass der Mensch dort hinuntergefallen war. Nicht nach allem, was die Männer und sie getan hatten, um ihm zu helfen! Wäre er nur etwas weiter gesprungen – er wäre so gut wie sicher gewesen! Verzweifelt kroch sie an der Kante des Dachs entlang, suchte das Wasser zwischen Speicher und Stadtmauer ab.

Tatsache, da war er! Eine Hand streckte sich aus den Fluten, dann klammerte der Mann sich an einen Vorsprung, den er im Gemäuer gefunden haben musste. Das Wasser zerrte an ihm, jede neuerliche Welle drohte ihn fortzuspülen, doch vorerst hielt er stand. Er hustete und spuckte, hielt sich mit aller Kraft an dem rettenden Vorsprung fest.

Misas Gedanken rasten. Sie musste etwas tun, sie konnte ihn doch da unten nicht sterben lassen! Ruhelos blickte sie sich um, dann sprang sie auf und lief zurück zur Leiter. Es waren nur wenige Schritte; der Mensch hing beinahe genau unter dem Fenster, in dem seine Retter warteten.

Der Fischer blickte Misa entgegen und winkte. „Wo ist er?“, rief er herüber. „Hast du ihn gefunden, Geisterkatze?“

Seine Worte verstärkten ihre Verzweiflung nur noch. Sie war hier herausgekommen, damit sie beide in Sicherheit waren. Der Mann auf dem Dach und der Fischer, der sonst womöglich an seiner Stelle in die Fluten gestürzt wäre. Wenn sie jetzt nicht bald etwas tat, würde der Alte womöglich doch noch herüberkommen, weil er nicht gesehen hatte, dass es zu spät war. Vielleicht wäre er so schlau, sich ein Seil um den Körper zu binden, doch wenn er erst einmal fiel …

Das Seil! Die Männer hatten tatsächlich ein Seil mitgebracht! Eine Idee formte sich in Misas Gedanken, kein Einfall, der ihr gefiel, aber vielleicht die einzige Chance, den Mann im Wasser noch zu retten. Nicht mehr lang, dann würden die Wellen ihn endgültig mit sich reißen. Die Männer mussten vorher auf ihn aufmerksam werden, sonst würde er ertrinken.

Misa blieb keine Zeit, sich dem Helfertrupp verständlich zu machen. Wie hätte sie das auch tun sollen. Sie konnte nur hoffen, dass das Seil, das die Männer mitgebracht hatten, lang genug sein würde. Sie nahm Blickkontakt zu dem Fischer auf, starrte ihn eindringlich an und maunzte über den Sturm hinweg. Unverständnis zeichnete sich auf seinen Zügen ab, doch das war vorerst unwichtig. Es ging ihr nur darum, dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Dass er mitbekommen würde, was sie tat, und ihr hoffentlich nachblicken würde.

Mit dieser Hoffnung sprang sie.

Die Kälte, als sie in die Fluten eintauchte, traf sie wie ein Schock. Das Wasser schlug über ihr zusammen, hüllte sie in ein Wirrwarr aus Hell und Dunkel. Dinge trieben an ihr vorbei, und auch sie selbst wurde mitgerissen.

Misa hatte sich zuvor keine Gedanken darüber gemacht, ob sie als Geisterkatze noch atmen musste. Erst jetzt setzte die Panik ein, und mit einigen Sekunden Zeitverzögerung begann sie zu strampeln und Wasser zu treten. Dennoch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie die Oberfläche durchbrach.

Der Kraft des Meeres hatte sie nichts entgegenzusetzen. Misa blieb nichts anderes übrig, als Geduld zu haben, wo eigentlich keine Zeit zu verlieren war. Sie fand ihren Rhythmus, mit dem sie sich halbwegs an der Wasseroberfläche halten konnte, und so versuchte sie gar nicht erst, in eine bestimmte Richtung zu paddeln. Sie konnte nur hoffen, dass das Meer sie nicht hinaus in den Hafen und offene Gewässer ziehen würde.

Die Wellen schienen ihr gewogen. Nachdem sie den Mann, der sich noch immer an den Vorsprung klammerte, endlich entdeckt hatte, stellte sie fest, dass sie ihm näherkam. Das Wasser trieb sie auf ihn zu, zog sie dann wieder fort, doch sie wurde mit jeder Welle ein wenig näher an ihn herangespült.

Über ihr erklangen hektische Rufe. Sie hatte keine Zeit, den Kopf zu recken und nachzuschauen, was die Männer dort oben taten. Sie konnte nur hoffen, dass der Fischer sie noch im Blick hatte und dass er durch sie den Mann an dem Vorsprung entdecken würde.

Endlich hatte sie den vom Ertrinken Bedrohten erreicht. Er sah so geschwächt und verfroren aus, dass sie einen Augenblick lang Angst verspürte, er würde vor Schreck loslassen, wenn er sie sah. Doch jetzt war es zu spät, darüber nachzudenken. Als die Wellen sie direkt an ihm vorbei trieben, reckte sie sich und hakte die Krallen in seine Jacke. Das war nicht ganz einfach; der Stoff war dick und glatt, doch zu ihrer Erleichterung spürte sie, dass sie irgendwie Halt fand. Mit aller Kraft zog sie sich auf die Schultern des Mannes.

Der Mensch hustete und würgte schon wieder – oder noch immer, sie wusste es nicht. Unendlich langsam wandte er den Kopf, und seine Augen benötigten einen Moment, ehe sie auf Misa fokussierten. Seine Lippen waren bereits blau. Es war bereits viele Winter her, doch Misa hatte einmal einen Erfrorenen gesehen. Sie wusste, dass die blauen Lippen kein gutes Zeichen waren. Noch aber schien der Mann nicht aufgegeben zu haben; er betrachtete sie zwar voller Furcht, doch aus seinen Augen strahlte auch Entschlossenheit. Er wollte leben.

Misa schmiegte sich an seinen Nacken, auch wenn sie wusste, dass sie ihm keine Wärme geben konnte. Jetzt, wo sie auf seinen Schultern Halt gefunden hatte, konnte sie endlich nach oben blicken. Der helle Schein des Fensters lag hoch, viel zu hoch. Ihre Hoffnung wollte schwinden. Doch da war Bewegung in der Fensteröffnung, hektische Rufe drangen über den Sturm hinweg an ihre Ohren. Zum ersten Mal seit ihrem Tod fühlte sie sich erschöpft, und so blinzelte sie immer häufiger, während sie hinaufstarrte und durch den Regen zu erkennen versuchte, was dort oben geschah.

Sie schreckte erst wieder auf, als etwas vor ihr ins Wasser klatschte. Das Platschen war nicht sehr laut, unterschied sich kaum vom Tosen des Sturms und der Wellen. Aber in Verbindung mit der Bewegung, die sie durch halb geschlossene Augen wahrnahm, erweckte es ihre Aufmerksamkeit. Sie hob die Lider und betrachtete das Wasser vor ihr.

Das Seil! Die Männer hatten es tatsächlich heruntergeworfen. Es war lang genug! Und nicht nur das. Misa erkannte einen Knoten dicht unter der Wasseroberfläche. Die Männer hatten das Ende zu einer Schlaufe gebunden. Misa wusste nicht genau, wozu das gut sein sollte, doch für den Moment zählte nur, dass das Seil da war. Mit einem schnellen Blick versicherte sie sich, dass die Menschen oben am Fenster standen und das andere Ende festhielten. Eine Gestalt beugte sich hinaus und spähte zu ihr herab. Im Zwielicht war sie sich sicher, dass es sich um das Antlitz des Fischers handelte.

Misa fasste neuen Mut. Sie stupste den Mann an, auf dessen Schultern sie kauerte. Als er nicht sofort reagierte, maunzte sie ihm ins Ohr, so laut sie konnte. Der Mensch schrak zusammen, hob den Kopf ein Stück und blickte sich um. „Wie …“, stammelte er, „… was?“

Misa maunzte erneut, dann versetzte sie ihm einen leichten Schlag mit einer ihrer Pfoten. Seine Reflexe arbeiteten nur noch sehr zeitversetzt, es dauerte viel zu lang, ehe er den Kopf abwandte, um sich vor einem weiteren Schlag zu schützen. Doch immerhin blickte er nun in die richtige Richtung. Es dauerte quälend lange, und Misa hatte schon Sorge, er würde nicht begreifen, doch dann spürte sie, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Er klammerte sich weiterhin an den Vorsprung, doch er richtete sich auf und spähte in die Höhe. Er hatte das Seil also gesehen!

„D…danke!“, stammelte der Mann, das Wort kam ihm vor lauter Bibbern nur noch zögerlich über die Lippen. Er streckte eine Hand vor, wartete darauf, dass die Wellen ihm das Seilende zuspielen würden.

Der Moment kam nicht. Als wollte das Schicksal ihn verhöhnen, trieb das Wasser das Tau immer wieder ein Stück in seine Richtung, nur um es dann wieder fortzuziehen, ehe er es erreichen konnte. Wieder und wieder reckte er die Hand, und wieder und wieder scheiterte er. Immer häufiger musste er die Hand außerdem zurückziehen, um sich festzuklammern und nicht selbst fortgespült zu werden. Der Sturm war wieder stärker geworden, und mit ihm gewann auch die Flut an Höhe und Kraft.

Misa schmiegte sich an den Nacken des Mannes. Selbst durch seine dicke Jacke hindurch bildete sie sich ein zu spüren, wie sein Puls schwächer wurde. Sein Körper kühlte immer mehr aus, und gleichermaßen wuchs in ihr die Befürchtung, dass er jeden Moment einfach loslassen würde. Eindringlich maunzte sie ihm ein weiteres Mal ins Ohr, um ihn bei Bewusstsein zu halten.

Der Mann wandte den Kopf weit genug, dass er sie anblicken konnte, und ein leises Lächeln stahl sich auf seine mittlerweile tiefblauen Lippen. „Du h…hast ja … rech…t“, bibberte er. Er atmete noch einmal mehr oder minder tief durch, dann fasste er erneut das Tau ins Auge.

Instinktiv krallte Misa sich an seiner Jacke fest. Sie ahnte, was er gleich tun würde. Ein letzter, verzweifelter Versuch. Seine letzte Chance zu überleben. Misa bezweifelte, dass er überhaupt noch in der Lage sein würde, sich an dem Tau festzuhalten, während die anderen Männer ihn hinaufzogen. Doch sie würde bei ihm bleiben, bei seinem Versuch zu leben. So oder so.

Eine weitere Welle drängte von hinten heran, und diesmal gab der Mensch sich keine Mühe, sich festzuklammern. Sofort zerrte das Wasser an ihm und trug ihn mit sich, und Misa spürte, wie viel Mühe er hatte, den Kopf über Wasser zu halten. Dennoch streckte er die Hände vor, paddelte vermutlich mit den ausgekühlten Beinen.

Auch das Tau war vom Wasser ein Stück fortgetrieben worden. Beinahe sah es so aus, als würde es zu sehr an die Wand gedrückt; als würde der Mann daran vorbeitreiben und um die Ecke gespült werden. Im letzten Moment jedoch bekam er das Tau zu packen, und irgendwie gelang es ihm, es nicht gleich wieder loszulassen, als das Wasser stärker an ihm zerrte.

Über ihnen ertönten ermutigende Rufe. Misa war sich nicht sicher, ob auch der Mann sie vernehmen konnte, also maunzte sie ihm stattdessen ins Ohr. Insgeheim jedoch wuchs ihre Sorge. Wie sollte es nun weitergehen? Der Mann würde sich nicht ewig festhalten können!

Doch das musste er auch nicht, und er selbst hatte das viel besser erkannt als Misa. Er atmete tief ein, dann tauchte er unter. Vor Schreck konnte Misa nichts anderes tun, als sich festzuklammern, und zum Glück tauchte der Mann den Kopf schon wenige Sekunden später wieder aus den Fluten. Etwas schabte an Misas Rücken, und als sie zur Seite auswich, erkannte sie, dass es der Knoten des Seils war. Natürlich! Der Mann war in die Mitte der Schlinge getaucht, sodass sie sich um seine Brust schlang. Der Knoten lag hinter seinem Nacken, und als das Wasser an dem menschlichen Körper zerrte, zog die Schlinge sich enger zusammen. So würde er nicht hinabstürzen können, wenn seine Kräfte ihn verließen!

Misa kauerte sich auf eine der Schultern des Mannes, um nicht von dem Seil erdrückt zu werden. Dann maunzte sie hinauf zum Fenster, schrie regelrecht in den Himmel und hoffte, dass ihre Stimme nicht davongetragen würde.

Ihr Ruf kam an. Es dauerte nur einen Moment, dann straffte sich das Seil, und der Ruck, als der Mann ein Stück aus den Fluten gehoben wurde, hätte Misa beinahe von seiner glatten Jacke rutschen lassen. Sie klammerte sich verbissen fest, maunzte ihm immer wieder ins Ohr, um ihn wachzuhalten. Sie spürte ganz genau, dass er dabei war, fortzudriften, und auch wenn er nun nichts mehr tun musste, um gerettet zu werden, war sie sich sicher, dass es für ihn kein gutes Ende nehmen würde, wenn er nun einschlief.

Einen Moment lang pendelten die beiden noch haltlos in der Luft, dann prallte der Mann gegen die Hauswand. Er wurde daran entlang hinaufgezogen, doch bis auf ein gelegentliches Stöhnen schien ihn das nicht zu stören, ja, er schien es kaum noch mitzubekommen. Misa hatte alle Mühe, so dicht an der Wand und dem Wind erneut ausgesetzt auf seiner Schulter zu balancieren, doch als ihr Maunzen erneut lauter wurde, galt das nicht ihrer eigenen Sicherheit. Sie feuerte die Männer in dem Haus an, schneller zu arbeiten, um den Mann unter ihren Pfoten zu retten.

Es dauerte ewig, bis der Mensch endlich unter dem hellen Schein des Fensters hing. Hände streckten sich hinaus, griffen nach dem beinahe Ertrunkenen. Misa gelangte mit einem gewagten Satz zwischen die Männer auf die Fensterbank, schlüpfte zwischen ihnen hindurch und sprang in das Zimmer, in dem ihr Rettungsmanöver begonnen hatte. Sie kauerte sich in eine Ecke, schüttelte sich, auch wenn sie wusste, dass sich kein Wasser in ihrem Fell festsetzen konnte, und beobachtete das weitere Geschehen.

Die Männer gaben sich keine große Mühe, vorsichtig zu Werke zu gehen. Hastig zerrten sie den Menschen über die Kante, hinein in den Raum, und legten ihn auf den Boden. Einer von ihnen verschloss das Fenster, sperrte den Sturm aus. Es folgten hektische Rufe, die Hausherrin rannte fort und kehrte mit Decken wieder. Der gerettete Mann wurde von dem Tau befreit, dann beugten sich zwei der Retter über ihn. Misa konnte nicht sehen, was sie taten, doch nach einer Weile hustete der Gerettete und spuckte Wasser. Danach gab er den Männern heiser Antwort auf ihre Fragen. Er wurde aufgerichtet, in mehrere Decken gehüllt und bekam von der Frau des Hauses eine Tasse mit einer warmen Flüssigkeit in die Hand gedrückt.

Ein Schatten legte sich über Misa, dann ging der Fischer vor ihr in die Hocke. Instinktiv zuckte sie zurück, als er ihr ein Tuch aus groben Stoff entgegenreckte, doch der Alte schien damit gerechnet zu haben. „Na, na, na“, sagte er beruhigend, „ich will dir doch nur helfen.“

Misa zögerte – sie war doch überhaupt nicht nass! Dann jedoch ließ sie ihn gewähren und konzentrierte sich darauf, dass ihr Körper für seine Berührung nicht durchlässig sein würde. Sie konnte nicht nass werden, das stimmte, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, war sie dennoch durchgefroren. Vielleicht war es nur eine Erinnerung an die Zeiten, als sie noch lebendig gewesen war. Vielleicht war es auch einfach eine Folge der ausgestandenen Aufregung und Furcht. In jedem Fall fühlte es sich nach einem Moment sogar angenehm an, wie das Tuch über ihren Rücken strich, und so ließ sie sich die Prozedur gefallen. Sie ertappte sich sogar dabei, wie sie leise zu schnurren begann.

„Du hast ihn gerettet“, wisperte der Fischer, während er sie abrieb. Seine Augen waren voller Staunen. „Ich weiß nicht, wie es dich geben kann, aber eins steht fest – du bist wirklich der gute Geist von Stralsund. Du schützt unsere Stadt.“

Misa blinzelte verwundert zu ihm auf, dann maunzte sie leise. Eine unglaubliche Zufriedenheit durchströmte sie – sie war tatsächlich glücklich darüber, einen Menschen gerettet zu haben. Und auch die Anerkennung, die ihr dafür zuteil wurde, tat ihr gut. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie sich nicht zu sehr darin sonnen durfte. Die Menschen durften nicht zu viel Zutrauen zu ihr fassen. Sie war keine Hauskatze. Das war sie nie gewesen, zumindest seit ihrer Flucht in die Gassen als Kätzchen nicht mehr. Und sie würde auch niemals wieder eine zahme Katze werden. Sie war eine Geisterkatze, eine Schattengestalt, die sich den Menschen nur zeigen würde, wenn sie ihrer Hilfe bedurften.

Und mit diesem Gedanken schlüpfte sie unter dem Handtuch hervor, schenkte dem Fischer ein letztes Maunzen und ließ ihren Körper dann zur Unsichtbarkeit verblassen.

Es war an der Zeit, ihr neues Leben anzunehmen und der Stadt Stralsund tatsächlich ein guter Geist zu werden. Einer, der nur zu sehen war, wenn es wirklich wichtig war, und dem Katzen und Menschen in der Not folgen würden.




ENDE

Der Wächter


Es heißt, ein guter Geist wache über Stralsund. Niemand spricht offen darüber, kein Stadtführer erwähnt es in seinen Vorträgen. Aber wer abseits der großen Straßen wandert und jene Leute fragt, deren Familien bereits seit Generationen in der Stadt leben, der wird vielleicht mit einer Geschichte belohnt. Einer Geschichte, die von einer einfachen Streunerkatze erzählt, vom Misstrauen gegenüber Menschen und einem Leben nach dem Tod. Einer Geschichte, wie Stralsund eine unsichtbare Patronin bekam …


Freiheit


Das Maunzen war weithin zu hören. Klagend klang es, kündete von Verwirrung und Furcht. Die schmalen Gassen trugen den Laut bereitwillig weiter, warfen ihn zurück und füllten den Stadtteil damit. Fast hörte es sich an, als würden etliche Stimmen ihr Miauen gen Himmel richten, nicht nur eine einzelne Katze.

Ein Schauer lief über Misas Körper, als sie die Not in dem Ruf des Artgenossen vernahm. Wer war das, der sie in ihrer Ruhe aufstörte? So gerne sie vor einer der Fensteröffnungen ihres Speichers lag, sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließ und das Gefühl genoss, ihren Magen mit einer fetten Maus gefüllt zu haben, dieser Ruf hatte Vorrang.

Misa setzte sich auf und spielte mit den Ohren. Womöglich konnte sie bereits von hier aus erahnen, woher der Hilferuf stammte. Tatsächlich hatte sie bereits eine Vermutung, und mit dieser schien sie richtigzuliegen. In der Richtung, aus der das Maunzen erklang, lag der kleine Markt nahe des Hafens. Einer jener Orte, an dem die Menschen neuerdings härter gegen Katzen vorgingen. Allein bei dem Gedanken daran sträubte sich Misa der Pelz. Flüchtig fuhr sie sich mit der Zunge über das Fell an der Brust und auf dem Rücken. Wer ein Fellkleid trug, das so lang und dicht wie ihres war, musste es in Ordnung halten.

Sobald sie fertig war, machte sie sich auf dem Weg die Treppen und Leitern hinab und hinaus auf die Straße. Die Menschen mochten halb taub sein, doch dieses Maunzen würden vermutlich selbst sie hören. Besser, sie beeilte sich.

Sie hielt sich abseits der großen, gepflasterten Straße, auf der die Pferde mit ihren eisenbeschlagenen Hufen trampelten und die Kutschen der Menschen zogen. In den kleinen Wegen und Gassen war es ruhiger und sicherer. Hier liefen nur selten Menschen, und so konnte sie sich fortbewegen, ohne den Felllosen ausweichen zu müssen. Einzig die Hunde, die in einigen der Hinterhöfe zu Hause waren, galt es auf leisen Pfoten zu umrunden. Nicht ganz einfach, natürlich waren auch die Kläffer auf das Maunzen aufmerksam geworden und hatten ihre kleinen, menschengemachten Verschläge verlassen. Doch Misa kannte die Gassen und wusste, wo sie über Mauern und Zäune ausweichen konnte, und so kam sie schnell und unbemerkt voran.

Kurze Zeit später war das Miauen deutlich lauter geworden, ertönte jetzt unmittelbar vor ihr. Misa war nicht überrascht. Sie wusste genau, dass die Menschen hier einen ihrer Käfige aufgestellt hatten. Gewissermaßen war das die Schuld einiger Streuner. Misa hatte sie zigfach ermahnt, sich den Menschen auf dem Markt nicht so offen zu zeigen und nicht dauernd zu betteln, den Menschen nicht so sehr zu trauen. Doch die Alten, aber auch die unbesonnenen Halbstarken hatten nicht auf sie gehört, der Hunger war stärker gewesen und der Markt hatte leichtere Beute versprochen als die Lagerhäuser mit ihren Mäusen. Und so waren sie immer vorwitziger geworden, bis die Menschen sich gegen sie gestellt und Fallen rund um den Markt verteilt hatten.

In einer dieser Fallen saß nun offenbar die Katze in Not. Misa spähte umher, doch noch schien kein Mensch dem Wehklagen folgen zu wollen. Also duckte sie sich kurz, visierte eine halb zerfallene Mauer an und sprang dann mit zwei Sätzen hinauf auf den noch intakten Teil des steinernen Walls. Von dort aus schlich sie weiter auf das niedrige Flachdach eines Unterstands, der unmittelbar neben dem Käfig aufragte. Stumm spähte sie über die Kante.

Der Käfig war mit einigen Brettern und Unrat getarnt, ganz wie Misa es in Erinnerung hatte. Viel Mühe hatte die Gefangene sich offenbar nicht gegeben, sich zu befreien. Erst vor einigen Tagen hatte Misa gesehen, wie ein gefangener Kater den Abfall in dem Versuch, sich aus dem Gefängnis zu befreien, fortgestoßen hatte. Doch diese Kätzin hatte nichts dergleichen getan. Stattdessen drehte sie sich hektisch im Inneren des Käfigs hin und her, machte zwei Schritte zur einen, dann zur anderen Gitterwand. Dann und wann hielt sie inne, um an der zugefallenen Klappe zu scharren und ihre Krallen sinnlos an dem Metall abzuschaben. Die ganze Zeit über stieß sie ein herzzerreißendes Miauen aus.

Misa zuckte mit der Schwanzspitze. Was versuchte diese Katze da? Auf diese Weise würde sie niemals freikommen, sondern höchstens die Menschen in den umliegenden Häusern alarmieren. Wollte sie denn gefunden werden?

Diese Frage konnte Misa sich einen Moment später selbst beantworten, als die Gefangene kurz innehielt, um den Kopf gegen das Gitter zu pressen. Deutlich war jetzt das Geflecht um ihren Hals sichtbar. Eine Hauskatze! Kein Wunder, dass die Kleine so einen Aufstand machte – sie rief tatsächlich nach den Menschen und hoffte auf Hilfe von ihnen!