Über Colleen Hoover / Katarina Ganslandt

Colleen Hoover ist nichts so wichtig wie ihre Leser. Ihr Debüt ›Weil ich Layken liebe‹, das sie zunächst als eBook im Selfpublishing veröffentlichte, sprang sofort auf die Bestsellerliste der New York Times. Mittlerweile hat sie auch in Deutschland die Bestsellerliste erobert. Mit ›Nur noch ein einziges Mal‹ stand sie mehrere Wochen auf Platz 1. Weltweit verfügt sie über eine riesige Fangemeinde. Colleen Hoover lebt mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Texas.

Katarina Ganslandt spaziert mit dem Hund Elmo durch Berlin, surft im Netz durch die Welt und sammelt nützliches und unnützes Wissen, wenn sie nicht gerade Bücher aus dem Englischen übersetzt (mittlerweile sind es über 125).

Über das Buch

Nach einem tragischen Unfall muss Morgan nicht nur den Verlust von zwei geliebten Menschen verkraften, sondern kommt hinter ein albtraumhaftes Geheimnis: Ohne es zu wissen, lebte sie seit Jahren in einem Lügengebäude. Morgans einziges Bestreben ist es nun, zumindest für ihre 16-jährige Tochter Clara die Erinnerung an glückliche Zeiten aufrecht zu erhalten. Doch je mehr sie sich um das Wahren der Fassade bemüht, desto mehr entgleitet ihr die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter …

Unglaublich intensiv, absolut mitreißend und schonungslos ehrlich – typisch Colleen Hoover!

 

 

 

 

Für die brillante und faszinierende
Scarlet Reynolds

 

Ich freue mich jetzt schon auf den Moment, in dem
du dieser Welt zeigst, was du draufhast.

Kapitel 1
MORGAN

Gibt es das nur bei uns Menschen oder kennen auch andere Lebewesen das Gefühl, innerlich leer zu sein?

Wie kann es sein, dass in mir all das ist, woraus Körper so bestehen – Knochen, Muskeln, Blut, Organe –, und ich trotzdem das Gefühl habe, man könnte mir in den Mund brüllen und das Echo würde von den Wänden meines Brustkorbs widerhallen?

So geht das jetzt schon seit Wochen. Ich hatte gehofft, es würde von selbst wieder verschwinden, aber allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen. Eigentlich fehlt mir in meinem Leben nichts. Ich bin jetzt schon seit fast zwei Jahren mit einem sehr süßen Jungen zusammen, und wenn ich die paar Situationen nicht mitzähle, in denen sich Chris wie eine unreife Knalltüte aufführt (meistens in Verbindung mit Alkohol), ist er genau der Freund, den sich jedes Mädchen wünscht: fröhlich, witzig, sieht gut aus, liebt seine Mutter und weiß, was er will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese innere Leere etwas mit ihm zu tun hat.

Dann habe ich auch noch Jenny – meine ein Jahr jüngere Schwester und gleichzeitig beste Freundin. Ich liebe sie über alles, obwohl sie das komplette Gegenstück zu mir ist. Jenny ist spontan, sagt immer, was sie denkt, und hat ein herzhaftes Lachen, um das ich sie beneide. Ich bin zurückhaltender als sie und finde, mein Lachen klingt manchmal ein bisschen gepresst.

Wir machen immer Witze darüber, wie gegensätzlich wir sind und dass wir uns wahrscheinlich nicht ausstehen könnten, wenn wir keine Schwestern wären. Jenny fände mich todlangweilig, und mir würde ihre laute Art auf die Nerven gehen, aber weil unser Altersabstand so gering ist und wir immer schon ein Superteam waren, fühlt es sich für uns eher an, als würden wir uns gegenseitig ergänzen. Klar haben wir unsere Reibereien, aber wir vertragen uns auch schnell wieder. In letzter Zeit machen wir sogar noch mehr miteinander als sonst, weil sie seit Kurzem mit Chris’ bestem Freund Jonah zusammen ist. Die beiden waren im Jahrgang über mir und haben gerade ihren Abschluss gemacht. Seit Beginn der Sommerferien sind wir praktisch ständig im Viererpack unterwegs.

Hat dieses Gefühl der inneren Leere womöglich was mit meiner Mutter zu tun? Aber ich wüsste nicht, warum sie mir auf einmal fehlen sollte. Sie spielt schon lange keine wirkliche Rolle mehr in unserem Alltag. Ich habe mich damit abgefunden, dass Jenny und ich in der Elternlotterie nicht das große Los gezogen haben. Seit dem Tod unseres Vaters vor fünf Jahren ist Mom in unserem Leben praktisch nicht mehr vorhanden. Am Anfang war ich noch wütend, dass ich für Jenny quasi die Mutterrolle übernehmen musste, aber mittlerweile ist das okay für mich. Im Gegenteil, je älter ich werde, desto angenehmer finde ich es, dass da niemand ist, der sich ständig einmischt, uns vorschreibt, wann wir zu Hause sein sollen, und sich Sorgen um uns macht. Mit siebzehn habe ich Freiheiten, von denen andere in meinem Alter nur träumen. Es ist echt merkwürdig. In meinem Leben hat sich in letzter Zeit nichts verändert, was dieses Gefühl erklären könnte.

Oder ist da womöglich doch irgendwas, und ich habe nur Angst, mich damit auseinanderzusetzen …?

»Ich hab Hank getroffen«, unterbricht Jenny vom Beifahrersitz aus meine Grübeleien. Jonah fährt und Chris und ich sitzen hinten. Ich hatte aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt, jetzt sehe ich meine Schwester an, die sich mit leuchtenden Augen zu uns umdreht. Heute sieht sie ganz besonders süß aus. Sie hat sich eins von meinen Maxi-Kleidern geliehen und ist nur ganz wenig geschminkt. Ich habe mich noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass die sechzehnjährige Jenny so ganz anders ist als die fünfzehnjährige. »Er hat versprochen, uns für heute Abend was zu besorgen.«

Chris hebt grinsend die Hand und Jenny klatscht ihn ab. Ich sehe wieder aus dem Fenster und verbeiße mir jeden Kommentar. Ich weiß nicht, wie ich es finde, dass meine Schwester seit Neuestem kifft. Natürlich habe ich auch schon mal an einem Joint gezogen, aber Jenny ist erst sechzehn und konsumiert auf Partys fröhlich so ungefähr alles, was ihr angeboten wird. Das ist der Hauptgrund, warum ich mich meistens zurückhalte. Als die Ältere von uns beiden fühle ich mich für sie verantwortlich. Übrigens auch für Chris, der beim Feiern genauso einen Babysitter braucht. Der Einzige hier, auf den ich nicht aufpassen muss, ist Jonah. Nicht weil er nie trinken oder kiffen würde, aber irgendwie schafft er es immer, halbwegs vernünftig zu bleiben, egal, was er intus hat. Jonah ist der ausgeglichenste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich habe noch nie erlebt, dass er sich in irgendeiner Weise extrem verhalten hätte. Er bleibt ruhig, wenn er getrunken hat. Er bleibt ruhig, wenn er was geraucht hat. Er bleibt ruhig, wenn er feiert. Und selbst wenn ihn irgendwas wütend macht, bleibt er ruhig.

Chris und er sind schon von klein auf beste Freunde und so was wie die männlichen Ausgaben von mir und Jenny – in umgekehrter Paarung. Chris und Jenny machen Party, Jonah und ich sind ihre Sidekicks im Hintergrund.

Für mich ist das völlig okay. Ich verschmelze lieber mit der Tapete und gucke anderen Leuten zu, wie sie auf Tische klettern, als diejenige zu sein, die von allen angestarrt wird.

»Der Typ wohnt aber ganz schön weit weg«, sagt Jonah.

»So weit auch nicht«, widerspricht Chris. »Es sind nur noch etwa fünf Meilen.«

»Okay, vielleicht von hier aus. Ist aber trotzdem ein ziemlich langer Rückweg. Wer übernimmt den Fahrdienst?«, erkundigt sich Jonah.

»Ich nicht!«, rufen Jenny und Chris gleichzeitig. Jonah wirft mir im Rückspiegel einen Blick zu. Wir sehen uns an, nicken kurz, und damit ist geklärt, dass er heute nüchtern bleiben wird. Aus irgendeinem Grund klappt das mit der wortlosen Verständigung zwischen uns schon immer reibungslos. Vielleicht hat es was damit zu tun, dass wir uns so ähnlich sind und dadurch oft die gleichen Gedanken haben. Jenny und Chris haben von unserem Austausch wie üblich nichts mitbekommen. Stumme Kommunikation ist nicht ihr Ding. Sie platzen immer sofort mit allem raus, was ihnen durch den Kopf schießt, auch in Situationen, in denen es klüger wäre, den Mund zu halten.

Chris greift nach meiner Hand. Als ich mich ihm zuwende, beugt er sich vor und gibt mir einen Kuss. »Du siehst toll aus heute«, raunt er.

Ich lächle. »Danke. Du siehst aber auch nicht übel aus.«

»Schläfst du nachher bei mir?«

Bevor ich etwas sagen kann, hat Jenny sich schon zu uns umgedreht und beantwortet die Frage für mich. »Sorry, aber sie darf mich heute nicht unbeaufsichtigt lassen. Ich bin noch minderjährig und werde in den nächsten vier Stunden eine Menge Alkohol und vielleicht auch das eine oder andere illegale Rauschmittel zu mir nehmen. Wer soll mir heute Nacht beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht halten, wenn sie bei dir übernachtet?«

Chris zuckt mit den Schultern. »Jonah?«

Jenny lacht. »Jonahs Spießereltern erwarten, dass er um Punkt Mitternacht brav zu Hause ist. Das weißt du doch genau.«

»Jonah geht bald aufs College«, sagt Chris, als säße sein Freund nicht mit im Wagen und würde jedes Wort mitkriegen. »Höchste Zeit, wie ein echter Mann mal eine ganze Nacht wegzubleiben.«

Jonah ignoriert, dass über ihn gesprochen wird, und biegt bei einer Tankstelle ein. »Sollen wir noch irgendwas für die Party besorgen? Chips? Cola? Süßigkeiten?«

»Ich organisiere uns ein paar Bier«, sagt Chris.

Ich muss lachen. »Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass die dir Alkohol verkaufen.«

Chris grinst. Meine Bemerkung stachelt ihn natürlich erst recht an. Er steigt aus und schlendert zum Tankstellenshop, während Jonah nach der Zapfpistole greift. In der Mittelkonsole liegt die übliche Tüte Jolly Ranchers, und ich nehme mir eins von denen mit Wassermelonengeschmack, die Jonah immer übrig lässt, obwohl mir unbegreiflich ist, wie man sie nicht mögen kann. Das sind mit Abstand die besten.

Jenny schnallt sich ab und kommt zu mir auf die Rückbank geklettert. Sie zieht die Beine unter sich und verkündet mit blitzenden Augen: »Ich hab mir übrigens vorgenommen, heute mit Jonah zu schlafen.«

Ich sehe sie überrascht an. Plötzlich ist keine Leere mehr in mir; stattdessen fühle ich mich so schwer, als wäre mein Brustkorb mit Wasser gefüllt. »Bist du sicher? Du bist doch gerade erst sechzehn geworden.«

»Ja, eben. Genauso alt wie du, als du das erste Mal mit Chris geschlafen hast.«

»Aber da waren wir nicht erst seit zwei Monaten zusammen. Und ich bereue inzwischen, dass wir das nicht besser geplant haben. Er hat nach Tequila gestunken, ich war überhaupt nicht locker, und nach einer Minute war alles vorbei.« Ich stocke kurz, weil ich ihn nicht schlechtmachen will. »Seitdem hat er dazugelernt.«

Jenny lacht, dann lässt sie sich mit einem Seufzen ins Polster sinken. »Du solltest mich dafür loben, dass ich zwei Monate abgewartet habe.«

Mir wäre es lieber, sie würde noch ein Jahr warten oder am besten fünf. Wobei ich mich über mich selbst wundere. Sie hat ja recht – ich war bei meinem ersten Mal genauso jung wie sie jetzt. Und wenn sie schon unbedingt Sex haben muss, sollte es mich eher beruhigen, dass sie sich jemanden ausgesucht hat, von dem ich weiß, dass er einer von den Guten ist. Jonah ist wirklich der anständigste Typ, den man sich nur vorstellen kann. Obwohl schon seit einer Weile klar war, dass sich die beiden toll finden, ist er mit Jenny erst zusammengekommen, als sie sechzehn war. Für sie war das bestimmt frustrierend, aber ich fand es irgendwie cool von ihm.

Ich seufze. »Es gibt nur ein einziges erstes Mal, Jenny. Ich würde mir einfach für dich wünschen, dass du dich nicht betrunken auf irgendeiner Party in einem fremden Haus in einem fremden Bett entjungfern lässt.«

Jenny neigt den Kopf, als würde sie tatsächlich darüber nachdenken. »Na gut, dann machen wir es vielleicht im Auto.«

Ich lache laut auf. Aber nicht, weil ich das lustig finde, sondern weil sie sich über mich lustig macht. Chris und ich haben nämlich in einem Auto zum ersten Mal miteinander geschlafen. Zusammengequetscht auf der engen Rückbank im Audi seines Vaters, um genau zu sein. Absolut unspektakulär und unromantisch. Mittlerweile haben wir zwar besseren Sex, aber ich wäre froh, wenn ich an unser erstes Mal mit schöneren Erinnerungen zurückdenken könnte.

Am liebsten würde ich gar nicht daran zurückdenken. Und auch nicht darüber reden. Das ist ein Grund, warum es schwierig ist, die beste Freundin meiner jüngeren Schwester zu sein. Ich will mich für Jenny mitfreuen und möchte, dass sie mir alles bis ins letzte Detail erzählt. Und gleichzeitig habe ich das Bedürfnis, sie davor zu bewahren, dieselben Fehler zu machen wie ich. Für sie soll alles perfekt laufen.

»Okay.« Ich gebe mir größte Mühe, nicht zu muttermäßig rüberzukommen. »Aber wenn es wirklich heute Nacht passieren soll, versuch wenigstens, nüchtern zu bleiben, ja?«

Jenny verdreht die Augen und klettert wieder nach vorn auf den Beifahrersitz, als Jonah die Tür öffnet.

Chris ist mittlerweile auch zurück. Ohne Bier. Er rutscht auf die Rückbank, knallt die Tür zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Scheiß auf mein Babyface.«

Ich lache und streiche ihm über die Wange. »Ich mag dein Babyface.«

»Zum Glück.« Er beugt sich zu mir, um mich zu küssen, aber dann richtet er sich wieder auf und legt Jonah eine Hand auf die Schulter. »Versuch du es noch mal.« Er zieht ein paar Dollarscheine aus der Jacke und hält sie ihm hin.

»Meinst du nicht, dass es auf der Party genug Bier gibt?«, fragt Jonah.

»Hallo? Das ist die größte Abschlussparty des Jahres. Unser kompletter Jahrgang kommt und alle sind minderjährig. Glaub mir, wir müssen vorsorgen.«

Jonah greift widerstrebend nach dem Geld und steigt aus. Jetzt küsst Chris mich, diesmal mit Zunge. »Mhm? Was hast du im Mund?«

Ich zerbeiße das Bonbon. »Jolly Rancher. Wassermelone.«

»Gib mir was ab.« Er nähert sich wieder meinen Lippen.

Jenny stöhnt vorne laut auf. »Boah, widerlich.«

Chris zieht sich grinsend mit einem Bonbonsplitter im Mund zurück, den er krachend zerbeißt. »Komisch, dass die Party erst heute ist, oder?«, sagt er. »Mir ist es eigentlich egal, aber die Zeugnisübergabe ist immerhin schon sechs Wochen her. Bisschen spät, oder?«

»Vier Wochen«, sage ich.

»Sechs«, wiederholt er. »Heute ist der 11. Juli.«

Sechs?

Jeder Muskel in meinem Körper erstarrt. Ich versuche, mir vor Chris nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich schockt, was er gerade gesagt hat.

Es kann keine sechs Wochen her sein. Oder?

Wenn es aber doch sechs Wochen her ist, dann bedeutet das, dass ich … zwei Wochen überfällig bin.

Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Das Auto wackelt, als der Kofferraum geöffnet wird. Wir drehen uns um. Jonah schlägt die Klappe wieder zu, kommt um den Wagen rum und setzt sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln hinters Steuer.

»Schweinerei«, brummt Chris und schüttelt den Kopf. »Sie hat dich nicht nach deinem Ausweis gefragt?«

Jonah startet den Wagen und fährt los. »Sie hat eben gleich erkannt, dass ich ein echter Mann bin, mein Freund.« Er greift über die Konsole nach Jennys Hand.

Ich sehe zum Fenster hinaus, mein Magen ist verknotet, meine Hände sind feucht und mein Herz klopft zu schnell, während ich stumm an den Fingern die Tage abzähle.

Ich weiß genau, dass ich am Tag der Zeugnisübergabe meine Periode hatte, weil Chris so enttäuscht darüber war, dass ich nicht mit ihm schlafen wollte. Ich war überzeugt gewesen, das wäre erst einen Monat her. Aber wir vier haben in den Ferien so viel unternommen, dass ich jedes Zeitgefühl verloren habe.

Zwölf Tage. Ich bin zwölf Tage drüber.

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Auf der Party kann ich an nichts anderes denken. Am liebsten würde ich mir Jonahs Wagen leihen, um zur nächsten Nachtapotheke zu fahren und mir einen Schwangerschaftstest zu besorgen, aber dann würde er wissen wollen, wo ich hinwill. Und Jenny und Chris würden sich natürlich auch fragen, wo ich abgeblieben bin. Stattdessen muss ich den ganzen Abend inmitten einer Soundkulisse verbringen, die so laut dröhnt, dass ich das Vibrieren der Bässe in meinen Knochen spüre. Überall drängen sich verschwitzte Menschen, es gibt keine ruhige Ecke. Ich habe Angst, nur einen einzigen Schluck zu trinken. Bisher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich tun würde, wenn ich schwanger wäre, weshalb ich nicht besonders gut informiert bin. Ist Alkohol in einem so frühen Stadium schon schädlich? Egal. Falls tatsächlich ein Kind in mir wächst, will ich auf gar keinen Fall etwas machen, was ihm schaden könnte.

Gott, ich kann das alles echt nicht glauben.

»Morgan! Hey, Morgan!«, brüllt Chris quer durch den Raum und winkt mich zu sich. Er steht neben einem anderen Typen auf dem Tisch. Table Shots. Na toll, das ist sein Lieblingstrinkspiel und eine dieser Situationen, in denen ich meinen Freund lieber nicht erleben würde. Die beiden müssen auf einem Bein balancierend Shots trinken, bis einer das Gleichgewicht verliert. Bevor ich mich durchs Gewühl zu ihnen durchgekämpft habe, kippt der andere um und Chris rammt die Siegerfaust in die Luft. Als ich bei ihm bin, springt er vom Tisch, legt einen Arm um mich und zieht mich an sich.

»Trink und sei lustig!«, sagt er und hält mir ein Glas an die Lippen. »Sei keine Langweilerin.«

Ich schiebe das Glas weg. »Ich bin heute Fahrerin und trinke nichts.«

»Stimmt nicht, Jonah fährt. Du kannst dich locker machen.« Chris hält mir das Glas wieder hin, aber ich schiebe es ein zweites Mal weg.

»Jonah hat mich gebeten zu fahren«, lüge ich.

Chris schaut sich um. Ich folge seinem Blick und sehe auf der Couch neben uns Jonah mit Jenny, die rittlings auf ihm sitzt und ihre Beine um seine Hüften geschlungen hat. »Du bist doch heute unser Fahrer, oder?«, ruft Chris ihm zu.

Jonah blickt kurz zu mir, bevor er antwortet. Es ist nur ein ultrakurzer stummer Austausch. Er neigt leicht verwundert den Kopf, versteht aber sofort. »Bin ich nicht«, sagt er zu Chris. »Siehst du doch. Ich lasse es mir gut gehen.«

Chris lässt die Schultern hängen und schaut mich wieder an. »Dann muss ich eben allein Spaß haben.«

Ich versuche, mir seine Worte nicht zu nah gehen zu lassen, aber das fällt mir schwer. »Willst du damit sagen, dass du keinen Spaß mit mir hast, wenn ich nüchtern bin?«

»Doch, schon, aber mit der Nicht-nüchternen-Morgan hätte ich definitiv mehr Spaß.«

Ich schlucke trocken. Wow. Aber er ist betrunken, deswegen verzeihe ich ihm den blöden Kommentar erst mal. Ich habe weder Lust noch Nerven, mit ihm zu streiten. Mir gehen gerade wichtigere Dinge durch den Kopf.

Ich klatsche ihm mit beiden Händen auf die Brust. »Tja, die Nicht-nüchterne-Morgan kann heute Abend leider nicht hier sein, also musst du dir deinen Spaß wohl woanders suchen.«

Genau in diesem Moment packt der Typ von eben Chris am Arm und zieht ihn zum Tisch zurück. »Los, Alter. Rückspiel!«, grölt er.

Nachdem mein Nüchternheitsgrad nicht mehr Thema ist, nutze ich die Chance, vor Chris, dem Lärm und den vielen Menschen zu fliehen. Als ich auf die Terrasse trete, wird es schlagartig ruhiger. Die frische Luft, die mir entgegenweht, tut gut. Obwohl sich im Pool gerade ein Pärchen vergnügt und ich mir ziemlich sicher bin, dass die beiden Sachen machen, die aus Hygienegründen in einem Schwimmbecken eher verboten gehörten, finde ich es hier draußen viel angenehmer als im Haus. Ich rücke einen der Gartenstühle so hin, dass ich die zwei nicht sehen muss, setze mich und lehne mich mit geschlossenen Augen zurück. Die nächsten Minuten bemühe ich mich, jeden Gedanken daran zu unterdrücken, ob sich bei mir in letzter Zeit irgendwelche Schwangerschaftssymptome gezeigt haben und was das alles für meine Zukunft bedeuten würde.

Jemand zieht einen Stuhl über den Betonboden zu mir, aber ich will meine Augen jetzt nicht öffnen. Hoffentlich ist das nicht Chris. So betrunken, wie er ist, könnte ich ihn gerade nicht ertragen. Selbst Jenny in ihrer durch Fruit-Punch und Gras angefeuerten Sechzehnjährigkeit wäre mir jetzt zu viel.

»Alles okay bei dir?«

Als ich Jonahs Stimme erkenne, atme ich erleichtert aus. Ich drehe ihm den Kopf zu, mache die Augen auf und lächle. »Ja. Mir geht’s gut.«

Es ist deutlich zu erkennen, dass er mir das nicht abnimmt, aber das ist mir egal. Ich werde ihm ganz bestimmt nicht erzählen, dass ich überfällig bin, weil es ihn a) nichts angeht, ich b) nicht mal weiß, ob ich wirklich schwanger bin, und c) Chris der Erste sein sollte, der es erfährt, falls es so ist.

»Danke, dass du mir Rückendeckung gegeben hast«, sage ich. »Ich bin heute irgendwie nicht in Partystimmung.«

Jonah nickt verständnisvoll und hält mir einen der zwei Plastikbecher hin, die er mitgebracht hat. »Ist bloß Cola«, sagt er. »In einer der Kühltaschen hab ich ganz unten noch eine Dose entdeckt.«

Ich greife danach, trinke einen Schluck und lehne den Kopf wieder zurück. Cola schmeckt tausendmal besser als jeder Alkohol. »Wo steckt Jenny?«

Jonah nickt in Richtung Haus. »Balanciert einbeinig auf dem Tisch und trinkt Shots. Ich hab den Anblick nicht ertragen.«

Ich stöhne. »Gott, wie ich dieses Spiel hasse.«

Jonah lacht. »Warum sind wir eigentlich beide mit Leuten zusammen, die das komplette Gegenteil von uns selbst sind?«

»Du weißt doch. Gegensätze ziehen sich an.«

Jonah reagiert darauf nur mit einem Schulterzucken, was ich ein bisschen merkwürdig finde. Er sieht mich einen Moment lang an, dann schaut er weg. »Ich hab mitbekommen, was Chris zu dir gesagt hat. Keine Ahnung, ob du deswegen allein hier draußen sitzt, aber ich hoffe, du weißt, dass er das nicht so gemeint hat. Er ist bloß betrunken. Auf Partys vergisst er sich schnell mal, du kennst ihn ja.«

Ich finde es süß, dass Jonah ihn verteidigt. Auch wenn Chris manchmal ein bisschen unsensibel sein kann, wissen Jonah und ich, dass er ein größeres Herz hat als wir beide zusammen. »Ich würde nicht damit klarkommen, wenn er immer so wäre, aber das ist eure große Abschlussparty. Ich verstehe schon, dass er heute so richtig feiern will und sich wünscht, ich würde mitmachen. Er hat ja recht: Mit der Nicht-nüchternen-Morgan hat man mehr Spaß.«

Jonah sieht mich scharf an. »Der Meinung bin ich nicht.«

Ich wende den Blick ab und starre in den Becher in meiner Hand. Aus irgendeinem Grund passiert gerade etwas in mir, das mich nervös macht. Mein Brustkorb weitet sich und das Vakuum füllt sich mit Wärme und Vibration und Herzschlag. Das fühlt sich gut an und beunruhigt mich gleichzeitig, weil ich plötzlich eine dumpfe Ahnung habe, warum ich mich in den letzten Wochen oft so unausgefüllt gefühlt haben könnte.

Jonah.

Wenn wir allein sind, sieht er mich manchmal auf eine Art an, die in mir schlagartig ein Gefühl der Leere zurücklässt, sobald er wieder wegsieht. Wenn Chris mich anschaut, geht es mir nie so.

Diese Erkenntnis macht mir Angst.

Bis vor Kurzem kannte ich dieses warme Gefühl nicht, aber seit ich es immer häufiger erlebe, ist es, als würde ein Loch in mir klaffen, wenn ich es nicht spüre. Ich stütze mein Gesicht in beide Hände. Was für eine Scheiße. Das kann nicht sein, oder? Als würde etwas in mir die ganze Zeit nach einem fehlenden Teil suchen und ausgerechnet Jonah Sullivan wäre derjenige, der es in der Hand hält.

Ich stehe schnell auf. Ich muss weg von ihm. Ich liebe Chris, und es macht mich total unruhig, solche Gedanken zu haben, wenn ich mit seinem besten Freund allein bin. Natürlich könnte meine Unruhe auch am Koffein in der Cola liegen.

Oder an der Angst, schwanger zu sein.

Vielleicht hat es ja gar nichts mit Jonah zu tun.

Kaum bin ich aufgestanden, steht plötzlich Chris vor mir, schlingt beide Arme um mich und zieht mich mit sich in den Pool. Ich bin sauer und erleichtert zugleich, weil ich es keine Sekunde länger neben Jonah ausgehalten hätte. Dafür versinke ich jetzt im tiefen Ende des Beckens, obwohl ich nicht die geringste Absicht hatte, heute Abend komplett angezogen ins Wasser zu springen.

Chris und ich kommen gleichzeitig keuchend an die Oberfläche, aber bevor ich ihn anbrüllen kann, hat er mich auch schon an sich gezogen und küsst mich wild. Und ich mache mit, weil ich mich dringend ablenken muss.

»Wo ist Jenny?« Chris und ich heben den Blick zum Beckenrand, wo Jonah steht und ein bisschen genervt aussieht.

»Woher soll ich das wissen?«, sagt Chris.

Jonah stöhnt auf. »Ich hab dir doch gesagt, dass du auf sie aufpassen sollst. Sie ist betrunken.« Er geht zum Haus, um nach ihr zu suchen.

»Ich bin auch betrunken«, verteidigt sich Chris. »Man darf einen Betrunkenen niemals bitten, auf andere Betrunkene aufzupassen!« Er greift nach meiner Hand und schwimmt ein paar Züge, bis er wieder Boden unter den Füßen hat. Den Rücken gegen die Beckenwand gedrückt, zieht er mich an sich, legt sich meine Arme um den Nacken und umschlingt meine Taille. »Tut mir leid, dass ich das vorhin gesagt habe. Ich finde dich nie langweilig, Morgan. Egal, ob nüchtern oder nicht.«

Es erleichtert mich, dass er wenigstens gemerkt hat, wie daneben seine Bemerkung war.

»Ich wollte bloß, dass du heute Abend Spaß hast. Ich hab nicht das Gefühl, dass du welchen hast.«

»Jetzt schon.« Ich ringe mir ein Lächeln ab, weil er nicht merken soll, wie es in mir arbeitet. Aber ganz egal, wie sehr ich es zu verdrängen versuche – ich werde an nichts anderes denken können, bis ich Bescheid weiß. Ich mache mir Sorgen. Um mich, um ihn, um unsere Beziehung, um das Baby, das wir womöglich in die Welt setzen, bevor wir wirklich dafür bereit sind. Wir können uns gar kein Kind leisten. Wir sind nicht vorbereitet. Ich weiß noch nicht mal, ob Chris überhaupt der Mann ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Und zumindest in diesem Punkt sollte man sich doch absolut sicher sein, bevor man zusammen einen neuen Menschen zeugt.

»Weißt du, was ich am liebsten an dir mag?«, fragt Chris. Meine Bluse treibt an der Wasseroberfläche, er zieht sie nach unten und steckt den Saum in den Bund meiner Jeans. »Du bist eine Aufopferin. Keine Ahnung, ob es das Wort überhaupt gibt, aber das beschreibt dich total. Du tust Sachen, die du eigentlich gar nicht tun willst, nur um den Menschen um dich herum das Leben schöner zu machen. Zum Beispiel, dass du heute nichts trinkst, um uns nach Hause zu fahren. Du bist kein bisschen langweilig – du bist meine Heldin!«

Ich lache. Wenn Chris betrunken ist, bekomme ich immer die kitschigsten Komplimente von ihm. Manchmal mache ich mich darüber lustig, aber in Wirklichkeit finde ich das total süß.

»Jetzt musst du aber auch sagen, was du an mir am liebsten magst«, sagt er.

»Hm …« Ich starre in die Ferne, als müsste ich angestrengt nachdenken, und er kneift mich spielerisch in die Seite.

»Ich mag es, dass ich mit dir so viel Spaß habe«, sage ich. »Du bringst mich sogar dann zum Lachen, wenn ich sauer auf dich sein sollte.« Als Chris lächelt, bildet sich in seinem Kinn ein Grübchen. Er hat ein so umwerfendes Lächeln. Falls ich schwanger bin und wir dieses Kind zusammen bekommen, wird es hoffentlich wenigstens Chris’ Lächeln erben. Das ist das einzig Gute, was mir im Moment dazu einfällt.

»Was noch?«, fragt er.

Ich lege den Zeigefinger auf sein Grübchen und will ihm eigentlich sagen, wie sehr ich sein Lächeln liebe, aber heraus kommt etwas ganz anderes. »Ich glaube, dass du eines Tages ein toller Vater sein wirst.«

Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht, um seine Reaktion zu testen. Er lacht. »Worauf du dich verlassen kannst. Clara wird mich über alles lieben.«

»Clara?«

»Meine zukünftige Tochter. Ich weiß schon, wie sie heißen soll. Der Name für einen Jungen ist noch in Arbeit.«

Ich verdrehe die Augen. »Und was ist, wenn deine zukünftige Frau diesen Namen schrecklich findet?«

Chris’ Hände gleiten meinen Hals hinauf und umfassen mein Gesicht. »Tust du nicht.« Er küsst mich. Und obwohl sein Kuss mich nicht so erfüllt, wie es Jonahs Blick manchmal tut, durchströmt mich in diesem Moment ein tröstliches Gefühl. Chris schafft es, mich zu beruhigen. Durch seine Worte. Durch seine Liebe zu mir.

Auch wenn der Schwangerschaftstest morgen meine Befürchtungen bestätigen sollte, eins weiß ich genau: Chris wird immer fest an meiner Seite stehen, ganz egal, welche Entscheidung ich treffe. So ist er einfach.

»Leute? Ich glaub, wir fahren jetzt lieber«, ertönt Jonahs Stimme.

Chris und ich lösen uns voneinander.

Jonah steht wieder am Pool und hält Jenny, die sich stöhnend an ihn klammert.

»Ich hab ihr noch gesagt, dass sie bei den Table Shots nicht mitmachen soll«, brummt Chris. Er stemmt sich am Beckenrand hoch, hievt sich aus dem Wasser und hält mir die Hand hin, um mir rauszuhelfen. Wir wringen unsere Klamotten aus und gehen ums Haus herum zu Jonahs Wagen. Zum Glück hat er Ledersitze. Ich setze mich hinters Steuer, weil Chris ja davon ausgeht, dass Jonah getrunken hat. Jonah steigt mit Jenny hinten ein. Sobald wir losgefahren sind, klickt sich Chris durch die Radiosender.

Als er auf »Bohemian Rhapsody« stößt, dreht er den Ton auf und grölt mit. Jonah fällt ein paar Sekunden später mit ein.

Und sogar ich mache mit. Diesen Song kann man einfach nicht hören, ohne laut mitzusingen. Selbst wenn man erst siebzehn ist, höllische Angst davor hat, womöglich schwanger zu sein, und Gefühle für jemanden auf der Rückbank hat, die man nur für denjenigen haben sollte, der neben einem sitzt.