Über das Buch

Jannik verbringt sein Austauschjahr in dem australischen Küstenort Byron Bay. Und er trifft Leute dort, die ihn beeindrucken: Beautiful, der sich nur an seine eigenen Regeln hält und dessen Zuhause der Strand ist. Sienna, die ihn unglaublich fasziniert, aber immer wieder ihre eigenen Wege geht. Neil, seinen Gastbruder, cooler Surfer und verdammt verschlossen. Wie die ganze Familie. Die Madens hüten ihre Probleme wie geheimnisvolle Schätze. Erst mit Hilfe von Sienna kann Jannik Bewegung in die vor Sprachlosigkeit erstarrte Familie bringen. Gemeinsam gelingt es ihnen sogar Sam, die älteste Tochter, wieder mit den Madens zu versöhnen. Doch eines Tages verschwindet Sienna ...

 

 

 

 

Für Frieda

… und alle diejenigen, denen das Happy House
eine neue Heimat war

Über Nora Hoch

Nora Hoch, geboren 1983 in Bochum, studierte ›Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis‹ in Hildesheim und arbeitet als Dramaturgin und Theaterpädagogin am GRIPS Theater in Berlin, wo sie seit 2016 eine der größten theaterpädagogischen Abteilungen der Bundesrepublik leitet. »Das Salzwasserjahr« ist ihr Debütroman, der für den Oldenburger Kinder- und Jugendliteraturpreis nominiert war.

Koalas. Ich habe immer zuerst an Koalas gedacht, wenn ich an Australien gedacht habe. Und dann habe ich in dem ganzen Jahr dort keinen einzigen gesehen. Dafür habe ich Sachen gesehen, an die hätte ich vorher gar nicht denken können, weil ich keinen Plan von denen hatte. Absolut keinen.

Und ich habe Sienna gesehen – von allen Seiten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und immer wieder Sienna von hinten. Wie sie weggeht und ich dastehe, um zuzusehen, wie sie immer kleiner wird. Nur eben nicht für mich. Für mich bleibt sie eine riesengroße Nahaufnahme.

Angefangen hat das alles ungefähr so:

Nach über einer Stunde Wartezeit habe ich mich auf den Koffer gesetzt und mit den Fingernägeln über die alten Sticker auf der Oberfläche von meinem Reisekoffer gekratzt. Es machte genau das Geräusch, das mein Freund Levin Innenohrarmageddon nannte. Ich saß in der Empfangshalle in Brisbane, im Osten Australiens, wartete auf meine Gastfamilie und darauf, dass das losgehen würde, was ich mir unter einem neuen Leben vorgestellt hatte. Warten konnte ich noch nie gut. Und so, allein unter Hunderten von fremden Menschen, wurde ich nicht gerade besser darin. Ich habe gewartet und irgendwann dachte ich, wenn die eine Stunde lang nicht kommen, dann kommen die vielleicht gar nicht mehr. Ich saß also auf meinem Koffer, der vollgepackt war mit kurzen Hosen, Sonnencreme, einem Wörterbuch und leeren Heften. Ich hatte Hefte eingepackt, um neue Gedanken aufzuschreiben und Erlebnisse zu konservieren, wie andere Leute Blumen konservieren – gepresst zwischen blanken Seiten und aufbewahrt für kalte Tage, wenn der Sommer längst vorüber ist. 15 817 Kilometer weit weg von zu Hause saß ich da, bereit für ein neues Leben, aber niemand kam, um mich in dieses Leben abzuholen. Mit jeder verstreichenden Minute wurde ich nervöser.

Ich beobachtete die Hallenuhr. Tick. Überall waren Leute, die schwere Koffer über den glänzenden Boden zogen, und Leute, die riesige Rucksäcke auf ihren Rücken trugen wie Schnecken ihre Häuser. Tack. Allein am anderen Ende der Welt, dachte ich, das könnte aufregend sein, verwegen, abenteuerlich. Es hätte cool sein können, wenn ich irgendeinen Plan gehabt hätte, wie es von dort aus hätte weitergehen können.

Hatte ich aber nicht. Kein Stück. Tick.

Ich holte die kleine Tüte mit den salzigen Flugzeugcrackern heraus und begann mir zu überlegen, ob ich vom Flughafen aus einen Bus nehmen könnte, oder trampen, oder einfach dort bleiben.

Ein Jahr lang in der Wartehalle. Tack. Sofort zurückzufliegen war keine Option. Meine Mutter wollte in der nächsten Woche zu ihrem neuen Kerl ziehen und ich war nicht heiß drauf, das live mitzuerleben.

Ich wollte nicht zusehen, wie unser altes Leben eingepackt würde. In Kisten gestapelt für den dreckigen feuchten Berliner Keller ihrer neuen Wohnung. Mama war schwer in Ordnung, keine Frage, und meine Mama würde sie immer bleiben, egal wo unsere Kartons standen, schon klar. Aber für eine Weile wollte ich mein eigenes Ding machen und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht der Einzige war, der das wollte. Ich hatte mich vorübergehend von meinem alten Leben verabschiedet. Ich hatte die letzte Nacht auf dem Fußboden von meinem Zimmer geschlafen. Die Arme so weit von mir gestreckt wie ein Seestern, um möglichst viel Raum zu berühren. Ausbreiten wollte ich mich, in jeden Winkel. Ich hatte mir heimlich eins von Mamas Bieren mit in mein Zimmer genommen und die Zimmerdecke angestarrt, als wäre sie mit Sternen übersät. Ein wenig hatte ich mir gewünscht, der alte Herr Mauk von obendrüber hätte seine Möbel hin und her gerückt, wie er das oft mitten in der Nacht machte. Ein Poltern, Kratzen und Schleifen von Holz über Holz. Dann hätte ich ihm zuhören können und gewusst, dass dies mein Zuhause-Geräusch war. Das und die Krähe im Innenhof. Aber an diesem Abend war Herr Mauk wohl zu müde, um Möbel zu rücken. Die Krähe war ausgeflogen. Alles blieb still. Tick.

Nein, zurück war keine mögliche Richtung. Nicht nur wegen Mama, sondern auch wegen Levin.

Der Gedanke, ein Jahr ohne meinen besten Freund zu verbringen, hätte mich traurig machen können. Jedenfalls unter anderen Umständen. Ein Jahr ohne den Menschen, den ich schon aus einer Zeit kannte, an die ich mich noch nicht mal erinnern konnte. Aus einer Zeit, bevor Sprache Sinn machte, bevor ich wusste, was ein Freund ist, oder auch nur verstand, was ein Jannik eigentlich sein soll. Doch nun begann für mich ein Jahr ohne Levin, ohne seine Karottenhaare und seine schlechten Witze. Wahrscheinlich wäre ich zu jedem anderen Zeitpunkt traurig gewesen, aber zu diesem eben nicht. Es hatte Streit gegeben. Und dann hatte es ein langes Schweigen gegeben und danach war ich eben nicht mehr traurig. Stattdessen war ich erleichtert. Ich wollte weggehen, möglichst weit, und erst wiederkommen, wenn alles anders geworden war, oder wenn ich mich zumindest selbst verändert hatte. Tack.

Ich hatte Fernweh und dem wollte ich folgen. Zumindest bis zu dem Moment in der Wartehalle.

»Was ist los, Junge?«, fragte ein Mann mit einem blauen Overall und einem Wischmopp. Weil ich keine Antwort hatte, gab ich ihm nur einen leeren Blick zurück und zog meine Knie an, damit er um meinen Koffer herumwischen konnte. Ich hielt die Füße in die Luft über meine Kofferinsel, so als wäre der Boden Lava, die man nicht berühren durfte, wie früher als Kind, wie früher mit Levin.

Der Boden glänzte. Ich sah meine eigene Spiegelung zu mir aufblicken, aber ich kam mir nicht bekannt vor. In der Halle wurde es immer leerer. Kurz darauf wurde es wieder voll. Tick.

Der nächste Flieger war gelandet. Der Mann mit dem großen Wischmopp kam noch drei Mal an mir vorbei. Er sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. Was ich hier machte? Das hätte ich auch gern gewusst. Irgendwann hörten sogar die Sorgen auf und meine Augen verfolgten nur noch den schwarzen Sekundenzeiger auf der großen Hallenuhr. Tack.

Nach einer Ewigkeit sah ich sie endlich. Ich sah, wie vier Menschen den Gang zum Empfang entlanggerannt kamen. Alle in Flipflops und einer hielt ein Schild mit meinem Namen in der Hand. Das Schild baumelte beim Rennen hin und her, aber meinen Namen erkannte ich trotzdem sofort. Als wäre mein Koffer spontan entflammt, sprang ich auf.

Die vier sahen aus wie aus einer Werbung für Sonnencreme. Die sahen aus wie Hochsommer. Ihre Flipflops machten Schmatzgeräusche auf dem Linoleumboden. Sie liefen hintereinanderher. Ganz vorne lief Neil, mein Gastbruder. So alt wie ich, logisch, aber wesentlich größer, viel zu groß für einen Sechzehnjährigen. Praktisch ein Riese. Schon aus der Entfernung sah er übertrieben supermanmäßig aus. Es war beinahe unangenehm, ihn anzugucken, weil alles an ihm so extra lässig aussah, so nach dem Typ Jungen, neben dem man immer klein wirkt. Hinter Neil lief ein kleines Mädchen. Ruby war sechs Jahre alt. Ein Goldstück. Oben im Mund fehlte ihr ein Zahn und unten im Mund sah sie aus wie ein Haifisch. Sie hatte zwei Reihen Zähne. Die alten Milchzähne waren noch drin und die neuen Schneidezähne standen schon klein und stummelig dahinter. Während Neil zur Begrüßung nur die Hand hob und mir zunickte, wollte Ruby sofort ein Wettrennen mit mir machen – zum Van der Madens. Familie Maden, so hießen die nämlich. Cory und Analeigh, die Eltern, hatten ihren hellblauen Camping-Van direkt vor der Tür der Empfangshalle geparkt. Quer.

»Habt ihr nicht noch eine Schwester?«, fragte ich Neil, als wir einstiegen.

Er nickte. »Sam. Die ist aber nicht mitgekommen. Sie hatte keinen Bock, dich abzuholen«, sagte er.

Irgendwie war mir das sympathisch. Neil sah mich an, wie man einen Käfer ansieht. Einen kleinen harmlosen Käfer, einen, den man zwar nicht zertreten will, bei dem man sich allerdings auch nicht sicher ist, ob er es wert ist, dass man sich die Mühe macht, ihn nach draußen zu werfen. Schließlich könnte man ihn auch einfach ignorieren, bis er von selbst zu krabbeln aufhört.

Knallend fielen die Türen zu. Neil schnallte sich an, setzte sich Kopfhörer auf und drehte sich so weit wie möglich in Richtung Fenster.

Wir fuhren ziemlich stumm durch Queensland – von Brisbane nach Byron Bay. Analeigh saß am Steuer, Cory und Ruby schliefen schon nach wenigen Metern ein, Neil hörte Musik und ich kriegte vor Aufregung kein einziges Wort heraus. Nur Analeigh redete ohne Pause. Ihre rot gefärbten Haare glänzten, während ihr Kopf beim Reden fröhlich hin und her wippte.

Sie erzählte Geschichten über die Gegend hier, über ihre Kinder, über ihren Job beim Curry Home, über Haie und über giftige Tiere. Ich nickte die ganze Zeit. Dass sie nicht sehen konnte, wie ich nickte, weil ich ja hinten saß, das fiel mir viel zu spät auf. Erst als wir anhielten.

Irgendwann hörte ich den Van bremsen. Wir waren angekommen. Ich sprang aus dem Auto auf die Straße und BAM: Die Luft schmeckte nach Salzwasser.

»Das Meer«, platzte es aus mir heraus und alle vier sahen mich fragend an. Ich hatte vergessen, Englisch zu reden, ich hatte gar nicht richtig gemerkt, dass ich überhaupt sprach.

»Willkommen in der Lawson Street«, sagte Analeigh.

»Der Strand dahinten wird Clarkes Beach genannt. Von deinem Fenster aus kannst du ihn sehen«, sagte Cory.

»Du kannst das Meer beim Einschlafen hören, so nah ist es«, sagte Ruby.

Nur Neil sagte nichts.

»Willst du sofort zum Meer?«, fragte Analeigh.

»Da kannst du aber sicher sein«, sagte ich und meine Stimme kippte fast vor Aufregung. Ich redete auf einmal viel zu laut.

Meinen Koffer ließ ich einfach im Hausflur stehen und ging sofort wieder hinaus. Höflichkeit war mir egal, wie mein Zimmer aussah, war mir egal. Ich wollte das Meer sehen. Ich wollte es begrüßen. Das Meer sollte wissen, dass ich nun da war.

Ich wartete draußen auf die anderen, die sich Badesachen holten. Neil trat neben mich vor die Haustür und für einen Moment waren wir zwei allein.

Kurz hoffte ich, er würde mir auf die Schulter klopfen und so was sagen wie: »Los jetzt, Junge. Wir haben noch einiges zu erledigen.« Kurz hoffte ich, wir würden um die Häuser ziehen, er würde mir die Gegend zeigen, er würde mir Leute vorstellen. Ich hoffte, es würde etwas passieren. Irgendwas Spannendes. Etwas Großes. Irgendwas, was nur hier passieren konnte, und wir würden es zu zweit erleben, wie Freunde, wie Brüder. So wie ich es mir im Flieger ausgemalt hatte. Aber natürlich passierte das nicht.

Neil sagte nur, dass wir auf die anderen warten sollten. Dann schloss er seinen Mund, so wie man das macht, wenn man vorhat, ihn eine Weile nicht mehr zu öffnen. Demonstrativ. So, dass ich es sehen sollte.

Er fing an, auf dem Rasen vorm Haus sein Surfbrett mit einem Wachs einzureiben. Das Wachs war pink. Es roch nach Erdbeerkaugummi.

Ich lehnte mit dem Rücken an der aufgeheizten Hauswand, hielt mein Gesicht in die Abendsonne und ich fing langsam an, mich zu fragen, wessen Idee es wohl gewesen war, einen Austauschschüler aufzunehmen. Neils Idee offensichtlich nicht.

Trotzdem war ich froh, dort zu sein, vor allem weil es einfach anders war als zu Hause. Und ich war anders. Ich hörte mich anders an, weil ich ja nur Englisch reden konnte, ich dachte anders und ich fühlte mich anders. Die ganze Zeit kreisten meine Gedanken darum, dass mich dort niemand kannte. Ein Jahr lang bin ich jetzt der Austausch-Jannik, dachte ich. Ich kann denen erzählen, was ich will. Oder ich kann es halt auch lassen. So und nur so, wie ich heute hier bin, kennen die mich dann. Mit diesem Gedanken verschwand alles Gewicht aus meinen Beinen, aus meinen Armen und aus meinem Rücken.

Am Meer angekommen, sah ich rüber zu Neil, aber der ignorierte mich noch immer. Da beschloss ich, drauf zu scheißen, auf ihn, auf alles, und einfach in die Wellen zu stürmen. Schließlich war ich angekommen, endlich. Und ich hatte es fast allein hierhergeschafft. Ich war so lange nicht am Meer gewesen, dass ich es ganz vergessen hatte: das Gefühl, unter einer großen Welle hindurchzutauchen. Das Gefühl, wenn alles dröhnt, zischt, schäumt. Wenn Wasser über einen hinwegrollt.

Erst als ich dieses Salzwassergefühl wiedergefunden hatte, da wusste ich, dass ich genau das wollte: abtauchen. Nichts denken. Nur das Gewicht des Wassers fühlen. Stille. Dröhnen. Prickeln.

Ein Jahr lang.

 

 

 

 

she walks like summer and she acts like rain

Die Bay High School war genau wie meine alte Schule. Vielleicht wie alle Schulen. Im Prinzip jedenfalls, von kleinen Unterschieden mal abgesehen. Es gab Surfen als Unterrichtsfach, Indonesisch und Japanisch als Wahlfächer, es gab Schuluniformen und alle redeten Englisch, ist ja logisch. Aber davon abgesehen, mit dem Prinzip Schule und mit den Lehrern war es eben doch dasselbe. Manche waren in Ordnung, meinten es gut und konnten trotzdem nichts daran ändern, dass sie benoten und aussieben mussten. Manche waren Arschlöcher und denen machte genau das Selektieren Spaß. Und dann gab es noch den einen oder anderen, der wirklich kein Sympathieträger war, aber dafür so schlau, dass man ihm gerne zuhörte, weil er einem mehr beibringen konnte als Prüfungswissen. Endlose Flure, Tischreihen voller Langeweile, Holzstühle voller Stress-Schweiß. Tickende Wanduhren, die Zeit dehnen und krümmen konnten, die aus Minuten Kaugummi-Schulstunden-Ewigkeiten machten.

Die Schule lag übrigens in der Broken Head Road, kein Scherz, obwohl es tatsächlich klingt wie der Witz eines eher humorlosen Schulleiters.

Am ersten Tag sind wir zu Fuß zur Schule gegangen. Also Neil ist mit dem Skateboard vorgefahren und ich bin hinterhergelaufen.

Er ist so langsam gefahren, dass ich immer gerade so hinterhergekommen bin, aber eben auch so schnell, dass ich mich ziemlich beeilen musste, um Schritt zu halten.

Neil erschien mir zunehmend wie eine Mischung aus Wolverine und dem Silver Surfer. Er konnte quasi alles, worauf es ankam. Er war so cool, dass er nie nett sein musste und es dabei leider schlicht verlernt hatte. Weil ich noch niemanden sonst in Byron Bay kannte, folgte ich ihm dennoch eigentlich überallhin. Jedenfalls wenn er mich ließ. Ich schwamm in seinem Kielwasser und tat, was ich gut konnte – ich hörte zu und hielt den Mund.

Als ich dicht hinter Neil zum ersten Mal in meinen neuen Klassenraum kam, standen alle herum und unterhielten sich über die Ferien. Ich stand einfach neben Neil und versuchte auszusehen, als wäre es mir egal, dass keiner mit mir redete. Irgendwann sprach ein Junge mit schwarzen Locken und einer riesigen Brille Neil an. Er fragte ihn: »Ist das der Neue?« Der Lockenkopf hieß Luke und mit »das« war ich wohl gemeint.

Neil nickte. Weiter nichts. Er hat nicht mal erwähnt, dass ich einen Namen habe. Für einen Moment hätte ich ihm am liebsten eine reingehauen. Aber nach einer Weile habe ich mich entspannt und dann fand ich es ganz gut, einfach nur dabeizustehen. Einfach dastehen, als wäre das völlig normal, als würde ich dazugehören. Weil ich ohnehin noch nicht wusste, wo mein Platz war, weil ich abgesehen von Neil niemanden kannte und weil alle so schnell sprachen, dass ich echt Probleme gehabt hätte, überhaupt mitzureden, wegen all dem war ich sogar erleichtert, einfach nur so dazustehen. Nur dastehen war schon heftig genug. »Nur so dastehen« war außerdem auch eine Kunst. Es hieß schließlich, nicht schwitzend, nicht zitternd, nicht stotternd und nicht lächerlich dazustehen, sondern eben gut dazustehen. Unauffälligkeit bedeutete hier eben auch die Abwesenheit von Peinlichkeit.

Als sich nach und nach alle zu setzen begannen, wollte ich mich neben Neil setzen, aber der schüttelte nur den Kopf.

»Neben mir sitzt meine Freundin«, sagte er. Für den Spruch fing er sich von Luke einen Hieb gegen den Bizeps. »Ex-Freundin, von mir aus«, korrigierte sich Neil und boxte den Lockenkopf fast liebevoll zurück.

»Wenn du boxen willst, muss ich erst die Brille absetzen«, scherzte Luke.

Für einen Moment dachte ich an Levin und stellte mir vor, wie peinlich er die beiden gefunden hätte. In Gedanken versunken wartete ich, bis alle saßen, und setzte mich dann auf den einzigen freien Platz. Erste Reihe – wo sonst. Der Typ neben mir stellte sich als Mike vor. Er überragte alle um Längen, sogar Neil, und er sah aus, als wäre er schon mindestens zweimal sitzen geblieben.

Exakt eine Minute vor dem Klingeln kam der Lehrer. Mr Hollister, den alle nur Holy nannten, weil es ihnen heilig war, wie entschieden er sie in Ruhe ließ. Entsprechend war auch seine erste Stunde. Er nannte eine Seite in einem dicken Buch und ließ uns lesen. Stillarbeit zum Schuljahresstart. Er selbst las auch, aber natürlich was anderes. Er sah uralt und müde aus, ganz so, als hätte er fest vor, uns in Ruhe zu lassen, solange wir ihn in Ruhe ließen. Solange wir so taten, als wären wir interessiert, und zwar am Stoff und nicht daran, ihn zu provozieren. Nicht mein liebster Lehrertyp, aber auch nicht gerade der schlimmste. Vergeblich versuchte ich mir vorzustellen, wie Hollister wohl ausgesehen haben mochte, als er noch Haare hatte. Vielleicht hatte er einfach schon immer eine Glatze und ein Doppelkinn gehabt, war so geboren und blieb so. Ein Leben lang kahlköpfig und schlapp. Wer wusste das schon.

Die erste Stunde verging wie im Flug. Ich versuchte, mir die Namen einiger Schüler zu merken und mich irgendwie zu orientieren.

Am schwierigsten war es ohnehin, sprachlich überhaupt mitzukommen. Natürlich konnte ich Englisch. Aus der Schule, aus Filmen, aus Games, aber das hier, das war eine andere Nummer. Ich musste mich erst mal daran gewöhnen, auf jede Frage nur zeitversetzt antworten zu können. Mir fehlten Vokabeln. Ich musste ewig überlegen wie ich das, was ich sagen wollte, eigentlich sagen sollte.

Ich war jedenfalls völlig mit dem Sprachgewirr beschäftigt, als sie reinkam. Das Meer-Mädchen vom Vorabend. Es war mitten in der zweiten Stunde. Sie öffnete die Tür und sah erst mal nur den Lehrer an. Eine stumme Aufforderung. Der stand auf und ging kurz mit ihr raus vor die Tür. Man hörte sie leise diskutieren. Dann kamen sie zurück. Sie ging durch die Reihen, ihr Blick verfing sich an mir und ich hätte am liebsten laut Jippie-ja-yeah gerufen (oder etwas Entsprechendes, was nach Möglichkeit weniger dämlich war).

Ich sah die Verwunderung in ihrem Gesicht. Und dann, dann setzte sie sich neben Neil. Ihr Stuhl kratzte über den Boden und mein Hirn hatte einen kurzen Aussetzer. Ich sah, wie Neil sie ansah, und vergaß kurz, dass gerade alle im Raum sehen konnten, wie ich mich komplett zu ihnen umgedreht hatte und sie anstarrte.

Danach kam die Erkenntnis: Sie, das Schwarzlicht-Salzwasser-Wesen, sie war Neils Ex-Freundin. Und auch wenn das mit mir nichts zu tun hatte und ich das Ausmaß der ganzen Scheiße noch nicht im Geringsten erahnen konnte, so war mir dennoch klar, dass dies eine denkbar ungünstige Kombination aus Zufällen war.

Kurz vor Ende der Stunde nahm Hollister sie dran.

Einfach weil sie so lange zu offensichtlich aus dem Fenster gestarrt hatte. Die sicherste Methode, von Hollister in Ruhe gelassen zu werden, war eigentlich, sich zu melden, denn drangenommen hat er immer die, die gerade nicht scharf drauf waren und das zu deutlich zeigten.

Was sie denn nun zum Thema Geldgier zu sagen hätte, da sie offensichtlich so angestrengt darüber nachdächte, versuchte er sie anzustacheln. Vermutlich, weil es nichts half zu sagen, dass sie dazu eigentlich lieber nichts sagen wollte, sagte sie das, was ihr als Erstes einfiel. Nämlich, dass die Gier in diesem Fall nicht das Problem sei.

Sie sagte: »Na ja, ich frage mich, wie etwas Gutes schlecht werden kann, wenn man viel davon will. Da ist dann vielleicht nicht die Gier das Problem, sondern die Sache an sich. Mal ehrlich, Geld ist einfach scheiße, auch ohne Gier. Wenn wir Geld abschaffen würden, müssten wir hier nichts von wegen Geldgier labern.« Hinter ihr kicherten einige.

Der Hollister wollte das aber nicht hören, sondern fing nur an zu meckern, sagte, sie hätte wohl der ganzen Stunde nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Und so richtig konnte sie nichts dagegen sagen, denn recht hatte Holy damit natürlich schon. Aber sie redete weiter, sagte, erst wenn es nicht um Profit gehen würde, könnte es um Menschen gehen. Hollister verdrehte die Augen. Mir gefiel, was sie sagte.

»Was, wenn nicht mehr Einzelne einen Nutzen daraus schlagen könnten, viele auszubeuten? Was hieße das?«, fragte sie. »Ist Fiktion, schon klar, aber was für eine gute. Nahrung würde für Tiere und Menschen produziert, die etwas essen wollen, anstatt Unmengen Essen wegzuschmeißen und Unmengen von Menschen verhungern zu lassen. Medikamente würden in so einer Welt hergestellt für Kranke, nicht länger für Kranke mit Geld. Nicht Unmengen Plastikmüll von Dingen, die absichtlich so hergestellt werden, dass sie möglichst schnell kaputtgehen. Es gäbe auch nicht Hunderte Pharmakonzerne, die getrennt forschen, denn die Menschen könnten sich ihre Erkenntnisse verraten und zusammen forschen. Patentrecht gäbe es nicht mehr, Urheberrecht gäbe es nicht mehr, Marketingkonzerne, Steuerberater, Werbefirmen, Callcenter, Banken, Börsen … die könnten stattdessen alle was Sinnvolles machen.«

Sie klang, als könnte sie stundenlang weiterreden. Hollister hatte genug. Als Strafe für die Unterbrechung sollte sie zum nächsten Mal einen Aufsatz schreiben. Eine Welt ohne Geld, das sollte der Titel sein. Hollister blähte die Nasenlöcher auf, vor Wut über ihre Naivität.

»Wenn du das für so eine gute Idee hältst, dann wirst du uns das sicher gut begründen können. Ich erwarte einen logischen Aufbau. Klare Argumente.« Das war typisch für Hollister, er war grundsätzlich entspannt, aber er ließ einem keine undurchdachten Kommentare durchgehen. Eigentlich gefiel mir diese Eigenschaft.

Eine Welt ohne Geld. Je mehr ich darüber nachdachte, umso besser gefiel mir das Thema. Am liebsten hätte ich dem Meer-Mädchen angeboten, den Aufsatz mit ihr zusammen zu schreiben. Ich dachte daran, dass es auch Levin gefallen hätte, was sie da erzählte. Levin mochte es, neue Gedanken zu denken, und er mochte es zu streiten. Genau wie ich. Meine Gedanken begannen zu sprinten und die Zeit machte Hürdenlauf.

In der ersten Pause war es Luke, der uns einander vorstellte. Ich war noch so perplex, dass ich gar nicht auf die Idee kam zu sagen, dass wir uns schon mal gesehen hatten. Außerdem hatten wir uns einander da schließlich nicht vorgestellt.

Wir standen zu viert in der Runde. Luke, Neil, ich und das Meer-Mädchen. »Also«, sagte Luke. »Jetzt mal offiziell: Ich bin Luke. Und das hier, das ist Sienna!« BAM. Damit hatte das Meer-Mädchen dann also einen Namen.

Mit meinem Namen schien sie allerdings nicht zufrieden. »Jannik geht nicht«, sagte sie zu Neil. Und dann zu mir: »Such dir was aus: James, Josh oder Nick.«

Ich stand einen Moment völlig auf der Leitung, was auch daran lag, dass sie mich ganz direkt ansah, mit Augen wie Salzwasser.

»Wie sollen wir dich nennen?«, fragte sie dann noch mal und ich hätte am liebsten einfach gesagt: »Such Dir was aus«, aber stattdessen sagte ich, ohne zu überlegen: »Nik. Ganz einfach: N-I-K.«

»Alles klar«, antwortete Sienna und schulterte ihre Tasche. »Hör mal, Einfach-Nik. Wir sind vielleicht nicht das netteste Empfangskomitee und wir nehmen nicht gleich jeden in den Arm, aber glaub mir, das ist auch ratsam. Byron ist ein Ort, an dem ständig Leute kommen und gehen. Wenn man die alle ins Herz schließen würde, wäre es ständig kaputt. Nimm es uns nicht übel.«

Ich nickte – wie in Zeitlupe. Viel zu langsam. Sie ging an mir vorbei und ohne mich anzusehen durch die Tür. Ich nahm ihr gar nichts übel. Ihre Stimme ist zu alt für sie