MÖRDERISCHE GESCHICHTEN
© Umschlagmotiv: Eva Rossmann
Lektorat: Joe Rabl
© Folio Verlag Wien • Bozen 2020
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
ISBN 978-3-85256-816-4
www.folioverlag.com
E-Book ISBN 978-3-99037-110-7
So schön das Land
Es geht noch
Wir holen es uns zurück
Gismos Nacht
Gelbe Gefahr
Sie haben das alles schon gegessen
Heiße Weihnachten
Lois der Seher
K.
Welt retten
„Geht’s noch? Ich soll über eine Hochzeit schreiben?“
Sam sieht mich ungerührt an. „Ich dachte, du wärst jahrelang so etwas wie Society-Reporterin gewesen.“
„Damals war ich dreißig. Und hungrig.“
Sie mustert mich.
„Sag jetzt nichts. Ich bin nicht viel schwerer als damals.“
„Es ist die Hochzeit des Jahrzehnts, oder, um es mit den Worten des neuen Sportmanagers zu sagen: die Traumhochzeit des Jahrtausends.“
„Eine Skifahrerin und ein Tennisspieler. Wie toll.“
„Die dreifache Gewinnerin des Gesamt-Weltcups und die Nummer zwei der Tennis-Weltrangliste.“
„Entzückend. Und dafür wird ECCO zum Online-Boulevardmagazin.“
Meine Chefredakteurin seufzt und sieht aus dem Fenster. Wien grau in grau. Die Häuser, die Straße am Donaukanal, selbst das Wasser. Schlechtwetter im April, da merkt man nichts vom Frühling. Kein Hauch von Prater-und-blühende-Bäume-Romantik.
„Die ganze Branche spottet, wenn ich das covere. Mira Valensky, ehemalige Chefreporterin, die beim Magazin ausgestiegen ist, weil sie lieber seriösen Online-Journalismus machen wollte.“
„Wir brauchen die Kohle, um ehrlich zu sein. Wir müssen erst richtig Fuß fassen. Es geht um unsere Zugriffe im Netz. Die Story können wir auch bei ECCO Italien, ECCO Spanien, ECCO Slowenien und so weiter spielen. Mehr Zugriffe, mehr Reichweite, mehr Werbung.“
„Klar, ECCO Italien liefert uns eine heiße Story über die Hintergründe des internationalen Müllhandels und wir schicken ihnen Belangloses von einer Promi-Hochzeit. Ist eben Österreich. Ich freue mich schon auf meine Kollegen vom guten alten Print-Boulevard.“
„Du hast einen großen Vorteil: Du kannst schreiben, was du willst.“
„Das hat mein allererster Chefredakteur auch gesagt. Er wollte mir das Begräbnis der letzten Kaiserin Zita schmackhaft machen.“
„Was, da warst du schon im Journalismus? Das muss … in den Sechzigern gewesen sein, im letzten Jahrhundert.“
Ich sehe Sam belustigt an. „Es war in den Achtzigern. Aber trotzdem urlange her. Ich hab im Organisationsbüro angerufen und gebeten, zu Karl Habsburg durchgestellt zu werden. Die Tussi am Telefon hat gesagt, ‚Der Herr Erzherzog ist leider beschäftigt‘, mit ganz spitzer Betonung auf ‚Erzherzog‘. Weißt du, wann in Österreich die Adelstitel abgeschafft wurden?“
„Nach dem Ersten Weltkrieg. – Und deswegen wehrst du dich gegen alle High-End-Festivitäten?“
„Ich hab dem Chefredakteur geglaubt, ich bin hin und habe alles beschrieben. Das Wetter war noch mieser als heute. Jede Menge uralter Militärs im Leichenzug, an ihren Hüten riesige Federn, sicher von irgendeinem Vieh unter Naturschutz. Als sie beim Stephansdom waren, sind ihnen die Federn wie seltsame Ohrbüschel am Gesicht geklebt. Der ganze Aufzug hat gewirkt wie ein Casting für einen Kostümfilm. Ich war mir sicher, dass Karl die Prinzenrolle nicht kriegen würde.“
„Und warum erzählst du mir das?“
„Weil der Chefredakteur stinkwütend war, nachdem ich das alles geschrieben hatte. Mehr Leserbriefe und Abbestellungen hat es nie gegeben. Nicht einmal, wenn ich mir erlaubt habe, etwas gegen die Freiheitlichen zu schreiben. Majestätsbeleidigung, Nestbeschmutzung, das waren noch die höflichsten Reaktionen. Und: Was glaubst du, wie die Leute auf eine ehrliche Reportage über die Hochzeit dieser gehypten Sportlieblinge reagieren würden?“
„Werden wir sehen.“
Natürlich steigt die Hochzeit in der Wachau. Wo sonst? Spektakuläre Landschaft an der Donau, Kulisse für Heimatfilme und Wein-Tourismusgegend Nummer eins. Ja, es gibt hier sehr guten Wein. Wirklich, die Landschaft ist einzigartig. Und sie kann nichts dafür, dass alle Asiaten und die Hälfte der Amerikaner hier gewesen sein wollen. Ich bin gerade noch zum Presse-Briefing zurechtgekommen.
Christoph Kaiser, der Manager des neuen Sportkonsortiums. „CSO, so ähnlich wie CSI“, hat er gescherzt, „und mindestens so aufregend, nur viel österreichischer.“ Diese Manager-Schnösel und ihre englischen Abkürzungen. Chief Sports Officer. Man darf so etwas nie auf Deutsch übersetzen, dann klingt es halb so gut. Er muss um die vierzig sein und er ist immerhin so clever, dass er weiß, dass Slim-Fit-Anzüge wieder out sind. Er trägt Jeans und ein Designersakko mit Trachtenanklängen. Als er bestellt wurde, gab es einigen Tumult. Sein Vorgänger war eine Institution, englische Abkürzungen hätte er verachtet, aber auch nicht verstanden. Er war so eine Art Alpen-Diktator. Immer zum Wohle des Sports unterwegs, dass ihm gewisse Sportlerinnen besonders am Herzen lagen, konnte er vor Gericht bisher erfolgreich bestreiten. Aber seit #MeToo und der Story eines deutschen Aufdeckungsmagazins über seinen beachtlichen Grundbesitz in Tiroler Skigebieten war er nicht mehr ganz unumstritten. Man hat ihn hochgeehrt in Pension geschickt, ein Sportkonsortium gegründet, in dem „Staat und Privat zur Erhaltung und Entwicklung Österreichs als Sportnation“ zusammenarbeiten, und diesen Christoph Kaiser aus dem Hut gezaubert. Er hat in den USA und an einer österreichischen Privatuniversität Sportmanagement studiert. Ich habe recherchiert, das wenigstens stimmt. Wobei diese einigermaßen elitäre Privatuni jeden nehmen dürfte, der zahlt. Unter der Studienrichtung „Sport- und Eventmanagement“ findet man als Einstiegsvoraussetzungen: Bei uns können Sie ohne Numerus Clausus studieren, d. h. Sie benötigen für die Zulassung keinen bestimmten Notendurchschnitt. Als Zugangsvoraussetzungen gelten: die allgemeine Universitätsreife oder ein vergleichbarer Bildungsabschluss sowie Kenntnisse über die deutsche Sprache.
Wenn solche Grammatik-Kenntnisse reichen, haben wohl wirklich viele eine Chance.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der neue Supermanager wirklich Kaiser heißt. Passt zu gut. Meister des inszenierten Klischees. Jedenfalls darf ich mich glücklich schätzen, im erlauchten Kreis der „Top-Medien“ dabei zu sein. Zugang zu den gesamten Hochzeitsfeierlichkeiten, anders als die „allgemein akkreditierten Medien“, die sich nur zu bestimmten Zeiten in bestimmten Bereichen aufhalten dürfen.
„Wie bei der Formel 1“, habe ich einem Kollegen aus Deutschland zugeflüstert.
„Du schreibst sonst wirklich über Sport?“
„Nein. Sehe ich so aus?“
„Ich auch nicht.“
CSO Kaiser räuspert sich und sieht zu uns herüber. „Also: volle Transparenz. Es ist ein Fest unter Freunden und ihr seid eingeladen, mitzufeiern. Wir wollen Daniel und Daniela am schönsten Tag in ihrem Leben begleiten. Wisst ihr, was Daniela zu mir gesagt hat? Dass es einfach großartig ist, dass ihre Hochzeit von so vielen Profis gecovert wird – wer sonst hat die Chance auf derart perfekt gestaltete Erinnerungen?“
„Wer zahlt den Zinnober eigentlich?“
Ich recke den Kopf. Der das sagt, steht etwas abseits. Aber ohne Top-Badge wäre er gar nicht in den Pressesalon gekommen. Kurze graue Haare, Cordsakko, könnte tatsächlich als Sportreporter durchgehen.
Das Lächeln des CSO wird noch etwas breiter. „Wie Daniela heute früh schon sagte: Sie ist sehr dankbar dafür, dass die Medien ihre Arbeit tun. Das Paar hat ganz bewusst auf Exklusivstorys verzichtet. Keiner Ihrer Kollegen wird bevorzugt und zahlt dafür.“
„Ich hab das anders gemeint. Das Schloss ist sicher nicht umsonst. Und der Shuttledienst vom Flughafen Wien für die VIP-Gäste, und, und …“
„Sie haben recht, das Schloss ist unbezahlbar. Zum Glück steht es im Eigentum des Landes. Die Winzerfamilie, die es betreut, ist nicht nur international erfolgreich, es handelt sich bei ihnen auch um große Österreich- und Sportfans. Daniela und Daniel haben gebeten, von Hochzeitsgeschenken abzusehen. Stattdessen bitten sie alle geladenen Gäste, eine Kleinigkeit für eine gute Sache zu spenden. Es gibt drei Möglichkeiten: die Kinderkrebshilfe, den Fonds für Angewandte Virologie, das Klimabündnis der Tourismusgemeinden. Ich würde Sie dann ersuchen, eine Viertelstunde vor der offiziellen Trauung auf Ihren Plätzen zu sein. Die Sitzordnung haben wir Ihnen mit den übrigen Unterlagen bereits heute Vormittag via Mail geschickt.“
Ich habe das glückliche Hochzeitspaar noch nicht zu Gesicht bekommen. Daniela sei, wie jede Braut, etwas aufgeregt und jetzt bei der Hochzeitsfriseurin. Daniel werde von seinen besten Freunden mit einer kleinen Runde Golf abgelenkt. Überall kommen wir trotz unseres Top-Badges natürlich doch nicht hin, aber die einschlägigen Witze meiner Kollegen über Transparenz in der Hochzeitsnacht habe ich schon hinter mir. Interessant, dass vor allem männliche Journalisten hier sind. Weil sich doch Männer mehr für Klatsch interessieren? Weil es mit der Sportbranche zu tun hat?
Das Schloss, eine der gefragtesten Hochzeitslocations des Landes, präsentiert sich ganz in Weiß und Lila. Die Braut habe sich diese Farben gewünscht, heißt es. Sicher ein Zufall, dass ihre Skifirma ein lila Logo hat. Auch wenn das Wetter heute endlich schön ist, man wollte nichts dem Zufall überlassen. Die Trauung wird im großen Saal stattfinden, die Agape danach „im Hof“. Eine Untertreibung der Extraklasse. Es handelt sich um ein penibel gepflegtes Gelände für gut fünfhundert Personen. Mit Wegen aus Naturstein, kleineren und größeren Flugdächern, Sitzecken, Marmorbänken und, ganz rustikal, Heuballen samt Kissen. Auf der Bühne probt eine zehnköpfige Band. Fetzen von Love Is in the Air, She’s the One und I am from Austria klingen zu mir herüber. Die Weingärten fallen steil zur Donau ab. Nicht ganz einfach zu betreuen. Aber dafür gibt’s Arbeiter. Das hier ist beileibe kein Familienbetrieb mehr. Muss es auch nicht sein. Einen Teil des Winzerhofs kann ich von hier aus sehen. Er liegt am Ende eines sorgsam geschotterten Wegs, zwanzig, dreißig Meter den Hügel hinunter.
Ich halte mein Gesicht in die Sonne. Vielleicht bin ich viel zu zynisch. Kann doch sein, dass Daniela Sagerer und Daniel Balaj einander wirklich lieben. Und irgendjemand muss das Trara rundherum ja inszenieren. So brauchen sie sich wenigstens keinen Hochzeitsplaner zu leisten. Auch wenn sie es könnten. Seit Balaj einige ATP-Turniere gewonnen hat, gehört er zu den Großverdienern im Tennis. Daniela hat zwar noch viel mehr gewonnen, aber Skifahren hat international nicht den Stellenwert von Tennis. Und Frauensport wird jedenfalls schlechter bezahlt. Allerdings hat sie einige lukrative Werbeverträge laufen. Sie ist aber auch der Mega-Ski-Star seit Marcel Hirscher. Und mindestens so sympathisch. Ich habe mich vorbereitet. Zumindest ein bisschen. Kennengelernt haben sich die beiden voriges Jahr auf der großen Sport-Gala. Sie wurden zu Sportlerin und Sportler des Jahres gekürt und danach, beim Feiern, gab es den ersten Flirt: Daniela Sagerer, vierundzwanzig, aus einer Tiroler Bauernfamilie. Daniel Balaj, dreißig, mit einem Vater, der auch bereits Tennisprofi war. Österreich hat ihn im Jugoslawienkrieg aufgenommen, und er hat für unser Land gewonnen. Wenngleich nicht so viel wie sein Sohn. Paradebeispiel für gelungene Integration, sozusagen. Auch wenn es immer noch Postings gibt, die von „dem Kosovo-Albaner“ reden, der sich damals den Zugang erschlichen hätte. Tatsächlich gab es da ein paar Ungereimtheiten. Aber: Es war eben schon immer so, dass sich Sportler mit der Einwanderung in unser so schönes Land leichter tun als Normalsterbliche.
Über Monate blieb die Sportlerliebe unentdeckt und das war vielleicht die größte Leistung der beiden. Oder zumindest die größte Leistung ihrer Betreuerteams. Ein deutscher Boulevardreporter hat nachzuweisen versucht, dass Daniel und Daniela gar keine Zeit gehabt hätten, einander zu treffen. Er wollte damit wohl die eigene Erfolglosigkeit entschuldigen. Wie hatte es ihm passieren können, dass die Liebesgeschichte der beiden nicht über ihn, sondern über den neuen Sportmanager, ganz offiziell, bekannt gemacht wurde? Geschieht ihm recht, mieser Schmierer. Er ist natürlich auch da. Schreibt seit Jahrzehnten unter dem Namen Alfi. Und trägt eine Frisur, die jener von Donald Trump sehr ähnlich ist. In irgendeinem Society-Magazin hat er behauptet, Trump hätte sich die Frisur von ihm abgeschaut. Was ist das für eine Gesellschaft, in der sich Society-Reporter schon gegenseitig interviewen? Ich sehe auf die Uhr. Ich sollte zum Auto, um meine repräsentable Leinenjacke zu holen. In einer Stunde ist Hochzeit. Also zurück hinauf zum Schloss, durch den Gebäudekomplex, auf der anderen Seite dann wieder hinunter zu den Parkplätzen. Die Fernsehteams haben die näher gelegenen zugeteilt bekommen. Die Onlinemedien die am weitesten entfernten. Nur, weil wir weniger zu tragen haben, oder sagt das auch etwas über Hierarchien aus?
Ich könnte freilich genauso gut den Weingarten ein Stück nach unten und dann die Schotterstraße nehmen. So wäre das Auf und Ab zu vermeiden. Der Weingarten ist rutschiger als gedacht. Ich halte mich an den Rebstöcken fest und sehe, dass sie gerade begonnen haben, auszutreiben. Eigentlich wollte ich nicht mehr, sondern weniger sportliche Betätigung. Jetzt fühle ich mich wie in einem Slalomhang. Paradedisziplin von Daniela Sagerer. Hätte man in die Hochzeitsfeierlichkeiten einbauen können. Weinbergslalom. Spektakulärer Ausblick auf die Donau. Ich schnaufe durch und beobachte, wie ein riesiges Frachtschiff langsam donauabwärts gleitet. Dann kneife ich die Augen zusammen. Ich bin seit vielen Jahren kurzsichtig, aber wer muss schon immer alles so genau sehen? Und seit es Navis gibt, habe ich auch beim Entziffern der Überkopfwegweiser keinen Stress mehr. Da sitzt jemand auf der Wiese zwischen den Rebstöcken. Offenbar gibt es noch andere, denen Weinberge lieber sind als Schlossherrlichkeit. Er, sie, es schaut, wie ich gerade eben, aufs Wasser, zum Schiff.
Ich bin nicht aufmerksam genug, es zieht mir die Beine weg, ich rutsche, falle, lande wenig elegant auf dem Allerwertesten.
Die Gestalt dreht sich abrupt zu mir um. Große erschrockene Augen.
Mein Sturz war nicht besonders spektakulär. Im Allgemeinen bin ich auch nicht furchterregend. Ich brauche eine Sekunde, bevor mir klar ist: Die Augen sind so groß, weil entsprechend geschminkt. Und sie gehören zu Daniela Sagerer, der weltbesten Slalomfahrerin.
„Alles in Ordnung“, sage ich und rapple mich auf. „Und mit Ihnen? Auch alles okay?“
Sie nickt. „Ist nur … die Aufregung. Das ist bei den meisten so, sagt man.“
„Sagt Kaiser.“ Ich zwinkere ihr zu. Wirkt, als könnte die Skiprinzessin etwas Aufmunterung brauchen. „Der hat alles unter Kontrolle.“
Der Effekt ist leider gegenteilig. Sie drückt die Augen zusammen, aber ich kann es sehen. Tränen.
„Ist nicht so schlimm. Ist bald vorbei“, sage ich etwas unbeholfen. „Keine Sorge, ich erzähl niemandem davon.“
„Ich … hab nur etwas Luft gebraucht.“
„Der Typ sorgt schon dafür, dass alles gut läuft, so hab ich das gemeint. Da bin ich mir wirklich sicher“, rede ich weiter.
„Ja, tut er, und es ist gut, dass alles geplant ist. Ich weiß, dass so etwas genau geplant sein muss, ich bin kein kleines Mädchen mehr.“ Jetzt hat sie ihr Kinn gehoben. Kampfgeist. Davon hat sie sicher jede Menge, sonst wäre sie nie so weit gekommen.
„Eben. Versuch es zu genießen. Es ist …“
Der Seufzer ist, als würde ein Felsen gesprengt.
„Du magst ihn doch. Daniel, meine ich. Entschuldigung, Sie.“
„Du ist schon in Ordnung. Ist mir lieber als das ganze Tamtam. Ich bin Tamtam gewohnt, aber nicht dieses. Normal bin ich fokussiert auf das, was ich kann. Und habe Unterstützung bei dem, was ich nicht kann.“
Es klingt wie ein auswendig gelernter Spruch. „Ist jetzt nicht viel anders.“
„Ja. Und natürlich mag ich ihn. Sonst würde ich ihn nie heiraten.“
„Wo ist er?“
„Der Bräutigam darf die Braut vor der Hochzeit nicht sehen, wissen Sie das nicht?“
„Ist so ein Brauch. Aber ganz traditionell heiratet ihr ja nicht gerade.“
„Ich muss hinein, die machen sich sicher schon große Sorgen, ich muss mich noch anziehen. Danke fürs Reden.“
Ich lächle. Sie ist wirklich lieb. Und ich wünsche ihr alles Gute. Ich werde nett über die Hochzeit schreiben – oder ist das womöglich auch eine Aktion von Sportmanager Kaiser? Quasi Message Control vom Raffiniertesten? Aber so wichtig bin ich wohl nicht. Es gibt andere, auf die er mehr achtgeben muss. Diesen schmierigen Alfi zum Beispiel. „Es ist dein großer Tag, versuch ihn zu genießen!“, rufe ich Daniela noch nach. Es klingt wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Film. Kein Wunder bei dieser Kulisse.
Sie dreht sich abrupt um: „Genießen? Ich werde es genießen, wenn ich wieder ein Rennen gewinne. Da zahlt sich die Anstrengung aus! Das mach ich für mich – und natürlich mein Team!“
Die Kleine ist ganz schön durch den Wind. Dabei braucht man gerade beim Slalom starke Nerven. „Du schaffst das schon!“
Sie hebt die Arme und lässt sie wieder sinken. „Ja. – Wenn Sie ihn sehen, dann sagen Sie ihm, wir kriegen das alles hin. Ganz sicher.“
„Was kriegt ihr hin?“ Unser aller CSO. Fast wie CSI. Wir haben ihn nicht kommen gehört und starren ihn an.
„Ein … Interview“, antworte ich.
„Ich glaube das nicht. Sie haben Daniela hier aufgelauert, um ein Exklusivinterview zu ergattern?“ Gar nichts mehr zu spüren von seiner professionellen Freundlichkeit.
„Unsinn. Es geht nicht um diese Hochzeitssache. Und wir haben uns zufällig getroffen.“
„Du solltest längst im Haus sein“, bellt der Sportmanager in Danielas Richtung.
Sie geht davon, gerade, dass sie nicht läuft.
„Und Sie sollte ich von der Hochzeit ausschließen.“
Ich sehe ihn einigermaßen spöttisch an. „Sie werden es nicht begreifen, aber so wichtig ist mir die Sache nicht.“
„Egal. Aber Ihnen ist klar, dass jedes Interview autorisiert werden muss. Es ist zum Besten unserer … Hochzeiter.“
„Ab morgen ist sie wieder einfach die beste Skifahrerin der Welt. Und soviel ich weiß, hat sie ein eigenes Betreuerteam.“
„Natürlich. Aber ich habe die Verantwortung. Für das Ganze.“
„Das Ganze?“
„Dass man fair mit ihr umgeht. Und mit dem, was sie repräsentiert.“
„Versprochen.“
„Noch einmal: Es gibt keine Extra-Interviews von der Hochzeit. Das sind Sie auch Ihren Kollegen schuldig.“
„Hatte ich nie vor. – Wissen Sie eigentlich, wo Daniel ist?“
„Sie werden ihn demnächst sehen. Von Ihrem Platz aus, bei der Hochzeit. Ich verlasse mich auf Sie. Ansonsten …“
Ich lächle. „Ansonsten?“
„Ich nehme an, Sie haben den Vertrag gelesen, den Sie vor der offiziellen Einladung bekommen haben.“
Ich hebe den Daumen und gehe in die Richtung, in der ich die Parkplätze vermute.
Was soll man über eine Hochzeit wie diese sagen? Natürlich waren Braut und Bräutigam da. Danielas weißes Kleid hat vielleicht an den Schultern ein wenig gespannt, aber sie hat auch mehr Muskeln als die meisten Bräute, die in solchen Spitzen-Spitzenroben heiraten. Daniels Gesichtsausdruck war eher konzentriert als glückselig, aber dafür hat sie gestrahlt. Sein Vater war sein Trauzeuge. Nicht, weil er keine Freunde hat, sondern weil sein Vater sein bester Freund ist. Und sein Coach noch dazu. Kleine Mädchen in lila Kleidchen haben Veilchen und weiße Rosenblätter gestreut. Der Duft war nahezu berauschend, kann sein, man hat mit Aroma nachgeholfen. Die Trauung wurde von jenem Bischof zelebriert, der die Öffentlichkeit schon zu seiner Zeit als Dompfarrer geliebt hat. Man muss die frohe Botschaft zu den Menschen bringen, ist sein Leitsatz. Egal, ob über WhatsApp oder Radio Maria. Und die Botschaft war froh, Daniela und Daniel haben sich getraut. Vergessen die Aufregung davor, auch Sportmanager Kaiser lächelt zufrieden. Das chinesische Kamerateam ist längst für die schönen Bilder rundum in den Weingärten unterwegs, noch immer scheint die Sonne. Ich habe Daniela einmal verstohlen und aufmunternd zugenickt. Sie hat getan, als kenne sie mich nicht. Wahrscheinlich hat sie mich nicht gesehen.
Ich weiß, worüber ich scheiben werde: die Hochzeit als perfekte Inszenierung. In diesem Fall nicht nur als angeblich glücklichster Tag zweier Menschen, sondern als Feierstunde einer ganzen Nation und ihrer Vorzüge: schöne Landschaft, begabte Menschen, Gastfreundschaft, Romantik. We are from Austria. Wenn Christoph Kaiser einmal nicht mehr Sportmanager sein sollte, kann er sofort als Hochzeitsplaner anfangen. Damit wird meine Reportage schließen. Das Brautpaar möchte ich mit gebührendem Respekt behandeln. Die beiden sind außergewöhnlich erfolgreiche, hart arbeitende junge Leute mit besonderen Talenten. Man mag sie, weil man ihnen eben nicht nachstreben muss. Niemand verlangt von einem durchschnittlichen Dreißigjährigen, in der Tennis-Weltrangliste nach oben zu klettern, keine Frau wird sich an der Ausnahmeskifahrerin orientieren, wenn es darum geht, Job und Familie zu vereinbaren. Ich habe vor, schon während des Hochzeitsessens zu verschwinden. Nach der Vorspeise sollte ich auch über das Menü schreiben können. Ich nehme an, es ist so überraschungsfrei wie der Typ, der dafür gebucht wurde.
Während das junge Glück irgendwo für Hochzeitsfotos posiert, werden wir mit einem kurzen Film über ihre größten Erfolge und über ihre Liebe zu Österreich unterhalten. Samt Hinweis, dass dieses Material veröffentlicht werden darf. Man werde es bis morgen um die offiziellen Hochzeitsaufnahmen ergänzen. Nur um Missverständnisse zu vermeiden, müsse die Verwendung von Ausschnitten mit dem Presseteam abgesprochen werden. Ich sehe schon vor mir, wie man in Indien Tränen der Rührung weint, wenn Daniela und Daniel zu den Klängen des Donauwalzers im Prunksaal des Schlosses einander die Ringe anstecken. Bollywood könnte auf Ideen kommen. So geht Erfolg. So geht Liebe. Und der nächste Urlaub in die Wachau.
Die Band spielt außergewöhnlich gut, das macht selbst diese Musikmischung erträglich. Internationale Lovesongs, Austropop und etwas, das man Hits der Klassik nennen könnte. Bolero, Vier Jahreszeiten und Kleine Nachtmusik mit E-Gitarre und Schlagzeug. Ich stehe an der Bar und gönne mir ein Glas gespritzten Weißwein.
„Nicht schlecht für eine Bauerntochter und einen Migrantenbuben“, murmelt der Typ neben mir. Ich sehe auf seinen Badge. Er ist vom Blatt, der größten, aber kaum besten Zeitung in unserem Land. Ganz so ist es nicht, dass wir uns völlig frei zwischen den geladenen Gästen bewegen können. Wir haben unsere eigene Bar, unseren eigenen Bereich beim Hochzeitsessen, wir tragen unsere Namensschilder. Wir haben sie zu tragen. Auf dass man uns erkennt. Egal, wir werden die frohe Kunde trotzdem froh verkünden.
„Bauerntochter?“, spottet eine blasse junge Frau in lila Samtjacke. Ich kann ihr Namensschild nicht entziffern. „Ihr Vater ist Versicherungsvertreter. Von der Landwirtschaft können die schon lange nicht mehr leben. Macht die Mutter allein. Gut, dass Daniela ins Verdienen gekommen ist, jetzt können sie sich eine Hilfskraft leisten. Angeblich trinkt die Mutter.“
„Angeblich, wenn ich das schon höre. Und Sippenhaftung gibt’s auch keine. Jedenfalls ist Daniela Sagerer eine großartige Skifahrerin.“ Warum auch immer, ich habe das Gefühl, sie gegen die dürre Giftspritze verteidigen zu müssen.
„Wohl ein Fan, was? Oder gar vom großen CSO eingeschleust, um zu schauen, was wir quatschen?“ Sie starrt auf meinen Badge. Offenbar ist auch sie kurzsichtig. „ECCO. Noch nie gehört.“
„Die war beim Magazin“, antwortet mein Kollege vom Blatt. „Da hast du noch nicht einmal deinen Namen schreiben können.“
Danke für die Unterstützung. Mira, das Fossil.
„Aber dass sein Vater Mega-Schwierigkeiten hat, ist euch Sport-Gläubigen nicht entgangen, oder?“
Ich lächle süffisant. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht hätte ich mich doch intensiver vorbereiten sollen.
„Du meinst, wegen dieser Offshore-Sache?“, sagt der vom Blatt lässig und nimmt einen großen Schluck Gin Tonic.
„Wenn die ihm nicht unter die Arme greifen, kann er sich die nächste Saison in die Haare schmieren. Tennistourneen sind teuer.“ Die lila Nachwuchskraft hat augenscheinlich Freude daran, alles schlechtzumachen.
„Die …“, ergänze ich gedankenvoll.
„Na, das neue Sportkonsortium. Samt CSO Kaiser. Die haben Kohle hoch siebzig. Sind ja auch teilweise staatlich. Und die gesamte Branche zahlt mit. Man ist abhängig von Genehmigungen, von der Zuteilung der Sportevents, von Werbepackages. Ich finde diesen Kaiser übrigens mehr als dubios.“
„Irgendjemand muss die Arbeit machen“, murmelt der vom Blatt.
„Na ja, das wirkliche Sagen haben ohnehin andere. Die Wirtschaft. Die dahinter.“
Ich sehe mein lila Visavis mit freundlichem Spott an. „Wie immer. Die Welt ist verschworen.“
„Prost“, unterstützt mich der vom Blatt.
Blutwurst mit Kaisergranaten und Maschanzker-Essig-Reduktion. Gibt es immer noch welche, die glauben, eine Kombination von Innereien und Meeresfrüchten sei kreativ? Wird seit gut zwanzig, dreißig Jahren gemacht. Und funktioniert selten. Unser Starkoch hat die Vorspeise selbst kommentiert: „das Beste aus Österreich und dem Rest der Welt“. Hängt er nicht gerade vor dem Mikrofon, ist er am Smartphone. „Gekocht hat der nicht selbst“, sagt mein Kollege vom Blatt.
„Tut er sonst auch nicht“, erkläre ich ihm. „Geht sich bei seinen vielen Lokalen schwer aus. Wenn er sich an den Herd stellt, dann geht es um PR.“
„Kein Wunder, dass er sich mit Kaiser so gut versteht.“
„Blutwurst? Ich kotz mich gleich an“, wirft die Dürre in Lila ein. Inzwischen hab ich ihr Schild entziffert. Sie arbeitet für einen Blog. So etwas ist jetzt angeblich ganz wichtig. Kathi Richter.
„Kaisergranaten? Ihr Österreicher seid schon lustig, noch immer auf dem Kaisertrip … Ich dachte, das wäre etwas zum Schießen“, kommt es von der Berliner Abendzeitung.
„Das sind diese Garnelen da auf dem Teller“, lässt der vom Blatt weltläufig wissen.
Ich grinse ihm zu. „Auch wenn es eigentlich Scampi sind.“
„Na und? Ich bin ja kein Gastrokritiker.“
„Ich bin überhaupt Vegetarierin“, ergänzt Kathi Richter und sieht sich um, als müsste sie das gegen alle verteidigen, wenn nötig, auch mit Kaisergranaten.
„Passt schon“, sage ich gutmütig. Soll doch bitte jede essen, was sie will. Eine einfache Übung in Toleranz. Ich sehe hinüber zum Ehrentisch. Er ist zu weit entfernt, als dass ich Details erkennen oder gar Gesprächsfetzen aufschnappen könnte. Aber es wirkt, als wären alle mit der Vorspeise einverstanden. Auch Danielas Eltern. Die Außenministerin wirkt bäuerlicher als Mutter Sagerer. Vielleicht ist das Brokat-Dirndl daran schuld. Zu viele Rüschen, zu viel altrosa Gepluster. Ich muss an einen rustikalen Lampenschirm denken.
Ich verstricke mich in ein Gespräch über Doping im Radsport und Skilanglauf. Nicht gerade mein Spezialgebiet, auch wenn einschlägige Skandale die heile österreichische Sportwelt immer wieder beuteln. Die Pharmaindustrie teste neue Wirkstoffe am liebsten an Todkranken und an Spitzensportlern, hat mir ein Genetiker vor Jahren erzählt. Ich weiß bis heute nicht, ob ich das glauben will. Wobei schon interessant ist, dass Sportler und Trainer wegen Dopings verurteilt werden, Pharmafirmen aber nie. Ich sehe auf die Uhr. Material für eine nette Geschichte habe ich mehr als genug. Und wie die Feier weitergeht, kann ich mir vorstellen. Essen, tanzen, immer wieder schauen, wie spät es schon ist, trinken, tanzen, noch mehr trinken. Von den traditionellen Hochzeitsbräuchen hat man abgesehen, das wissen wir schon aus dem Presse-Briefing. Weil man „exklusive Kleingruppenbildung“ verhindern möchte, hat Sportmanager Kaiser erklärt. Weil man so etwas nie ganz unter Kontrolle hat, ist meine Erklärung. Die meisten der Bräuche sind ohnehin eher lähmend.
Der Platz neben Daniela ist bereits seit einiger Zeit leer. Ich sollte zu ihr gehen und mich verabschieden. Das gebietet die Höflichkeit. Und vielleicht bekomme ich so noch die eine oder andere Zeile für meine Hochzeitsgeschichte. Hoffentlich ist ihrem Daniel nicht schlecht geworden. Zu viel Blutwurst auf zu viel Aufregung … Sie jedenfalls scheint das gut vertragen zu haben. Und so groß war die Portion ohnehin nicht. Mein Kochfreund Manninger hätte die Blutwurst selbst gemacht und mit Chili und Kokos gewürzt, dann hätte sie besser zu den Scampi gepasst. Und jedenfalls interessanter geschmeckt. Aber wie hat mein Kollege so richtig gesagt? Wir sind ja nicht als Gastrokritiker hier. Ich stehe auf und winke unverbindlich in die Runde. Keine Lust, dass mich jemand zu Daniela begleitet.
Jetzt ist auch sie aufgestanden. Offenbar gibt’s ein wenig Aufregung am Ehrentisch. Vielleicht ist ihm wirklich schlecht geworden? Sein Vater scheint auch schon länger nicht mehr da zu sein. Ihre Mutter beugt sich zu ihr, sie schüttelt energisch den Kopf. Ich nähere mich langsam.
„Was heißt, er geht nicht dran?“, höre ich sie fragen.
„Keine Ahnung, aber ich hab ein ungutes …“
Griff auf meine Schulter. „Sie suchen die Toilette?“
Ich sehe CSO Kaiser ins Gesicht. „Machen Sie hier alles? Auch den Guide zu den Klos?“
„Dort drüben!“ Er deutet in die dem Ehrentisch entgegengesetzte Richtung.
„Ich wollte mich von der Braut … der jungen Ehefrau verabschieden.“
„Ich werde es ausrichten.“
„Ich dachte, wir hätten die Möglichkeit, uns ganz frei zu bewegen.“
„Sind Sie angeleint?“
„Ja dann …“ Ich mache mich von ihm los und gehe Richtung Ehrentisch.
Jetzt ist der Griff auf meine Schulter schon fester. „Haben Sie das notwendig? Zu stören?“
„Wir kennen uns.“
„Da hat sie mir etwas anderes gesagt.“
Mutter und Vater Sagerer, Daniela. Jetzt stehen alle drei und flüstern aufeinander ein. Vielleicht geht es um ein ungeplantes Spiel. Man hat den Bräutigam entführt. Warum muss es immer die Braut sein? Nur weil es üblich ist? Schon möglich, dass einige dem Kontrollwahn von Kaiser ein Schnippchen schlagen wollten. Das erklärt auch seine unentspannte Reaktion mir gegenüber.
„Die haben den Bräutigam entführt, was?“
„Das … ist absurd! Wehe, Sie schreiben so etwas. Er hat frische Luft gebraucht, mehr ist da nicht. Er ist Sportler. Nicht gewohnt, so lange zu …“
„Ich habe vom Hochzeitsbrauch gesprochen.“
Er starrt mich an. „Ich auch. Natürlich.“
„Wie lange ist er schon weg?“
„Glauben Sie, ich habe auf die Uhr gesehen?“
„Sie haben doch alles im Griff. Sonst.“
Ich sehe, dass auf seiner Unterlippe kleine Schweißperlen stehen. So warm ist sein Designersakko gar nicht. „Spotten Sie nur. Sie alle können feiern. Oder lästern. Ich arbeite. Ich habe einen Auftrag. Im Interesse unseres Brautpaares.“
„Fürs heilige Image. Österreichs heile Welt.“
„Und? Ist Ihnen klar, wie viele das gerne hätten? Wie schwierig es ist, in unserem Zeitalter der Bilder- und Nachrichtenflut durchzudringen? Mit den richtigen Messages zum richtigen Zeitpunkt? Die Aufmerksamkeit zu bekommen? Global gedacht? Warum, glauben Sie, kommen die Touristen? Warum kauft wer welche Sportartikel? Die Branche braucht jede Unterstützung, die sie kriegen kann, ich sage nur: Corona. Und dann noch der absurd warme Winter.“
„Schon mal was von Klimakrise gehört?“
Kaiser versucht mich weiterhin anzusehen und gleichzeitig mitzubekommen, was am Ehrentisch los ist. Seine Gesichtszüge entgleiten ins Absurde, er schielt, sein Mund verzieht sich.
„Geht’s Ihnen gut?“, frage ich jetzt doch einigermaßen besorgt. Vielleicht war etwas im Essen. Daniel ist der Erste, der es gespürt hat, und liegt jetzt röchelnd unter einem Weinstock.
Kaiser fokussiert wieder auf mich. „Ich glaube, Ihre Kollegin winkt. Sie sollten …“
Schwacher Versuch. Ich mache noch zwei Schritte Richtung Ehrentisch.
„Klimakrise? Sie sind also eine Jüngerin der heiligen Greta? Sind Sie dafür nicht …“
Ich will schon auffahren, als mir klar wird: Der will mich provozieren, in ein Gespräch verwickeln, Hauptsache, ich komme nicht zu Daniela. Allerdings. Alle Schäfchen kann auch der beste Hütehund nicht immer unter Kontrolle haben.
„Sorry, jetzt muss ich wirklich auf die Toilette. Dort drüben, haben Sie gesagt?“ Ich deute brav in die dem Ehrentisch entgegengesetzte Richtung.
„Vergessen Sie nicht, was im Vertrag steht“, gibt er mir mit.
Ich habe ihn noch immer nicht gelesen. Dafür habe ich gesehen, in welche Richtung Danielas Mutter gegangen ist. Ich bin keine Paparazza. Aber ich habe meinen journalistischen Ehrgeiz.
Frau Sagerer trägt ein schlicht geschnittenes beiges Kostüm, das ihr ausgesprochen gut steht. Sie ist schlank und mittelgroß, ihr Gesicht hat eine gesunde Bräune, die ebenso mit Urlaub im Warmen wie mit Arbeit im Freien zu tun haben kann.
„Daniels Freunde haben ihn entführt“, sage ich und lächle sie an.
Frau Sagerer runzelt die Stirn. „Sie meinen, sein Team?“
„Ja … sozusagen.“
„Sein Freund konnte nicht kommen, leider. Er hat im letzten Moment abgesagt. Weil seine Lieblingstante schwer krank geworden ist.“
„Sein Team eben.“
„Ich weiß nicht … Ich sollte nicht mit Ihnen reden.“ Sie starrt auf mein Namensschild.
„Wir sind eingeladen, aber doch irgendwie anders“, lächle ich weiter. „Kaiser will alles kontrollieren, nicht wahr?“
Danielas Mutter lächelt zurück. „Sagen Sie es nicht weiter, aber der Mann ist eine Pest. Ich bin so etwas nicht gewohnt. Ich bin echt froh, wenn es vorbei ist. Leider. – Und Sie werden das nicht schreiben, oder?“
„Werde ich nicht. Eine meiner besten Freundinnen ist übrigens Weinbäuerin.“
„Oh, Sie kennen die Familie hier?“
„Nein, Eva Berthold. Im Weinviertel. Noch ein richtiger Familienbetrieb. Nichts derart Großes.“
„Evelin Sagerer.“
Sie streckt mir die Hand entgegen.
„Mira Valensky. Und ich will Sie wirklich nicht aushorchen. Ich bin keine Gesellschaftsreporterin, auch keine Sportreporterin.“
„Was machen Sie dann hier?“
„Na ja. Frage ich mich auch. Ich arbeite für ein Onlinemagazin, üblicherweise schreibe ich gesellschaftspolitische Reportagen. Aber die Chefredakteurin ist auch eine Freundin. Und ich hab ihr versprochen, über diese Hochzeit eine nette Geschichte zu machen. Weil so etwas von sehr vielen Menschen gerne gelesen wird.“
„Hoffentlich“, seufzt Evelin Sagerer.
„Ich dachte, es gibt bei dieser Hochzeit keine verkauften Rechte?“
„Nein, aber die Betreuer sagen, was auch Kaiser sagt. Wenn die Hochzeit gut rüberkommt, haben wir viele Vorteile. Zum Beispiel was die nächsten Werbeverträge von Daniela angeht. Gar nicht zu reden von den Balajs.“
„Was ist mit ihnen?“
„Das kann ich nicht sagen, muss sozusagen in der Familie bleiben. Aber es ist wichtig für sie, dass alles gut läuft.“
„Und jetzt ist Daniel weg.“
Sie schüttelt den Kopf. „Ihm wird alles zu viel geworden sein. Er … Sogar Daniela ist vor der Hochzeit davongelaufen. Und sie hat wirklich super Nerven.“
„Ich hab sie im Weingarten getroffen, per Zufall. Er ist … davongelaufen, meinen Sie?“
„Das mit dem Bräutigamentführen ist Unsinn. Sein Team macht ganz genau das, was Kaiser geplant hat. Und auch er … Er ist ein netter Kerl.“
„Wie gut kennen Sie ihn?“
„Kein Kommentar.“
„Nicht gut.“
Evelin Sagerer seufzt. „Nicht trifft es besser. Er war einmal bei uns. Wirklich nett, wenn auch ein wenig gestresst. Sein Vater war mit. Der ist immer mit. Ich halte so etwas für schwierig. Wir freuen uns für Daniela und wir haben sie immer unterstützt, auch wenn das am Anfang gar nicht leicht war. Aber wir wären nie auf die Idee gekommen, immer an ihr dranzukleben …“
„Sein Vater weiß auch nicht, wo er steckt?“
„Er sucht ihn, glaube ich. Oder sie reden irgendwo, das wäre gut. Ein Gespräch zwischen den beiden. Ich muss jetzt aufs Klo. Und Sie dürfen nichts schreiben, was ich gesagt habe. Auch wenn es bloß für so ein Onlinedings ist.“
Kreisendes Blaulicht. Keine Sirene. Menschen, die, von zwei Scheinwerfern beleuchtet, zwischen Licht und Nacht, Weinstöcken und einem großen Baum planlos herumzueilen scheinen. Natürlich ist Kaiser dabei. Er rudert mit den Armen. Sein Smartphone wird noch hügelabwärts fallen. Unter dem Baum liegt Daniel. Man hat eine karierte Decke über ihn gebreitet. Das festlich erleuchtete Schloss hebt sich vom Nachthimmel ab. Das alles kann nicht real sein. Mehr Menschen kommen in unsere Richtung, vom Schloss her, eine Karawane. Vater Balaj brüllt auf einen Polizeibeamten ein. Ich verstehe trotzdem nichts. Ich weiß nur: Sein Sohn ist tot. Erschossen. Unter dem großen Baum, der zwischen den Rebzeilen steht.
Nach meinem Gespräch mit Evelin Sagerer war ich unschlüssig, was ich tun soll. Zu meinem Tisch wollte ich nicht mehr zurück. Aber wie geplant fahren, obwohl Daniel verschwunden ist? Immerhin bin ich Journalistin. Und worüber ich schreibe, kann ich später entscheiden. Aber mich in Familienangelegenheiten einmischen? Hab ich das nicht längst getan, indem ich über diese Hochzeit berichte? War sie je eine Familienangelegenheit? Die ultimative Show, das schon eher. Ich bin am Vorplatz zum Schloss gestanden, als ich das Blaulicht gesehen habe. Und ich bin hin. Vesna hätte mir sonst gekündigt. Als Putzfrau und als Freundin. Kaiser war bereits da. Daniels Vater auch. Dazu ein paar vom Team.
Die bis ins kleinste geplante Traumhochzeit ist wohl geplatzt. Es hat jemanden gegeben, der sich nicht ans Drehbuch gehalten hat. Wir stehen im Vorzeigeweingarten, tief unter uns fließt die Donau, es glänzen die Lichter der Wachauer Dörfer, das Schloss strahlt vor sich hin und einer der Hauptdarsteller ist tot. Die Gruppe, die vom Schloss her kommt, bewegt sich schnell. Drängelei, Gerenne. Wer ist zuerst am Schauplatz? Wer kriegt die besten Bilder? Wer kann am meisten erzählen? Und wieder geht es um Aufmerksamkeit, um diese paar Sekunden Öffentlichkeit. Für Ego, Geld und … Stopp, Mira. Denk an Daniela. Wie fürchterlich.
Sirenen. Ein, zwei, drei Polizeiwagen biegen um die Kurve, halten nahe beim Baum. Knallende Türen, Befehle, die sich mit dieser Kulisse zu etwas noch immer völlig Unwirklichem mischen. „Alle zurück, treten Sie zurück! Gehen Sie zurück, da gibt es nichts zu sehen!“ Energische Stimme durch ein Megafon.
„Wenn Sie den Tatort nicht verlassen, machen Sie sich strafbar!“
Ich sehe, wie sich eine Gestalt aus der langsamer gewordenen Gruppe löst. Ophelia, Desdemona, griechische Tragödiengestalt im wehenden weißen Kleid, bloßfüßig. – Hat Kaiser das inszeniert? Absurd, wie kannst du so etwas denken. Ihre Mutter läuft hinter ihr drein, auch sie hat die hohen Schuhe ausgezogen. Knapp vor dem Baum bleibt Daniela stehen. Sie starrt auf die Gestalt unter der Decke. Ihre Mutter legt ihr den Arm um die Schulter. Sie stehen und schauen.
Es ist gerade erst Mitternacht. Wir sitzen im Salon, in dem auch das Presse-Briefing vor der Hochzeit war. Ich bin mir sicher, nicht nur ich habe das Gefühl, dass Tage dazwischenliegen. Tage ohne Schlaf. Mir ist kalt. Das Licht im Raum ist unbarmherzig hell. Die Stuckverzierungen der Rokoko-Decke haben Sprünge, unsere Gesichter sind grau.
Neben dem Polizeidirektor steht Kaiser. Er hat tiefe Ringe unter den Augen. „Es wird volle Transparenz geben. Die Familie arbeitet eng mit den Behörden zusammen, damit dieses … einzigartige Verbrechen rasch aufgeklärt wird. Sie können auch in der Medienberichterstattung auf meine totale Kooperation zählen. Je schneller wir …“
Ein Kameraverbot haben sie trotzdem verhängt. Für den Moment. Meine Kollegen wirken erschöpft. Und auf eine seltsame Art überrascht, oder eher gekränkt, enttäuscht. So, als hätte man ihnen die Geburtstagstorte im letzten Moment weggenommen und ins Gesicht geworfen. Ich habe meinen ersten Bericht bereits durchgegeben, Sam einfach am Telefon erzählt, was ich weiß. Sie schreibt es zusammen und stellt es ins Netz. Während der Vorspeise erhält Daniel Balaj einen Anruf. Er flüstert Daniela zu, dass er gleich wiederkommt. Sie meint, er habe nicht besonders aufgeregt gewirkt. Er kommt nicht wieder. Sein Vater macht sich auf, ihn zu suchen. Gefunden wird er schließlich von einem slowakischen Arbeiter, der sich im Weingarten mit einer Freundin treffen wollte. Er sieht, dass Daniel Balaj tot ist. Ruft die Polizei. Die Tatwaffe hat man neben dem Toten gefunden. Es handelt sich um eine Smith & Wesson .44 Magnum. Der Schuss wurde aus ganz geringer Nähe auf seinen Kopf abgegeben.
Nun ist der Polizeidirektor dabei, uns das Prozedere zu erklären. Wann wer was darf, wann was passieren wird, und, vor allem, dass wir besser heimfahren sollten. Nachdem wir befragt worden sind. Wie alle anderen Hochzeitsgäste auch.
„Im Moment geht es auch darum, Personen und … Dinge auszuschließen“, erklärt er.
„Selbstmord?“, ruft eine Kollegin nach vorne.
„Selbstmord ist absurd“, antwortet Kaiser anstelle des Polizeichefs. „Er stand auf dem Gipfel des Erfolgs. Er hat gerade geheiratet. Besser konnte es gar nicht laufen für ihn.“
„Wir können nichts ausschließen im Moment“, widerspricht der Polizeidirektor.
„Ich versichere Ihnen, es wird nichts vertuscht. Es wird volle Transparenz …“
Der Polizeidirektor sieht Kaiser stirnrunzelnd an. „Sie werden mir nicht unterstellen …“
„Nein. Natürlich nicht. Wir sind alle … in einer Ausnahmesituation. Ich bin überzeugt, dass die Polizeibehörden optimal mit uns kooperieren werden.“
„Sie mit uns“, präzisiert der Polizeichef.
„Wechselseitig. Ich möchte nur noch einmal allen anwesenden Medienvertretern versichern, dass ich Sie bei allem unterstütze, das der Aufklärung dieses … wie gesagt einmaligen Verbrechens dient. Das ist nicht nur ein feiger Mord, es ist ein Anschlag auf Österreich!“
Interessanterweise verwendet unser Kanzler einige Stunden später bei einer mehr oder weniger spontanen Trauerkundgebung genau diese Worte: „Es ist ein feiger Mord, es ist ein Anschlag auf ganz Österreich!“ Vor einem großen schmiedeeisernen Tor an der Donauuferstraße haben inzwischen hunderte Menschen Blumen, manche auch Tennisschläger niedergelegt. Allerdings sind die ersten Trauernden einem Irrtum aufgesessen. Das Tor gehört nicht zum Weingut, in dem Daniel ums Leben gekommen ist. Aber jetzt ist an der Trauerstätte nichts mehr zu ändern. Und schließlich sei es ja auch egal, wo getrauert werde, hat Kaiser wissen lassen. Ihm habe ich einige interessante Hinweise zu verdanken. Offenbar ist er wirklich bemüht, dass der Fall so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Vielleicht traut er es uns Medienleuten eher zu als den Polizeibehörden. Sein Kalkül ist wohl einfach: Je schneller alles geklärt ist, desto schneller ist alles vergessen. Und desto schneller kann er sich wieder um positive Aufmerksamkeit für den österreichischen Sport und vieles, was damit zusammenhängt, kümmern.
Die Herkunft der Waffe kennt man inzwischen. Sie ist auf den Besitzer des Weinguts zugelassen. Sie ist registriert, er verwendet sie zur Nachsuche. Das sei üblich, wenn man Wildschweine jage. Um ihm und auch uns „unnötige Anstrengungen zu ersparen“, hat Kaiser zu einem Pressegespräch vor das Winzerhaus geladen. Titel der Ankündigung via WhatsApp: „Mord bei Traumhochzeit“. Zwanzig, dreißig Kamerateams sind es sicher, die sich auf dem eigens errichteten Podest positioniert haben. So, dass im Hintergrund die steilen Weinhänge zu sehen sind. Geschickte Kameraleute können bis zur Donau hinunterblenden. Letztlich hätte jeder die Waffe nehmen können, erklärt der Hausherr. Er werde die Konsequenzen für seine Verantwortungslosigkeit tragen, aber es sei einfach ein „ziemliches Durcheinander“ gewesen. Man habe „dem Team“ das gesamte Haus zur Verfügung gestellt. Was er denn mit „dem Team“ meine, fragt einer meiner Kollegen. „Den Hochzeitern … und ihrer Begleitung …“
„Dass ein Außenstehender die Waffe genommen hat, ist damit auszuschließen“, stellt ein Fernsehreporter fest.
„Ist es leider nicht. Sie war in einem Schrank, wie es sich gehört, versperrt. Aber dann … Man hat Fotos gemacht, und ich habe mich daran erinnert, dass im Schrank eine alte Schießscheibe mit einem Herz ist, die habe ich für ein Foto herausgeholt. Der Schrank … er ist wohl offen geblieben und keiner kann sagen, wer ein und aus gegangen ist. Der Schrank steht im Nebenhaus, da war keine Security …“
„Wir hatten keine Security“, fährt Kaiser dazwischen.
„Nein … ich meine …“
„Da geht es jetzt nicht ums Image“, rufe ich nach vorne.
„Jeder hätte die Waffe nehmen können“, sagt der CSO mit festem Blick in meine Richtung.
„Er hat sie sogar selbst …“, fährt der Winzer fort, verstummt und sieht Kaiser an.
„Reden Sie weiter, es gibt nichts zu verbergen.“
„Er … Daniel hat sie gesehen und hat gesagt, mit so einem Revolver hat er in Australien geschossen. Ich hab ihm die Munition gezeigt, es ist eine besondere. Viele konnten das sehen. Und ich fürchte … die Munition ist beim Gewehrschrank geblieben.“
Warum hat mir Kaiser die Nummer von Danielas Mutter gegeben? Ich habe ihn bloß gefragt, wo die Familie jetzt ist. Und ihm erzählt, dass ich kurz vor dem Mord mit ihr geredet hätte. Eine Verdächtige weniger. Aber sie könnte dabei gewesen sein, als sie über den Revolver geredet haben. Sie könnte sich erinnern, wer sonst noch in der Nähe war.
Ich gehe den Schotterweg entlang, bleibe dort stehen, wo ich gestern Daniela begegnet bin. Gestern? Das kann nicht sein. Ich wähle die Nummer und erschrecke, als Evelin Sagerer nach dem ersten Läuten drangeht. Ich war mir beinahe sicher, dass sie nicht reagiert. Oder dass es sich überhaupt um eine falsche Nummer handelt.
„Man tut eben alles, damit der schreckliche Mord so schnell wie möglich geklärt wird“, sagt sie. „Daniela ist nicht in der Verfassung … noch nicht, sagt Kaiser. Morgen, übermorgen kann es sein, dass sie sich an die Öffentlichkeit wenden wird.“
„Der führt sie wirklich den Medien vor?“
„Sind Sie nicht auch von …“
„Ich bin anders.“ Ich komme mir lächerlich vor. Wie viele haben das schon gesagt.
„Auch sie will … beitragen.“
„Sorry, aber das klingt nicht echt. Der setzt euch unter Druck, ist es nicht so?“
Kurzes Schweigen. „Nein. Ist es nicht. Was wollen Sie wissen?“