WESHALB SIE NICHT ALLES KONTROLLIEREN KÖNNEN – UND WESHALB DAS GUT IST
Coffin Corner
©2020 Midas Management Verlag AG
ISBN 978-3-03876-501-1
eISBN 978-3-90601-064-9
Für meine Töchter Shedlia und Leyla
Amel Karboul: Coffin Corner
Weshalb Sie nicht alles kontrollieren
können – und weshalb das gut ist
Zürich: Midas Management Verlag AG
2. Auflage, aktualisiert und erweitert
Umschlaggestaltung: Agentur 21, Zürich
Layout und Typografie: Ulrich Borstelmann, Dortmund
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Midas Management Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich
www.midas.ch, socialmedia: midasverlag
Einleitung: Shift happens
1Optimieren, optimieren, optimieren – Coffin Corner
2John Wayne als CEO
3Gute Wunden
4 Das chronische Déjà-vu
5250.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial
6Die perfektesten Krankenschwestern der Welt
7Der Brand Manager und das Sandwich von Ouagadougou
8Aristoteles hat sich geirrt
9Co-Pilot, you have the aircraft!
10Minimax
11Shift happens – Ein Nachtrag 2018
Epilog: Dienstgipfelhöhe
Anhang
Teil 1: Flug 447
1Optimieren, optimieren, optimieren – Coffin Corner
Auf dem Sprung
Ich weiß, also bin ich
Zieh hoch! Zieh hoch!
Zwischen den Welten
Umdenken!
2John Wayne als CEO
Leadership happens on the top
Ich kenn dich doch gar nicht!
Lieber einsam als gemeinsam
Bloß keine Emotionen!
Mord im Office
Totale Dunkelheit
3Gute Wunden
Das perfekte Weihnachtsgeschenk
Blowout
Nicht Schwäche, sondern Stärke
Frühstücksgeplauder
Manager im Floating-Tank
4Das chronische Déjà-vu
Veränderung? Unmöglich!
Frei oder unfrei?
Niemandsland
Fight or Flight
Der Blick in den Abgrund
Teil 2: Learning Journey
5250.000 Menschen vor dem Lincoln Memorial
Der gemeinsame Belief
»Das geht besser!«
Menschen verändern Unternehmen, Unternehmen verändern Menschen
Geschichten, Geschichten, Geschichten
Deadwood
The Art of Leadership
Ein starkes Wozu
6Die perfektesten Krankenschwestern der Welt
Rückgrat
Interdependenz
Die Regeln brechen
Amanda und Charlie
Zwischen unabhängig und gleichgültig
7Der Brand Manager und das Sandwich von Ouagadougou
Entkoppelt
Reality Check
Die rote Pille
Ein echter Härtefall
Kein Plan B
8Aristoteles hat sich geirrt
Das rationale Argument
Linear vs. zyklisch
Die interessanteste Petrischale
Keine binäre Logik
Widersprüche sind keine Bedrohung
9Co-Pilot, you have the aircraft!
Unternehmensgeist
Die Macht der anderen
Miteinander reden
Kollektive Intelligenz
Stabilität durch Werte
10Minimax
Das Unsichtbare sichtbar machen
I’ll love you if you love me
Zeit für Veränderungen
Organisiere ein Festival!
Nur eine Frage
11Shift happens – Ein Nachtrag 2018
John Wayne im Weißen Haus
Krise!
Angst vor der Zukunft
Krisen sind Chancen
Die neue Unübersichtlichkeit: Kein Grund zur Aufregung
Rollenwechsel
Neue Arbeit
Bildung ist der Schlüssel
Neue Bildung braucht neue Wege
Der nächste Schritt
Epilog: Dienstgipfelhöhe
Anhang
Für Amel Karboul sind Veränderungen vor allem eines: eine große Chance. Zumindest, wenn man sie zu nutzen weiß.
Amel Karboul hat wenig Zeit. In den letzten Tagen war sie bei Sitzungen eines Think Tank des Außenministeriums in Berlin, nach dem Interview wird sie nach London zurückfliegen, wo sie lebt. Amel Karboul ist in sehr unterschiedlichen Welten zuhause. Als Ministerin der tunesischen Übergangsregierung hat sie 2014 für die junge arabische Demokratie gearbeitet. Als Unternehmensberaterin coacht sie Führungskräfte, 2007 hat sie das internationale Beratungsunternehmen CLP (Change, Leadership & Partners) mitgegründet. Als Intellektuelle reflektiert sie ihre Erfahrungen in Vorträgen und Aufsätzen. Vor Kurzem ist ihr Buch »Coffin Corner« erschienen, in dem sie darüber nachdenkt, wie sich Führungsaufgaben angesichts von Globalisierung und den Transformationen der Wissensgesellschaft verändern. Innovationen in der Führungskultur von Unternehmen sind in ihren Augen als Antwort auf komplexer werdende Herausforderungen unvermeidlich. Im Gespräch ist sie wach, unprätentiös, konzentriert und direkt – es geht ihr um die Themen, die sie beschäftigen, nicht um Selbstinszenierung.
Frau Karboul, was hindert Organisationen und Unternehmen daran, sich zu erneuern und auf Veränderungen zu reagieren?
Amel Karboul: Wir haben alle mentale Modelle, die uns helfen, uns zu orientieren. Aber sie können uns auch blockieren. Unternehmen wollen möglichst effizient arbeiten. Aber der Versuch, alle Abläufe immer weiter zu optimieren, engt ihre Handlungsspielräume ein. Kennen Sie die Coffin Corner? So nennen Piloten die Flughöhe und Fluggeschwindigkeit, bei der die Maschine am wenigsten Benzin verbraucht und auf den geringsten Luftwiderstand stößt. Mindestund Maximalgeschwindigkeit liegen hier nahe beieinander. Das ist hoch effizient, und es ist gefährlich. Jedes unvorhergesehene Ereignis kann den Absturz auslösen. Die extreme Fokussierung auf Effizienz setzt voraus, dass sich alle Einflussfaktoren kontrollieren lassen. Aber je komplizierter und schneller die Welt wird, desto weniger funktioniert das. Das ist das Paradox: Der Versuch, Sicherheit und Kontrolle herzustellen, führt in einer komplexen Umgebung zu Unsicherheit und Risiko. Wir müssen die reine Effizienz-Orientierung durch eine Vielzahl von Handlungsoptionen ersetzen. Mein Bild dafür ist der Wechsel von einer Autobahn, auf der man immer nur geradeaus fahren kann, zum Anblick des Inneren eines Granatapfels mit unzähligen schillernden Kernen. Diese riesige Auswahl an Möglichkeiten ist komplizert und etwas unübersichtlich – aber auch voller Chancen.
Sie selbst haben ihr Leben sehr abrupt verändert, als Sie sich 2014 entschieden haben, als Ministerin in die tunesische Übergangsregierung einzutreten. Eine wichtige Erfahrung?
Absolut. Ich hatte schon länger den Wunsch, mich stärker gesellschaftspolitisch zu engagieren. Ich dachte eigentlich, dass ich mindestens ein halbes Jahr brauche, um den Rücktritt als CEO von Chance, Leadership & Partners vorzubereiten. Meine Vorstellung war ein langsamer Übergang. Dann kam im Januar 2014 der Anruf von Mehdi Jomaâ, dem tunesischen Übergangspräsidenten. Ich hatte zwei Stunden Zeit, mich zu entscheiden, ob ich nach der demokratischen Revolution in Tunesien Tourismusministerin der Übergangsregierung werden will. Nach dieser Entscheidung hat sich mein Leben innerhalb von 24 Stunden komplett geändert. Gleich zu Beginn der Arbeit als Ministerin war ich mit massiven Vorwürfen konfrontiert, weil ich als Beraterin auch in Israel gearbeitet hatte. Das wollten konservative Kräfte zum Skandal machen. Der Schritt in die neue Funktion kam sehr schnell, ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Und das ging. Wir können viel mehr verändern, als wir glauben, in Organisationen und im eigenen Leben.
Sie haben sich als Ministerin demonstrativ um ein gutes Verhältnis zu Israel und den Juden bemüht und sich damit viel Ärger eingehandelt. Das war auch eine Innovation in der tunesischen Politik, oder?Ja, genau. Das war richtig und notwendig, ich konnte auch einfach nicht anders. Ich weiß, was es heißt, als Angehörige einer Minderheit zu leben. Das verändert den Blick auf andere Minderheiten. Danach bekam ich Morddrohungen und stand 24 Stunden am Tag unter Polizeischutz, ich konnte meine Kinder nur noch selten sehen. Das ist der Preis, den man zahlen muss. Ich bin sicher, dass auch Angela Merkel jetzt Morddrohungen bekommt, weil sie sich für die Füchtlinge einsetzt. Ich bewundere Merkel für ihre klare Haltung.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, USA und Europa verhalten sich wie »geschlossene Gesellschaften«, die sich eigentlich nur wünschen, dass sich nichts ändert. Verhindert Wohlstand Innovation?
Das ist eine Gefahr. Es gibt ja den berühmten Satz von Steve Jobs: »Stay hungry, stay foolish.« Das ist wahnsinnig wichtig. Unser Wohlstand ist nicht selbstverständlich. Ich bin in Tunesien aufgewachsen. Dort bin ich oft an den Ruinen von Karthago vorbei gefahren, das war auch einmal eine Weltmacht. Wer weiß, ob Europa in 50 oder 100 Jahren noch so reich ist. Vielleicht sind dann viele Europäer Refugees. Ich hoffe es nicht, aber wir wissen nicht, welche Katastrophen und Veränderungen wir noch erleben werden.
Wie kann man lernen, auf einschneidende Veränderungen mit Innovation zu reagieren?
Veränderung hat mit einem Perspektivwechsel zu tun. Wir machen bei CLP mit Führungskräften Learning Journeys, bei denen es um solche produktiven Irritationen geht. Es verändert den Blick, wenn Führungskräfte aus Europa sehen, dass eine Fabrik der Metallindustrie in Indien moderner und effizienter ist, als sie es sich vorstellen konnten. Wenn ein Unternehmen über seine China- oder Afrika-Strategie nachdenkt, ist es ein Unterschied, ob man das in Konferenzräumen in Stuttgart oder Zürich bespricht oder ob die Verantwortlichen nach in Kapstadt oder Peking fliegen und dort diskutieren. Auch wenn die Teilnehmer, die Fragestellung, die Faktenlage die gleichen sind, es wird eine andere Diskussion. Es geht immer wieder darum, sich solchen produktiven Irritationen auszusetzen.
Wie lassen sich diese lehrreichen Irritationen vom Einzelnen auf Organisationen und Unternehmen übertragen?
Organisationen brauchen Regeln und Routinen, und sie brauchen die Möglichkeit, sie flexibel zu handhaben. Der Unique Selling Point von Menschen ist, dass sie ihre Entscheidungen anders treffen können als regelgesteuerte Maschinen. Menschen setzen Innovation in Gang, nicht Algorithmen. In Zukunft wird es eher um Werte als um Routinen gehen. Müssen Regeln in Unternehmen immer starr und hierarchiegesteuert sein? Das glaube ich nicht. Ich habe zum Beispiel eine Mayo-Klinik besucht, eine der besten Klinik-Ketten in den USA. Ich war beeindruckt davon, wie selbstverständlich es um das Wohl der Patienten geht, und nicht um bis in kleinste geregelt Arbeitsabläufe und Zuständigkeiten. Die Wirklichkeit ist komplizierter als alle Regelwerke. Und je komplizierter sie wird, desto weniger funktionieren mechanische Regeln. Heute werden in Unternehmen mit einem enormen Aufwand Budgetpläne geschrieben. Oft genug sind sie nach ein, zwei Monaten obsolet. Die Märkte und all die Faktoren, die hineinspielen, kümmern sich nicht um Budgetpläne. Vergesst die Budgetpläne!
Verhindert die Illusion von Sicherheit und Planbarkeit in unbeweglichen Organisationen die Chancen für Innovation?
Die Simulation von Planbarkeit war in der alten Industriegesellschaft leichter. Unter Bedingungen einer großen Stabilität war das sicher auch sinnvoll. Bei den disruptiven Veränderungen, die wir jetzt erleben, funktioniert das nicht mehr. Um die systemischen Kräfte zu durchbrechen, braucht es andere Perspektiven. Deshalb ist Diversität so wichtig. Jemand, der zum Beispiel aus einer anderen Kultur kommt oder eine andere Hautfarbe hat, bringt eine andere Perspektive ein. Wenn man einmal zu einer Minderheit gehört hat, hat man einen anderen Blick auf die scheinbar selbstverständliche Normalität. Man sieht im Gleichen etwas anderes.
Mussten Sie als Ausländerin mit der fehlenden Wertschätzung für Diversität und Blockaden in ihrer Umgebung zurechtkommen?Dauernd. Das war ärgerlich, aber es hat mir auch geholfen. Das schärft den Blick für die Unbeweglichkeit der Apparate. Ein Beispiel: Als ich nach dem Studium für Daimler gearbeitet habe, hat die Ausländerbehörde meine Arbeitserlaubnis nicht verlängert. Ich hatte in Deutschland studiert, ich hatte eine Top-Position im Unternehmen, aber das war der Ausländerbehörde egal. Ich habe meinen Chef panisch angerufen, ich durfte nicht mehr arbeiten, das war´s. Ich habe mich dann in Stuttgart ab- und in Sindelfingen angemeldet, um den Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde zu wechseln. Daimler ist sehr wichtig für Sindelfingen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aber in Sindelfingen habe ich eine unbegrenzte Arbeitserlaubnis bekommen. Ohne diese Flexibilität hätte ich das Land verlassen müssen. Das war etwas crazy. Ein anderes Beispiel, diesmal für eine produktive Erfahrung: Ich war für Daimler in Südafrika. Es gab seit Jahren Probleme mit Mitarbeitern und der Arbeitsqualität. Ich habe vorgeschlagen, die Workshops in einer Stammesprache, Xhosa, zu machen. Es stellte sich heraus, dass die Arbeiter schlicht nicht alles verstanden hatten. Vielleicht kommt man nur auf so eine Idee, wenn man einmal in ein Land gekommen ist, dessen Sprache man nicht versteht. Das war eines meiner ersten Projekte, und es war lehrreich. Man kann mit einer kleinen Intervention viel bewegen. Vielleicht fängt genau so oft ein Prozess der Innovation an.
Beobachten Sie in Unternehmen ab und zu die Mentalität: Was wir machen, hat die letzten 30 Jahre funktioniert, wir machen einfach weiter?
Absolut. Ich sehe, wie viel verschwendet wird, an Ressourcen und an Möglichkeiten. Ich kenne Unternehmen, die merken, dass die alten Regeln nicht mehr funktionieren. Statt etwas zu ändern, reagieren sie mit Hilflosigkeit. Wir haben ein Medizin-Diagnostik-Unternehmen beraten. Der damalige CEO ist jemand, den ich sehr respektiere. Er hat uns ein Video gezeigt, wie er mit Mitarbeitern in einem Workshop über anstehende Veränderungen redet. Er hat keine Diskussion zwischen den Mitarbeitern in Gang gesetzt. Ich habe ihn gefragt, weshalb er das sehr frontal macht, ohne interaktive Einheiten. Er hat mich angesehen und gesagt, er hätte es nicht gelernt, früher war es nicht üblich. Ich kann ihm das nicht vorwerfen. Im Gegenteil, ich war beeindruckt von der Klarheit, mit der er das benannt hat. Wir müssen immer wieder Räume für den Dialog, für die Begegnung schaffen – nicht, weil es sich gut anfühlt, sondern weil es notwendig ist. Solche Vorschläge werden gerne als Esoterik abgewertet. Aber Followership, die beziehungsorientiert funktioniert, wird so wichtig werden wie Leadership. Das müsste zur Ausbildung von Führungskräften gehören. Ich glaube, viele haben da noch ein echtes Defizit. Die Harvard Business School hat Followership-Kurse angeboten. Die Leadership-Kurse waren immer voll, der Followership-Kurs war am Anfang fast leer.
Weshalb ist Followership so wichtig?
Weil die Aufgaben zu komplex sind, als dass nur ein starker Leader oder eine Gruppe von Führungskräften alles steuern könnten. Ihre Aufgabe wird es sein, die Eigenverantwortung der Mitarbeiter zu stärken. In Zukunft wird jeder viel stärker für sich selbst verantwortlich sein. Ich glaube nicht, dass uns ein guter König oder unser Arbeitgeber diese Arbeit abnimmt. Vielleicht haben uns Organisationen in der stabilen Zeit der alten Industriegesellschaft daran gehindert, erwachsen zu werden. Es war bequem, die Verantwortung für das eigene Handeln an die Organisation zu delegieren. Jeder hatte sein Plätzchen. Menschen, die zu Minderheiten gehörten oder, egal aus welchen Gründen, nicht so ein bequemes Plätzchen hatten, haben vielleicht etwas klarer den Preis der Bequemlichkeit, die Entmündigung, gesehen. Es gab mal einen brand-eins-Titel: »Führung – Scheißjob.« Natürlich ist es das manchmal. Du musst Dich selber verändern, dabei bist Du auch verletzlich. Du bist mit Deiner eigenen Transformation beschäftigt, das ist anspruchsvoll genug. Und gleichzeitig musst Du das System transformieren, damit es Deine eigene Veränderung akzeptieren und selber in die neue Verantwortung wachsen kann. Das ist ein anspruchsvolles Paradox. Solche Transformationen können Ängste auslösen. William Bridges nennt das »Noman´s Land«. Das alte ist nicht mehr da und das neue ist noch nicht da. Man hat in solchen Übergangsphasen viel mit Angst, Unsicherheit, Zweifel zu tun.
Müssen wir uns daran gewöhnen, dass solche Transformationsprozesse der Normalzustand werden?
Ich glaube schon. Die Frage ist dann, wo bekommt man seine Sicherheit her? Organisationen haben den Leuten ja auch eine Orientierung und Identität gegeben. Das kann in Zukunft nur noch aus jedem selbst kommen. Ich meditiere zum Beispiel täglich, selbst als ich in der Regierung unter massivem Druck stand. Das war wirklich meine Überlebensstrategie, anders hätte ich es nicht geschafft. Das ist eine Frage, die ich mir immer wieder stelle: Was gibt uns in dieser Ambiguität und permanenten Transformation einen Halt?
Wie sieht die permanente Transformation in Ihrem Leben aus?
Ich habe eigentlich drei oder vier Identitäten. Ich habe meine Firma, ich bin Gründerin, aber nach der Rückkehr aus der Politik muss ich meine Rolle im Unternehmen neu finden. Ich habe zwei Kinder. Ich war in der tunesischen Regierung, und natürlich bin ich dem demokratischen Umbruch in der arabischen Welt weiter stark verbunden. Ich bin Generalsekretärin des Maghreb Economic Forum, ein Think Tank, der Wirtschaftsreformen in den nordafrikanischen Ländern begleitet. Die Zukunft der tunesischen Demokratie wird auch von den wirtschaftlichen Perspektiven abhängen. Und ich versuche, mir mit dem Schreiben und den Vorträgen immer wieder Reflexionsräume zu schaffen.
Klingt anstrengend.
Ich glaube, die Transformationsphase wird nie abgeschlossen sein. In dem Land, aus dem ich komme, Tunesien, haben viele Menschen keinen Zugang zu akademischer Bildung oder zu einem funktionierenden Gesundheitsystem. Aber sie sind daran gewöhnt, mit Unsicherheit umzugehen.
Das sagen Sie, als wäre Unsicherheit eine Ressource.
Ja, auf jeden Fall. Zugang zur Ressource Unsicherheit und die Fähigkeit, mit ihr umzugehen, wird immer wichtiger. Auch deshalb glaube ich, dass Afrika eine große Zukunft hat. Hier in Europa sieht man das noch nicht richtig, man sieht oft nur die Elends-Klischees und verpasst die großen Potentiale. China ist da wesentlich klüger. Alle neuen Potentiale, die auf uns zukommen, sind mit starken Unsicherheiten behaftet. Wer Angst davor hat, verpasst Chancen.
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Europa in Afrika Chancen verpasst?
Zum Beispiel beim Marktzugang für innovative afrikanische Firmen oder der Bereitschaft zur Kooperation. Es gab bei einem marokkanischen Versicherungsunternehmen, das in ganz Afrika expandiert, ein Angebot an die Allianz, da zu investieren. Die Allianz hat das, vielleicht auch aus Angst vor Unsicherheiten und dem afrikanischen Markt, nicht gemacht. Investoren aus dem Mittleren Osten und aus Asien sind eingestiegen. Dieses Unternehmen ist heute die größte Versicherung Afrikas, extrem profitabel und schnell wachsend. Ein anderes Beispiel: Eine sehr innovative tunesische IT-Firma, die Software für die Finanzindustrie entwickelt. Bei einem Pitch sagte ein deutscher CFO sinngemäß: A Company from Tunesia – that´s a joke. Sie kamen nicht in den europäischen Markt. Dann haben sie eine marode belgische IT-Firma gekauft. Seit sie als europäische Firma wahrgenommen werden, haben sie europäische Kunden, bis hin zur Bank of England. Aus ähnlichen Gründen hat ein tunesischer Kabelhersteller eine portugiesische Firma gekauft. Nur so wurden sie ernst genommen und konnten in Europa wachsen. Diese europäische Ignoranz ist eigentlich unglaublich. Das ist auch der Grund, weshalb wir unser LCP-Headquarter von Tunis nach London verlegt haben.
Ist Europa etwas provinziell?
Wir müssen verstehen, dass Europa, Nordafrika und der Nahe Osten eine Region sind, auch wenn Europäer glauben, Zäune bauen zu müssen. Das Worst-Case-Szenario: Europa wird obsolet aus Altersgründen, es wird ein Museum für Touristen aus Asien und Amerika. Nordafrika wird immer ärmer bei wachsender Bevölkerung. Es werden mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, andere radikalisieren sich. Der Nahe Osten investiert seine Milliarden in Asien und Amerika. Ein Best-Case-Szenario könnte aus Kooperation bestehen: das europäischen Wissen und die Managementerfahrung, kombiniert mit den vielen jungen, hochmotivierten, zum Teil auch gut ausgebildeten Nordafrikanern und den finanziellen Mitteln des Nahen Ostens. Wir haben alles, was man braucht: Knowhow, junge Leute und Geld. So könnte man Europa vital halten und aus Afrika das nächste China machen. Das ist eine große Chance, aber dafür müssen wir uns von unseren mentalen Barrieren befreien. Ich habe dieses Szenario in einem Vortrag bei den Baden Badener Unternehmergesprächen vor vielen Führungskräften entwickelt und war überrascht, auf welches Interesse meine Überlegungen bei Vorständen von DAX-Konzernen gestoßen sind.
Müssen sich die deutschen Unternehmen umbauen, um zukunftsfähig zu werden, zum Beispiel für dieses Best-Case-Szenario?
Ja, sicher. Und das kann anstrengend sein. Wir haben einen größeren deutschen Mittelständler beraten, der sich stärker internationalisieren wollte und damit Schwierigkeiten hatte. Mit den Führungskräften waren wir mit den Mittelständlern bei John Deere, ein großer Landwirtschaftsmaschinen-Hersteller, der seine Internationalisierung sehr gut hingekriegt hat. Die Antwort der John-Deere-Leute war glasklar: Wir haben alles probiert, es gibt nur einen Weg der funktioniert. Stellt internationale Leute ein, auch im Vorstand. Der deutsche Mittelständler hatte einen Holländer im Vorstand, nicht gerade ein Culture Clash. Der Holländer wäre fast wieder rausgeflogen, weil er kulturell so angeeckt ist. Vielleicht sind die simpelsten Veränderungen manchmal die schwierigsten und die wirkungsvollsten. Ich selbst war nach dem Studium bei einem großen deutschen Konzern im internationalen Trainee-Programm. Der Konzern hat viel Geld ausgegeben, um junge Professionals mit anderem kulturellen Hintergrund in sein Unternehmen zu holen. Aber am Ende wurde keiner der Asiaten und Afrikaner übernommen, und das lag sicher nicht daran, dass sie nicht gut gewesen wären. Solche mentalen Blockaden können am Ende sehr teuer werden. Man muss die Leute nicht nur einstellen, man muss sich auch für sie öffnen. Und man muss wahrscheinlich auch eine kritische Masse einstellen. Drei oder vier Leute verändern keine Kultur. Deshalb ist es eine gute Nachricht für Deutschland, dass jetzt eine Million Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern hier leben wollen. Das ist super, eine riesige Chance.
Dort, wo ich aufgewachsen bin, konnte ich morgens nie sicher sein, ob wir mittags noch Strom haben, oder ob auch abends noch Wasser aus der Leitung fließt. Beides fiel immer wieder einfach aus. Ohne Vorwarnung. Aber gut, das war eine Kleinigkeit.
Mehrmals im Monat stand ich früh auf, machte mich fertig, kämpfte mich zu Fuß durch den Verkehr, kam zur Schule und dort fiel dann der Strom aus. Ich hatte noch Glück, ich wohnte direkt in der Stadt. Andere Klassenkameraden kamen aus Vororten oder vom Land. Und um sich nicht zu verspäten, nahmen sie das sicherste aller Verkehrsmittel: Sie kamen zu Fuß. Auch wenn das Stunden dauerte. Verspätungen wären kein Problem gewesen. Ob der Bus überhaupt kam, war eine Frage des Glücks. Und hing davon ab, ob unterwegs ein Reifen platzte oder nicht, ob noch genügend Sprit im Tank war oder nicht, ob der Fahrer spontan bei Freunden anhielt oder nicht …
Morgen? Wenn Gott will, werden wir morgen Schule haben. Dass heute nicht mehr gelten muss, was gestern noch vehement behauptet wurde, war im Tunesien meiner Kindheit das Normalste von der Welt. In allen Lebensbereichen.
Es kommt immer anders, als du denkst. Und wenn die Ausnahme der Regelfall ist, dann ist das ja auch gar nicht schlimm. Mit dieser Haltung bin ich aufgewachsen, und diese Haltung bestimmt bis heute mein Denken und Handeln. Deshalb bin ich mir ziemlich sicher: Ich gehe mit Unsicherheit anders um als Sie.
Wer in Mitteleuropa oder Nordamerika oder Japan aufgewachsen ist, also in einem sogenannten Industrieland, hat mit größter Wahrscheinlichkeit die Erfahrung gemacht, dass der Alltag nach bestimmten, ja eigentlich nach den immer gleichen Regeln funktioniert. Das wenige Unvorhergesehene, die Ausnahme von der Regel, die Überraschung, ist dann allerdings ein Großereignis und bringt alles durcheinander.
Sie wissen, wovon ich spreche. In Bezug auf die Wirtschaft zum Beispiel spreche ich davon, dass eine ausgereifte, hoch entwickelte Technologie, mit der eigentlich alles »in Ordnung« ist, plötzlich von der Geschichte untergepflügt wird – wie der Röhrenbildschirm, der seit Jahrzehnten in jedem Haushalt, jedem Büro präsent war. Plötzlich kam eine zunächst minderwertige Neuerfindung auf, nämlich der pixelige, kleine, langsame, teure Flachbildschirm. Die Röhre war qualitativ meilenweit überlegen. Keine ernsthafte Konkurrenz. Niemand wollte seinen schönen, bewährten Fernseher gegen so ein, in jeder Hinsicht unterlegenes, Produkt eintauschen. Die Zahlen der Marktforschung konnten das belegen. Nicht jede neue Technologie ist eben automatisch besser als das Bewährte, dachten die Manager stolz. Aber innerhalb von nur wenigen Jahren war die Röhre vom Markt gefegt. Denn die Tatsache, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit des Flachbildschirms viel schneller war als die der technisch ausgereizten Röhre, war aus den Zahlenwerken der Controller nicht ablesbar. Die Röhrenfernseher-Hersteller wussten nicht, dass sie bereits geschlagen waren, als sie noch auf der Siegesstraße fuhren.
Gerade erleben wir, dass Tesla Motors aus Kalifornien, ein Startup eines scheinbar größenwahnsinnigen Dot.com-Miliardärs, innerhalb von nur zehn Jahren zu einem milliardenschweren Unternehmen gewachsen ist, und mit seinen Premium-Elektroautos große Namen wie Porsche, Audi oder BMW ins Schwitzen bringt. Womöglich ergeht es dem Benzinmotor wie der Bildröhre. Wer hätte das gedacht?
Solch unvorhergesehene Ereignisse werfen nicht nur einzelne Unternehmen, sondern auch ganze Branchen aus der Bahn. Dass es in einem japanischen Kernkraftwerk nach einem Tsunami zur Kernschmelze kommt und ein Land wie Deutschland daraufhin quasi über Nacht den Ausstieg aus der Kernenergie beschließt, das hätte sich vor Fukushima kein Energiekonzern träumen lassen.
Im Kleinen wie im Großen gilt: Solche Überraschungen bringen die gewohnte Ordnung durcheinander. Zum Beispiel die Ordnung, wer Marktführer, Platzhirsch und eine sichere Bank ist. Diese plötzlichen, überraschenden Ereignisse werden »disruptiv« genannt, weil sie die bestehende Ordnung »auseinanderreißen«.
Okay. Das alles wissen Sie so gut wie ich. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Disruptive Technologiesprünge, überraschende Veränderungen, katastrophale Abweichungen von der Normalität – das ist nur eine bestimmte Sichtweise. Das können Sie nur dann so sehen, wenn Sie überhaupt an die »bestehende Ordnung« glauben – also wenn Sie die Haltung haben, dass die Ordnung normal ist und das disruptive Ereignis die Ausnahme. Sie können es aber auch anders sehen …
Zudem ist die Existenz solcher Überraschungen erst einmal nur ein Phänomen. Zwei Probleme gibt es damit: Erstens sterben dabei tatsächlich Unternehmen, manchmal sogar ganze Branchen. Zweitens häufen sich die Überraschungen zunehmend in unserer Gegenwart.
In den 1970er-Jahren waren die Weltmärkte weitgehend stabil und berechenbar: Neue Konkurrenten und neue Technologien entwickelten sich nur langsam und Knalleffekte kamen nur alle paar Jahre einmal vor. Die einzelnen Weltmärkte – für Finanzen, für Fachkräfte, für Rohstoffe oder für Produkte entwickelten sich im Vergleich zu heute relativ unabhängig voneinander und relativ langsam und kontinuierlich. Sie können auch sagen: relativ berechenbar. Heutzutage brauche ich nur die Wirtschaftszeitung aufzuschlagen, und ich finde garantiert ein Ereignis, ein Produkt, eine Firma – kurz: irgendetwas, das gerade den Markt umkrempelt. Die Welt dreht sich immer schneller und die Veränderungen werden immer heftiger. Zunehmend kürzer wird auch die Zeit, die eine Erfindung braucht, um sich durchzusetzen – und um wieder zu veralten. Das lässt sich ablesen an der Zeitspanne, die eine technische Innovation ab ihrer Markteinführung braucht, bis sie 50 Millionen Nutzer hat.
Beim Radio waren das 38 Jahre.
Beim Fernseher 13.
Beim Internet vier.
Beim iPhone drei.
Bei Facebook zwei.
Auch die Informationsmenge, die zur Verfügung steht, wächst ständig. Und das macht alles immer komplexer. Was heute in einer Woche in der New York Times steht, ist mehr Information, als im 18. Jahrhundert ein Mensch in seinem ganzen Leben zu verarbeiten hatte. Allein das technische Wissen verdoppelt sich alle zwei Jahre. Bei meinem Maschinenbau-Studium habe ich im dritten Jahr festgestellt, dass die Hälfte von dem, was ich im ersten Jahr gelernt hatte, schon wieder veraltet war. Und das ist jetzt auch schon wieder einige Jahre her …
Wie tiefgreifend sich die Wirtschaft gerade ändert, zeigt Dirk Baecker vom Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Er vertritt die These, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit nicht gleichmäßig vor sich geht, sondern in plötzlichen Entwicklungssprüngen, gefolgt von Phasen sehr langsamer Entwicklung, auf die dann wieder ein Sprung folgt.
Ein solcher Sprung war zum Beispiel die Erfindung der Schrift im vierten Jahrtausend vor Christus in Mesopotamien. Ein anderer, die Erfindung des Buchdrucks. Immer, wenn es einen solchen Sprung in einer »Schlüsseltechnologie« gibt, verändert sich nicht nur dieser Zweig der Wirtschaft, sondern gleich die ganze Gesellschaft, der komplette Alltag, das ganze Leben. Und zwar rasend schnell.
Laut seiner Theorie stecken wir gerade mitten in einem solchen Entwicklungssprung: in der digitalen Revolution. Das World Wide Web wurde 1995 erfunden. Aber schon jetzt hat es unsere Alltagskultur, unsere Kommunikation, unser Selbstverständnis und unser Weltbild völlig verändert. Und das ist erst der Anfang. Die digital vernetzte, globale Gesellschaft ist erst im Entstehen, und wir wissen noch überhaupt nicht, wie sie aussehen wird.
Spannend an Baeckers Theorie finde ich drei Dinge. Erstens: Der allgemeine Sprachgebrauch und die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass Wirtschaft und Gesellschaft sich im Laufe der Menschheitsgeschichte immer schneller verändern, sie sprechen oft vom Phänomen der »Dynaxity« – der Kombination aus zunehmender Dynamik und zunehmender Komplexität. Aber laut Baecker stimmt das nicht kontinuierlich. Wir haben nur gerade den Übergang von einer ruhigen Phase in eine beschleunigte Phase der Veränderung erlebt. Von dieser kurzen Phase der extremen Beschleunigung auf die ganze Menschheitsgeschichte zu schließen, ist womöglich ein Kurzschluss.
Zweitens bedeutet das, dass die Menschheit solche chaotischen Phasen extremer Veränderung schon öfter erlebt hat. Mit dem Blick auf das große Ganze ist der gegenwärtige Schub an Innovation und Veränderung also ganz normal.
Drittens: Was derzeit geschieht, ist verwirrend für einen Menschen, der geprägt ist von einer Gesellschaft, mit einem ruhigeren Geschichtsverlauf mit viel Ordnung und Sicherheit. Der Effekt ist in etwa so, wie wenn Sie einen Menschen aus dem Tiefschlaf reißen und zur Hauptgeschäftszeit mitten in einen Souk in der Medina von Tunis stellen.
Die Verwirrung ist berechtigt: Während eines Entwicklungssprungs verändern sich Gesellschaft und Wirtschaft nicht nur rasend schnell, sondern auch völlig unvorhersehbar. Kleinste Ereignisse können reichen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Eine unscheinbare Erfindung, das Verhalten einer Einzelperson, ein einzelner Kommentar in einem gut vernetzten Forum, kann Märkte, Meinungen, ja sogar politische Systeme verändern – oder auch nicht. Das weiß vorher niemand.
Nehmen Sie den Arabischen Frühling: Der wurde nicht von einer politischen Gruppe ausgelöst, sondern von einem Gemüsehändler. Am 17. Dezember 2010 zündete sich in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt 200 Kilometer von Tunis entfernt, Mohamed Bouazizi aus Protest gegen behördliche Willkür an: Die Behörden hatten seine Ware beschlagnahmt. Eine individuelle Verzweiflungstat, die zunächst in Tunesien, in den nächsten Wochen und Monaten in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten, eine nicht zu stoppende Protestwelle gegen die autoritär herrschenden Regime auslöste. Das historische Ereignis war völlig ungeplant, völlig unorchestriert, völlig flächendeckend und völlig wirkungsvoll. Und niemand hatte es vorausgesehen.
Über Twitter, Facebook und Mobiltelefone verbreitete sich die Nachricht über die Selbstverbrennung von Bouazizi in Sekundenschnelle in der ganzen Welt. Über dieselben Kanäle verabredeten sich die sonst eher obrigkeitshörigen Tunesier im ganzen Land zu Protestdemos. Die Aufstände blieben keine Eintagsfliege: Nach 28 Tagen Unruhen, Protesten und Ausschreitungen war es soweit, dass der tunesische Präsident Zine el Abidine Ben Ali das Land verließ. Kurze Zeit später waren auch der ägyptische Präsident Husni Mubarak und der jemenitische Präsident Ali Abdullah Salih nicht mehr im Amt. Der libysche Diktator Muammar al-Gadaffi hielt sich noch einige Monate länger; er wurde nach einem brutalen Bürgerkrieg im Oktober 2011 umgebracht.
Geplant war das alles nicht. Doch ebensowenig kann es Zufall gewesen sein. Es sind nur genügend Faktoren zusammengekommen, um eine Entwicklung über eine bestimmte Schwelle zu heben, die die bestehende Ordnung vom Chaos trennt. Jenseits der Schwelle ist die Entwicklung unvorhersehbar, unkontrollierbar, unbeeinflussbar. Anders als in der ruhigen, geordneten Zone, wo eine Ursache eine Wirkung nach sich zieht – oder umgekehrt ein Effekt eine bestimmte Ursache hat, ist es in den stürmischen Zeiten jenseits der Schwelle ganz anders: Viele Faktoren, viele Wirkungen, und alles ist mit allem vernetzt und mit wechselseitigen Auswirkungen miteinander verbunden. Ja, Sie könnten sagen: Das ist das Chaos. Wie furchtbar! Aber es ist viel angenehmer, einfacher und praktischer zu sagen: Das ist die normale, komplexe Welt, mit ihrer zentralen Eigenschaft – Unvorhersehbarkeit.
Das heißt: Wenn Sie ein Ereignis verstehen wollen, hilft Ihnen die Suche nach DER Ursache nicht weiter. Es gibt sie nicht. Und wenn Sie eine Wirkung erzielen wollen, hilft Ihnen DIE Maßnahme nicht weiter. Denn sie erzeugt mit großer Wahrscheinlichkeit eine ganz andere Wirkung als Sie planen. Eine Intervention wirkt immer auf das ganze System, nicht nur auf einen Teil davon, und das Ganze wirkt dann wieder auf den Teil. Mit unvorhersehbaren Ergebnissen. Einfaktorielle Interventionen können Sie derzeit glatt vergessen.
Die Welt, die Wirtschaft, die Gesellschaft verlaufen nicht mehr nach dem so praktischen Ursache-Wirkungs-Prinzip. Aber die Zeit der relativen Vorhersehbarkeit war möglicherweise nur ein Spezialfall der Geschichte, nur eine Phase. Das gegenwärtige Chaos ist die Normalität von heute. Kein Grund zur Aufregung, wir können es nicht ändern. So sehe ich es …
Wie Sie damit umgehen, kann ich natürlich nicht im Detail wissen. Die groben Strategien vermutlich aber schon, denn die beobachte ich immer wieder. Ich gehe deswegen jede Wette ein, dass Sie mit der Komplexität und Unsicherheit der modernen Welt im Prinzip genauso umgehen wie der Versandhandel Quelle, der Fotoapparat- und Filmhersteller Kodak, der Fernsehhersteller Loewe, der Autohersteller Saab. Diese Liste könnte ich beliebig verlängern. Das alles waren große Traditionsunternehmen mit professionellem Management, die ihr Business im Griff hatten, die aufgrund genauer Marktkenntnis planten und ihre Pläne konsequent umsetzten. Damit waren sie lange Zeit sehr erfolgreich – bis sie insolvent gegangen sind. Die Pleiten lösten quer durch die Wirtschaftswelt bei Führungskräften und Experten Verunsicherung und lebhafte Diskussionen aus.
Was war da los?
Haben diese, doch eigentlich bestens aufgestellten Unternehmen, irgendetwas falsch gemacht, und wenn ja was? Hatten sie die falsche Strategie, oder haben sie sie nicht konsequent genug angewendet?
Ihr Reflex wird höchstwahrscheinlich sein zu antworten: Die haben nicht gut genug geplant. Die Marktforschung war nicht detailliert genug. Die Management-Entscheidungen waren nicht gründlich genug vorbereitet, es haben Informationen gefehlt.
Ich verstehe das. Aus Ihrer Perspektive sieht das so aus.
Schauen Sie sich mit mir gemeinsam die Strategie genauer an, mit der Unternehmen versuchen, die Unwägbarkeiten des Marktes, des Kundenverhaltens und des Wettbewerbs in den Griff zu bekommen.
Diese Strategie basiert auf einem Grundsatz, den jeder Mensch seit seiner Schulzeit tausendfach gehört hat und der lautet: Wissen ist Macht. Im BWL-Studium wird dieses Axiom für den Spezialfall Wirtschaft übersetzt und noch tiefer in die Köpfe gehämmert: Je genauer du Bescheid weißt über deine Kunden, deine Wettbewerber, über das Kräftespiel des Weltmarktes, desto fundierter und treffsicherer kannst du deine Strategie planen. Dann wird dich keine Veränderung im Kundenverhalten oder Markt mehr unvorbereitet treffen. Dann bist du sicher.
»If you show us what you buy, we can tell you who you are, maybe even better than you know yourself.«
So zitierte die US-amerikanische Nachrichten-Webseite »The Daily Beast« 2010 einen früheren CEO der kanadischen Supermarktkette Canadian Tire. Mit Hilfe einer riesigen Datensammlung erstellte das Unternehmen psychologische Profile seiner Kunden. Der Konzern ermittelte, dass Kunden, die sowohl Messgeräte für Kohlenmonoxid als auch Premium-Vogelfutter und Filzgleiter für Stuhlbeine kaufen, regelmäßig die Fristen ihrer Rechnung verpassen. Wer billiges Motorenöl kaufte und auch noch in Montreal die Bar »Sharx« besuchte, bei dem war das Risiko, die Rechnung zu spät zu bezahlen, noch höher. Dieser Logik folgend, wurde allen Kunden, die diese Produktkombinationen kauften, der Kredit verweigert.
Das Kreditkarten-Unternehmen Visa legte ebenfalls detaillierte Statistiken zum Kundenverhalten an und wertete sie konsequent aus. So konsequent, dass eines Tages ausgewählten, eigentlich guten Kunden jeweils ein Brief ins Haus flatterte: Visa bot ihnen darin 300 Dollar, wenn sie kündigten.
Doch. That‘s real.
Diese Kunden hatten ihre Rechnungen immer bezahlt und trotzdem wollte das Unternehmen sie loswerden. Denn Visa hatte aufgrund einer umfangreichen Datensammlung vorausberechnet, dass sie zu Risikokunden werden könnten. So funktioniert der Versuch, das Chaos zu kontrollieren. So funktioniert Big Data!
Finden Sie das absurd? Aber wieso? Hier wurde das Prinzip »mehr Wissen = mehr Planungssicherheit« doch nur konsequent angewendet. Das und nichts anderes ist die Konsequenz aus dem Denken, das in unserer Gesellschaft (fast) jeder akzeptiert und praktiziert, von der Kita bis zum Altenheim.
Mehr Informationen über Kunden, mehr Informationen über Wettbewerber und vor allem mehr Informationen über das eigene Unternehmen sollen bei der noch detaillierteren Planung helfen. Um die internen Informationen zu sammeln und zu bündeln, gibt es die Controlling-Abteilungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten immens ausgebaut wurden. »Immer mehr Unternehmen setzen darauf, jemanden einzustellen, der diese Aufgabe übernimmt«, schrieb das deutsche Börsenportal wallstreet:online im August 2013. Controller sammeln und analysieren alle Zahlen, die sie im und ums Unternehmen auftreiben können. Und sie werden darin immer besser.
Diese Informationen kumulieren, analysieren und präsentieren sie dann der Unternehmensleitung. Und diese entscheidet auf dieser Grundlage, beschließt den Geschäftsplan fürs nächste Jahr und Maßnahmen, mit denen die geplanten Ziele erreicht werden sollen. Ursache-Wirkungs-Ketten werden angestoßen, alles auf der Basis möglichst guter Zahlen. Exzellent.
Dann überprüft das Controlling laufend, ob der Ist-Zustand noch mit dem Soll-Zustand übereinstimmt. So kann das Management bei der geringsten Planabweichung sofort einschreiten und eine einfaktorielle Intervention starten. Brillant. Das Unternehmen orientiert sich also strengstens und mit höchster Disziplin an – woran? Am Plan!
Die Ressourcen des Unternehmens werden unter dieser Prämisse mithilfe von Enterprise-Resource-Planning-Software optimal eingesetzt, der Arbeitsalltag sparsam und schnell organisiert, mit einem Wort: effizient. Denn darum geht es im Management: die Effizienz zu steigern, die Kosten und den Zeitaufwand pro produzierter Einheit oder pro Dienstleistung zu senken, den Gewinn pro Einsatz zu erhöhen, jede Form der Verschwendung auszumerzen, das Optimum herauszuholen. Das Unternehmen als Formel-1-Bolide, an dem jeden Tag getüftelt wird.