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DIE
NETFLIX-
REVOLUTION

WIE STREAMING
UNSER LEBEN VERÄNDERT

OLIVER SCHÜTTE

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Die Netflix-Revolution

©2019 Midas Management Verlag AG

ISBN 978-3-03876-525-7

eISBN 978-3-90601-065-6

Oliver Schütte

Lektorat: Dr. Patrick Brauns, Konstanz

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in Seminarunterlagen und elektronischen Systemen.

Midas Management Verlag AG, Dunantstrasse 3, CH 8044 Zürich

»In einigen Jahren werden wir auf das Fernsehen
zurückblicken wie heute auf das Faxgerät.«

Reed Hastings, Gründer und Chef von Netflix

INHALTSVERZEICHNIS

1Einleitung

2Als die Bilder laufen lernten

Die interessanteste Erfindung der Neuzeit

Die Macht der Bilder

3Die Flimmerkiste

Fenster zur Welt

Das Lagerfeuer der Nation

Tutti Frutti

Der Geschmack der Freiheit (Video, Festplatten und DVD)

Die Premiere

It‘s Not TV

Zur Lage der Fernsehnation

Vom Flimmern zum Kinoerlebnis

4Die Streamingrevolution

Streamen – was ist das?

YouTube

David und Goliath

Netflix

Amazon Prime

Streaming in Deutschland: You are wanted

Die Quote

Laptop, iPad und Smartphone

Die Gegenwart sind Apps

5Der Kampf der Streamingplattformen

Apple TV+: Watch different

Disney+: Das Haus von Mickey Mouse

Hulu: Der Außenseiter

HBO Max: Harry Potter gegen den Rest der Welt

NBCUniversal: This is Us

Quibi: Der kleine Imbiss

Europa hinkt hinterher

Dabeisein ist alles: Sport

Jenseits des Mainstreams

Unsere Zukunft

6Ein neues Kapitel

Geschichten in Serie

Dokumentarfilm

Nachrichten

Wir unterbrechen für die Werbung

Wünsch dir was

Erzählerische Experimente

Virtual Reality

7Eine neue Epoche

Filmgeschichte

Showrunner

Können Dinosaurier sterben?

Das Kino wird sich verändern

Aus lokal wird global

Die fünfte Generation

Peak TV

8Schöne neue Welt

Wer besitzt meinen Film?

Strukturwandel und Öffentlichkeit

Liest Du noch oder streamst Du schon?

Individualisierung

Das globale Dorf

Binge-Watching

Von der linearen zur nonlinearen Gesellschaft

Künstliche Intelligenz

Wie der Algorithmus bestimmt, was wir sehen

Big Data

In der Filterblase

9Die Revolution kontrolliert ihre Kinder

Anhang

Anmerkungen

Bibliografie

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EINLEITUNG

Wie haben Sie zuletzt Fernsehen geschaut? Haben Sie den Tatort am Sonntag um 20.15 Uhr zusammen mit ihrem Ehepartner vor dem Fernsehgerät verfolgt, oder haben Sie die aktuelle Folge von The Crown von Netflix auf ihrem iPad gesehen? Vielleicht haben Sie auf ihrem Smartphone den neuesten Clip von LeFloid gecheckt, während Sie im Bus nach Hause fuhren.

Wie, wo und was Sie auch immer Fernsehen genossen haben, Sie sind Teil einer Disruption, die sich buchstäblich vor Ihren Augen abspielt. Sie werden nicht nur Zuschauer bleiben, sondern Teilnehmer einer Entwicklung, die die Welt verändern wird. Im audiovisuellen Bereich ist dies die dritte Revolution. Und wie die beiden vorangegangenen wird sie beeinflussen, wie Sie die Welt wahrnehmen und wie Sie darin interagieren.

Die erste Umwälzung begann Ende des 19. Jahrhunderts. Das Kino eroberte in kurzer Zeit den gesamten Globus. Der Erste Weltkrieg fand nicht mehr, wie andere gewalttätige Auseinandersetzungen vorher, in der Ferne statt, sondern wurde jeden Abend in den Lichtspielhäusern präsentiert. Dabei entwickelte sich eine neue Form des Geschichtenerzählens. Eine, die sich stark von ihren Vorgängern unterschied. Während Literatur die Leser nur auf dem Papier in seinen Bann zog und Theater das Publikum immer in einer gewissen Distanz hielt, zog das Kino den Zuschauer direkt in das Geschehen hinein.

Gut ein halbes Jahrhundert später eroberte das Fernsehen ebenfalls innerhalb weniger Jahre die industrialisierten, »entwickelten« Länder. Das Weltgeschehen wie die Mondlandung kam ins Wohnzimmer und beeinflusste erneut die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnahmen. Nicht nur, dass die Nachrichten in unser Leben Einzug hielten, sondern auch die Unterhaltung bestimmte fortan den Tagesablauf. Neben fiktiven Filmen wie in den Lichtspielhäusern kamen sehr schnell Shows und andere Entertainmentformate auf den Bildschirm. Und mit den Serien spielte das neue Medium seine Stärken gegenüber dem Kino aus.

Das Leben der Menschen änderte sich durch das Fernsehen radikal. Es wurde zum Lagerfeuer am Abend, um das sich die Familie versammelte, und am nächsten Tag bestimmte das Gesehene häufig die Gespräche mit Kollegen und Freunden.

Im Rahmen der dritten Disruption erleben wir derzeit einen erneuten globalen Wandel. Wir können von nun an bestimmen, wann wir schauen, wo und mit welchem Gerät. Neue Anbieter wie Netflix haben die Welt in Windeseile erobert, aber der Kampf um unsere Gunst (und unser Geld) ist noch nicht zu Ende. In den nächsten Jahren werden weitere Akteure auf den Markt kommen, die mit unterschiedlichen Angeboten ihren Platz suchen. Und Elemente der Künstlichen Intelligenz werden die Art und Weise verändern, wie wir mit unseren Geräten umgehen und wie wir fernsehen.

Ist der Begriff »Revolution« für diese Veränderungen zu hoch gegriffen? Der Duden vermerkt, dass es sich um eine »tief greifende Wandlung; umwälzende, bisher Gültiges, Bestehendes o. Ä. verdrängende, grundlegende Neuerung« handelt. Wir Deutschen können auf unsere Erfahrungen einer friedlichen Revolution zurückgreifen, die kaum 30 Jahre her ist. Damals sind die Menschen massenhaft auf die Straße gegangen und haben einen Wandel durchgesetzt, der das Alte auf den Müllhaufen der Historie geworfen hat. Es gehört mit zu einer Revolution von diesem Ausmaß, dass vieles zerstört wird. Wir erleben gerade etwas Ähnliches im Medienbereich. Die existierenden Strukturen, die bekannten Herrschenden werden bald Geschichte sein. Aber die Frage bleibt: Was bringen die neuen Zeiten? Inwieweit wird sich unser Leben einmal mehr ändern?

Und hat der Chef von Netflix Reed Hastings recht, wenn er behauptet, dass das kommende Zeitalter »einen einfachen aber revolutionärer Schritt von der Kontrolle durch die Anbieter hin zur Kontrolle der Zuschauer«1 bedeutet?

In diesem Buch möchte ich Sie auf die Zukunft vorbereiten. Ich werde die Chancen beleuchten, die die Umwälzung, in der wir uns gerade befinden, in sich birgt, aber auch deren Gefahren. Wie in jeder Revolution haben wir die Aufgabe, die kommende Zeit aktiv mitzugestalten, ihre neuen Möglichkeiten aufzugreifen und den negativen Konsequenzen im Alltäglichen entgegen zu wirken.

Was wir Zuschauer tatsächlich endlich brauchen, ist die Kontrolle. Und das Buch will die Frage beantworten, wie wir sie erlangen können.

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ALS DIE BILDER LAUFEN LERNTEN

Pünktlich wie jeden Tag verließ Charlotte, die junge Sekretärin in einer Rechtsanwaltskanzlei, um 18 Uhr ihren Arbeitsplatz am Kurfürstendamm. Es war bitterkalt draußen, und sie zog ihren Mantel zusammen, um nicht zu frieren. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie sie mit ihrer Freundin Maria vor kurzem Silvester gefeiert und das neue Jahr 1927 begrüßt hatte. Vielleicht – so hoffte sie – wird noch mehr aus der Freundschaft. Heute würde sie nicht wie an den anderen Tagen die Straßenbahn nehmen, um schnell nach Hause zu kommen. Heute stand etwas Besonderes auf dem Programm.

Vor dem Ufa-Palast am Zoo hatte sich eine riesige Menschentraube angesammelt, und der Verkehr staute sich auf den umliegenden Straßen, denn der Film Metropolis von Fritz Lang hatte Premiere. Natürlich gehörte Charlotte nicht zu den geladenen Gästen. Es ging ihr darum, einen Blick auf die Stars zu werfen. Und da stieg schon einer von ihnen aus seiner Limousine. Es war der berühmte Schauspieler Heinrich George, der mit seiner Leibesfülle unübersehbar war.

Das Kino fasste 2000 Zuschauer und nach und nach füllte sich der rote Teppich mit den Darstellern, aber auch anderen Künstlern, und sogar die Politik war bei diesem Ereignis dabei. Der Monumentalfilm sollte ein Angriff auf Hollywood sein. Für die Effekte, Studiobauten, Statisten und die zahlreichen Kostüme hatte die Produktionsfirma mehr als fünf Millionen Reichsmark ausgegeben, hatte Charlotte in der Zeitung gelesen. Die Dreharbeiten dauerten angeblich 310 Tage und 60 Nächte.

In diesem Moment stieg der Regisseur mit einem Monokel aus dem Auto, neben ihm seine Frau Thea von Harbou, die das Drehbuch geschrieben hatte. Charlotte bewunderte die Art und Weise, wie die beiden elegant ins Kinofoyer schritten. Sie wird sich den Film zusammen mit Maria in einer Woche anschauen, stand für sie ab sofort fest. Denn Maria liebt Kino genauso wie sie. Gemeinsam können sie in fremden Welten eintauchen, lachen und weinen oder sich einfach unterhalten lassen und für einen Moment von der Realität draußen verabschieden.

Ende des 19. Jahrhunderts veränderten wichtige Erfindungen die Welt für immer. Mehrer Tüftler experimentierten mit der Übertragung von Sprache durch das Telefon, 1888 hatte Berta Benz ihre Reise mit dem bisher unbekannten Automobil von Mannheim nach Pforzheim unternommen, und das Grammophon spielte die ersten Schallplatten.

Viele Neuerungen haben den Alltag der kommenden Generationen transformiert. Und sie prägen uns heute noch. Wir können uns ein Leben ohne Auto (in Zukunft eher mit Elektromotor und im Carsharing) nicht vorstellen. Festnetztelefone sind zwar in weiten Kreisen nicht mehr angesagt, seitdem das Smartphone auch Telefonverbindungen herstellen kann, und der CD-Spieler weicht zunehmend Spotify. Aber ohne die Erfindungen der damaligen Zeit wäre dies alles nicht vorstellbar. Und eine weitere Innovation hatte die Welt ein für alle mal verändert.

Die interessanteste Erfindung der Neuzeit

Am Abend des 1. November 1895 starrten die Zuschauer im Wintergarten Varieté in Berlin auf eine weiße Leinwand, die auf einer der Seitenbühnen aufgespannt war. Es war die Schlussnummer, nachdem Zauberer und andere Artisten das Publikum zum Staunen gebracht hatten. Plötzlich flimmerten zwei Männer auf der Projektionsfläche. Den Betrachtern blieb der Mund offen stehen, über das, was sich da vor ihren Augen abspielte. Bewegte Bilder, die die Realität wiedergaben. Als schließlich ein boxendes Känguru erschien, ein Tier, das die meisten der Zuschauer noch nie lebendig gesehen hatten, begleitete Applaus die Entstehung des Kinos.

Am Schluss verbeugten sich die Abbilder der beiden Erfinder des von ihnen sogenannten Bioscops, die Brüder Emil und Max Skladonowsky auf der Leinwand vor dem begeisterten Publikum.

In den Zeitungen wurde das Programm fortan als die »interessanteste Erfindung der Neuzeit« angekündigt. Kaum einer konnte ahnen, wie recht die Werbung damit haben würde. Vier Wochen lang zeigten die beiden Skladonowskys ihre Filme vor ausverkauftem Haus. Und schon nach kurzer Zeit führte sie eine Tournee ins Ausland.

Zeitgleich befassten sich auch zwei andere Brüder mit der Idee, bewegliche Bilder aufzunehmen und in der Öffentlichkeit vorzuführen. Es waren die Franzosen Auguste und Louis Lumière. Mit ihrem Cinématographen hatten sie am 22. März des gleichen Jahres ihren Film La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon dargeboten – allerdings vor einem geschlossenen Publikum. Die erste öffentliche Aufführung sollte zwei Monate nach der Berliner Vorführung im Januar 1896 in Paris stattfinden.

Die Skladanowkys fuhren mit ihrem Bioscop Ende Dezember ebenfalls in die französische Hauptstadt. Es waren mehrere Vorstellungen in dem Varieté Folies-Bergère vereinbart. Als die Lumières davon Wind bekamen, legten sie ihre Premiere vor die Vorführung der beiden Brüder aus Deutschland auf den 28. Dezember in einen kleinen Raum im Grand Café. Zehn Filme von maximal einer Minute wurden dem zahlenden Publikum vorgeführt, darunter eine Badeszene am Meer und die Fütterung eines Babys.

Als die Skladanowkys bei ihrer Ankunft von der Konkurrenzveranstaltung erfuhren, arrangierten sie einen Besuch im Grand Café, um die Technik in Augenschein zu nehmen. Was sie sahen, erschreckte sie, denn die Erfindung der Gebrüder Lumière war ihrer technisch weit überlegen. Der Direktor des Folies-Bergère sagte die geplante Aufführung des weniger ausgereiften Bioscops darauf kurzerhand ab.

Wieder zurück in Berlin schwante den Skladanowkys, dass es mit ihrer Erfindung nicht einfach werden würde. Denn nicht nur war ihre Technik komplexer und von geringerer Qualität, zudem hatten sie es bei ihren Konkurrenten mit vermögende Fabrikanten zu tun, während sie arme Schausteller waren. Dennoch gaben sie sich Mühe, ihren Apparat noch weiter zu verbessern. Jedoch fehlte es an Kapital, sodass der Siegeszug der Erfindung aus Frankreich schließlich nicht mehr aufzuhalten war.

Wenig später zogen sich die Gebrüder Skladanowsky aus dem Geschäft zurück. Trotzdem gebührt den Berlinern die Anerkennung, dass ihnen die erste öffentliche Vorführung eines Films gelungen war.

Ein paar Jahre blieb das Kino oder »Kintopp«, wie es damals genannt wurde, ein Vergnügen, das Varietés und Gaststätten vorbehalten war. In dieser Zeit reichte es den Zuschauern oft, dokumentarische Szenen von kurzer Dauer aus unterschiedlichen Zusammenhängen vorgeführt zu bekommen. Das Spektakel an sich, bewegte Bilder zu sehen, war schon groß genug. Die Filmemacher investierten deshalb noch nicht in aufwendige Geschichten. Dies kam erst später, als der Reiz des Neuen verflogen war. Ab der Jahrhundertwende wurden nach und nach Kinos eröffnet – also Räume, die der regelmäßigen Vorführung von Filmen dienten.

Die ersten Lichtspiele zeigten den Zuschauern alltägliche Szenen, die nicht selten in fremde Welten führten. So konnte das Publikum von 1895 in einem 44 Sekunden langen Film die Place des Cordeliers à Lyon begutachten. Menschen gehen über den Platz, eine Straßenbahn fährt vorbei – Alltag also. Es war für die Anwesenden vor der Leinwand etwas Besonderes, denn die wenigsten kannten die Stadt Lyon oder waren dort gewesen. Das Kino ermöglichte ihnen damit eine vollkommen neue Erfahrung. Zwar hatte jahrhundertelang die Malerei den Menschen in die Lage versetzt Dinge wahrzunehmen, die ihnen fremd waren, und die Fotografie tat dies in weit dokumentarischer Form, aber die bewegten Bilder steigerten die Qualität des Erlebnisses noch einmal grundlegend. Der eigene Erfahrungshorizont erweiterte sich sprunghaft.

Es waren wieder die Gebrüder Lumière, die über ihre dokumentarischen Arbeiten hinaus die ersten fiktionalen Geschichten erzählten. Ihr L’enfant au ballon ist ein 42-sekündiger Kurzfilm aus dem Jahre 1896. Er handelt von einem kleinen Jungen, der mit seiner Mutter in einem Garten spazieren geht. Als die Frau sich auf eine Parkbank setzt, spielt das Kind mit einem Luftballon. Zwei Arbeiter nähern sich von hinten. Dabei erschrickt der Junge und lässt sein Spielzeug los. Die Aufregung ist groß, und alle schauen dem aufsteigenden Ballon hinterher.

Noch weiter ging der Zauberkünstler Georges Méliès, der den Film intensiv nutzte, um Fiktion zu erzählen. Sein Le Voyage dans la Lune aus dem Jahr 1902 basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jules Verne. Darin wird die Geschichte einer Expedition zum Mond erzählt. Sechs Astronauten werden auf den Weg zum Erdtrabanten geschossen und landen auf der zerklüfteten Oberfläche. Nach einer kurzen Besichtigung und einem erholsamen Schlaf geraten sie in eine Höhle, in der sie die Aufmerksamkeit der Mondbewohner auf sich ziehen. Das wilde Volk greift die Fremden an und nimmt sie gefangen. Am Ende einer Verfolgungsjagd gelingt es den Astronauten, wieder zur Erde zurückzukehren, wo sie begeistert empfangen werden.

Dieses kleine Werk markiert den Beginn des filmischen Geschichtenerzählens. Er ist insofern der Vorläufer von Casablanca, Star Wars und Game of Thrones, denn nachdem sich der Kintopp zum Kino entwickelte und ausschließlich nur noch in eigens dafür hergerichteten Räumlichkeiten und nicht mehr zusammen mit Zauberern und Jongleuren stattfand, setzte sich zunehmend das die Fiktion im Film durch.

Was sich da buchstäblich vor den Augen der Welt abspielte, war eine Revolution, ähnlich wie es der Buchdruck mehr als vierhundert Jahre früher gewesen war. Die Menschheit nahm zum ersten Mal bewegte Bilder von etwas wahr, das nur als Abbild vorhanden war. Ermöglichte Gutenbergs Erfindung, Lektüre fast unbegrenzt zu vervielfältigen, so erlaubte der Film auch, dass diese einmal auf Zelluloid gebannten Abläufe massenhaft verbreitet werden konnten.

Was den Film dabei vor allem kennzeichnet, ist der Anspruch, wirkliches Leben zu zeigen. Er besitzt die Unmittelbarkeit, die uns suggeriert, dass wir dem Gesehenen beiwohnen. Auch wenn die Geschichte in einer fernen Zukunft spielt oder in frei erfundenen Welten, so vermittelt sie dem Zuschauer dennoch das Gefühl einer Realität. Das unterscheidet diese interessante Erfindung der Neuzeit von der Sprache.

Die Macht der Bilder

Als das Kino den Kinderschuhen entwachsen war, fand es in den 10er Jahren zu der Form, die es für zwei Jahrzehnte behalten sollte. Stummfilme mit Zwischentiteln und live gespielter Musik wurden Abend für Abend dem zahlenden Publikum präsentiert. Die Spielfilme hatten eine Dauer von etwa 90 bis 120 Minuten. Es gab in der ersten Zeit auch viel längere Filme, so der dreistündige Meilenstein der Filmgeschichte von D. W. Griffith The Birth of a Nation oder später Abel Gances Napoleon (1927) mit über fünf Stunden.

Die Form des filmischen Erzählens, die sich herausbildete, hatte vor allem damit zu tun, dass die Zuschauer am Abend wenig Freizeit hatten. Ein Großteil wurde dabei schon für die An- und Abfahrt zum Kino verbraucht, sodass für den eigentlichen Film nicht mehr viel Zeit übrig blieb.

Und in den ersten Jahren hatte die Filmemacher gelernt, mit welchen Mitteln welche Reaktion erzeugt werden konnten. Wie ein Kind sich die Wörter, den Satzaufbau und die Bedeutung aneignet, hatten die Autoren, Regisseure und Kameramänner die Bilder, den Schnitt und deren Wirkung erprobt. Auf diesem Weg hatte sich die Sprache des Films entwickelt.

Zu den Merkmalen des Kinos gehörte lange Zeit, dass dem Hauptfilm eine Wochenschau vorgeschaltet war, die Neuigkeiten aus aller Welt zusammenfasste. Heute würden wir sagen, dass die die Zuschauer Nachrichten sahen. Zwar verbreiteten Zeitungen die globalen Ereignisse schon seit Jahrhunderten in Schriftform und interpretierten sie in ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung für ihre Leser, aber das Publikum im Kino war hautnah dabei und gewann durch das Gesehene den Eindruck, die Wahrheit gezeigt zu bekommen. Es vermittelte ihnen das Gefühl, sich selbst ein Bild machen zu können, da sie der Realität direkt beiwohnten. Durch das visuelle Medium hatte auch jene Bevölkerungsschicht, die mit dem Lesen Mühe hatte, Gelegenheit sich zu informieren. Dabei waren die Wochenschauen genauso manipulativ wie die gedruckten Medien und wurden nicht umsonst von den Nationalsozialisten gnadenlos für ihre Zwecke genutzt. Trotzdem hat das Kino den Menschen die Welt näher gebracht. Die Zuschauer haben der Erfindung der Brüder Skladonowsky und Lumière zu verdanken, dass sie den Alltag eines Eskimos in der Arktis miterleben (Nanuk, der Eskimo aus dem Jahr 1922) und das Schicksal eines jungen Perlentauchers auf der Südsee-Insel Bora Bora verfolgen konnten (Tabu von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1931).

Das Kino prägte damit auf zweierlei Weise das Bild, das sich die Menschen von der Welt machten – durch die Nachrichten ebenso wie durch die fiktiven Geschichten, die es erzählte.

Während in Amerika die großen Filmstudios entstanden, wurde schon im Laufe des Ersten Weltkriegs in Deutschland die Universum-Film AG (UFA) gegründet, um der Konkurrenz aus Hollywood etwas entgegenzusetzen. Regisseure wie Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau drehten für die UFA Großprojekte wie Metropolis, Die Nibelungen oder Faust. Sie alle waren international verwertbar, da die Filme stumm aufgenommen wurden und damit ohne gesprochene Sprache auskommen mussten. Der letzte Mann von Murnau wurde so auch in Nordamerika zum großen Erfolg, und der 1930 entstandene Der blaue Engel (einer der ersten Tonfilme) begründete die internationale Karriere von Marlene Dietrich. Kino war ein globales Phänomen. Erst später etablierte sich Hollywood als das wichtigste Zentrum der Filmwelt, auch dadurch unterstützt, dass nach 1933 immer mehr Talente aus Deutschland emigrierten und in die »Traumfabrik« auswanderten.

Und das Kino brachte die ersten Stars hervor. Weltweit betrachteten die Zuschauer die fiktiven Schicksale der Schauspieler und bekamen das Gefühl, ihnen ganz nah zu sein. Auch wenn diese jenseits des Atlantiks lebten und arbeiteten, die Menschen hatten den Eindruck, sie persönlich zu kennen. Die Wirkung war enorm. Als Charlie Chaplin 1931 Berlin besuchte, wurde er am Bahnhof von einer begeisterten Menschenmenge empfangen. Das Phänomen der Berühmtheiten, die in der Welt bekannt sind, wird durch das Kino etabliert. Es gehört zu den Wesenszügen des Films, dass er Stars produziert.

Mit der Erfindung des Tonfilms und der veränderten politischen Situation in Europa, wurde das vormals globale Kinoerlebnis mit einem Mal zu einer nationalen Angelegenheit. Insbesondere in Deutschland wurde das Kino zu einem zentralen Element der Propagandamaschine und wurde nicht umsonst direkt dem Ministerium von Joseph Goebbels unterstellt. Dieser verstaatlichte den Industriezweig und zwang die Filmemacher, in die Reichsfilmkammer einzutreten, wo ihre Werke einer rigiden Zensur unterlagen. Den Nazis lag dabei weniger an eindeutigen politischen Botschaften, sondern sie forderten ablenkende Unterhaltung, die eher subtil das Menschenbild der Nationalsozialisten vermittelte: Frauen als Mütter und dem Manne untertan, Männer als soldatische Helden. Und alle folgten mit Begeisterung dem Führer.

Es waren Goebbels, Hitler und ihre Vasallen, die der Welt auf eindrückliche Art zeigten, wie das Medium wirksam zur Manipulation eingesetzt werden kann. Es brauchte dabei nicht das Pathos der sowjetischen Propagandawerke, sondern der Film erreichte als Unterhaltungsware einen viel größeren Einfluss auf die Massen.

Der Eskapismus ging ohne die staatliche Lenkung der Nazis auch nach dem Krieg nahtlos weiter. Nur wenige Filme in Deutschland beschäftigten sich mit der Realität oder gar mit der Vergangenheit und deren Folgen. Es waren eher Die Mädels vom Immenhof oder die junge österreichische Kaiserin Sissi, mit denen sich das deutsche Publikum beschäftigen durfte.

Schon in den Anfangsjahren des Kinos war deutlich geworden, dass es einen Unterschied gibt in der Rezeption eines Romans, eines Theaterstücks oder eines Lichtspiels, wie es damals genannt wurde. Bewegte Bilder erzeugen durch ihre direkte visuelle Präsenz mühelos Empathie. Die Zuschauer können im Kino Mitgefühl mit den Figuren auf der Leinwand entwickeln. Dies liegt einerseits an der Konzentration auf das Geschehen und andererseits der Nähe zu den Handelnden, die die Kamera im Gegensatz zum Theater aufbauen kann. Das Publikum beobachtet die Emotionen hautnah und erlebt sie mit. Schnitt und Kameraperspektive können diesen Effekt noch zusätzlich unterstützen. Und die Entstehung von Empathie ist immer auch damit verbunden, dass die Zuschauer eine Narration konstruieren. Darum fällt es der Fotografie schwer, sie zu erzeugen. Film ist also die perfekte »Empathiemaschine«. Er erzählt uns Schicksale von Menschen und läßt uns Emotionen erleben, die wir so auf keine andere Art und Weise erlangen. Das Erzählen von Geschichten war für die Menschheit schon immer ein wichtiger Bestandteil, um Erfahrungen weiterzugeben und sich zu entwickeln. Mit dem Film bekam dieser elementare Bestandteil unser Entwicklungsgeschichte eine neue Qualität.

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DIE FLIMMERKISTE

Heute Abend hatte Christoph keine Lust auf das übliche Fernsehprogramm. Ein Blick in die Fernsehzeitschrift hatte ihm verraten, dass nur eine Show und eine Serie im Angebot war. Er hatte eher das Bedürfnis auf einen anspruchsvollen Film. Vielleicht sogar Hannah und ihre Schwestern, von dem die Freunde vor einem halben Jahr geschwärmt hatten, als er im Kino lief. Woody Allen hat wieder mal eine Glanzleistung vollbracht, hatte seine beste Freundin Bettina erzählt.

Er zog sich einen Mantel über und stieg in sein Auto. Die Fahrt durch den abendlichen Verkehr dauerte nicht lange, da hatte er die Videothek erreicht. Enttäuscht stellte er fest, dass Hannah und ihre Schwestern bereits ausgeliehen war. Er machte sich auf die Suche nach einem anderen Film. Einer, der seiner Stimmung entsprach. Erwartungsvoll bummelte er an den Regalen vorbei. Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte er sein Video gefunden: Zurück in die Zukunft. Die Geschichte eines Jungen, der eine Zeitreise in seine eigene Vergangenheit unternimmt. Darüber hatte er in der Zeitung eine positive Kritik gelesen.

Inzwischen war es aber so spät geworden, dass es sich nicht mehr lohnte, in einen Imbiss zu gehen. Er wollte sich zuhause per Telefon sein übliches schmackhaftes Currygericht bestellen. Kaum war er dort angekommen, klingelte es, und Bettina war am Apparat. Ein emotionaler Notfall, denn die Freundin hatte sich von ihrem Partner getrennt. Erschöpft legte Christoph nach zwei Stunden auf. Jetzt war er zu müde für Zurück in die Zukunft. Er würde den Film morgen anschauen, auch wenn er die lästige Verspätungsgebühr in der Videothek bezahlen musste. Um sich abzulenken, schaltete er den Fernseher an und zappte herum. Schon bald landete er bei einer Serie im ZDF: Die Wicherts von nebenan. Die Geschichte handelte von einer ganz normalen Durchschnittsfamilie. Vater Eberhard ist Schreinermeister, der seit 30 Jahren in einer mittelständischen Möbelfabrik arbeitet. Die Mutter Hannelore betreibt im Keller des Hauses einen Getränkevertrieb und ist somit immer bestens über Neuigkeiten in der Nachbarschaft informiert. Nach einer Viertelstunde schlief Christoph auf dem Sofa ein.

Die ersten Versuche, bewegtes Bild drahtlos zu senden, begannen schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Kino, dessen Technik sich sehr schnell verbreitete, brauchte es fast 50 Jahre, bis die Maschinen zur Verbreitung von Bildern über Funkwellen ausgereift waren. Zwar gab es bereits während der Olympischen Spiele 1936 Übertragungen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrüstung so weit entwickelt, dass ein sinnvoller Einsatz möglich war.

Ich selbst gehöre zu der ersten Generation, die mit dem Fernsehen aufgewachsen ist. Meine Premiere fand allerdings statt, als ich schon zur Schule ging, und das Gerät war einer der gerade neu auf dem Markt gekommenen Farbfernseher. Ein Monstrum, dessen Farben sich eher im psychedelischen bewegten, als dass sie naturgetreu wiedergaben, was wirklich vor der Kamera zu sehen war. Trotzdem gehörten Serien wie Bonanza oder auch die Shows am Samstag schon bald zu meinem Leben.

Vieles hat sich seitdem verändert. Die Farben sind besser geworden, Videorekorder eroberten die Wohnzimmer, die klobigen Röhrenfernseher verschwanden und wichen schicken Flachbildschirmen, aber keine Veränderung war so radikal, wie wir sie gerade erleben.

Fenster zur Welt

Der Filmmogul Darryl F. Zanuck postulierte 1946, als das Heimkino in den Kinderschuhen steckte: »Fernsehen wird nicht in der Lage sein, länger als sechs Monate zu überleben. Die Menschen werden schon bald müde sein, jede Nacht auf die Holzkiste zu starren.«2

Ebenso wie das Kino überlebte das neue Medium dauerhafter als sechs Monate, und der abendliche Blick auf eine kleine Kiste im Wohnzimmer gehörte schon bald zum Alltag der meisten Menschen in Nordamerika und einem Großteil der restlichen Welt.

In der Bundesrepublik startete 1950 der Versuchsbetrieb für ein Fernsehprogramm für ausgesuchte Zuschauer. In der DDR begann die Erprobung erst zwei Jahre später, in der Schweiz 1953 und in Österreich 1955. Das erste offizielle Programm flimmerte in Westdeutschland an Weihnachten 1952 über die wenigen Bildschirme, die bis zu diesem Zeitpunkt verkauft waren. Der damalige Intendant des westdeutschen Senders Werner Pleister erklärte das kommende Zeitalter in seiner Eröffnungsansprache: »Wir versprechen Ihnen, uns zu bemühen, das neue, geheimnisvolle Fenster zu Ihrer Wohnung, das Fenster in die Welt, Ihren Fernsehempfänger, mit dem zu erfüllen, was Sie interessiert, Sie erfreut und Ihr Leben schöner macht. Man hat das Fernsehen eine neue Form menschlicher Verständigung genannt. In der Tat: Es kann dazu führen, dass die Menschen einander besser verstehen. Man hat auch die Befürchtung geäußert, das Fernsehen könnte den Menschen schaden, da es im Zuge der Technisierung der Schöpfung sein Leben weiter mechanisiert. Es kommt auf uns an, ob dieses technische Mittel schadet oder nützt.«3

Er formulierte damit schon, was das Fernsehen kennzeichnet und damals eine wirkliche Neuerung darstellte: Im Wohnzimmer der Menschen entstand ein Fenster zur Welt. Zum ersten Mal in der Geschichte brach das öffentliche Leben direkt und in Bildern ins Private ein. Nicht nur die reale Gegenwart wurde den Zuschauern präsentiert, auch Unterhaltung und Fernsehspiele bestimmten von Anfang an das Programm.

Ähnlich wie das Kino bot das Fernsehen eine Verbindung der Menschen mit der Welt. Sie konnten teilhaben, ohne vor Ort zu sein. Vor dem Buchdruck beschränkte sich das Erleben der Bevölkerung meist auf den engen eigenen Erfahrungshorizont. Bücher erweiterten diesen auf reale oder fiktionale Erlebniswelten, die zeitlich und örtlich weit entfernt lagen. Mit den Zeitungen rückten die Ereignisse noch näher heran. Das Geschehen des gestrigen Tages in der Welt war nun Teil der eigenen Erfahrung. »Der Untergang des Dampfers ‚Titanic‘. 1550 Tote – 800 Gerettete« titelte die Berliner Volkszeitung 1912.

Das Kino bot eine neue Art der Rezeption. Die Welt wurde den Menschen in Bildern präsentiert. Allerdings geschah dies im öffentlichen Raum. Film war kein Privatvergnügen, sondern fand mit anderen statt. Obwohl ein direkter Austausch durch den dunklen Zuschauerraum und die begleitende Musik verhindert wurde, war das Publikum sich bewusst, dass eine gemeinsame Erfahrung war. Mit dem Fernsehen wurde das Erlebnis wieder in die Wohnzimmer zurückgeholt, denn ähnlich wie die Lektüre eines Buches oder einer Zeitung kam die Welt ins eigene Heim. Darum wurde in den ersten Jahren dieser Aspekt in vielen Artikeln und auch in der Werbung hervorgehoben. »Vor dem Bildschirm glücklich vereint. Fernsehen bringt eine neue Zeit familiärer Geselligkeit«, stand Ende der 50er Jahre in einer Zeitungsanzeige.

Vielleicht lag es daran, dass der Krieg nur wenige Jahre zurücklag, aber die beliebtesten Sendungen waren zunächst eher eskapistische Programme wie Tiersendungen und Sportereignisse. Zu den ersten wirklich großen Liveübertragungen gehörte 1953 die Krönung von Königin Elizabeth II. Und natürlich war die Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz einer der herausragenden Momente der frühen Fernsehjahre (»Das Wunder von Bern«). Wie erwartet führte dieses Ereignis zu einem enormen Anstieg der Fernsehgeräte in den bundesdeutschen Haushalten von ca. 10.000 im Januar auf 80.000 im Dezember. Zwei Jahre nach der ersten regulären Sendung war klar: Der Siegeszug des neuen Mediums lässt sich nicht mehr aufhalten.

Wie in der Ansprache von Werner Pleister deutlich wird, war der Beginn von Auseinandersetzungen über die Sinnhaftigkeit der Erfindung gekennzeichnet. Kritik kam aus verschiedenen Richtungen und aus unterschiedlichen Motiven. Die damals bekannte Zeitschrift Quick betitelte 1952 einen Artikel über das neue Fernsehen: »Amerikas gefährlichster Hausgenosse kommt zu uns!«4 Bundestagspräsident Hermann Ehlers schrieb im Jahr darauf in einem Brief an Pleister: »Sah eben Fernsehprogramm. Bedaure, dass Technik uns kein Mittel gibt, darauf zu schießen.«5 Diese Kritik zielte vor allem auf die plumpe Unterhaltung, die den Zuschauern geboten wurde.

Die Einschätzung änderte sich aber auch in späteren Zeiten nicht. So schrieb 1978 der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Gastbeitrag in der ZEIT: »Mein Eindruck ist, übertriebener Fernsehkonsum drängt vielfach den unmittelbaren Umgang der Menschen miteinander zurück. Wir alle haben selbst miterlebt, wie sehr dieses Medium unser Leben verändert hat – das politische Leben, das Leben jedes einzelnen, das Leben von Familien.«6 Er schlug sogar einen fernsehfreien Tag pro Woche vor.

Und natürlich gab es einen anderen wichtigen Akteur, der den Beginn mit Argwohn beobachtete. Die Kinobetreiber und Filmproduzenten bangten um ihr Publikum, das nun vom Fernsehen von 20 bis 22 Uhr belegt wurde. Auch der Spitzname »Pantoffelkino« zeigte den Wettbewerb, der zwischen diesen beiden Abendunterhaltungen stattfand. Die Befürchtung der Branche bewahrheitete sich allerdings nicht, und die Kinoränge blieben weiterhin gut besucht. Dies lag unter anderem daran, dass die Filmemacher vieles taten, um die Besonderheiten des Kinos stärker ab- und hervorzuheben. Die Filme wurden durch neue Verfahren immer bunter und breiter, sodass ein Western mit einem einsamen Cowboy, der durch die weite Prärie ritt, in einem schwarz-weiß Fernseher banal wirkte.

Zudem wurde mit 3D experimentiert – ein Unterfangen, das aber schon bald wieder verschwand.

Das Lagerfeuer der Nation

Ab den 60er Jahren nahm das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert im Leben der Menschen ein. Dies wurde auch dadurch deutlich, dass die Möbel im Wohnzimmer um das schwere und klobige Fernsehgerät herum angeordnet wurden. Für viele bestimmte das Programm zudem den abendlichen Tagesablauf. Es zwang die Zuschauer, wenn sie zum Beispiel die Nachrichten verfolgen wollten, zu einem vom Sender festgelegten Zeitpunkt einzuschalten. »Freizeit« bedeutete also nicht mehr, frei über die Zeit bestimmen zu können.

Als im Januar 1962 Das Halstuch, die Verfilmung eines Krimis des englischen Autors Francis Durbridge als Miniserie lief, waren die Straßen leer, Theater und Kinos spielten vor kaum besetzten Rängen und die Zuschauerquote lag bei 89% aller Haushalte mit einem Fernsehgerät. Im Deutschen wird dieses Phänomen als »Straßenfeger« und in den USA als »Watercooler« bezeichnet. Der Ausdruck verweist darauf, dass Angestellte in ihren Pausen zu dem im Flur stehenden Wasserbehältern gehen und sich dort ein gekühltes Mineralwasser holen. Kommt ein Kollege vorbei, so folgt eine zwanglose Unterhaltung. Das Thema, über das dabei gesprochen wird, besitzt den »Watercooler Effect«. Und viele Fernsehsendungen ab den 60er Jahren besaßen die Eigenschaft, die Nation zu stimulieren, sodass sie am nächsten Tag mit den Freunden darüber kommunizierten.

Anfang 1962 konnte sich niemand der Frage entziehen, wer denn der Täter in Das Halstuch sei. Es ging ein Aufschrei durch die gesamte Bevölkerung, als am Tag vor der letzten Folge ein bekannter Kabarettist in einer Berliner Zeitung per Werbeanzeige verriet, wer der Mörder ist.

Aber nicht nur mit diesen herausragenden Ereignissen, insgesamt entwickelte sich das Fernsehen, als in den meisten Haushalten ein Empfangsgerät stand, zum »Lagerfeuer der Nation«. Neben Sportveranstaltungen und anderen wichtigen Events waren es vor allem Filme und Serien, die die Bevölkerung vor den Apparaten versammelten. Das Heimkino erzeugte damit Momente, wie sie das Radio bisher nur in wenigen Ausnahmen hergestellt hatte. Über Schichten und Milieus hinweg wurde eine Nation durch eine fiktionale Erzählung miteinander verbunden. Der einfache Arbeiter und der Millionär, alle verfolgten die Durbridge-Verfilmungen oder die Serie Die Firma Hesselbach. Die Erlebnisse rund um die gleichnamige Familie und ihr kleines Unternehmen sahen bis zu 94 Prozent der Fernsehzuschauer.

Es entstand eine nationale Kultur, wie sie zuvor nur die Literatur ermöglichte. Beim Fernsehen handelte es sich jedoch um ein Massenphänomen, denn verglichen damit, waren die Auflagen von literarischen Bestsellern verschwindend gering. Auch sorgte der Umstand, dass die Sendungen von allen zeitgleich konsumiert wurden, zu einer neuen Qualität. In jenen Ländern mit einem starken Fernsehprogramm bildeten sich eigenständige nationale Fernsehkulturen. In Deutschland gab es dazu noch die Besonderheit, dass die westlichen Programme fast überall in der DDR geschaut werden konnten. Obwohl nicht erwünscht, nutzten viele Bürger des Ostens diese Möglichkeit, durften allerdings nicht am nächsten Tag mit den Kolleginnen und Kollegen offen darüber reden. So riss trotz des Mauerbaus die kulturelle Gemeinsamkeit durch das Fernsehen nie ganz ab.

Der kanadische Philosoph und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hatte Anfang der 60er Jahre das »globale Dorf« vorhergesagt. Die elektronischen Medien würden, so hatte er postuliert, die Menschheit zu einem Dorf vereinigen. Seine These war, dass wie die Trommeln eines Stammes über die Geschehnisse in der nahen Umgebung unterrichten, verteilen sich die Nachrichten allen voran durch das TV über den gesamten Globus.

Tatsächlich hat das klassische Fernsehen eher das »nationale Dorf« erschaffen, denn die Fernsehspiele, Serien, Shows und die Nachrichten vereinten die jeweiligen Nationen.

Tutti Frutti

Etwa 30 Jahre lang mussten die Zuschauer, um ein anderes Programm zu wählen, aufstehen und die Schalter am Gerät bedienen – eine Aufgabe, die dazu führte, dass das Programm eher selten gewechselt wurde. Die Geduld des Publikums war groß, und die Verantwortlichen bei den Sendern waren sich dessen bewusst.

Anfang der 80er verbreiteten sich die ersten Fernseher mit Fernbedienung. Was zuerst noch ein teures Vergnügen war, wurde bald zum kostengünstigen Standard. Das kleine Gerät setzte einen Prozess in Gang, der unmerklich das Verhalten der Zuschauer und das Programm der Fernsehsender veränderte. »Zappen« wurde zum Volkssport, und die Geduld des Publikums schwand immer mehr.

In Nordamerika führte die Fernbedienung dazu, dass Sendungen dem »Least Objectionable Programing« zu gehorchen hatten. Alle Produktionen wurden so konzipiert, dass sie keinen Widerstand erzeugten. Die Menschen vor den Fernsehgeräten sollte durch die Dramaturgie der Erzählung daran gehindert werden, aus Frust, Ärger oder Langeweile zu dem kleinen Kasten zu greifen und einen anderen Kanal zu wählen.

In der Bundesrepublik kamen fast gleichzeitig mit der neuen Technologie die privaten Sender auf den Bildschirm. Aus den bisher drei Angeboten wurden kontinuierlich mehr, und der Bedarf auf bequeme Art und Weise das Programm zu wechseln fand mit der Fernbedienung die perfekte Erfüllung.

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