Die härteste Detektivin Sydneys.
1946: Die Journalistin Billie Walker ist nach Kriegsende in die Fußstapfen ihres verstorbenen Vaters getreten und hat dessen Agentur für Privatermittlungen wiedereröffnet. Eines Tages steht eine Frau, die aus Deutschland geflohen ist, vor ihrer Tür, sie sucht ihren verschwundenen Sohn. Der junge Mann wurde zuletzt in einem exklusiven Club gesehen, seitdem fehlt jede Spur von ihm – offenbar war er auf der Suche nach etwas. Doch was hätte einen Teenager hierher geführt? Billie setzt alles daran, den Jungen zu finden, doch plötzlich schwebt auch sie in höchster Gefahr …
Atemberaubende Spannung um eine besondere Heldin – von Australiens schillerndster Bestseller-Autorin
Über Tara Moss
Tara Moss hat als Journalist und Model gearbeitet; sie gehört – auch weil sie sich in Debatten zu Feminismus und Diversität geäußert hat – zu den schillerndsten und populärsten Autorinnen ihres Landes. Sie hat bisher mehrere Romane geschrieben, die in Australien alle Bestseller wurden; zurzeit lebt sie mit ihrer Familie in Vancouver, sie besitzt die kanadische und australische Staatsbürgerschaft.
Wolfgang Thon, geboren 1954 in Mönchengladbach, studierte Sprachwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Berlin und Hamburg. Thon arbeitet als Übersetzer und seit 2014 auch als Autor in Hamburg, tanzt leidenschaftlich gern Argentinischen Tango und hat bereits etliche Thriller von u.a. Brad Meltzer, Joseph Finder, Robin Hobb, Steve Barry und Paul Grossman ins Deutsche übertragen.
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Die Jägerin
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Wolfgang Thon
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Kapitel Achtundzwanzig
Kapitel Neunundzwanzig
Kapitel Dreissig
Kapitel Einunddreissig
Kapitel Zweiunddreissig
Kapitel Dreiunddreissig
Kapitel Vierunddreissig
Danksagungen
Impressum
FÜR OMA UND OPA
Die sternenlose, schwarze Nacht umhüllte ihn wie die gefiederten Schwingen eines gigantischen Raben.
Alles tat weh – sein Körper, sein Kopf und die bedrückende Dunkelheit selbst. Dass sich diese Dunkelheit sonderbar drehte, sich unberechenbar bewegte, verursachte ihm Übelkeit. Seine Augen fühlten sich warm und feucht an, er öffnete sie, riss sie weit auf, konnte aber immer noch nichts erkennen. Er war alles andere als ein geborener Kämpfer, aber seine Überlebensinstinkte waren geweckt worden, und der Junge schlug zu – einmal, zweimal, doch er traf nur Luft. Aus der unberechenbaren und undurchdringlichen Schwärze kamen scharfe Schläge, die seine blinden Hiebe gnadenlos und hart erwiderten. Schmerz durchzuckte ihn wie weißglühende Blitze, in seinen Wangenknochen, seinen Rippen, seinem Magen – und plötzlich hörten die Schläge auf. Er rollte sich erneut zu einem Ball zusammen, schützte mit den Armen seinen Kopf und atmete angestrengt, während es in seinen Ohren klingelte. Sein Gesicht glühte. Etwas Warmes, Salziges tropfte ihm in den Mund.
Mit knapp siebzehn hatte er bereits Ozeane überquert, Ungerechtigkeit und Brutalität erlebt, aber noch nie zuvor hatte er so viel Angst empfunden wie in diesem Augenblick, in dieser Dunkelheit, zusammengekauert und blind. Ja, er fühlte sich wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Jetzt gab es nur Raum für ein einziges Gefühl.
Furcht.
»Hat dir nie jemand die Geschichte von der neugierigen Katze erzählt?« Er hörte eine Stimme, und im nächsten Moment bewegte sich die Erde unter ihm erneut; jemand zog an seinen Armen, sein Gesicht und seine Schulter kratzten über den Boden. Er wurde wie eine Puppe in die Luft gehoben und fallen gelassen. Der Boden unter ihm gab schwankend nach – doch es war gar kein Boden, es war Wolle. Eine Decke. Sie stank muffig und metallisch nach Blut.
Er versuchte erneut, etwas zu sagen. »Aber …«
Ein Schlag. Irgendwo in der Nähe, durch das Klingeln in seinen Ohren, hörte er, wie ein Kofferraum geschlossen und ein Motor angelassen wurde. Dann umhüllte der schwarze Vogel des Vergessens ihn erneut, und er war verschwunden.
Billie Walker durchlebte jenen Moment erneut.
Die Sonne wärmte ihr Gesicht, und hinter ihren Lidern existierte eine Welt aus abstraktem Technicolor, als sie die Augen vor dem Windstoß schloss und um die Ecke auf den Stephansplatz bog. Jedes Detail war so klar, so präsent, selbst jetzt noch. In der Luft hing das Aroma von etwas Gebackenem. Ein Laden bot seine tagesfrischen Köstlichkeiten an, Sachertorte und Apfelstrudel. Sie hatte über etwas gelacht, was Jack gesagt hatte, und spürte seine große, beruhigende Hand in ihrer, als sie über die Straße gingen. Ihre Welt bestand aus einer Blase aus frischer Liebe, der Erregung, in einem fremden Land zu sein, und der Begeisterung über eine Geschichte. Keine Spur von Vorsicht. Keine Furcht. Ihre Lederschuhe klickten auf den Pflastersteinen, sie hörte Stimmen, dann einen Schrei, der sie aus ihrer Träumerei riss. Sofort hatte sie ihren Reporter-Notizblock in der Hand, löste sich von Jack und blickte hinunter, um den Bleistift aufzufangen, der auf den Boden zu fallen drohte.
Als sie den Kopf wieder hob, sah sie es. Sie blieb ebenso unvermittelt stehen wie Jack. Die Welt kollidierte mit ihrer Blase, zerschmetterte die Illusion von Sicherheit. Ein Dutzend Frauen knieten auf dem großen Platz, umzingelt von uniformierten Männern. Sie weinten leise, während ihnen die Köpfe rasiert wurden. Billie sah Blut und Haar, nackte Haut und Tränen. Ein Mann in Unterwäsche stand zusammengekauert neben ihnen, sein Rücken war blutig und sein Bart abrasiert, seine Jarmulke lag zertrampelt auf dem Boden neben ihm. Eine kleine Menschenmenge kam dazu. Einige Zuschauer schrien und schwangen die Fäuste. Billie konnte nicht hören, was sie sagten, weil ihr das Blut in den Ohren rauschte. Gerade als sie den Drang verspürte, loszurennen und sich einzumischen, drehte sich einer der Soldaten um und fing ihren Blick auf. Sie sah sofort zur Seite, als würde er sie verbrennen.
Sie schloss die Augen.
Was sie damals in Wien gesehen hatte, war immer da, schien nur darauf zu warten, dass sie unaufmerksam war. Eines Tages im Jahre 1938 hatte sie die Augen geöffnet und es war da, und jetzt tauchte es immer wieder hinter ihren geschlossenen Lidern auf – eine Art Umkehrung. Warum ausgerechnet diese Erinnerungen? Warum dieses Wochenende? Es hing alles mit Jack zusammen, mit dem Krieg, mit allem, was sie irgendwie jetzt hinter sich lassen musste, wie ihr Kopf ihr sagte, aber ihr Herz klammerte sich immer noch daran.
Billie schüttelte sich sanft und packte ihre Sachen zusammen. Es war sinnlos, in diesen Erinnerungen zu verharren, selbst wenn sie Billie einfach nicht loslassen wollten. Sie war nicht mehr in Europa, sie war wieder in Australien. Es war 1946, eine neue Welt, und in dieser musste sie sich ein Leben einrichten. Sie musste es, und sie würde es auch.
Die Straßenbahn wurde langsamer und hielt neben der Central Station. Sie nahm eine kleine, vergoldete Puderdose und einen Lippenstift aus ihrer Handtasche und legte einen Hauch von Tussys Fighting Red auf. Das war ihre Haltestelle. Es wurde Zeit, aufzustehen.
***
»Guten Morgen, John!«, rief Billie, als sie in das Foyer des Daking House trat. Sie machte schnelle, große Schritte mit ihren langen, schlanken Beinen, und trotzdem ging sie so leise wie eine Katze. Ihre Oxfords hatten Kreppsohlen und waren auf dem Hartholzboden annähernd lautlos.
Als der Fahrstuhlführer Billies Stimme hörte, nahm er Haltung an, aufgescheucht vom Eintreffen seines, wie er oft betonte, »Lieblingsfahrgastes«. Es gab keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Billie kam morgens stets nach zehn Uhr an, lange nachdem die Lieferanten die Geschäfte im Erdgeschoss versorgt hatten und mit ihren Lastwagen wieder abgezogen waren, nachdem die grauhaarigen Geschäftsleute durch die Lobby geströmt und in ihren jeweiligen Büros verschwunden waren, stirnrunzelnd und schlurfend. Etliche von ihnen stanken bereits um neun nach Zigarre. Billie schlurfte nie und zog den Duft von französischem Parfüm vor. Wenn sie auch nur einen Funken von der Körpersprache zurückhaltender Menschen verstand, ging das dem Fahrstuhlführer auch so. Andere Mieter hier im Haus, wie Roberts Dancing School oder die Spieler, die das Billardzimmer im Untergeschoss besuchten, und dergleichen, nun, sie kamen und gingen zu sonderbaren Zeiten, wie Billie selbst auch häufig. Aber die Buchhalter und Anwaltstypen hielten sich penibel an ihre Arbeitszeiten, hockten jetzt bereits an ihren Schreibtischen in ihren jeweiligen Kanzleien und widmeten sich der Art von Arbeit, die Billie einfach nicht im Blut lag. Allerdings klopften in ihrem Gewerbe auch nur sehr wenige Klienten um neun Uhr vormittags an ihre Tür. Mitternacht dagegen – das war durchaus schon vorgekommen. Ihr Metier mochte vielleicht keinen schillernden Ruf haben, aber die Welt verlangte nun einmal danach. Ebenso wie ihre Geldbörse.
»Guten Morgen, Ms Walker. Ist wie immer ein Vergnügen, Sie zu sehen«, begrüßte sie der Fahrstuhlführer.
Als er im August seine Arbeit im Gebäude aufgenommen hatte, als Ersatz für eine freundliche, grauhaarige Frau, die die Position während der Kriegsjahre innegehabt hatte, hatte der neue Fahrstuhlführer darauf bestanden, dass sie ihn beim Vornamen nannte: John. Wie er Billie ansprechen sollte, war dagegen in dieser Zeit keine einfache Frage. Die Leute in seinem Beruf benutzten für gewöhnlich formelle Titel, und John Wilson war neu in seinem Job. Also zögerte er noch, ihre Einladung anzunehmen und sie einfach »Billie« zu nennen, wie seine Vorgängerin es irgendwann getan hatte. Jedes Mal jedoch, wenn jemand Billie mit »Mrs« ansprach, erinnerte sie das an die Unsicherheit ihres Privatlebens und an ihren Verlust. »Miss« fühlte sich irgendwie auch nicht richtig an, und außerdem konnte man sie kaum so nennen, nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatte – einschließlich einer Kriegshochzeit, wenn auch einer improvisierten, ohne Ring und mit sehr wenigen Zeugen. Am Ende hatte sie sich für ein »Ms« entschieden. Soweit Billie es verstand, hatte er seine Wurzeln in den alten Titeln und war etwa um die Jahrhundertwende als neutralere Anredeform für Frauen geprägt worden, wurde jedoch nur wenig benutzt. Ihr war diese höfliche Anrede vor einigen Jahren in einem Artikel der New York Times aufgefallen. Als sie ihn damals las, hatte sie nicht geahnt, wie gut er einmal zu ihr passen würde. John Wilson hatte ihren Wunsch kommentarlos akzeptiert, so dass Billie jetzt an jedem Arbeitstag der Woche ein »Ms Walker« zu hören bekam. In der Welt da draußen stolperten die Leute natürlich nach wie vor über Miss, Mrs, Madam oder Mademoiselle – über die ganze komplizierte Angelegenheit einer Frau im heiratsfähigen Alter mit unklarem Status. Sonderbarerweise schienen solche Details ungeachtet all dessen, was der Krieg die Menschheit über die dem Leben innewohnende Unsicherheit gelehrt hatte, mehr und nicht weniger an Bedeutung zu gewinnen. Als wenn die Jahre der Finsternis von einem Titel, einer Frau, verursacht worden wären, nicht vom Nationalsozialismus und den dunklen Seiten des Strebens nach Macht. Es gehörte, wie Billie annahm, zu dem Versuch, nach Stabilität zu greifen, eine nostalgische Rückkehr zu etwas Simplerem, etwas Rigidem und leicht Verständlichem. Aber Billie wollte nicht umkehren, das war nicht ihr Stil. Und außerdem konnte man nicht ungeschehen machen, was der Krieg verursacht hatte.
Wilson trat pflichtbewusst zurück, um sie zum nächsten der vier Aufzüge des Gebäudes zu geleiten. Zwei waren für Passagiere gedacht, die zwei anderen waren Lastenaufzüge. Momentan war nur einer der Passagierlifte in Betrieb, und sie hatten erst in den letzten Monaten wieder angefangen, ihn vom Erdgeschoss aus zu betreiben. Davor hatten die Mieter zu den ersten Stockwerken die Treppen nehmen müssen, um Energie zu sparen. Es fühlte sich noch immer luxuriös an, direkt von der Lobby hinaufzufahren. Billie trat in die Fahrstuhlkabine, und Wilson schloss die äußeren und inneren Metalltüren mit seiner kräftigen linken Hand. Das Gitter entfaltete sich wie eine Wand von sich öffnenden Scheren. Seine rechte Hand, einst seine Führungshand, hatte den Krieg nicht überlebt, ebenso wenig der Arm. Sein Anzugärmel war an der Seite mit Sicherheitsnadeln befestigt – das war im Sydney dieser Tage kein besonders ungewöhnlicher Anblick. Sein Haar war fein säuberlich kurz geschnitten, aber der Haaransatz an einer Seite uneben. Sein Gesicht, Billie vermutete, dass es früher einmal durchschnittlich gut ausgesehen hatte, war von Verbrennungsnarben entstellt. Seine Augen, seine Nase und der größte Teil des Mundes waren jedoch unversehrt. Seit über einem Jahr hatte sich die Stadt jetzt mit gebrochenen Männern gefüllt, die aus Übersee zurückkehrten. Viele wurden wegen der Entstellungen, die sie nicht verstecken konnten, gemieden, und der australische Busch füllte sich mit ihnen, genauso wie es nach dem Großen Krieg gewesen war. Es waren Männer, die Einsamkeit den Blicken vorzogen, die man ihnen auf den Straßen der Stadt zuwarf, den auf sie zeigenden Händen der Kinder, den unablässigen Erinnerungen. Aber John war zu einer erleichterten Familie zurückgekehrt, und die Mieter von Daking House mochten ihn bereits. Er hatte die Rückkehr geschafft, im Gegensatz zu vielen Anderen.
Sie fuhren mit dem klappernden Aufzug hinauf.
»Wie geht es June?«, erkundigte sich Billie wie so häufig nach Wilsons Frau. »Und den Kindern?«
»Sehr gut, danke der Nachfrage«, erwiderte er und lächelte schief. Um seine Augen bildeten sich Fältchen. Er bremste den Aufzug im sechsten Stock ab und tippte den Hebel ein paarmal hoch und runter, um den Boden mit dem Flur davor auf eine Ebene zu bringen. Dann ließ er den Griff jedoch etwas zu ruckartig los, und der Aufzug machte einen Satz, als der Totmannschalter ansprang. »Entschuldigen Sie, Ms. Walker. Wie gut, dass wir diesen Schalter haben, der uns … anhält, wenn meine Hand mal abrutscht«, sagte er und errötete unter seinen Narben ein wenig. Wenn man die Hände nicht ständig auf dem Aufzugshebel hielt, aktivierte man den Mechanismus – der Fahrstuhlführer musste nicht wirklich tot sein, damit diese Sicherung auslöste. Wilson war noch neu in diesem Job, aber das war auch schon Anderen mit mehr Erfahrung passiert. Er zog die Gittertür auf. »Vorsicht, Stufe.«
»Ich passe immer auf«, antwortete Billie und schenkte ihm ein Lächeln.
Dann ging sie über den Flur an Büros vorbei, in denen es bereits vor Betriebsamkeit brummte, bis sie an eine Holztür mit einem Milchglasfenster kam, auf der in einfachen schwarzen Buchstaben stand:
B. WALKER,
PRIVATERMITTLUNGEN
Hier hatte ihr verstorbener Vater so viel Lebenszeit verbracht, hier waren so viele von den Geschichten, die er ihr am Abendbrottisch erzählt hatte, entstanden. Sie hatte das Büro kaum verändert, seit sie es übernommen hatte; die Einrichtung, die Möbel und die Bilder waren geblieben, aber sie hatte zwei Büroräume, in denen seine Angestellten gearbeitet hatten, untervermieten müssen. Ihre Agentur war kleiner, und das gefiel ihr auch sehr gut. Büroräume waren sehr gefragt, kosteten mehr als sieben australische Pfund pro Woche. Abgesehen von den zusätzlichen Einnahmen herrschte auch allgemein eine beträchtliche Feindseligkeit gegen jene, die nicht ihr Bestes taten, um Platz für die zurückgekehrten Männer und ihre Bedürfnisse zu schaffen. Mehr Büroraum zu behalten, als sie unbedingt brauchte, hätte ihr weder gesellschaftlich noch beruflich genützt. Billie und ihre Tätigkeit wurden auch so schon nur zögernd akzeptiert. Nach dem Sieg im Pazifik erwartete man von den Frauen, dass sie ihre Plätze in den Flugzeugfirmen, Munitionsfabriken, neuen Büros und Krankenhäusern, die sie während des Krieges so erfolgreich geführt hatten, räumten, ihre Unabhängigkeit, die ihnen das eigene Gehalt schenkte, aufgaben und wieder in ihre Küchen zurückkehrten. Aber so eine Frau war Billie noch nie gewesen. So war sie nicht erzogen worden, und sie würde sich diesem Druck ganz bestimmt auch jetzt nicht beugen.
Die Tür war unverschlossen, und ihr Sekretär saß bereits im Vorzimmer, in dem manchmal Klienten warteten. Billie löste den Gürtel ihres doppelreihigen Trenchcoats und warf einen kurzen Blick auf die Reihe der vier Stühle aus Walnussholz, die ordentlich vor dem niedrigen Couchtisch aufgereiht waren. Darauf präsentierte sie eine Sammlung von höchst angesehenen, wenn auch ein wenig langweiligen Magazinen und mehrere modische Frauenzeitschriften. Die Stühle waren unübersehbar leer, die Magazine lagen sortiert und unberührt da. Heute wartete niemand hier, und es gab auch keine Termine. Das war schon seit einer Woche so. Ein weiterer Grund, die beiden Extrabüros unterzuvermieten.
»Guten Morgen, Ms. Walker. Die Post liegt auf Ihrem Schreibtisch«, informierte Samuel Baker sie. Er war aufgestanden, als wollte er Haltung annehmen.
Sie streifte ihren Mantel ab, er nahm ihn und hängte ihn an die Garderobe. Dann setzte sie die runde Sonnenbrille ab, steckte die Hutnadel des kleinen grünen Toppers um, der schräg über ihrem linken Ohr saß, glättete ihr tailliertes leichtes Sommerkostüm, dankte ihrem Assistenten und betrat ihr Büro. Dort setzte sie sich hinter den Tisch und ließ die Verbindungstür offen. Der Raum war mit einem rostroten Teppich ausgelegt, hatte zwei Aktenschränke, deren jägergrüne Farbe allmählich verblasste, einen Globus und einen breiten Holzschreibtisch mit Tintenlöscher sowie einem Telefon. All das hatte ihrem Vater gehört und schmückte dieses Büro schon seit zwei Jahrzehnten. An der Wand war eine große Karte von Sydney in einem etwas zerschrammten Holzrahmen angebracht. Sie hing dort schon, so lange sie das Büro kannte, und sie vermutete, dass auf der Wand dahinter eine auffallend andere Farbe zum Vorschein käme, sollte man sie jemals abnehmen. Es war kein besonders eleganter Raum, doch das musste er auch nicht sein. Ihre Klienten kamen nicht hierher, um sich Einrichtungstipps zu holen.
Der Aschenbecher ihres Vaters stand am Rand von Billies Schreibtisch für ihre Kunden bereit. Die meisten Frauen rauchten heutzutage, aber Billie hatte das als tägliche Gewohnheit noch nie gemocht. Es gab Tage, an denen sie rauchte, das schon, aber heute nicht. Der Aschenbecher war geleert und sauber, die Tageszeitungen lagen auf ihrem Schreibtisch – der Sydney Morning Herald, das Revolverblatt Truth und die erst seit Kurzem erhältliche Paris Herald Tribune. Sie waren alle noch ordentlich gefaltet. Es zahlte sich aus, wenn man wusste, was in der Welt so los war. An der Wand gegenüber hingen zwei gerahmte Fotografien. Das eine war ein formelles Porträt ihrer Eltern an ihrem Hochzeitstag: Ihr Vater trug einen Frack mit weißer Fliege und hatte einen schwarzen glänzenden Zylinder unter den Arm geklemmt – das war wahrscheinlich die einzige Gelegenheit, bei der er jemals einen berührt hatte. Ihre Mutter hatte eine glitzernde Kopfbedeckung auf ihrem gewellten Bob, eine Frisur, die sie seit dieser Zeit nicht verändert hatte, und trug ein skandalös kurzes Kleid. Es entblößte ihre Knöchel über den flachen Schuhen, die mit glänzenden Bändern verschnürt waren. Das Grinsen ihrer dunklen Lippen ließ an eine Katze denken, die an der Sahne gewesen war. Der andere Rahmen war kleiner und zeigte ein neueres Foto von Jack Rake. Billie hatte es selbst in Wien aufgenommen. Es war ziemlich scharf und zeigte einen lächelnden Jack an dem Wochenende, kurz bevor die Welt um sie herum eingestürzt war. Es war das Wochenende, an dem sie sich verliebt hatten.
Billie stockte der Atem. Jack sah genauso aus wie in den kurzen Erinnerungsfetzen, die sie jedes Mal verfolgten, wenn sie die Augen schloss. Dieses Lächeln und der Ernst, der ihm folgte. Diese forschenden, braunen Augen.
»Verdammt!«, murmelte sie und wandte den Blick ab. Sie brauchte dringend Arbeit, um sich zu beschäftigen.
Ihre elfenbeinfarbene Bluse war am Hals mit einer Schleife zusammengebunden, die sich allmählich löste. Mit Fingern, deren unlackierte Nägel makellos manikürt waren, band Billie den Knoten neu und nahm dann den ersten Umschlag von ihrem Schreibtisch. Ihre Augen verengten sich. Der Brief war an Mr B. Walker adressiert. Das passierte nicht zum ersten Mal. Natürlich hätte der Brief an ihren verstorbenen Vater gerichtet sein können, aber länger als ein Jahr nach seinem Tod war das ziemlich unwahrscheinlich. Billie Walker entsprach in vielem nicht dem, was sich die Leute vorstellten – vor allem aber war Billie kein »Mister«. Und, ganz ehrlich, wie viel Spaß machte es schon, zu sein, was andere erwarteten? Sie öffnete den Umschlag und überflog rasch den langweiligen Schrieb eines Anwalts über einen früheren Fall, bei dem es um Ehestreitigkeiten ging. Auch der Rest der morgendlichen Post war alles andere als erbaulich, und Billie wandte sich bald den Zeitungen zu. Sie blätterte sie einmal flüchtig durch, bevor sie sich mit einer frischen Tasse Tee an eine gründliche Lektüre machte. Die Aussperrung auf einer Werft sorgte für große Unruhen im Hafen von Sydney. Einige Fotos zeigten Chifley mit dem Generalgouverneur Prince Henry, dem Duke of Gloucester, bei einem offiziellen Anlass. Die Auktionshäuser in Sydney setzten geschäftig große Werte um, von denen einige größere Anwesen zu sein schienen. Die Welt-Nachrichten zeigten Fotos von der Präsentation zweiteiliger Badeanzüge in Paris. Die Russen zogen ihre Truppen in großer Zahl aus Deutschland zurück. Belgien, die Niederlande und Luxemburg einigten sich darauf, deutsche Kriegsgefangene so bald wie möglich zurückzuführen. Frankreich hatte bis jetzt noch keinen einzigen Vertrag unterzeichnet.
Billie blickte von den Zeitungen auf, als Samuel mit dem Teetablett hereinkam – eine morgendliche Routine und immer willkommene Abwechslung. Sam war breitschultrig, aber schlank, trug einen sommerlichen Nadelstreifenanzug und eine hübsche, burgunderrot und himmelblau gestreifte Krawatte nach der aktuellen Mode. Er setzte sich auf einen der beiden Stühle vor Billies Schreibtisch. Als er einen Zuckerwürfel in ihren Tee gab, verschwand seine professionelle Formalität, wie immer, wenn er das Vorzimmer, seinen Wachposten, verließ. Er verstand sich überraschend gut auf die Zubereitung von Tee. Entweder hatte er diese Fähigkeit in der Army erworben – oder aber auf das Drängen einer Mutter mit viel englischem Feingefühl. Er schob ihr die Tasse über die Schreibtischplatte zu.
»Was läuft?«, fragte er und rieb zerstreut an einer Hautreizung unter dem Handschuh an seiner linken Hand.
»Sehr wenig, Sam, muss ich leider zugeben«, antwortete Billie. Sie schob sich ihre dunkelbraunen Locken hinter das Ohr und nippte an ihrem Tee.
Sam war einer dieser ernsten australischen Burschen, die sehr jung zur Armee gegangen waren und eine Weile in den Schreibstuben gearbeitet hatten, bevor der Krieg ausbrach. Dann hatte man ihn für aufregendere Tätigkeiten im 2/23 Bataillon gebraucht. »Aufregend« bedeutete im Krieg, dass man als Kanonenfutter verheizt wurde, wenn man nicht die richtigen Verbindungen besaß. Sam konnte keine Strippen ziehen, und wäre er reich gewesen, würde er jetzt wahrscheinlich auch nicht als Sekretär und Assistent in Personalunion für eine Privatermittlerin arbeiten. Er besaß viele Fähigkeiten als Sekretär, nur als Schreibkraft ließ er zu wünschen übrig. Jeder konnte sehen, warum, und die Klienten rissen häufig gutmütige Witze darüber. In Tobruk hatte eine italienische Brandbombe die meisten seiner Kameraden getötet, er selbst war mit ein paar Fingern weniger und schrecklichen Narben auf seinen Händen davongekommen. Wahrscheinlich Abwehrverletzungen, vermutete Billie. An seiner linken Hand trug er einen Lederhandschuh, in dem hölzerne Prothesenfinger die Lücken füllten. Seine rechte Hand war zwar vernarbt, aber ansonsten unversehrt und so ruhig, wie man es sich von einer Schusshand nur wünschen konnte.
Abgesehen vom Tippen hatte Sam eine Vielzahl von Aufgaben. Manchmal zahlte es sich für Billie aus, einen kräftigen Arm an ihrer Seite zu haben, und manchmal war es auch ganz nützlich, dass ein kräftiger Bursche im Vorzimmer saß, der dazwischenging, wenn ein verdrossener Ehemann hereinkam, der wütend auf sie war, weil sie seiner Frau bei der Scheidung geholfen hatte. Und dann gab es noch die Gelegenheiten, wo es sich einfach lohnte, einen Mann als Verstärkung bei sich zu haben. Zum Beispiel, wenn Billie im Einsatz war, oder um zu kompensieren, dass sie als Frau in einem von Männern dominierten Beruf arbeitete. Es half, dass Sam eine flüchtige Ähnlichkeit mit Allan Ladd hatte, obwohl er viel größer war. Dadurch war er ein angenehmer Anblick und konnte als Billies Partner fungieren, wenn eine solche Tarnung während einer Ermittlung erforderlich war. Die meisten grauhaarigen Gentlemen in ihrem Berufsstand wären als Partner für sie kaum glaubwürdig gewesen, aber Sam und sie gaben ein attraktives Paar ab. Das war unter bestimmten Umständen sehr hilfreich. Er wusste zwar noch nicht viel über Ermittlungsarbeit, weil er erst seit ein paar Monaten in diesem Beruf arbeitete, aber er konnte ausgezeichnet Befehle ausführen – im Gegensatz zu vielen anderen Männern machte es ihm auch nichts aus, sie von einer Frau entgegenzunehmen. Anständige Arbeit war selbst für unversehrte Männer Mangelware, und bis zu einem gewissen Grad war es wahrscheinlich aufregender, als Sekretär für Billie zu arbeiten, als bei den Streitkräften zu dienen. Jedenfalls behauptete Sam das. Immerhin ging es nicht nur darum, Akten abzulegen und Papiere auszufüllen. Er lernte allmählich alle Bars, Hotels, Absteigen und finsteren Seitengassen der ganzen Stadt kennen. Das war zwar nicht besonders schick, aber auch nicht langweilig. Und dass er nicht mit zehn Fingern tippen konnte, war letztlich kein großes Problem.
»Wie war The Overlanders gestern Abend?«, fragte Billie. Sie hatte in letzter Zeit nicht viele Filme gesehen, aber Sam liebte das Kino und investierte seine Gehaltsschecks in dieses Hobby. »Hat er Eunice gefallen?«, fügte sie hinzu. Er hatte Eunice erst vor Kurzem kennengelernt, redete aber nicht viel über sie.
Sam erläuterte gerade ausführlich Chips Raffertys Darstellung eines westaustralischen Viehtreibers, als das Telefon klingelte. Er stellte die Tasse ab, räusperte sich und nahm den Hörer ab.
»B. Walker, Privatermittlungen, wie kann ich Ihnen …?«
Sam verstummte, und Billie sah ihn mit fragend erhobener Braue an.
»Aufgelegt«, sagte er verwirrt und legte den Hörer wieder auf die Gabel. »Oder der Anruf wurde unterbrochen.«
»Sie haben nichts gehört?«
Er schüttelte den Kopf. »Straßengeräusche, vielleicht.«
***
Es war kurz nach fünfzehn Uhr, nur wenige Minuten, nachdem Billie Sam vorgeschlagen hatte, früher nach Hause zu gehen, als jemand zurückhaltend an der Tür des Vorzimmers klopfte. Dann hörte sie, wie Sam jemanden einließ.
»Ich … Ich bin davon ausgegangen, dass es eine weibliche Ermittlerin wäre«, sagte die leise, fast panische Stimme im Nebenraum. Sie betonte das Wort »weiblich«, als wäre es schrecklich wichtig. Es klopfte eigentlich kaum jemand, die meisten Leute fielen mit ihren Schwierigkeiten und Bedürfnissen gleich mit der Tür ins Haus, also folgerte Billie, dass diese Person entweder besonders höflich oder besonders nervös war. Sie stand schnell auf und ging zu der offenen Verbindungstür, bevor Sam zu einer Erklärung ansetzen konnte. Es war nicht nötig, einen Kunden zu verlieren, weil der vielleicht wegen seiner Nervosität flüchtete, vor allem, da die Geschäfte im Moment beklemmend schlecht liefen.
Eine angespannt wirkende Frau stand im Vorzimmer. Sie war Ende dreißig oder Anfang vierzig und vermittelte den Eindruck eines scheuen Rehs. Ihre Füße waren leicht gespreizt, als wollte sie jeden Moment davonlaufen. Billie überflog ihre Erscheinung rasch. Sie war knapp eins sechzig groß und trug eine beeindruckende schokoladenbraune Pelzstola, die über der Brust zusammengehalten wurde. Vermutlich Nerz, und von ausgezeichneter Qualität, darunter ein braunes Sommerkostüm, dessen Schnitt allerdings ziemlich konservativ war. Es war wahrscheinlich maßgeschneidert, wenn auch schon vor etwas längerer Zeit. Ihr kleiner Hut war vor dem Krieg modern gewesen, von einem etwas helleren Braun als das Kostüm und mit einer schokoladenbraunen Feder verziert. Die Frau trug nur sehr wenig Make-up, ihre runde, einfache Brille vergrößerte ihre Augen und verstärkte den Eindruck eines verängstigten Rehs. Das Haar der Frau war braun wie ihre Kleidung. Ihre Schuhe aus Krokodilleder waren von guter Qualität und aus demselben Leder wie ihre Handtasche, aber nicht protzig. Die Absätze waren praktisch flach, etwas abgetragen, aber gut gepflegt. Die Frau umklammerte mit ihren behandschuhten Händen die Bügel einer kleinen Handtasche, die ebenso versiegelt zu sein schien wie ihr Mund. Der sah aus, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen.
Billie stellte sich vor, dass sie ein dunkleres, schweres Kostüm mit so einem praktischen Schnitt und einer ähnlichen Farbe im Herbst und im Winter trug, und dieses im Frühling und Sommer. Aber der Pelz … der war etwas Besonderes und wirkte an ihrer Person ziemlich deplatziert. Für einen australischen November war es in Sydney noch nicht zu heiß, aber dieses Kleidungsstück sollte ohnehin nicht die Kälte abwehren. Die Stola glänzte und war fein säuberlich gebürstet. Sie wirkte neu, und Billie fragte sich, welche Geschichte wohl dahintersteckte.
»Ich bin Ms Walker, die Inhaberin. Das ist mein Sekretär und Assistent, Mr Baker«, erklärte Billie und deutete mit der Hand auf Sam. Die Augen der Frau weiteten sich kurz. »Möchten Sie vielleicht in mein Büro kommen, Mrs …?« Die Frau antwortete nicht auf diese Frage, trotzdem ging Billie zurück in ihr Büro und zog einen Stuhl heraus, bevor sie um den breiten Schreibtisch trat und wartete.
Es dauerte einen Moment, bis die Frau ihr aus dem Vorzimmer folgte. Sam bot an, ihr die Stola abzunehmen, aber sie lehnte das Angebot mit einem gemurmelten Dank ab. Nach einem verlegenen Schweigen, bei dem es auf der Kippe zu stehen schien, ob die Frau sich setzen oder davonlaufen würde, trat sie schließlich ein und setzte sich auf den angebotenen Stuhl Billie gegenüber.
»Bitte machen Sie es sich bequem«, sagte Billie freundlich. »Samuel, würden Sie uns Tee bringen?« Billie hoffte, dass das half, ihren nervösen Gast zu beruhigen.
Sam schloss taktvoll die Zwischentür.
»Was kann ich für Sie tun?« Billie beobachtete die Frau. Deren Blick zuckte zum Boden, dann zum Globus auf dem Aktenschrank, bevor er schließlich auf dem großen Stadtplan an der Wand hängen blieb. Die ganze Zeit presste sie dabei die Lippen fest zusammen.
Billie war daran gewöhnt, dass dieser anfängliche Prozess eine Weile dauerte. Sie war geduldig und bohrte nicht nach Namen oder persönlichen Informationen, bevor es notwendig war. Viele Leute, die zu ihr kamen, waren von den Umständen aufgewühlt, die sie hierhergeführt hatten, und für einige war es schon bestürzend genug, überhaupt mit einem Privatermittler sprechen zu müssen. Billie wusste sehr genau, dass ihr Berufsstand einen sehr ambivalenten Ruf hatte – schließlich war sie mit einem Vater aufgewachsen, der ebenfalls Privatermittler gewesen war. Sie vermutete, dass die amerikanischen Detektivfilme, die gerade sehr beliebt waren, auch nicht gerade hilfreich waren, denn in ihnen wimmelte es von ultra-maskulinen, zwielichtigen Typen, die sich auf ihre Fäuste verließen und alle Frauen »Sweetheart« nannten, obwohl ihre Augen etwas ganz anderes sagten. Einige Klientinnen suchten aus diesem Grund wohl instinktiv Ermittler ihres eigenen Geschlechts auf, vor allem, wenn ihr Problem häuslicher Natur war. Solche Fälle waren für Billie jedoch längst nicht mehr skandalös, und sie fragte sich, welche Geschichte diese mögliche Klientin wohl erzählen würde. Die vom untreuen Ehemann?
Die Bakelit-Wanduhr tickte die Minuten herunter, bis Sam schließlich mit einem Tablett wieder auftauchte. Darauf befanden sich eine Teekanne, ein Milchkännchen, zwei Tassen, Zucker und Löffel. Er stellte es ab und verschwand wortlos. Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken hinter ihm. Für einen so großen Mann verstand er sich ausgezeichnet auf strategische Unsichtbarkeit. Nach einigen weiteren Minuten sprach die Fremde schließlich, ohne ihren Tee angerührt zu haben.
»Ich wollte zu Ihnen, weil …« Offensichtlich fiel es ihr schwer, es auszusprechen. »Ich brauche … die Intuition einer Frau.«
Billie ging nicht darauf ein. Sie glaubte nicht an die sogenannte »weibliche Intuition«, obwohl genau das der Grund war, warum einige Klienten zu ihr kamen. Männliche Intuition nannte man Wissen, zumindest aber eine begründete und rationale Vermutung. Wenn ihr Bauch ihr jedoch mitteilte, dass irgendetwas nicht stimmte, war das ebenfalls begründet, und zwar durch tausend winzige Signale und Beobachtungen des menschlichen Verhaltens. Hier funktionierten Schlussfolgerungen, einige bewusst, andere unbewusst, die kein bisschen weniger rational waren als die Argumentation eines Mannes. Diese Instinkte beruhten auf Achtsamkeit, auf der Fähigkeit, zuzuhören, kurz gesagt etwas, das viele Frauen sehr gut konnten. Billie glaubte fest daran, dass es sich lohnte, dem Wissen in ihrer lebensrettenden Magengrube Beachtung zu schenken, und zwar nicht, weil sie es für irgendeine mystische weibliche Fähigkeit hielt. Dass sie auf ihr Bauchgefühl gehört hatte, hatte ihr geholfen, den Krieg zu überstehen, und in ihrem Beruf war es ebenfalls sehr nützlich. Das hatte schon ihr Vater vor ihr getan. Aber es war nicht sinnvoll, das alles jetzt auszuführen. Genau genommen war es besser, gar nichts zu sagen. Die Fremde in ihrem Büro rang gerade die Hände. Billie beobachtete sie und wartete darauf, dass sie sich öffnete.
»Mein Sohn ist … verschwunden«, begann die Frau schließlich. Die Worte klangen bedeutungsvoll und schienen ihr nur schwer über die Lippen zu kommen. Billie fiel ein schwacher Akzent auf – europäisch?
Also keine Scheidungssache, dachte sie. Gerade erst hatte sie einen ziemlich unangenehmen Fall abgeschlossen, der von ihr verlangt hatte, über vier Zäune zu springen, um einen Mann einzuholen. Dabei hatte sie sich eine teure Seidenhose zerrissen. Sie war versucht, Scheidungsfälle so lange zu vermeiden, wie sie nur konnte – was wahrscheinlich nicht allzu lange sein würde, wenn sie noch irgendwelche Einnahmen verbuchen wollte, bevor das Jahr 1947 an die Tür klopfte.
»Verstehe«, antwortete Billie gelassen. »Wie alt ist Ihr Junge?«
»Er ist im August siebzehn geworden.«
Billie war sich nicht sicher, ob sein Alter für oder gegen ihn sprach, aber insgeheim war sie erleichtert, dass sie nicht nach einem Kleinkind suchen musste. »Ist das schon einmal passiert?«
»Nein.« Die Frau schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Adin ist ein guter Junge. Er ist einfach … verschwunden. Wir haben zu Abend gegessen, dann ist er wie üblich in sein Zimmer gegangen, und dann war er weg. Sein Bett war unberührt.«
Niemand verschwand einfach so. Es gab immer eine Geschichte dazu. Er war schlafen gegangen, aber sein Bett war unberührt. Das sprach nicht gerade für eine Entführung, obwohl so etwas natürlich nicht gänzlich außer Frage stand. War er aus seinem Fenster geklettert, hatte die Stadt verlassen und sich entschlossen, nie wieder zurückzukehren? Oder konnte er vielleicht auch einfach aus der Haustür herausspaziert sein, ohne dass jemand es bemerkt hatte?
»Wie lange ist das her?«, erkundigte sich Billie.
»Zwei Tage. Ich habe am Donnerstagmorgen festgestellt, dass er verschwunden ist.«
Billie nickte. Jetzt war es Freitag, wenn er also am Mittwoch nach dem Abendessen verschwunden war, dann war das fast zwei Tage her. In der Zeit konnte sehr viel passiert sein, aber die Chancen standen nicht so schlecht. »Haben Sie mit irgendjemandem darüber gesprochen? Vielleicht mit der Polizei?«
Die Frau nickte und zog die Mundwinkel nach unten. »Ja. Ich habe bei seinen Freunden nachgefragt, und als die mir mitteilten, dass sie ihn auch nicht gesehen hätten, bin ich zur Polizei gegangen. Sie waren nicht sonderlich hilfreich …« In ihre Stimme mischte sich erneut ein angespannter Unterton. Irgendetwas verschwieg sie. »Ich war gestern auf der Polizeiwache, und als ich gegangen bin, hat mir eine Miss Primrose empfohlen, mich an Sie zu wenden.«
Constable Primrose. Billie hatte überall in Sydney freundschaftliche Verbindungen. Sie reichte der Frau, die jetzt leise weinte, ein Taschentuch, auf das die Initialen B. W. eingestickt waren. Die nahm es mit einem gemurmelten Dank entgegen und tupfte sich die Augenwinkel. Dann zog sie die Handschuhe aus, legte sie auf ihren Schoß und rang wieder ihre blassen Hände. Billie fiel der goldene Ring an der linken Hand auf. Die fremde Frau wirkte immer noch etwas eingeschüchtert, aber sie öffnete sich langsam, schöpfte offenbar Vertrauen. Billie ließ ihr Zeit. Schließlich trank die Frau einen Schluck Tee, und die Tasse zitterte ein wenig in ihrer Hand. Sie gab einen Zuckerwürfel hinein und trank erneut. Nach einer Minute nahm ihr Gesicht wieder etwas Farbe an, und ihre Schultern sanken ein Stück herunter, als sie sich entspannte.
»Sie würden also diese Situation als ungewöhnlich charakterisieren?«, erkundigte sich Billie. Immerhin neigten Teenager dazu, wegzulaufen.
Die Frau nickte erneut nachdrücklich. Ihr standen immer noch Tränen in den Augen. »Ja, auf jeden Fall!« Ihr Tonfall verriet, dass sie sich persönlich angegriffen fühlte.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Fragen stellen muss«, beschwichtigte Billie, »aber es ist wichtig, möglichst viel in Erfahrung zu bringen. Wenn wir Ihren Sohn rasch finden wollen, dann brauche ich Informationen.« Sie hatte keine Ahnung, wie es war, Mutter zu sein, aber sie stellte es sich nahezu unerträglich vor, ein Kind zu verlieren oder nicht zu wissen, wo es war. Es war schon schlimm genug, wenn ein Erwachsener vermisst wurde, das wusste sie nur zu gut. »Wenn Sie raten müssten, wo, glauben Sie, könnte Ihr Sohn sein? Hat er vielleicht eine Freundin?« Billies Miene war ein Musterbeispiel von Sorge und Zurückhaltung. Ein guter, mitfühlender Ausdruck, aber gleichzeitig strahlte es auch eine Art professionelle Fassung aus. Immerhin hatte sie vom Besten gelernt.
»Es gibt keine Freundin. Er ist ein guter Junge. Keiner seiner Freunde hat ihn gesehen.«
Jedenfalls nicht, wenn die Mutter nachfragt, dachte Billie. Sie überlegte kurz. »Wenn ich Ihren Fall übernehme«, sagte sie, »sollten Sie mir vielleicht trotzdem ihre Namen und Adressen aufschreiben. Ich würde gern selbst mit ihnen reden.«
Das »Wenn« hing schwer in der Luft. »Oh, selbstverständlich.« Die Frau machte sich am Verschluss ihre Krokodillederhandtasche zu schaffen, öffnete dann eine kleine Stoffbörse und schob Billie eine Zehn-Pfund-Note über den Tisch zu. »Genügt das als Anzahlung?«
»Wenn Sie wollen, kann ich heute mit den Ermittlungen beginnen. Die Anzahlung ist angemessen. Ich berechne zehn Pfund pro Tag plus Spesen.«
Die Frau schien nicht zu wissen, was sie davon halten sollte. Ihre Miene verzog sich wieder säuerlich. Sie saß regungslos da und presste die Knie zusammen. »Das ist ziemlich viel«, protestierte sie.
Natürlich hörte Billie so etwas öfter. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und ließ die Spannung im Büro eine Weile schweben, bevor sie reagierte. Als die Luft so dick war, dass man sie fast hätte schneiden können, lächelte sie humorlos. »Eigentlich ist das nicht besonders viel«, gab sie dann zurück. »Ich widme meine gesamte Aufmerksamkeit und meine ganze Zeit meinen Fällen, und zwar zu jeder Tageszeit. Ich muss meinem Assistenten ein anständiges Gehalt zahlen, und er ist jeden Shilling wert, das kann ich Ihnen versichern. Ich genieße keine geregelte Arbeitszeit von neun bis siebzehn Uhr. Genau genommen erreiche ich am meisten in der Zeit von einundzwanzig Uhr bis Tagesanbruch. Und manchmal ist die Arbeit auch gefährlich.« Die Frau öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Billie redete einfach weiter. Sie war noch nicht fertig. »Ich weiß nicht, wie sich Fälle entwickeln, bis ich meine Ermittlungen aufgenommen habe, und meine Klienten können es ebenfalls nicht vorhersagen. Ich bekomme es häufig mit missmutigen Ehemännern, sitzengelassenen Liebhabern, betrogenen Freunden oder Geschäftspartnern zu tun – und manchmal auch mit erheblich unangenehmeren Personen. Vielleicht haben Sie ja in der letzten Zeit keine Agentur für Privatermittlungen in Anspruch genommen, aber Sie werden sehr viele Leute finden, die Ihnen mit Vergnügen hundert Pfund oder mehr berechnen, wenn sie glauben, das aus Ihnen herausquetschen zu können. Und das selbst für einen einfachen Fall, der in nur zwei Tagen gelöst werden könnte.« Sie schlug die Beine andersherum übereinander und warf der Frau einen gelassenen Blick zu. »Nein, zehn Pfund pro Tag sind dagegen nicht viel«, schloss sie und wartete.
Billie hatte von einem Privatermittler gehört, der einem Klienten schwindelerregende fünfhundert Pfund abgeknöpft hatte – pro Tag. Aber so viel Geld konnte man nicht aus vielen Klienten herauspressen, und Billie hatte ohnehin nicht die Absicht, so zu arbeiten. Alle Versuche, diesen Berufszweig zu regulieren, waren bis jetzt erfolglos geblieben. Dennoch stand Billie der Idee einer Kontrolle nicht gänzlich abgeneigt gegenüber, trotz des ganzen Papierkrams, den das zweifellos mit sich bringen würde. Denn für jeden ihrer Kollegen, der einen Klienten unzufrieden und ohne einen Schilling in der Tasche zurückließ, traf anschließend zwei Ermittler dieselbe Verarmung. Es war wie ein Virus. Halbseidene Privatermittler waren schlecht für den Berufsstand, also auch schlecht für Billie. Und obwohl sie selbst nicht gerade ein Engel war, wurde Billie bei dem Gedanken geradezu übel, Leute in ihren hilflosesten Momenten auszunehmen.
Jedenfalls diejenigen, die es nicht verdient hatten.
Das Gesicht der Frau war weicher geworden, und ihr säuerlicher Ausdruck verschwand. Die Hände auf der Krokodilledertasche lösten ihren Klammergriff um die Henkel. Billies kleiner Monolog zeigte offenbar Wirkung. »Welche Spesen?«, erkundigte sie sich. Jetzt versuchte sie sogar etwas zu lächeln, als wollte sie die Ermittlerin auf der anderen Seite des Schreibtischs beschwichtigen.
»Alles Zusätzliche, was sich ergibt, Reisen zum Beispiel, falls sie nötig sind. Natürlich werde ich Sie über solche Situationen vorher informieren.« Billie hatte die zehn Pfund immer noch nicht angefasst. Sie lagen jetzt zwischen ihnen auf der Schreibtischplatte, ein Symbol der Unsicherheit. »Haben Sie ein gutes Foto von Ihrem Sohn dabei? Wenn ich weitermache, dann brauche ich ein aktuelles Bild und seinen vollen Namen.«
Die Frau nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche und schob ihn ebenfalls über den Schreibtisch. Sie schien damit die Bedingungen akzeptiert zu haben. In dem Umschlag befand sich eine Fotografie, die an einer Ecke ein Eselsohr hatte. »Sein Name ist Adin Brown. Dieses Bild wurde vor einem Jahr aufgenommen.«
Billie betrachtete das Foto. Adin war ein gut aussehender Junge und ganz sicher attraktiv genug, um in Schwierigkeiten zu geraten. Sein dichtes Haar war gelockt und stand an der Stirn etwas hoch. Sein Baumwollhemd war am Hals geöffnet, gerade weit genug, dass ein paar Brusthaare herauslugen konnten, mit denen er offenbar angeben wollte.
Die Frau hatte ihren Namen immer noch nicht genannt. Jetzt seufzte sie, offenbar ohne es zu merken. »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Privatdetektivin engagieren würde«, bemerkte sie.
Billie beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Also … Mrs Brown, nehme ich an?« Ihre Besucherin nickte. »Mrs Brown, das Leben führt uns an interessante Orte. Sie haben ganz richtig gehandelt, wenn die Polizei kein Interesse zeigt. Wenn eine Person verschwindet, zählt jede Stunde. Aber ich muss betonen, dass ich keine Detektivin bin.«
Sofort schien die Frau wieder panisch zu werden. Sie zog die Schultern hoch und presste die Lippen zusammen. »Was meinen Sie …?«
»Keine Sorge, Sie sind bei mir schon richtig«, versicherte Billie ihr. »Aber in diesem Land ist es Privatermittlern von Gesetzes wegen verboten, das Wort ›Detektiv‹ in Bezug auf ihre Arbeit zu benutzen.« Es war genau genommen das einzige Gesetz, das speziell für ihren Berufsstand galt. Die australische Polizei schützte diesen Titel ganz offenkundig erheblich strenger als ihre nordamerikanischen Kollegen. »Wenn Sie mir eine Liste seiner Freunde geben könnten, wäre das ein guter Anfang. Darf ich fragen, ob Adin eine Arbeitsstelle hat?«
»Er arbeitet für unsere Pelzfirma, ja.« Sie schob eine Visitenkarte über den Tisch. Billie beugte sich vor und nahm sie an sich.
Mrs Netanya Brown
Brown & Co. Edle Pelze
Strand Arcade, Sydney
Billie drehte die Karte ein paarmal zwischen den Fingern. Das erklärte den Pelz. Strand Arcade lag nördlich von Billies Büro, aber nicht allzu weit entfernt. Sie kannte den Namen der Firma, obwohl sie das Geschäft noch nie betreten hatte. In Sydney gab es eine Handvoll erfolgreicher Pelzgeschäfte, von denen das größte eine Firma auf der George Street war.
»Es ist ein Familienunternehmen«, fügte Mrs Brown hinzu. »Adin arbeitet in allen Abteilungen, manchmal macht er auch Inventur, und er erledigt alle anfallenden Dinge.«
»Haben Sie um diese Jahreszeit viele Angestellte?« Obwohl der Verkauf von Pelzwaren im Winter sicher lohnender war, hatten sie wahrscheinlich auch jetzt viel zu tun.
»Rund um Weihnachten beschäftigen wir manchmal ein oder zwei Aushilfen als Verkäufer, aber wir können uns im Moment keine zusätzlichen Angestellten leisten. Es gibt nur mich, meinen Ehemann und Adin.«
»Wo ist Ihr Mann heute?«
»Im Geschäft.« Sie warf einen Blick auf die schmale Uhr an ihrem Handgelenk. »Er wird bald schließen. Oh, die beiden letzten Tage waren so schwer für uns.«
»Das verstehe ich, Mrs Brown. Ich würde gerne am Wochenende in Ihrem Geschäft vorbeikommen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Vielleicht morgen Vormittag? Ich bin sehr diskret.«
Sie nickte, und Billie bat sie, das Äußere ihres Sohnes in allen Einzelheiten zu beschreiben, seine Gewohnheiten sowie die Namen und Adressen seiner engsten Freunde zu notieren.
»Kann ich auch mit Ihrem Ehemann sprechen?«
Mrs Brown zögerte kurz, nickte dann aber.
»Besitzt Ihr Sohn einen Reisepass?«
Mrs Browns Augenbrauen schossen nach oben. »Nein. Wollen Sie andeuten, dass er das Land verlassen haben könnte?«
»Ich deute gar nichts an, sondern ich versuche, unsere Suche einzugrenzen. Hat er Zugang zu Geldmitteln, Mrs Brown? Eigenes Geld oder das Geld von irgendjemand anderem, das er verwenden könnte?«