»Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.« Lou Andreas-Salomé.
München, 1897: Die faszinierende, intellektuell brillante Lou gilt als eine der klügsten Frauen ihrer Zeit und zieht Männer wie Paul Rée und Nietzsche in ihren Bann. Doch als Liebende behält sie stets ihr Herz für sich – bis sie dem jungen Rilke begegnet und mit ihm eine leidenschaftliche Amour fou erlebt. Aber dann Rilke wird immer labiler, und er engt sie zunehmend ein – muss Lou sich von ihm abwenden, um frei zu bleiben?
Ein packender, hervorragend recherchierter Roman über die große, tragische Liebe zwischen Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke
Über Thérèse Lambert
Hinter Thérèse Lambert verbirgt sich die Autorin Ursula Hahnenberg, die in München aufgewachsen ist und mit ihrer Familie in Berlin lebt. Als Schwester von vier Brüdern und spätere Studentin der Forstwissenschaft hat sie früh gelernt, unter Männern ihre Frau zu stehen. Nicht zuletzt deshalb gilt auch beim Schreiben ihre besondere Leidenschaft starken Frauen wie Lou Andreas-Salomé.
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Die Rebellin
Die Freiheit bedeutet ihr alles,
dann begegnet Lou Andreas-Salomé ihrer ersten großen Liebe – Rilke
Roman
Ich bin Erinnerungen
treu für immer,
Menschen werde ich es niemals sein.
LOU ANDREAS-SALOMÉ
Ich glaube an Nächte.
RAINER MARIA RILKE
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Nachwort
Dank
Literatur und Quellen
Impressum
Berlin, 1. November 1886
»Heiraten Sie mich, Fräulein von Salomé! Heiraten Sie mich, oder ich sterbe!«
Lou betrachtete den Mann, der vor ihr auf die Knie gesunken war. Friedrich Carl Andreas war ein Gelehrter, Orientalist, hatte die Doktorwürde. Er sprach nicht weniger als zehn Sprachen, vornehmlich ostasiatische und nordeuropäische, und sah mit seinem dunklen Haarschopf für sein Alter – er hatte das vierzigste Lebensjahr überschritten – gut aus. Seine Augen waren dunkel wie die Nacht, die Züge fein, fast aristokratisch. Das Aussehen und sicher auch sein Temperament, das in diesem Moment aufblitzte wie ein Sonnenstrahl an einem stürmischen Tag, hatte er von seiner persischen Mutter geerbt. In seiner rechten Hand hielt er ein kurzes Taschenmesser und presste sich die Spitze an die Brust.
»Ich schwöre Ihnen, Fräulein von Salomé, ich schwöre Ihnen, dass ich mein elendes Dasein in dem Moment beenden werde, in dem Sie sich meinem Antrag verweigern. Denn eins ist gewiss: Ohne Sie an meiner Seite ist mein Leben keinen Pfifferling wert.«
Lou spürte die Angst ihr Herz umklammern wie eine eiserne Faust. Dieser Mann meinte es ernst, er würde seine Drohung wahr machen, das wusste sie. Dabei kannte sie ihn fast gar nicht. Er gab einigen der türkischen Soldaten, die in der gleichen Pension wie sie wohnten, Sprachunterricht, und so waren sie sich hin und wieder auf dem Flur der Pension begegnet und ins Gespräch gekommen. Sie hatte ihn bei ihren Plaudereien als wohlerzogenen und gebildeten Mann kennengelernt.
Doch dieser Heiratsantrag überraschte sie vollkommen.
Dabei war es nicht der erste Antrag, den Lou bekam. Sie würde im Februar das sechsundzwanzigste Lebensjahr vollenden und konnte von sich – mit mehr oder weniger Bedauern – behaupten, bereits drei im Großen und Ganzen geeignete Kandidaten abgewiesen zu haben.
»Wenn ich eine Ehe für mich überhaupt in Erwägung ziehen würde …«, fing sie an, doch Friedrich Carl Andreas unterbrach sie mit funkelnden Augen.
»Mein Fräulein, ich kann keinen Widerspruch dulden. Es ist mein bitterer Ernst. All mein Streben, mein Sein ist vergebens, und ich kann es genauso gut in die Gosse werfen, wenn Sie mich nicht erhören.«
Lou kämpfte mit sich. Vor mehr als sechs Jahren hatte sie sich geschworen, niemals einem Mann zu gehören. Niemals eine Ehe einzugehen. Sie hatte ihr Leben, ihren Geist der Philosophie verschrieben, wollte nichts als Denken und Schreiben in ihrem Leben. Letztes Jahr hatte sie ihr erstes Buch, die Erzählung »Ruth«, veröffentlicht, und sie wusste, dass dies der Weg war, den sie gehen wollte. Was konnte die Ehe einer Frau in diesen Tagen anderes bringen als Nachteile? Wer war sie, dass ein Mann bestimmen würde, was sie zu tun oder lassen hatte? Sie lebte allein in dieser Pension in Berlin, und genau wie sie sich schon als Mädchen vorgenommen hatte, nahm sie auf die Konventionen, die für junge Damen des niederen Adels galten, nur wenig Rücksicht. Doch der ewige Kampf um ihr kleines bisschen Freiheit, das ständige Ignorieren der tadelnden Blicke, deren sie sich nur allzu bewusst war, kombiniert mit den anklagenden Briefen der Mutter, begannen sie zu ermüden. Wie ein kleiner Teufel spukte nun der Gedanke in ihrem Kopf herum, wie viel einfacher alles werden würde, wenn sie verheiratet wäre. Keine Klagen mehr, kein Drängen, keine skeptischen Blicke. Auch wenn sie trotzdem niemals einwilligen würde, die Ehe zu vollziehen. Unter keinen Umständen! Wie eine Nonne ihr Leben und ihre Liebe keinem anderen als Gott versprochen hatte, hatte sie, Lou, ihr Leben und ihre Liebe der Wissbegierde versprochen.
Sie sah dem Mann vor sich in die blitzenden Augen und schüttelte den Kopf. »Ich … nein. Es geht nicht.«
Doch vielleicht hatte Andreas ihr Zögern bemerkt, ihre Gedanken gelesen, oder vielleicht war er tatsächlich zu allem entschlossen; auf jeden Fall ergriff er in diesem Moment mit der Linken ihr Handgelenk und drückte zu ihrem Entsetzen mit der anderen Hand die Spitze des Messers in seine Haut, da, wo sein weißes Hemd offen stand und den Hals freigab. Blut trat hervor.
Lou war wie erstarrt.
»Heiraten Sie mich, Lou, oder ich sterbe. Hier und jetzt.«
»Ja, ja. Ich tue es. Ich heirate Sie. Hören Sie nur auf damit!« Lou entwand sich seinem Griff, schlug die Hände vor das Gesicht und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ihr Verlobter ließ das Messer los, das mit einem leisen Klirren auf dem Boden landete.
München, 8. Mai 1897
Zehn Jahre später
Dieser Hund war wirklich keinen Deut besser als seine Vorgänger.
»Lotte!« Lou raffte lachend ihren Rock und setzte hinter der Terrier-Dame her, die übermütig quer über die Wiese am Monopteros rannte.
Lou beschleunigte, dann bemerkte sie in einiger Entfernung Spaziergänger und verlangsamte ihren Schritt, so dass sie dem gemessenen Auftreten, was einer Dame von immerhin sechsunddreißig Jahren abverlangt wurde, etwas näher käme. Sie meinte, einen tadelnden Blick der Spaziergängerin aufzufangen, und kurz sah sie sich mit den Augen der Fremden – eine nicht ganz zierliche Frau mittleren Alters mit braunem langen Haar in einem hochgeschlossenen dunklen Kleid, die über die Wiese sprang, als wäre sie ein junges Mädchen. Nein, eher als wäre sie frei von allen Zwängen und Vorgaben. Diese Spießbürger. Lou war schon als Mädchen nur zu wenigen Zugeständnissen an die Konventionen bereit gewesen. Sie hatte geheiratet, ja, das schon. Aber wie sie sich damals geschworen hatte, hatte sie die Ehe mit Carl, ihrem Ehemann, nie vollzogen. Und das würde sie auch nie. Wenigstens nicht mit Carl.
Lou sah sich um. Das Paar war verschwunden. Glücklicherweise waren um diese frühe Morgenstunde nicht viele Menschen im Englischen Garten unterwegs. Dabei blühten die Holunderbüsche und der Hartriegel in zartem Weiß, das satte Grün der Bäume schmeichelte den Augen. Sie sog die würzige Luft tief ein. Wie glücklich sich die Münchner schätzen konnten, dass sie einen so wunderbaren Park mitten in ihrer Stadt hatten. Der Tau in der Wiese saugte sich in ihren langen Rock. Sollte sie auf den Weg zurückkehren? Lotte verschwand gerade hinter ein paar Büschen. Sei’s drum, nun war es auch egal. Lou raffte wieder ihren Rock und rannte weiter über die Wiese.
Eigentlich genoss sie ihre einsamen frühen Spaziergänge mit Lotte. Sobald sie kräftig ausschritt, die Wangen glühten und sie in der Natur war, sortierten sich ihre Gedanken von ganz allein. Saß sie dann später am Schreibtisch oder zu Hause in Schmargendorf am Küchentisch, flossen diese Gedanken nur so aufs Papier. Es gab nichts Schöneres, als den Tag mit einem Spaziergang zu beginnen. Wenn sich nur dieser Hund nicht immer selbstständig machen würde.
»Lotte!« Lou legte all ihre Autorität in ihre Stimme, obwohl sie ahnte, dass ihr Rufen vergeblich wäre.
Jetzt verschwand Lotte hinter den tief hängenden Zweigen einer Salweide, und gleich darauf hörte Lou ein unheilvolles Platschen.
»Verflixt.« Lou beschleunigte ihren Schritt noch einmal und schlüpfte unter das Blätterdach der Weide. Im flachen Wasser des Schwabinger Bachs suhlte Lotte sich. Lou stöhnte. Je näher sie kam, desto mehr stieg ihr ein übler Gestank in die Nase. Zwar wurde in München gerade kräftig an der Kanalisation gebaut, hier in Schwabing aber, das erst vor sieben Jahren eingemeindet worden war, kippten noch immer viele Anwohner ihren Dreck einfach in einen der vielen Stadtbäche. So war das Wasser, in dem der Hund nun stand und freudig mit dem Schwanz wedelte, alles andere als kristallklar.
Wie sollte sie das Tier da nur wieder herausbekommen? Lou ging in die Knie und lockte: »Lotte, komm, sei ein braver Hund. Wir wollen nach Hause gehen und frühstücken.«
Lotte zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, sondern tollte weiter im flachen Wasser herum. Anscheinend hatte sie eine Libelle entdeckt.
»Ach, du dummer Hund.« Lou stand wieder auf und folgte dem Terrier am Ufer entlang. Da bemerkte sie eine Gestalt, die nur ein paar Meter entfernt stand und sie beobachtete. Es war ein junger Mann in einem hellen Anzug. Er war offenbar gerade erst den kurzen Hosen entwachsen. Sein Haar war blond, und der Bart, der seinen Unterkiefer bedeckte und über der Oberlippe spross, sah flaumig aus. Als hätte er ihre Not erkannt, stieg er mit zwei schnellen Schritten zu Lotte in den Bach, packte den Hund, der sich nur leicht strampelnd wehrte, und kam dann zurück ans Ufer. Nun trat er auf Lou zu, ließ Lotte aber dabei nicht los. Er sah Lou stumm an und schien auf etwas zu warten. Lou befestigte die Leine an Lottes Halsband und schaute den Fremden an. Er hatte meerblaue Augen, wie sie fasziniert feststellte.
Einen Moment lang war alles still, dann räusperte sich der Mann und schien ihr Lotte vor die Füße setzen zu wollen.
Lou beeilte sich, sich ebenfalls zu bücken, nahm ihm den Hund aus den Armen und murmelte: »Danke, das wäre nicht nötig gewesen.« Sie betrachtete seinen besudelten Anzug und seine nassen Schuhe. Nun stand sie wohl in der Schuld des Fremden.
Diese verflixte Hundedame in ihrem Arm begann zu zappeln. Lou ließ Lotte auf den Boden, nun ebenfalls nass und mit schmutzigem Kleid.
Als sie aufblickte, hatte der Mann sich umgedreht und entfernte sich rasch in Richtung Straße. Lou sah ihm verblüfft hinterher. Was für eine unwirkliche Begegnung. Lotte schüttelte ihr nasses Fell aus, und Lou seufzte.
Dann machte auch sie sich auf den Weg zurück in die Schellingstraße.
***
»Lotte! Komm jetzt!« Lou zog sanft an der Leine, was nur bewirkte, dass sich die Hundedame umso starrsinniger dagegen sträubte, die Treppen zur Haustür der Pension Thurner zu erklimmen. Kurzerhand packte Lou die widerspenstige Lotte und trug sie die wenigen Stufen hinauf. Sie drückte die Türklinke hinunter, trat in den dunklen Flur und verschloss der knurrenden Lotte schleunigst das Maul. Hastig stieg sie die knarzende Treppe in den ersten Stock hinauf, wo die Zimmer lagen, die sie mit Frieda bewohnte.
Frieda von Bülow, die gute Frieda. Lou hatte sie vor drei Jahren in Berlin kennengelernt, kurz nachdem Frieda aus Ostafrika zurückgekommen war, wo die junge Frau versucht hatte, die Plantagen ihres verstorbenen Bruders am Fuße des Kilimandscharo zu führen, irgendwann aber hatte aufgeben müssen. Zurück in Berlin hatte Frieda begonnen, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Und da sie nicht nur die erste Frau war, die das tat, sondern der erste Mensch überhaupt, der in Form von Novellen und Romanen über die Kolonien berichtete, hatte sie viele begeisterte Leserinnen und Leser. Nun schrieb Frieda an einem neuen Roman über ihre Zeit in Afrika, ihrem fünften.
Lou hatte nie zuvor eine Freundin gehabt. Aber Frieda war anders als die meisten anderen Frauen, die Lou kannte. Sie war wissbegierig und scherte sich herzlich wenig um die Erwartungen der Menschen. Wie Lou schrieb sie Bücher, und ebenso wie ihre Freundin liebte sie das Reisen. Da Carl als Lous Ehemann darauf bestanden hatte, dass sie wenigstens ein bisschen die Konventionen achtete, reisten Lou und Frieda nun gemeinsam, wohin immer sie ihre Entdeckerlust verschlug – Paris, Wien oder München, wo man mit anderen Künstlern und Intellektuellen ins Gespräch kommen konnte, da wollte Lou sein. Und wann immer sie das Gefühl hatte, der Enge der kleinen Wohnung, die sie mit Carl bewohnte (er in seiner geräumigen Bibliothek, sie in ihrer kleinen Kammer), entfliehen zu müssen, konnte sie auf ihre Freundin zählen.
Frieda war die angenehmste Gefährtin, die man sich vorstellen konnte. Ein wenig launisch vielleicht von Zeit zu Zeit, aber von einer unbestechlichen Ehrlichkeit, die Lou höchst willkommen war.
Jetzt hatte sie die Tür zu ihren Räumen erreicht. Sie ließ die stinkende Lotte auf den Boden, streckte den schmerzenden Rücken durch, versuchte, ihr zerzaustes Haar zu glätten, und öffnete die Tür.
Doch ihre Bemühungen um Contenance waren offenbar vergebens, denn Frieda saß auf der Chaiselongue am Fenster und grinste bei ihrem Anblick übers ganze Gesicht.
»Hat dich die liebe Lotte wieder den letzten Nerv gekostet? Dabei ist sie doch so ein folgsames Wesen. Ganz das Gegenteil des armen Toutou damals in Paris. Dass du diesen Straßenköter adoptieren musstest, werde ich nie verstehen. Aber ich werde den Anblick auch nie vergessen, wie das Vieh einen Pferdeapfel erbeutet hat und du versucht hast, ihm den Mist wieder zu entreißen.« Frieda kicherte.
»Sei nicht so garstig, Frieda. Toutou ist in den Straßen von Paris aufgewachsen, was schrecklich gewesen sein muss. Das hat ihn geprägt.«
»Das Bemerkenswerte dabei ist, dass Toutou das einzige Lebewesen auf dieser Erde war, das deinem Charme nicht sofort verfallen ist.« Frieda stand auf und strich sich den Rock glatt.
»Du bist wirklich albern, Frieda. Lotte wollte nach der langen Reise gestern unsere Morgenrunde nur etwas verlängern und ein Bad in diesem stinkenden Rinnsal, das sie Bach nennen, nehmen. Wer sollte es ihr übel nehmen? Mir steckt die Reise selbst noch in den Knochen. Trotzdem war es wunderbar. Du hättest mitkommen sollen, die Frühlingssonne ist herrlich. Im Englischen Garten blühen die Wiesen.« Lou nahm der Hündin das Halsband ab.
Frieda winkte ab. »Lass es gut sein, Lou. Morgentau und erste Sonnenstrahlen sind nicht gerade meine Favoriten.« Sie musterte Lou und zog die Stirn in Falten. »Du bist ja nass!«
»Ach, das ist nichts.« Lou merkte, wie bei der Erinnerung an den Fremden eine leichte Röte ihr Gesicht überzog, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Was war heute Morgen nur los mit ihr? Sie wusste genau, was passieren würde, wenn sie der hoffnungslos romantisch veranlagten Frieda von der Begegnung im Park erzählen würde: endlose Spekulationen über die Identität des Fremden. Vermutlich würde Frieda das gleich in ihrem nächsten Buch verwenden. Also setzte Lou ein Lächeln auf und hielt dem forschenden Blick der Freundin stand.
»Na gut«, sagte diese schließlich, »ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich verspüre Appetit. Ich werde nach unserem Frühstück läuten.«
Lou nickte und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, um sich und Lotte zu säubern und Lotte zu füttern.
***
Ein paar Minuten später, Lou kam gerade zurück in den Salon, klopfte es an der Tür zum Flur, die sich im gleichen Moment öffnete.
»Bitte schön, die Herrschaften.« In schwarzem Kleid und weißer Schürze bugsierte Frau Thurner ein Tablett ins Zimmer. Sie stellte es auf dem Tischchen ab und verließ den Salon wieder, nicht ohne Lous Hund mit einem missbilligenden Blick zu bedenken. Sie hatte für solche Schoßhündchen, wie sie Lotte abfällig nannte, nichts übrig.
Lou inspizierte das Frühstückstablett. Es gab eine Kanne mit dampfendem Kaffee, zwei zierliche Tässchen, eine Etagere mit duftendem Gebäck und die Post. Einen Umschlag reichte sie Frieda weiter, die anderen beiden waren an sie adressiert. Sie setzte sich, schenkte Kaffee ein und nahm den ersten Brief in die Hand.
Die Handschrift, ziemlich unleserlich, erkannte sie nicht, sie riss den Umschlag auf. Es war nur ein einziges Blatt Papier darin, auf das offenbar in aller Eile ein Gedicht geschrieben worden war. Ein schwülstiges Gedicht, dachte Lou. Eine Unterschrift fehlte, auch auf der Rückseite, wie sie feststellte, als sie das Blatt umdrehte.
Frieda sah auf. »Was ist? Stimmt etwas nicht?«
»Ich weiß nicht.« Lou gab Frieda den Brief, die die Zeilen überflog und ebenfalls das Blatt hin und her wendete.
»Scheint so, als hättest du einen anonymen Verehrer«, befand Frieda. »Mit einer gruseligen Handschrift.« Sie kicherte wieder und fügte in fast vorwurfsvollem Ton hinzu: »Wir sind noch nicht einmal einen halben Tag in München.«
Lou zuckte die Schultern. Sie nahm den zweiten Umschlag und öffnete ihn. Diese Handschrift hatte sie natürlich sofort erkannt, schließlich schrieb ihr Geliebter ihr in steter Regelmäßigkeit. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie den Brief las. Dann sah sie auf und bemerkte, dass Frieda sie von Neuem neugierig musterte.
»Der hier ist von Zemek«, erklärte sie.
»Oh, der Herr Professor Leibarzt. Er kann es wohl kaum erwarten, dir in Wien seine besonderen Dienste zur Verfügung zu stellen, stimmt’s? Oder wird er hierher nach München kommen?«
Lou lächelte versonnen, schüttelte aber den Kopf. »Nein. Er erwartet uns im Juni in Wien.«
»Schade, dass dieser glutäugige Arzt nur eine Schwester und keinen Zwillingsbruder hat. Nichts gegen Broncia, sie ist eine talentierte Malerin und ein absolut entzückender Mensch.« Frieda seufzte tief und nahm einen Schluck Kaffee. »Ich werde nie vergessen, wie herrlich ihr letztes Jahr bei Broncias Hochzeit ausgesehen habt. Du und Zemek, ihr habt das Brautpaar regelrecht überstrahlt. Und Zemeks Eltern waren so stolz, dich als Quasi-Schwiegertochter zu bekommen.«
»Du weißt genau, dass das nur ein Spaß war. Mehr eine romantische Geste. Carl würde niemals in eine Scheidung einwilligen, und ich vermutlich auch nicht.«
»Nicht mal für diesen schönen Medizinalrat?« Frieda sah Lou über den Rand ihrer Tasse hinweg forschend an.
»Ziemlich sicher. Du weißt, dass Zemek der Mann ist, der mir gezeigt hat, dass die körperliche Vereinigung zwischen Mann und Frau mehr ist als Fortpflanzung und Unterwerfung. Dass sie ein Schritt auf dem Weg zur Erfüllung sein kann, ein menschliches Grundbedürfnis wie Hunger oder Durst und rundherum wunderbar. Und du weißt es selbst, es liegt schon im Wesen der Erotik begründet, dass sie mit der Treue auf Kriegsfuß steht. Mit Zemek ist es wunderbar, besser, als ich je gedacht hätte. Aber ihn heiraten …«
»Wenn du nach zehn Jahren Ehe nicht gewusst hast, wie das ist, dann hättest du immer noch mich fragen können. Ich bin vielleicht unverheiratet, aber nicht unbeleckt.« Frieda schüttelte sich vor Lachen, und Lou stimmte ein.
Wien, November 1895
Zwei Jahre zuvor
»Glaubst du nicht auch, dass es die Ehe ist, die Frauen zu Matronen macht?« Das wisperte Frieda Lou ins Ohr, kurz bevor sie der Gastgeberin des Abends entgegentraten.
»Sehe ich für dich vielleicht aus wie eine Matrone, Fräulein von Bülow?«, zischte Lou zurück. Sie straffte sich, strich den Rock glatt und setzte ein Lächeln auf.
Frieda grinste nur.
Dann standen sie Rosa Mayreder gegenüber und schüttelten ihr die Hand. Lou musste zugeben, dass Rosa tatsächlich die ersten Anzeichen von Rundlichkeit zeigte, vor allem im Gesicht, das mit seinen Pausbacken sehr mädchenhaft wirkte, dabei war Rosa immerhin Ende dreißig. Doch weder die Ehe noch ihre Kurven hinderten ihre herzliche Gastgeberin daran, sich politisch vehement für die Frauenrechte zu engagieren.
»Wie schön, Sie in Wien begrüßen zu dürfen«, wandte sich Rosa an Lou. »Ich habe ganz begeistert Ihr letztes Buch gelesen, hieß es nicht ›Ruth‹?«
»›Jesus der Jude‹ ist noch danach erschienen«, korrigierte Lou lächelnd.
»Oh, ein neues? Wie wäre es dann, wenn wir hier in den nächsten Tagen eine Lesung organisieren? Wäre Ihnen das möglich?«
»Sehr gern«, antwortete Lou und freute sich. Die Bücher und Essays, die sie für verschiedene Zeitschriften verfasste, brachten ihr inzwischen einen sehr willkommenen, ja notwendigen Zuverdienst ein, der immer beachtlicher wurde. Zwar lebten Carl und sie in Schmargendorf sehr bescheiden, doch Lou hatte nun einmal Gefallen daran gefunden, zu reisen, und wollte das auch weiterhin tun können. Also schrieb sie (obwohl sie wohl auf jeden Fall geschrieben hätte, selbst wenn sie nichts damit hätte verdienen können).
Dann erinnerte sie sich an Frieda, die zwar keine Geldsorgen hatte, aber etwas verloren neben ihr stand, und schlug eine gemeinsame Lesung mit der Freundin vor. Rosa war gleich begeistert, und so berieten sie zu dritt eine Weile über den möglichen Ablauf, bis Rosa aufblickte und sich entschuldigte.
Sie steuerte auf ein Paar zu, das eben den Salon betreten hatte, eine junge Frau mit dunklen Haaren und einen Mann mit ebensolchen und Vollbart, hakte sich bei beiden ein und kehrte zu Lou und Frieda zurück.
»Darf ich Sie vorstellen? Das sind Broncia und Friedrich Pineles. Broncia ist eine außerordentlich talentierte Malerin, sie ist verlobt mit Hugo Koller, einem Arzt aus Nürnberg, und ihr Bruder Friedrich hier ist ein sehr begabter Internist, der an unserem Allgemeinen Krankenhaus arbeitet. Er ist uns eine Verlobung allerdings noch schuldig. Mein Lieber, bedenken Sie, dass auch Sie nicht jünger werden!« Rosa Mayreder berührte den Angesprochenen leicht tadelnd am Arm, lachte aber dabei.
Lou und Frieda stellten sich vor. Die Geschwister machten einen sehr sympathischen Eindruck.
Nun entspann sich von Neuem eine angeregte Unterhaltung. Lou war immer begeistert, wenn sie die Möglichkeit hatte, neue Künstlerinnen kennenzulernen. Sie befragte Broncia über ihre Lehrzeit, ihren Stil und ihre künstlerischen Ambitionen, bis diese ihr lachend Einhalt gebot. »Bitte, liebe Frau Andreas-Salomé. Darf ich Sie bitten, dies alles bei anderer Gelegenheit zu diskutieren? Machen Sie uns doch morgen die Aufwartung, und ich zeige Ihnen meine Arbeiten.« Sie wandte sich an ihren Bruder: »Nicht wahr, Zemek? Das wäre doch am besten.«
Friedrich Pineles lächelte und sah Lou dabei in die Augen, und sie wunderte sich, wie intensiv sein Blick war. Dann sagte er: »Das ist eine ganz ausgezeichnete Idee, Schwesterlein. Ich würde mich freuen, die Damen morgen bei uns begrüßen zu dürfen. Bitte kommen Sie!«
Lou stimmte zu, sie freute sich auf das Wiedersehen mit den beiden, und Frieda, die kaum zu Wort gekommen war, nickte nun auch. Sie würde ebenfalls mitkommen.
Der Abend verging mit allerlei Plaudereien und Begegnungen mit interessanten Menschen, doch Lou konnte an kaum etwas anderes denken als den morgigen Ausflug. Sie war zu gespannt darauf, Broncias Arbeiten zu sehen.
***
Am darauffolgenden Tag saßen Lou und Frieda also am frühen Nachmittag im Salon der Familie Pineles, tranken Tee und plauderten mit Friedrich und Broncia, bis diese sich erhob und sagte: »Nun, meine Damen, wenn es Ihnen genehm ist, dann folgen Sie mir in den Wintergarten. Dort male ich meist, weil die Lichtverhältnisse in diesen Räumlichkeiten am besten sind.«
Auch Lou, Frieda und Broncias Bruder standen auf.
Friedrich bot Lou den Arm, und sie ließ sich in den Wintergarten führen. Frieda und Broncia folgten ihnen.
Dann sahen sie die Bilder, die Lou von einer erstaunlichen Kraft und Klarheit schienen. Sie betrachtete ein Stillleben, auf dem drei tönerne Vasen mit verschiedenen Blumen zu sehen waren. Im Hintergrund lilafarbene Schwertlilien, die sich edel abhoben von den gelben Wiesenblumen, die Broncia in die vorderen beiden kleineren Vasen gemalt hatte. Die Komposition wirkte sehr ausgewogen, gleichzeitig erzeugte die Kombination der Blumenarten eine Spannung in ihrer einfachen Darstellung.
Broncia lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein Porträt. Zu sehen war eine ältere Dame, über eine Stickarbeit gebeugt und ganz und gar in diese vertieft. Auch hier bemerkte Lou, dass Broncia ein gutes Auge hatte. Sie schien in der Lage, das Wesen der Dinge zu sehen und auf die Leinwand zu bannen.
Als sie sich Broncia gegenüber entsprechend äußerte, schlug diese vor, sich zu duzen. »Liebe Lou, darf ich Lou sagen? Es kommt mir vor, als kennten wir uns schon ewig. Ich freue mich, in Ihnen eine Freundin gefunden zu haben. Und in Ihnen natürlich auch, liebes Fräulein von Bülow.«
Frieda gab einen Laut des Unmuts von sich. »Meinetwegen können Sie Lou mit Vornamen anreden, aber nur, wenn Sie dasselbe mit mir tun!«
»Das sollten wir mit einem Glas Wein besiegeln«, stellte Friedrich Pineles fest, und als sie das später tatsächlich taten, erklärte er noch, warum Broncia ihn Zemek nannte. »Ich hatte als Kind schon so dunkle Augen, dass unsere polnische Amme mich Zemek nannte, Erdmann heißt das, hat sie behauptet. In welcher Sprache auch immer.«
Lou betrachtete ihn genauer und fragte sich, ob seine Augen nur dunkelbraun oder doch ganz schwarz waren. Sie konnte es nicht erkennen.
Pineles verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Der Erdmann.
»Und nun nennen Familie und Freunde mich Zemek. Es würde mich freuen, wenn Sie es ebenfalls täten, liebe Lou.«
Lou konnte den Blick nicht von seinem lösen, diese Augen waren wirklich erstaunlich. Sie nickte.
Dann war es Zeit, zu gehen, aber als sie an der Haustür standen und sich verabschiedeten, steckte Zemek ihr einen Zettel zu, den sie rasch in ihrem Ärmel verbarg.
Erst als sie zu Hause in der Pension in ihrem Zimmer war und die Tür vor Friedas neugierigen Augen verschlossen hatte, zog Lou das Blatt Papier heraus.
Es war eine Einladung, offenbar hastig hingekritzelt. Die Handschrift war gleichwohl ausdrucksvoll. Zemek schlug vor, ihn am nächsten Abend am Prater zu treffen. Er wolle ihr Venedig zeigen.
Venedig? Wenn dieser Zemek es darauf angelegt hatte, ihr Interesse zu wecken, dann hatte er es geschafft.
***
Also verabschiedete Lou sich am nächsten Abend unter einem Vorwand von Frieda und stand etwas später tatsächlich am vorgeschlagenen Treffpunkt am Gelände der Kaiserwiese. Zemek ließ nicht lange auf sich warten, sie hatte kaum ihren Platz eingenommen, als sie ihn um die Straßenecke biegen sah. Gut sah er aus, ein großer, eleganter Mann in einem modischen dunklen Anzug. Sein dunkler Schopf verlieh ihm ein fast verwegenes Aussehen. Er begrüßte Lou mit einer kleinen Verbeugung und bot ihr dann seinen Arm, den sie ergriff. Zusammen schlenderten sie in den Park.
Und tatsächlich war es, als hätten sie die Reise nach Italien innerhalb eines Wimpernschlags getan. Lou fand sich inmitten von Kanälen, Bäumen und den lieblichsten Gebäuden wieder. Und auf den Kanälen fuhren reich verzierte Gondeln, in denen die Gondoliere ihren Passagieren Liebeslieder zuraunten. Sie war in Venedig.
Lou ließ sich staunend umherführen und bewunderte diese Zauberwelt mitten in Wien.
In einem Heurigen setzten sie sich an einen Holztisch unter einer Linde, deren Zweige sich im Abendwind wiegten, und nahmen ein einfaches, aber köstliches Abendessen ein. Dazu tranken sie aromatischen roten Wein, um dann über den nächsten Platz zu wandeln und für eine Weile dem Marionettentheater zuzusehen, wo ein prächtiger Kasper eine blondzöpfige Gretel anschmachtete, sich dabei aber überaus ungeschickt anstellte. Das Publikum bog sich vor Lachen, und auch Lou musste lächeln. Es war ein wunderbar leichter Abend, sie fühlte sich wie in einer anderen Welt. Während all der Zeit hielt Zemek ihren Arm, beugte sich zu ihr und erklärte ihr mit leiser Stimme, fast zärtlich, was sie sahen. Seine Stimme hatte gekitzelt, nicht nur an ihrem Ohr, auch tiefer in ihr. Es war ein ganz unbekanntes Gefühl, als hätte sie Bauchschmerzen, aber ohne Schmerzen, es flatterte etwas in ihr, ließ eine Sehnsucht aufsteigen. Was war das? Lou hätte gern die Zeit kurz angehalten, um dieses Gefühl zu analysieren, möglicherweise aufzuhalten oder zu verstecken, tief in ihrem Inneren. Oder war das gar nicht notwendig? War sie nicht gerade jetzt, mit knapp fünfunddreißig Jahren als verheiratete Frau, in einer so sicheren Position, dass sie solchen immer verdrängten Gefühlen nachgeben konnte? Gerade weil zwischen ihr und Carl alles geklärt war, hatte sie doch eine Freiheit erlangt, die sie nicht erwartet hatte, als sie als junges Mädchen über die Ehe nachgedacht hatte.
»Würden Sie gern mit der Gondel fahren, Lou?«
Wieder spürte Lou beim Klang von Zemeks Stimme dieses Ziehen in ihr aufsteigen. Als meldete sich in ihr der Hunger, dabei war sie ganz gesättigt, doch es war unleugbar da, dieses Sehnen, aber wonach eigentlich? Was war es, wonach ihr ganzer Körper auf einmal verlangte? Sie sah Zemek von der Seite an, er blickte zurück mit diesen dunkelbraunen Augen, in denen man versinken konnte. Lou hatte sich selten besser gefühlt, nicht sicherer, besser aufgehoben, wohler als gerade jetzt und hier in den Armen dieses Wiener Arztes.
Sie waren am Kanal stehen geblieben, wo gerade ein Gondoliere seinen Gästen dabei half, aus dem Boot zu klettern.
Lous Augen blitzten, das wäre sicher ein wunderbares Erlebnis. Sie nickte, und so stiegen sie gleich darauf in eins der schwankenden Gefährte. Der Gondoliere platzierte sie nebeneinander am ihm gegenüberliegenden Ende der Gondel. Es war ein bisschen eng auf der kleinen Holzbank zwischen den Planken, doch Lou merkte, dass sie nichts gegen Zemeks prickelnde Nähe einzuwenden hatte.
Der Gondoliere fuhr sie durch das nächtliche Venedig, sie hielten sich an den Händen, und nicht lange, da drehte Zemek seinen Kopf zu Lou, seine Lippen berührten ihre, und dann küsste er sie.
Zärtlich erst, dann fordernder, verlangender.
Es kam Lou ganz natürlich, ja geradezu zwingend vor, sie erwiderte den Kuss und war ganz und gar in Venedig.
All die Gedanken, die sie sich gemacht hatte, über das Zölibat, darüber, dass sie der körperlichen Liebe zugunsten ihrer Freiheit abgeschworen hatte, all diese Bedenken wurden in dieser Nacht in Wien ganz leicht, so dass sie sie beiseiteschieben konnte. Hier und jetzt mit diesem Mann schien ihr nicht die Gefahr zu bestehen, sich selbst zu verlieren. Nein, vielmehr schien sie etwas zu bekommen, etwas Neues, Wunderbares, und dieses Gefühl wollte sie um jeden Preis erkunden.
München, 8. Mai 1897
Lou legte den Pelzkragen um, denn abends konnte es empfindlich kühl werden, und setzte Lotte in ihr Körbchen.
»Du bleibst mir hier, meine Kleine. Und hübsch brav sein, morgen früh machen wir unseren nächsten Spaziergang.« Sie wandte sich um und sah nach der Freundin.
Frieda rückte gerade vor dem Spiegel ihren Hut zurecht.
Dann verließen sie die Pension, um Arm in Arm die Schellingstraße hinunterzuspazieren. Rechts und links säumten breite Gehwege die Straße, an der herrschaftliche vierstöckige Bauten lagen. Die Fassaden waren prächtig verziert.
An der Schraudolphstraße blieb Frieda abrupt stehen und wies auf ein Lokal, das im Eckhaus lag. Osteria Bavaria stand über dem Eingang, Weinrestaurant von Josef Deutelmoser über dem Fenster.
»Schau, Lou. Das ist das Lokal, von dem ich dir erzählt habe. Eine echt italienische Osteria, mitten in München. Lass uns da bald hingehen. Ich muss mir das einfach ansehen.«
Lou nickte und ließ den Blick über das Haus schweifen, im Vorbeigehen lugte sie neugierig durch die verzierten Fensterscheiben, aus denen warmer Lichtschein auf die Straße drang. Der Gastraum war dunkel vertäfelt und voller Menschen. Im Hof gab es angeblich eine römische Laube, in der die Gäste sitzen konnten.
Sie überquerten die Straße und mussten einem stinkenden Müllwagen ausweichen, einem hölzernen Gefährt, das von einem Pferd gezogen wurde. Ein Mann führte es am Zügel die Straße hinunter und blieb dann stehen, um auf zwei Straßenfegerinnen zu warten, die mit ihren Schubkarren herankamen und den Inhalt der Karren in die Müllabfuhr luden.
Lou zupfte Frieda am Ärmel. »Wedekind schrieb mir, dass hier in München nur weibliche Arbeiter für die Straßenreinigung eingestellt werden. Auf den Straßen munkle man, die Männer seien zu faul dafür.«
Frieda prustete vor Lachen. »Das kann ich mir nur zu gut vorstellen. Aber«, sie wurde ernst, »wie gut, dass wenigstens diese Frauen den Unrat wegräumen. Stell dir den Geruch vor, wenn all die Pferdefuhrwerke ihren Mist einfach auf der Straße hinterließen.«
An der Amalienstraße bogen sie rechts ab und schlenderten weiter, bis sie das Café erreichten. Es war in einem stattlichen Eckhaus gelegen, an zwei Seiten zeigten große Fenster zur Straße, über denen in goldenen Lettern auf schwarzem Grund der Name prangte: Wiener Café Stefanie.
Da zockelte gerade die Pferdetram heran und hielt genau vor ihnen. Der Gaul hob seinen Schweif und ließ ein paar Pferdeäpfel fallen. Der kleine Wagen erinnerte an einen Zirkuswagen, bei dem man die seitliche Verkleidung vergessen hatte. Eine Handvoll Menschen kletterten über den Absatz des Wagens auf die Straße, unter ihnen Frank Wedekind.
Lou kannte ihn schon lange, vier Jahre mindestens. Im letzten Jahr in Paris hatten sie zusammen an einem Stück gearbeitet, es aber leider nicht beenden können, weil Lou ein dringendes Bedürfnis nach Einsamkeit verspürt und Paris verlassen hatte. Sie hatte keine Ruhe mehr gefunden, weder für sich selbst noch zum Arbeiten, obwohl sie die Zeit in Frankreich eigentlich sehr genossen hatte, denn mit einer Reise nach Paris hatte es den Anfang genommen, dass Lou sich herausgenommen hatte, ohne ihren Ehemann zu verreisen. Eines Abends hatte sie dann Wedekind kennengelernt, der sie überredete, die ziemlich langweilige Soiree zu verlassen und lieber etwas essen zu gehen. Die Speisen waren bei der Veranstaltung längst serviert worden, und nun folgte eine schier endlose Folge von Rezitationen und Klaviersonaten. Lou sah den jungen Mann mit dem übermütigen Grinsen an und beschloss, dass an seiner Seite auf jeden Fall amüsantere Stunden zu erwarten waren. So stimmte sie zu und brach mit Wedekind auf. Sie suchten zunächst eine Suppenküche in der Nähe auf, um sich eine Mitternachtsspeise zu genehmigen. Dabei stellte sich heraus, dass Wedekind sehr viel Hunger, aber keinerlei Geld bei sich hatte. Glücklicherweise reichte das, was Lou in ihrer Handtasche mit sich führte, um sie auszulösen. Wedekind bemühte sich, ihr einen kurzweiligen Abend zu bereiten, was ihm auch gelang, nur als er schließlich vorschlug, sie zu sich nach Hause zu begleiten, hatte sie abgelehnt, was er mit Erstaunen zur Kenntnis genommen hatte.
Später, wenn sie sich trafen, hatte Wedekind immer wieder auf diesen ersten Abend angespielt, als er hungrig gewesen war und sie seinen Hunger gestillt habe, er jedoch nicht den ihren.
Frieda steuerte auf ihn zu und zog Lou an der Hand mit sich.
»Herr Wedekind!«
Der Angesprochene blieb stehen und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. Er war ein großer Mann mit einem seltsam quadratischen Schädel, den die kurz geschorenen Haare noch betonten. Aber er hatte ein so ansprechendes Lächeln, dass ihm die Herzen nicht nur der Damen zuflogen. »Ah, die Damen von Bülow und von Salomé! Welch eine Freude, Sie hier wiederzusehen!«
Lou neigte leicht den Kopf zum Gruß. »Aber, Herr Wedekind, unterschlagen Sie mir meinen Mann nicht, es heißt immer noch Andreas-Salomé.«
Wedekinds Lächeln wurde noch eine Spur verschmitzter. »Meine Gnädigste, ich habe den werten Gatten noch nie zu Gesicht bekommen, verzeihen Sie, dass er mir entfallen ist.« Er verbeugte sich mit einem theatralischen Gesichtsausdruck.
Frieda gluckste leise. »Ach, machen Sie sich keine Sorgen, Wedekind, Sie sind nicht der Einzige, dem die Existenz des Herrn Andreas hin und wieder entfällt.«
Wedekind hielt ihnen die Tür zum Café Stefanie auf und ließ sie eintreten. Eine unglaubliche Geräuschkulisse schlug ihnen entgegen. Es war zwar noch früh am Abend, aber das Lokal war gut besucht. Die Wände des Lokals waren mit einer modischen goldbraun geblümten Tapete bedeckt. Überall standen Tischchen und Kaffeehausstühle herum, wie Lou sie aus Wien kannte. Und überall waren Menschen, die tranken, durcheinanderredeten, lachten. Es war eine wilde, wunderbar lebendige Gesellschaft.
Wedekind bahnte ihnen einen Weg in den hinteren Teil des Cafés, der mit einem opulenten Samtvorhang abgetrennt war. Dort saßen an einem größeren Tisch einige bekannte Gesichter; zwei Herren standen sofort auf, um für Frieda und Lou Stühle heranzuschaffen.
Ein weiterer war sitzen geblieben. Wedekind legte Lou eine Hand auf die Schulter und wies mit der anderen auf den Mann mit dunklen Haaren und Vollbart. »Haben die Damen schon mit unserem werten Verleger, Albert Langen, Bekanntschaft gemacht? Ich kenne ihn schon seit Jahren, in Paris habe ich eine Weile als sein Sekretär gearbeitet. Haben Sie ihn dort nicht auch getroffen, liebe Lou?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sei’s drum. Er hat gerade mein neuestes Werk verlegt, und zusammen haben wir uns den Simplicissimus ausgedacht. Langen, das sind die berühmten Schriftstellerinnen Lou Andreas-Salomé und Frieda von Bülow.«
»Es freut mich sehr, die Damen.« Langen streckte sich über den Tisch und schüttelte erst Lou und dann Frieda die Hand. »Sollten Sie in Erwägung ziehen, den Verlag zu wechseln, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Und wenn Sie einen Beitrag für unseren Simpl schreiben wollten, wäre ich Ihnen verbunden.«
Frieda lachte. »Aber lieber Herr Langen, Sie sitzen doch in München buchstäblich an der Quelle, was talentierte Schreiber betrifft.«
Lou fügte hinzu: »Und wir gratulieren zum Erfolg! Der Simplicissimus scheint ja geradewegs zu den Sternen unterwegs zu sein. Alle Welt spricht von nichts anderem.«
Langen schien sich über das Kompliment zu freuen. Er zwirbelte seinen Schnurrbart. »Sie haben recht, in München ist es ganz gut bestellt um die Kunst. Allein in Schwabing sind zurzeit eintausendachtzig Maler und Bildhauer registriert. Den Heine, er macht uns den Titel für den Simpl, den kann ich Ihnen heute Abend leider nicht vorstellen, der sitzt daheim an der Leinwand. Aber da hinten, sehen Sie den Herrn da?«
Lou drehte sich um und bemerkte, dass an einem Tischchen in der Ecke ganz allein ein Mann saß und eifrig in ein Notizbuch kritzelte. Er hatte die dichten Augenbrauen streng zusammengezogen. Entweder war er verärgert oder hoch konzentriert.
»Das ist Thomas Mann, der jüngere Bruder von Heinrich, von dem Sie vielleicht schon gehört haben.« Er machte eine kleine Pause, in der Lou und auch Frieda nickten. »Der jüngere ist ebenfalls Schriftsteller, grad arbeitet er an einem größeren Werk, scheint es, äußerst diszipliniert. Er wird bald nach Hause und zu Bett gehen. Es heißt, er stehe jeden Morgen mit den Hühnern auf und sitze dann bis exakt zwölf Uhr am Schreibtisch. Dann isst er zu Mittag, und später arbeitet er weiter an seinem Roman. Muss ein ordentlicher Schinken werden. Aber ab und zu hilft er im Verlag aus. Daher kenne ich ihn als ganz umgänglich, wenn auch sehr korrekt.«
Lou betrachtete den Mann. Er saß auf dem harten Thonet-Kaffeehausstuhl und vermittelte den Eindruck, als bekäme er von dem ganzen Trubel um sich herum nichts mit. Plötzlich war sie sehr froh, dass sie zu Hause ihren Küchentisch hatte, an dem sie ganz für sich in Ruhe arbeiten konnte; auch in der Pension Thurner oder wo auch immer sie mit Frieda bisher unterwegs gewesen war, hatte sie stets ein stilles Plätzchen für sich allein gefunden, um ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
Sie schrak hoch, als Wedekind ihr ein Glas Rotwein unter die Nase hielt.
»Hier, meine Liebe, lassen Sie uns anstoßen auf Ihren Besuch in München. Außerdem haben Sie unseren Vierten im Bunde noch gar nicht begrüßt. Das«, er zeigte mit großer Geste auf einen jungen Mann, dessen lange dunkle Locken dringend eines Barbiers bedurft hätten, auf seinen Wangen zeigten sich dunkle Schatten, die vom Bartwuchs stammen mussten, »das ist Jakob Wassermann. Er feiert im Moment mit seinen ›Juden von Zirndorf‹ große Erfolge. Außerdem haben wir ihn natürlich auch in der Redaktion des Simplicissimus, so ein Talent lassen wir uns nicht entgehen.«
»Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Herr Wassermann.« Lou musterte ihn neugierig. »Worum geht es in Ihrem Roman?«
»Nun«, Wassermann machte eine kleine Pause und nahm eine Prise Schnupftabak, »vielleicht sagt Ihnen der Religionsgelehrte Schabbtai Zvi etwas?«
Lou wartete seine Erklärung ab, so dass er weitersprach: »Zvi war ein jüdischer Gelehrter. Er begründete den Sabbatianismus, der unter anderem das Ziel hatte, die Missstände im osmanischen Sultanat zu bekämpfen. Leider musste er am Ende zum Islam konvertieren, zumindest offiziell.«
»Aber natürlich.« Lou erinnerte sich. »Bei den Recherchen zu meinem Essay über ›Jesus der Jude‹ ist mir der Name begegnet.«
»Nun, mein Buch ist eine Art Chronik seines Lebens und Wirkens, die ich aber bezogen auf das heutige Leben in einer jüdischen Gemeinde in einer fränkischen Kleinstadt beschreibe.« Wassermann sah sie mit seinen kohlestückschwarzen Augen gespannt an, sein Schnauzbart zuckte, als er lächelte. Ein wenig erinnerte er sie an Zemek, und das typische Sehnen meldete sich sogleich in ihr. Doch was sollte das? Sie war hier in Schwabing, umgeben von einigen sehr erfolgreichen Autoren, von Wissen und Kultur und interessanten Ideen. Da hatten die Kohleaugen und die Erdmann-Gefühle keinen Platz.
Lou war neugierig, was Wassermann zu erzählen hatte, und es entspann sich eine lebhafte Unterhaltung mit ihm über sein Buch und darüber, wie er anhand der Beschreibung einer fränkischen Kleinstadt jüdisches Leben im 19. Jahrhundert geschildert hatte.
Lou war noch ein Mädchen gewesen, als sie hatte feststellen müssen, dass ihr, der Tochter eines Generals und Förderers der protestantischen Kirche in Russland, leise schleichend und ohne dass sie es selbst hätte verhindern können, der Glaube an Gott abhandengekommen war. Doch anstatt sich damit vom Thema Religion abzuwenden, hatte Lou angefangen, sich umso intensiver mit Religion und Philosophie zu beschäftigen, mit der Geschichte, verschiedenen Formen von Gottesverehrung und zu guter Letzt auch mit der Frage, die übrig blieb, wenn man nicht mehr an ein höheres Wesen glaubte, das Erklärungen für praktisch alle Fragen lieferte: der Frage nach dem Warum. Welchen Zweck verfolgte das Dasein der Menschen, und welche Aufgabe hatte man? Diese Fragen trieben Lou an, und so war sie wie immer fasziniert, zu erfahren, was andere Suchende, wie Wassermann, dazu zu sagen und schreiben hatten.
Gegen drei Uhr morgens war die Sperrstunde gekommen, und die Bedienung hatte sie mit müden Augen ans Bezahlen erinnert. Da erst war Lou aufgefallen, dass sich das Lokal geleert hatte, nur ihre Gruppe war noch um den Eichentisch geschart. Lou angelte nach ihrer Börse und ließ einige Münzen für den Rotwein und die Rinderbrühe auf den Tisch fallen. Dann verließen Lou und Frieda das Café, und Wedekind begleitete sie bis in die Schellingstraße. Dort schickten ihn Lou und Frieda seiner Wege und spazierten die letzten Meter untergehakt nach Hause. Über ihnen spannte sich der Sternenhimmel, an den Straßenecken spendeten die elektrischen Straßenlaternen flackerndes Licht.
Nach diesem Abend war Lou erfüllt von Eindrücken, dem geschäftigen Treiben im Café Stefanie und dem Gefühl einer unbändigen Kreativität tief in ihrem Bauch. Mit Wassermann hatte sie lange über Religionsphilosophie gesprochen, es hatte sie gefreut, dass er ihre Veröffentlichungen dazu gelesen hatte. In ihrem Leben hatte sie sich mit ihren Gedanken und ihrer Wissbegierde so oft einsam gefühlt, umso mehr genoss sie Abende wie diesen in der Gesellschaft anderer Menschen, die sich mehr oder weniger mit ähnlichen Gedanken und Konzepten beschäftigten wie sie selbst. Es verringerte das immer noch nagende Gefühl der Einsamkeit und des Unverstandenseins in ihrem Inneren. Und es befeuerte ihre eigene Kreativität, gab ihr den Mut, ihren Weg weiterzugehen.
Sie drückte Frieda. »Das Leben ist doch schön!« Dann öffnete sie die Haustür und ließ Frieda eintreten.
Frieda lächelte. »Ja, wenn man gute Gesellschaft hat, ist es schön.«
München, 13. Mai 1897
Es ging schon auf die Mittagszeit zu, als die Tür zu Friedas Zimmer endlich knarrte.
Lou saß am Tisch und arbeitete an ihrer Novelle. Das Gedicht, das ihr der unbekannte Dichter heute geschickt hatte, war schon im Papierkorb gelandet, sie wusste wirklich nicht, was sie sonst hätte damit anfangen sollen. Trotzdem schweiften ihre Gedanken immer wieder zu den seltsamen Zeilen. Wer mochte der unbekannte Verfasser sein, der so konsequent jeden Morgen ein paar Verse ablieferte? Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Fenitschka, ihre Hauptfigur und promovierte Wissenschaftlerin, war im Gegensatz zu Lou unverheiratet. Doch die Probleme, die die Gesellschaft unabhängigen Frauen, die ihren Lebensunterhalt verdienen wollten und in ungewohnten Bereichen wie der Wissenschaft, Forschung, Literatur oder Kunst sichtbar sein wollten, bereitete, kannte Lou selbst nur zu gut. Wenn man nicht dem vorgegebenen Weg folgte, war man Verleumdungen und Gerüchten ausgesetzt. Das Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit war etwas, das die Mehrheit der Menschen nach wie vor nur Männern