Über das Buch

Ein Mord im Paradies.

Irland 671: Als Fidelma und Eadulf in dem Dorf Cloichin eintreffen, das den Ruf hat, ein äußerst idyllischer Ort zu sein, wollen die aufgebrachten Bewohner dort gerade einen Mann hängen. Der Wanderarbeiter soll einen wohlhabenden Bauern und dessen gesamte Familie ermordet haben. Fidelma kann ihn gerade noch rechtzeitig vor dem grausamen Tod retten. Bei den Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Bewohner viele dunkle Geheimnisse haben. Bevor Fidelma herausfinden kann, ob der Wanderarbeiter wirklich schuldig ist, wird ein neuer Mordanschlag auf ihn verübt.

»Peter Tremayne gehört auf den Krimithron Großbritanniens.« Literaturmarkt

Über Peter Tremayne

Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Schwester Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Markt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.

Bisher bei Aufbau erschienen: Die Tote im Klosterbrunnen (2000), Tod im Skriptorium (2001), Der Tote am Steinkreuz (2001), Tod in der Königsburg (2002) und Tod auf dem Pilgerschiff (2002), Nur der Tod bringt Vergebung (2002), Ein Totenhemd für Den Erzbischof (2003), Vor dem Tod sind alle gleich ( 2003), Das Kloster der toten Seelen( 2004), Verneig dich vor dem Tod (2005), Tod bei Vollmond (2005), Tod im Tal der Heiden (2006), Der Tod soll auf euch kommen (2006) und Ein Gebet für die Verdammten (2007), Das Flüstern der verlorenen Seelen (2007), Tod den alten Göttern (2008), Das Konzil der Verdammten (2008), Der falsche Apostel (2009), Eine Taube bringt den Tod (2010), Der Blutkelch (2010), Die Todesfee (2011), Und die Hölle folgte ihm nach (2012), Die Pforten des Todes (2012), Das Sühneopfer (2013), Sendboten des Teufels (2014), Der Lohn der Sünde (2015); Der Tod wird euch verschlingen (2016) Tod in der Königsburg – Illustrierte Ausgabe (2016), Die Wahrheit ist der Lüge Tod (2018), Ihr Los ist Finsternis (2018), Wer Lügen sät (2019). Die Sünden der Gerechten (2020).

Mehr Informationen unter www.sisterfidelma.com

Bela Wohl ist Psychologin, Psychotheratpeutin und staatlich geprüfte Übersetzerin. Seit dreißig Jahren übersetzt sie zahlreiche Bücher ins Deutsche.

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Peter Tremayne

Die Sünden der Gerechten

Historischer Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Bela Wohl

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Anmerkung des Autors

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Epilog

Anmerkungen

Schwester Fidelmas Abenteuer in chronologischer Reihenfolge

Impressum

Für Eleni Triantafillaki,

meine Seelenverwandte,

die mir den Leitsatz mitgab:

Nulla

vestigia retrorsum

(Keine Rückschritte)

Eiecitque Adam et conlocavit ante paradisum voluptatis cherubin et flammeum gladium atque versatilem ad custodi, endam viam ligni vitae.

Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.

1. Mose 3, 24

Biblia Vulgata, von Hieronymus im 4. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt

HAUPTPERSONEN

Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des 7. Jahrhunderts

Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Ehemann

Enda, Krieger der Nasc Niadh, der Leibwache des Königs von Cashel

IN CLOICHÍN

Die Opfer

Adnán, ein Bauer

Aoife, seine Frau

Cainnech, ihr Sohn

Abél, der zweite Sohn

DIE EINWOHNER

Bruder Gadra, ein Mönch

Fethmac, der bó-aire oder Schultheiß

Ballgel, seine Frau

Gobánguss, der Schmied

Breccnat, seine Frau

Eórann, die Mutter von Breccnat

Lúbaigh, ein Knecht, der später Adnáns Hof verwaltet

Fuinche, seine Frau

Dulbaire, Lúbaighs Bruder

Íonait, eine Kuhmagd

Blinne, ihre Mutter, eine Witwe

Tadgán, Bauer und Cousin von Adnán

Taithlech, ein Händler

Flannat, seine Tochter und die Witwe von Díoma, Tadgáns Sohn

DIE WANDERARBEITER

Celgaire

Fial, seine Frau

Ennec, ihr kleiner Sohn

IN DER ABTEI ARD FHIONÁIN

Abt Rumann

Bruder Solam, ein Gelehrter

Bruder Fechtnach, der rechtaire oder Verwalter

IN CNOC NA FAILLE

Conmaol, der Anspruch auf Adnáns Erbe erhebt

Slébíne, sein Sohn

Tuama, ein Schäfer

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Anmerkung des Autors

Diese Geschichte folgt chronologisch auf den Band »Wer Lügen sät«, ist jedoch in sich abgeschlossen. Wir befinden uns im Jahr 672 n. Chr., im Monat Mí Faoide (Februar), der im Irland des 7. Jahrhunderts als der »Monat für Schlaf und Ruhe« galt. Auf dem Land gab es in der dunklen, kalten Jahreszeit wenig zu tun. Erst im darauf folgenden Vierteljahr, das als Imbolc bezeichnet wurde, also als die Zeit, in der die Mutterschafe ihre Lämmer bekamen, beging man das größte Fest zu Ehren von Brigid, der uralten Göttin der Fruchtbarkeit.

Der Schauplatz ist Cloichín (Clogheen), eine Siedlung, die auch als »der steinige Ort« bekannt war; sie lag im Schatten der hoch aufragenden Gebirgskette Cnoc Mhaoldomhnaigh (Knockmealdown) gut dreißig Kilometer südlich von Cashel. Die Abtei Ard Fhionáin (Ardfinnan) erhob sich unweit östlich des Dorfes. Ihr Name »Finan’s Höhe« stammt von einer religiösen Siedlung, die im frühen 7. Jahrhundert von Finan dem Aussätzigen gegründet wurde.

Zum besseren Verständnis der Situation sollte der Leser wissen, dass die genealogischen Aufzeichnungen der einheimischen gälischen Adelsfamilien in Irland als die ältesten in ganz Europa gelten. Manche Ahnentafeln, die noch in schriftlicher Form erhalten sind, stammen aus dem 7. Jahrhundert n. Chr.; der bekannte irische Gelehrte, Professor Eoin MacNeill (1867–1945), vermutete sogar, dass die Stammbäume »wahrscheinlich größtenteils durchaus zuverlässig sind, selbst wenn man zurückgeht bis ins Jahr 200 v. Chr.«.

Irland erlebte im 7. Jahrhundert eine Zeit enormer gesellschaftlicher Veränderung. Neue Vorstellungen des Christentums, die aus Rom mitgebracht wurden, führten zu Konflikten und zu einem unübersichtlichen Wirrwarr von Ideen, die unter anderem Themen wie Grundbesitz und Erbrecht zu beeinflussen begannen.

Der Begriff derbhfine (dey-ruv-fin-a), der in dieser Geschichte verwendet wird, bezieht sich auf eine Großfamilie mit bis zu vier lebenden Generationen, die alle von einem gemeinsamen Urgroßvater abstammen. Der Familienrat dieser Sippe legte normalerweise die Erbfolge fest, denn Erstgeburtsrechte gab es damals nicht. Älteste Söhne traten nicht notwendigerweise die Nachfolge ihrer Väter an, auch wenn das älteste Mitglied einer Familie – der ádae fine – ihre Versammlungen einberief. Mit dem Prinzip von fintiu oder Sippenland wurde anerkannt, dass sich eine Form von Privatbesitz zu entwickeln begann. Das alte System von Land, das dem Stamm gehörte und über das der derbhfine nach wie vor als Kollektiv entschied, veränderte sich nach und nach. Man sollte auch einen anderen Aspekt nicht vergessen: Frauen hatten Erbrechte und blieben selbst während einer Ehe im Besitz ihres persönlichen Eigentums. Das Gesetz nannte sie banchomarba (ban-cho-mar-ba) oder weibliche Erbin. Eine gute Analyse dieses Themas findet man in »Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn, zwischen Vater und Tochter und das Erbrecht im Hinblick auf Frauen« von Professor Myles Dillon, veröffentlicht in Studies in Early Irish Law, Royal Irish Academy, Dublin 1936.

Da es sich hier wahrscheinlich um die erste erfundene Geschichte handelt, in der die irischen Gesetze aus dem frühen Mittelalter zu den Themen Grundbesitz und Erbrecht für Frauen eine Rolle spielen, wird der Leser auf eine Reihe von alt- oder mittelirischen Worten und Quellenhinweisen stoßen. Bitte verlieren Sie keine Zeit mit der Frage, wie man diese korrekt ausspricht. Gelegentlich äußerten Leser Bedenken, weil ihnen die dargelegten Vorstellungen für das 7. Jahrhundert allzu fortschrittlich erschienen; sie vermuteten wahrscheinlich, dass ich die Gesetze nach eigenem Gutdünken erfunden habe. Doch das ist selbstverständlich nicht der Fall. Die Sünden der Gerechten könnte hier zum besseren Verständnis beitragen.

Kapitel 1

Die Menschenansammlung war überschaubar, schien jedoch nicht mehr aus einzelnen Individuen zu bestehen, aus Männern, Frauen und ein paar kleinen weinenden Kindern dazwischen. Die Versammelten waren zu einem bedrohlichen Mob verschmolzen, der sich die Dorfstraße entlangschob wie ein einziger Körper, der von einem einzigen Ziel besessen war. Das Lärmen der Leute steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Brüllen – und war eine Beleidigung für die Sinne. Sogar die erhobenen Arme, mit denen sie Knüppel und Stöcke schwenkten, wirkten wie die Gliedmaßen eines einzigen Wesens. Ein scharfsichtiger Beobachter mochte vielleicht erkennen, dass sie in ihrer Mitte etwas oder jemanden mit sich zerrten. Schließlich sah man, dass es sich um den Körper eines Menschen handelte; eines Mannes, der sich gegen das Seil stemmte, mit dem man ihn vorwärtszog. Auch wenn er verdreckt und von Schlamm bedeckt war, unterschied er sich in einer Hinsicht von dem Mob, der ihn umzingelte, nämlich in der Farbe seiner Haut. Sie war schwarz.

An der Spitze der blindwütigen Menge schritt eine stämmige Gestalt, die sich ab und zu umdrehte, um die Leute durch Zurufe und Gesten zu ermutigen, wobei die Stimme des Anführers immer wieder von ihren Schreien und hasserfüllten Parolen übertönt wurde. Er trug eine wollene schwarze Mönchskutte und um den Hals an einem Lederband ein silbernes Kreuz. In einer Hand hielt er einen eigentümlich geschnitzten Schwarzdorn-Stecken.

Der Mob trieb seinen Gefangenen mit unsanften Stößen die Hauptstraße des Dorfes entlang, die gesäumt war von armseligen dunklen Häusern, wie sie für viele ländliche Siedlungen in dieser Gegend typisch waren. Vor manchen Haustüren standen schweigende Gaffer. Als die aufgebrachte Menge sich einem der Häuser näherte, flog die Tür auf; eine junge Frau, die sich offensichtlich aus dem festen Griff mehrerer Frauen losgerissen hatte, stürmte ins Freie und eilte auf einen gut aussehenden jungen Mann zu, der gerade vom Pferd gesprungen war und sich dem stämmigen Mönch in den Weg stellte. Zwei muskulöse Kerle packten ihn an den Armen. Er versuchte verzweifelt, die beiden abzuschütteln, doch sie hielten ihn fest umklammert.

»Bruder Gadra!«, schrie er. »Ich befehle dir, dem ein Ende zu setzen. Hör auf mit diesem Wahnsinn!«

Der Mönch blieb abrupt stehen, so dass der Mob hinter ihm unfreiwillig anhalten musste und sein wütendes Gejohle allmählich verebbte.

Bruder Gadra wandte sich mit zusammengekniffenen Augen zu dem jungen Mann um und zischte: »Ich tue hier Gottes Werk und sorge für Gerechtigkeit; eigentlich wärst du dafür zuständig, Fethmac von Cloichín.«

»Ich bin der bó-aire, der Schultheiß dieses Dorfes. Ich bin hier der Vertreter des Gesetzes.«

Bruder Gadra warf den Kopf zurück und lachte spöttisch.

»Der Schultheiß, was du nicht sagst«, höhnte er. »Du bist ja fast noch zu jung, um dich zu rasieren. Was weißt du denn schon von Gerechtigkeit? Du kennst nicht mal das einheimische Gesetz und bist völlig ungeeignet, als Brehon aufzutreten und von deinen Mitmenschen Respekt einzufordern. Jedenfalls hast du keine Ahnung von den Gesetzen der Kirche, nach denen wir alle leben sollten; wir können allein auf unseren höchsten Richter und Schöpfer vertrauen.«

Der junge Mann namens Fethmac ging nicht auf Bruder Gadras herablassenden Tonfall ein.

»Ich kenne meine Pflichten, Bruder. Und ich sage es noch einmal: Als euer Schultheiß bin ich der Einzige hier, der im Namen von Recht und Gerechtigkeit sprechen darf. Was ihr da tut, ist falsch. Lasst diesen Mann frei.«

Er deutete auf den Gefangenen, der jetzt mit Schlamm bedeckt am Boden lag, während seine Peiniger ein Ende des Seils in Händen hielten.

Angesichts der Autorität in den Worten des jungen Schultheiß’ machte sich in der Menge Unruhe bemerkbar.

»Du glaubst also, diese … diese Bestie … ist ein Mensch?«, höhnte Bruder Gadra. »Du glaubst, er hat irgendwelche Rechte? Er ist eine Bestie, ein hirnloses Tier – das sieht man schon an dem, was er getan hat.«

Die Selbstgefälligkeit des Mönchs stachelte Fethmac zum Widerspruch an.

»Er ist ein Mensch, der dem Gesetz untersteht und das Recht hat, sich zu verteidigen. Lasst ihn frei, sage ich!«

»Und ich sage, das werden wir nicht tun! Der Tod ist sein Lohn«, schrie Bruder Gadra. »Steht nicht im Levitikus, unserem Heiligen Buch: ›Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll der Todes sterben?‹1 Er hat getötet, also muss er sterben!«

Bruder Gadras lautstarke Ankündigung löste zustimmendes Gemurmel aus.

»Unser Gesetz verlangt eine Gerichtsverhandlung und Beweise, bevor ein Mensch für schuldig befunden wird«, rief der Schultheiß und versuchte erneut, sich aus dem Griff seiner Häscher zu befreien. »Dieser Mann wurde nicht verurteilt.«

»Wir haben ihn aber bereits verurteilt«, blaffte Bruder Gadra ihn an. »Wie schon Hesekiel sagt: ›Denn welche Seele sündigt, die soll sterben.‹2 So sei es. Er soll sterben – und zwar sofort.«

Er nickte den beiden Männern zu, die den Schultheiß festhielten, und sie zerrten ihn mit Gewalt beiseite. Dann wandte sich Bruder Gadra zu der Menge um, denn er befürchtete, dass der Auftritt des Schultheiß’ sie in ihrer hitzigen Entschlossenheit verunsichert haben könnte. Mit fanatischem Blick hielt er sein silbernes Kruzifix in die Höhe, so dass alle es sehen konnten.

»Wir sind dabei, das Werk unseres Herrn zu vollenden«, rief er mit Donnerstimme. »Lasst euch nicht vom Pfad der Rechtschaffenheit abbringen, denn im Heiligen Buch steht geschrieben, und zwar ohne jede Einschränkung, dass Töten mit dem Tod bestraft werden soll. So verlangt es Gott – und ist hier jemand unter euch, der Gott zu widersprechen wagt?«

Seine hasserfüllten Worte wiegelten die Menschen erneut auf, und wieder wurden sie zu einem gefährlichen Mob, der nach Blut lechzte.

Zufrieden deutete Bruder Gadra zum Ende des Dorfes, von wo ein Pfad auf einen kleinen Hügel führte.

»Möge das Wahrzeichen eurer Gegend fortan einen zusätzlichen Zweck erfüllen. Mögen dort alle, die Gottes Gesetze übertreten, ihre verdiente Strafe empfangen!«

Er wies mit ausgestreckten Armen zu dem Baum, der oben auf der Anhöhe stand. Ein kräftiger Stamm unter einer ausladenden Krone, eine stiellose Eiche mit nur noch wenigen welken Blättern, die nicht abfallen wollten, und mit winterharten Eicheln und geraden Ästen, die wie Wegweiser in alle Richtungen zeigten. Der Baum stand offensichtlich schon seit Jahrhunderten dort und markierte das Gebiet der Gemeinde, die zu den unzähligen ländlichen Ansiedlungen der Eóghanacht Glendamnach gehörte, deren Hoheitsgebiet wiederum als eines der größten im Königreich Muman galt. Für die meisten Dorfbewohner war es ein heiliger Baum, denn solche Wahrzeichen hatte es schon in der Zeit vor der Zeit gegeben, lange bevor der Neue Glaube sich im ganzen Land verbreitete.

Man schleifte den Mann nun unter diesen Baum, wo er sich vergeblich aus dem starken Griff der beiden Dörfler zu befreien versuchte. Er schaute nach oben, und die Augäpfel in seinem dunklen, schmutzverschmierten Gesicht leuchteten weiß auf, während er voller Entsetzen auf die knorrigen Äste starrte; sie schienen sich zu ihm hinunterzuneigen, der Frucht entgegen, die bald von ihnen herabhängen würde.

»Wer hat den Strick?«, fragte Bruder Gadra.

Ein Mann trat vor und nahm den aufgerollten Strick von seiner Schulter. Er war ein kräftig gebauter Bursche mit mürrischer Miene.

»Ich habe ihn hier, Bruder Gadra.«

»Dann befestige ihn dort an dem Ast.«

Dem jungen Schultheiß, der versucht hatte, den Mob aufzuhalten, war es durch reine Willenskraft gelungen, seine zwei Bewacher hinter den anderen herzuziehen.

»Halt! Das ist Unrecht!«, brüllte er jetzt vom Rand der Menge über ihre Köpfe hinweg. »Ihr werdet euch vor dem Gesetz verantworten müssen!«

Der Mönch warf ihm einen kurzen Blick zu. »Genau wie du dich vor Gott verantworten musst«, entgegnete er. »Pass bloß auf, junger Schultheiß. Wenn du dich weiter hier einmischst, wird Gott dich womöglich gleich auf der Stelle zur Verantwortung ziehen.«

Die Menge verhielt sich erneut zögerlich. Immerhin genoss Fethmac eine gewisse Autorität im Dorf und war hier der Vertreter des Gesetzes. Hatte Bruder Gadra wirklich das Recht, ihm mit dem Tode zu drohen, was er anscheinend gerade tat?

Unverhofft löste sich ein junger Bursche, fast noch ein Halbwüchsiger, aus der Menge und näherte sich mit seltsam hüpfenden, fast tänzelnden Schritten dem Baum. Aus seiner lose um ihn flatternden Jacke zog er eine fedán, eine Rohrflöte, wie sie häufig von Schaf- und Kuhhirten gespielt wurde. Sie bestand lediglich aus einem hohlen Pflanzenstängel, den er an seine schmalen Lippen hob. Er entlockte ihr eine eigenartige Melodie, zu der seine Füße unter dem Baum einen rasenden Tanz aufführten – fast wie bei einem Ritual. Eine Weile sah die Menge sprachlos und peinlich berührt seiner Darbietung zu.

»Dulbaire! Hör sofort auf damit!« Ein älterer Mann trat vor und packte den Jungen am Arm, während er ihm mit der anderen Hand die Flöte entriss. Unter lautem Protest folgte ihm Dulbaire.

Bruder Gadra hatte die Gelegenheit genutzt, um den Mann mit dem Strick bei der Erledigung seiner grausamen Aufgabe anzutreiben. Als dieser einen Augenblick zögerte, knurrte Bruder Gadra ihn an: »Sollte jemand von euch feige kneifen wollen, dann vergesst nicht, für wessen Tod wir hier Vergeltung üben.«

Daraufhin ertönte aus zahlreichen Kehlen gedämpftes wütendes Brummen.

Nachdem der zum Henker ausersehene Mann den Blick kurz über die Menge gleiten ließ, trat er einen Schritt zurück und warf den Strick hoch in den Baum hinauf. Er schlang sich um einen Ast und fiel zurück in die offenen Hände des Werfers, der sogleich begann, eine Schlinge zu knüpfen.

»Sechs Mann ans andere Ende«, befahl der Mönch. »Los, macht schon!«, drängte er, als die Leute erneut ängstlich warteten.

Verlegen und widerwillig lösten sich mehrere Männer aus der Menge und schlurften – wie hypnotisiert von Bruder Gadras furchtbarem Blick – nach vorn. Sie ergriffen das Ende des Stricks, als wäre es eine gefährliche Bestie.

Auf ein weiteres Nicken hin zerrte man den Gefangenen unter den Ast, und der Henker legte ihm die Schlinge um den Hals und zog sie fest.

Bruder Gadra stellte sich ganz dicht vor das schluchzende Opfer.

»Gott kann keine Gnade walten lassen, denn für dein Verbrechen darf es keine Gnade geben«, verkündete er mit erhobener Stimme, so dass die Menge ihn laut und deutlich hörte. »Willst du deine Sünden beichten, bevor dir Seine schreckliche Vergeltung zuteil wird?«

»Ich hab das nicht getan«, stammelte der Mann. »Ich bin unschuldig.«

Bruder Gadra trat zurück und nickte den Helfern des Henkers zu.

»Lasst Gottes Gerechtigkeit walten … jetzt!«

Die Männer begannen zu ziehen. Die Schlinge wurde enger und erstickte das Schluchzen des Beschuldigten, während er langsam nach oben schwebte.

In diesem Augenblick durchschnitt eine kalte Frauenstimme das Schweigen, das sich über alle Anwesenden gebreitet hatte.

»Hört auf! Hört auf und lasst den Strick los, oder der Zorn eures Königs und die Strafe des Gesetzes werden euch treffen!«

Ob der unerwarteten Stimme und der Autorität, die sie ausstrahlte, zuckten die Henkersknechte zusammen und erstarrten vor Schreck, bevor sie den Strick durch ihre Hände gleiten ließen, bis die verzweifelt zuckenden Füße des Opfers wieder Halt auf dem schlammigen Boden fanden. Offenbar hatte es allen die Sprache verschlagen. Selbst Bruder Gadras blutrünstiges Geschrei verstummte.

Eine Gestalt hoch zu Ross war plötzlich aufgetaucht, als habe sie hinter der Eiche gelauert, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit war. Die Schaulustigen rangen beim Anblick der Reiterin nach Luft, denn die Kapuze ihres schweren Wollumhangs war verrutscht und gab ihr volles, in Unordnung geratenes rotes Haar frei. Ihr Gesicht wirkte versteinert wie weißer Marmor, und ihre blaugrünen Augen schauten mit stechendem Blick auf sie herab.

»Was jetzt?«, fragte Eadulf von Seaxmund’s Ham und starrte auf die ausgebrannten Überreste des einstigen Gasthauses; hier hatte er häufig Rast gemacht, wenn er auf der Passstraße unterwegs war, die man als Weg des heiligen Declan oder Declans Weg kannte. Die Passstraße führte durch die erhabenen, abweisenden Gipfel der Cnoc Mhaoldomhnaigh, der kahlen braunen Berge.

Fidelma von Cashel, die neben ihm auf ihrem gallischen Pferd saß, schüttelte den Kopf und seufzte.

»Das Feuer kann erst vor Kurzem hier gewütet haben«, bemerkte sie, während sie die verkohlten Ruinen betrachtete, ohne direkt auf seine Frage zu antworten.

Sie hatten gerade einige Tage in der Abtei Lios Mhór verbracht, um an den Feierlichkeiten zu Ehren von Äbtissin Gobnait von Muscraige teilzunehmen. Obwohl die Äbtissin bereits seit anderthalb Jahrhunderten tot war, fand in der berühmten Abtei alljährlich eine Gedenkfeier für sie statt, auch wenn ihre Bedeutung für Lios Mhór eher gering war. In erster Linie hatte sie der Abtei ihr Wissen über die Bienenzucht zur Verfügung gestellt, und sie hatte Honig für Heilzwecke verwendet und damit verhindert, dass die Bewohner in der Umgebung von einer Seuche befallen wurden. Dafür hatte man sie heiliggesprochen, und sie wurde jedes Jahr gebührend geehrt. Sitte und Anstand geboten es, dass dabei ein Mitglied des amtierenden Königshauses anwesend war. Fidelma, die Schwester von Colgú, dem König von Muman, dem größten und südwestlichsten Königreich der Fünf Königreiche von Éireann, hatte diese Verpflichtung in Begleitung ihres Ehemannes Eadulf erfüllt. Jetzt waren sie auf dem Rückweg nach Norden, nach Cashel, dem Regierungssitz des Königs.

Der direkte Weg war keine einfache Strecke, sondern wand sich hinauf bis in über eintausend Meter Höhe und auf der anderen Seite der Bergkette wieder hinunter. Declan, der vor zweihundert Jahren Abt von Ard Mhór an der Küste gewesen war, hatte den Bergpass angeblich benutzt, um von seiner Abtei aus dem König von Cashel Besuche abzustatten.

Fidelma und Eadulf hatten die Berge schon mehrmals überquert und waren fast immer in dem kleinen Gasthaus gewesen. Nun boten seine geschwärzten Ruinen einen trostlosen und unheilschwangeren Anblick.

»Was denkst du?«, fragte Eadulf schließlich. »Hat das jemand mit Absicht getan?«

»Es ist nicht ungewöhnlich, dass in einem Gasthaus ein Feuer ausbricht«, entgegnete Fidelma. »Man soll nicht immer gleich an böse Absichten denken. In Küchen beginnt es oft zu brennen – genau deshalb liegt hierzulande die Küche meist in einem Nebengebäude außerhalb des Wohnhauses.«

Eadulf besah sich die verkohlten Überreste ganz genau. »Zumindest sehe ich keine Anzeichen von Toten.«

»Und auch keinen offensichtlichen Grund, warum jemand ein abgelegenes Gasthaus zerstören sollte, das von so vielen Reisenden auf ihrem Weg über den Pass aufgesucht wird, um zu rasten und sich zu stärken. Folglich kann es sich hier durchaus um einen Unglücksfall handeln.«

»Unglücksfall oder nicht, ich hatte mich schon auf etwas Wärme und eine Stärkung gefreut«, antwortete Eadulf erschöpft. »Dies ist ein unwirtlicher Monat. In meiner Sprache nennt man ihn Solomonath, Monat des Schlamms.«

Fidelma hob fragend eine Augenbraue. »Ich dachte, ihr nennt ihn Februarius?«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Das ist Latein, der Monat der Sühne. Mit der Ausbreitung des Neuen Glaubens werden lateinische Namen heutzutage immer beliebter.«

»Bei uns ist das eher nicht so. Wir nennen diesen Monat Mí Faoide, den Monat von Schlaf und Ruhe, und das beschreibt ganz konkret, was wir in dieser Jahreszeit tun sollten: Kraft tanken für den Frühling, der kurz bevorsteht.«

Eadulf verzog müde das Gesicht. »Tja, wie auch immer der Name lautet, wir müssen uns anderswo ausruhen und stärken.«

Während sie noch auf die Ruinen starrten, hörten sie das Gebimmel kleiner Glöckchen und drehten sich um. Ein Stück den Abhang hinunter weidete eine Herde robuster Bergschafe. Ein Junge mit einem Hirtenstab lief zwischen ihnen hin und her und lotste sie um ein paar Felsbrocken herum, die ihn anfangs vor Fidelmas und Eadulfs Blicken verborgen hatten.

»Hóigh!«, rief Eadulf, um ihn auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen.

Der Hirtenjunge schaute verdutzt nach oben. Dann senkte er, sehr zu ihrem Erstaunen, den Kopf und kümmerte sich weiter um seine Arbeit.

Eadulf sagte irritiert: »Er hat uns doch gehört. Hat er vielleicht Angst vor Fremden?«

»Manchmal macht es sich bezahlt, vor Fremden auf der Hut zu sein«, antwortete eine dumpfe Stimme unmittelbar hinter ihnen.

Sie zuckten vor Schreck zusammen und wirbelten herum; auf einem Hang auf der gegenüberliegenden Seite des Weges saß ein Mann auf einem Stein.

Er war mittleren Alters, hatte von Wind und Wetter gebräunte Haut, langes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und einen Bart, der fast sein ganzes Gesicht bedeckte. Er hatte einen Hirtenstab bei sich, und auch wenn seine Aufmachung so halbwegs der üblichen Kleidung eines Schafhirten entsprach, lag doch etwas in seiner Erscheinung, was nicht ganz zu seiner Rolle passte. An seinem Gürtel trug er an einer Seite eine Scheide mit einem breiten Messer und an der anderen einen Köcher mit Pfeilen. Auf seinem Rücken hing ein mittelgroßer Bogen aus Eschenholz.

»Warum sollten Schafhirten vor Fremden auf der Hut sein?«, fragte Fidelma.

»Auf Declans Weg häufen sich in letzter Zeit Überfälle und Diebstähle«, erwiderte der Mann. »Meinem Jungen dort unten«, fuhr er fort und zeigte in Richtung der Schafherde, »habe ich eingebläut, sich auf dieser Strecke vor Fremden in Acht zu nehmen.«

»Willst du damit sagen, dass man Reisende überfallen und ausgeraubt hat?«, fragte Eadulf.

»Ganz genau«, bestätigte der Mann sofort, erhob sich und kam den Hang hinunter, bis er nur wenige Meter unter ihnen stand. Dort hielt er inne und lehnte sich auf seinen Stab. Er kniff seine strahlenden Augen misstrauisch zusammen, während er ihre Kleidung musterte, besonders Fidelmas edlen Umhang aus Biberpelz, unter dem der goldene Halsreif hervorlugte, den sie als Schwester des Königs von Muman und als seine Abgesandte tragen durfte. Eadulf war in eine schlichtere, aus gefärbter Wolle gewebte Mönchskutte gehüllt, und seine nach römischer Art rasierte Tonsur verriet, dass er keiner der einheimischen Kirchen angehörte.

»Ihr seid vermutlich auf dem Weg nach Cashel?«

»Im Augenblick suchen wir einen Ort, an dem wir uns auf unserer Reise ein wenig stärken können«, erwiderte Fidelma.

»Du sprichst von Überfällen und Diebstählen.« Bei diesen Worten deutete Eadulf auf die Ruinen des Gasthofs. »Ist das auch mit dem Gasthaus geschehen? Wurde es überfallen und ausgeraubt? Was genau ist hier passiert?«

Der Schafhirte antwortete schelmisch: »Wie du siehst, Fremder, ist das Gasthaus abgebrannt.«

Eadulf hob beide Augenbrauen und wollte gerade ärgerlich reagieren, als Fidelma sich einmischte.

»Wir kannten diesen Ort; hier konnte man immer gut einkehren, essen und sich ausruhen. Wie ist es möglich, dass dieses Gasthaus abbrannte, wo es doch seit einer Generation immer unbehelligt hier stand?«

Der Schafhirte seufzte. »Heißt es nicht: Schütze, was du bewahren willst?«

»Ja, so heißt es«, bestätigte Fidelma, »aber was willst du damit sagen?«

»Eines Nachts brach Unheil über das Gasthaus herein, und zwar, weil man es nicht bestmöglich geschützt hatte. Man hatte vergessen, eine Laterne in der Küche zu löschen, und man hatte sie nicht achtsam genug aufgehängt, also nicht an einem Platz, an dem sie keinen Schaden anrichten konnte. Also ist ein Schaden entstanden. Bis der Gastwirt Béoán und seine Frau Cáemell aufwachten, brannte alles lichterloh, und sie kamen nur knapp mit dem Leben davon. So habe ich es zumindest gehört.«

»Sie haben überlebt?«

»Ja.«

»Waren keine Gäste im Haus?«

»Nein. Aber sie mussten hier alles aufgeben und fanden bei Béoáns Bruder auf der anderen Seite des Cnoc na gCloch Unterschlupf.«

Eadulf runzelte die Stirn. »Dann gibt es jetzt kein Gasthaus mehr an dieser Passstraße?«

Der Schäfer zuckte die Schultern. »Nein, nicht hier in der Nähe, es kommt also drauf an, in welche Richtung ihr reitet.«

»Nach Cashel natürlich, wie du schon richtig vermutet hast«, antwortete Eadulf leicht gereizt.

»Dann kenne ich keinen Ort, an dem man euch gastfreundlich aufnehmen wird, außer unten in der Ebene in Ard Fhionáin am Ufer des Flusses Suir.«

»Das ist noch ziemlich weit weg«, murrte Eadulf.

»Am besten folgt man dem Weg nach Osten, sobald man die Gabelung ein Stück weiter vorn erreicht hat. Der Pfad schlängelt sich den Abhang hinunter«, riet ihnen der Schäfer.

»Wir kennen den Weg«, bestätigte Fidelma.

Sie dankten dem Mann für seine Hilfe und setzten ihre Reise fort, wohl wissend, dass er, die Hände in die Hüften gestemmt, dastand und ihnen hinterherstarrte.

Sobald sie die Flanke des nächsten Berghangs umrundet hatten, erreichten sie die Stelle, an der der Weg sich gabelte; ein Pfad fiel steil bergab Richtung Nordosten und führte zur Abtei Ard Fhionáin, wie Eadulf wusste. Der andere führte nach Nordwesten, und Eadulf war dort noch nie entlanggekommen.

Ein kleines Weilchen genoss es Fidelma, schweigend auf ihrem Pferd zu sitzen, als warte sie auf etwas.

»Was ist los?«, wollte Eadulf wissen.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz stimmte mit diesem sogenannten Schafhirten.«

Eadulf nickte nachdenklich. »Ja. Mir fiel vor allem auf, dass er mehr Waffen bei sich trug als ein gewöhnlicher Schäfer.«

»Lass uns weiterreiten«, sagte Fidelma entschlossen. »Aber wir nehmen den Weg nach Nordwesten.«

»Diese Strecke kenne ich nicht. Hast du irgendwas gegen Ard Fhionáin?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Fidelma, »abgesehen davon, dass das die Strecke ist, die, wie du weißt, die meisten Reisenden wählen. Falls es hier Diebe und Räuber gibt, wovor der Schäfer uns ja gewarnt hat, dann würden sie ihren Opfern höchstwahrscheinlich genau dort auflauern. Deshalb denke ich, wir sollten den Abzweig meiden.«

»Ausgetretene Pfade sind die besten … Ist das nicht eine alte Redensart?«

»Worauf ich hinauswill«, erklärte Fidelma geduldig, »ist, dass es keinen großen Umweg für uns bedeutet, wenn wir uns für die andere Strecke entscheiden.«

»Weißt du denn, wohin der andere Abzweig führt? Gibt es unterwegs ein Gasthaus?«

Fidelma zuckte die Schultern. »Ich erinnere mich, dass am Fuß des Berges ein kleines Bauerndorf liegt – wenn wir nach Nordwesten reiten. Das letzte Mal war ich vor vielen Jahren da, aber der Pfad führt an einem wunderschönen See vorbei, und auf dem Weg nach unten haben wir einen großartigen Blick über die Ebene bis nach Cashel. Ich bin sicher, dass wir in dem Dorf um Gastfreundschaft bitten können.«

»Und was macht dich so sicher?«

»Bei der letzten Ratsversammlung der Brehons traf ich einen jungen Mann, der dort wohnt. Er war gerade zum Schultheiß ernannt worden. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich bin überzeugt, er kennt seine Pflichten gegenüber einer dálaigh, die auf der Durchreise ist. Soweit ich mich erinnere, war es ein schöner Ort, jedenfalls im Sommer … Er ähnelte Fands geheimnisvollem Garten3

Eadulf konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Ich verzichte gern auf einen Umweg durch die Anderwelt und auf die Begegnung mit einer Göttin, wie zauberhaft ihr Garten auch sein mag. Bei dieser Kälte sehne ich mich nach behaglicher Wärme, einem Essen und einem bequemen Bett für die Nacht.«

»Das kann ich dir garantieren«, entgegnete Fidelma lächelnd.

Trotz ihrer Unbeschwertheit machte sich Eadulf beim Weiterreiten so seine Gedanken, besonders über das niedergebrannte Gasthaus und den seltsamen Schäfer.

Der Weg führte jetzt abwärts, wovon man anfangs kaum etwas merkte, und schlängelte sich an den Seiten der Hügel hinunter, bis er ein breites flaches Tal mit einem unergründlichen See erreichte. Durch die tiefhängenden, regenschweren Wolken wirkte die Wasseroberfläche bedrohlich und düster. Pflanzen wuchsen nur spärlich, abgesehen von einigen wenigen Schwarzdornhecken, die mit ihren harten gelben Stämmen und den grausamen Dornen stellenweise so hoch wurden wie kleine Bäume. Ringsum streckten hier und da ein paar schwarze, nicht essbare Pilze ihre steifen Finger nach oben, als wollten sie die Vorübergehenden vor ihren giftigen Eigenschaften warnen.

Während sie den Berg hinunterritten, wurde es zunehmend kälter, da sie sich nun im Schatten der Berge befanden – und der eisige See verstärkte das Kältegefühl noch obendrein. Fidelma ritt ein Stück voraus und hielt an der Hügelkuppe an. Eadulf gesellte sich zu ihr; von hier aus bot sich ihnen ein grandioser Blick. Bei klarem Himmel und Sonnenschein konnte man über die gesamte weitläufige Fläche schauen – die riesige Ebene von Femen. Ihr fruchtbarer Boden war die Grundlage für Wohlstand und Macht in Colgús Königreich und der Grund dafür, dass die Könige der Eóghanacht einst Cashel zum Regierungssitz gewählt hatten, um von da aus das umliegende Land zu beherrschen. Die Ebene von Femen war Schauplatz zahlreicher Legenden aus der Zeit vor der Zeit, als Bodb Dearg, der Sohn des mächtigen Gottes Dagda, sich hier niederließ.

Fidelma deutete ins Tal. »Da liegt Cloichín. Es ist einfacher, als es aussieht, dort hinunterzukommen«, versprach sie, denn sie wusste, dass Eadulf kein sonderlich geschickter Reiter war, auch wenn er im Laufe der Jahre dazugelernt hatte. Man musste achtsam sein, wenn man zu Pferd einen so steilen Hang hinunterritt.

Eadulf folgte mit den Augen ihrem ausgestreckten Arm. Jenseits der Ansammlungen von Häusern, am anderen Ende der gewaltigen Ebene, erkannte er noch schemenhaft Bäume und dunkle Linien, die Flüsse sein konnten, und teilweise sogar Mauern. Weit, unendlich weit dahinter erhoben sich dunkle Schatten, doch selbst diese waren verdeckt von den wabernden Regenwolken, die vor ihnen übers Land getrieben wurden und große Teile davon einhüllten.

Fidelma sah sein Stirnrunzeln, während er in die Ferne schaute.

»Sléibhte na gCoillte«, sagte sie und beantwortete damit seine unausgesprochene Frage.

»Die Waldberge?«

Sie nickte. »Die Straße nach Cashel verläuft an ihrer östlichen Flanke.«

»Also sind wir gar nicht so weit von Cashel entfernt?«

»Wenn sich das Wetter ändert und der Zustand der Wege sich verschlechtert, dürften wir zwei Tage brauchen, um die Ebene bis nach Cashel zu durchqueren. In unwegsamem, schlammigem Gelände können Pferde nur im Schritt gehen, wobei ihre Geschwindigkeit kaum schneller ist als die eines Menschen. Folglich macht dieser Monat dem Namen, den dein Volk, Eadulf, ihm gegeben hat, tatsächlich alle Ehre – der Monat des Schlamms.«

Eadulf seufzte. »Soweit ich da unten etwas sehen kann, wirkt die Ebene trostlos; selbst die Vegetation scheint völlig farblos zu sein.«

»So ist das nun mal in dieser Jahreszeit, doch wenn die Sonne schiene, könnten wir stellenweise Pflanzenteppiche erkennen, die aus üppigen grünen Flechten bestehen; bei dieser Witterung überziehen riesige Matten aus Moosen den Boden. Wenn wir unten angekommen sind, wirst du sehen, wie sich die Landschaft verändert; Wiesenrispengras, Kreuzkraut und Hirtentäschel, sie alle zeigen noch ihr winterliches Grün, aber nicht mehr lange. Wenn die Landschaft hier blüht, ist sie wie ein großer grüner Garten mit wunderschönen Farbsprenkeln überall.«

Bald stellte sich heraus, dass Fidelma die Zeit, die sie brauchten, um bis zum Fuß des Berges zu kommen, richtig geschätzt hatte. Sie erschien ihnen wie eine Ewigkeit, denn sie mussten vorsichtig reiten und erreichten nicht einmal Schrittgeschwindigkeit; der Weg nach unten wand und schlängelte sich in so scharfen Kurven, dass sie häufig absteigen und ihre Pferde über die schwierigsten Strecken führen mussten. Endlich gelangten sie in ebenes Gelände, und Eadulf sah Ginster, der nur darauf wartete, aufzublühen und seine leuchtende Farbenpracht zu zeigen, und erste Farnwedel, die büschelweise ans Licht drängten. Ansonsten zeigte sich die Landschaft so, wie man es in diesem Monat erwarten konnte.

Am Ende des Bergpfades wunderte sich Eadulf über die Zahl der steinernen Grenzmauern im Tal und machte Fidelma darauf aufmerksam.

»Das ist eine steinige Gegend«, antwortete sie. »Wenn man sich weiter von den Bergen entfernt und über die Ebene reitet, verschwinden die Steine allmählich, doch sie haben der Siedlung, die wir besuchen, ihren Namen gegeben: Cloichín, der steinige Ort. Die Bauern ringsum benutzen die Steine zum Bau von Grenzmauern rund um ihren Grund und Boden.«

»Steinerne Grenzmauern? Ist das nicht ungewöhnlich in diesem Teil des Königreichs?«

»Wir befinden uns, was die Landwirtschaft betrifft, in einer reichen Gegend. Die Gesetzestexte über Zaun- und Grenzziehungen, die Cóir Anmann, legen ganz konkret die vier Arten von Grenzzäunen fest, die erlaubt sind, und reiche Höfe haben üblicherweise Steinmauern.«

»Dann hoffen wir mal, dass der Reichtum sich auch auf die Gastfreundschaft auswirkt, mit der man uns hier empfangen wird«, sagte Eadulf, der wieder besserer Laune war. Plötzlich zügelte er sein Pferd, neigte den Kopf zur Seite und lauschte angestrengt. »Das klingt wie ein Wasserfall«, sagte er und spähte zu einer Gruppe von Bäumen, die den Blick auf das dahinterliegende Land versperrten.

»Das ist der Fluss Duthóg, den wir durchqueren müssen. Er fließt südlich des Ortes.«

Eadulf verzog das Gesicht. »Das Rauschen des Wassers gefällt mir gar nicht. Bedeutet Duthóg nicht ›schwieriger Fluss‹?«

Fidelma lachte. »Ich wundere mich manchmal, was du alles weißt, Eadulf. Aber mach dir keine Sorgen. Der Fluss fließt durch ein seichtes Kiesbett und ist deshalb in dieser Jahreszeit reißend und laut, aber nicht tief. Das Hauptdorf liegt direkt dahinter und wurde eigentlich zwischen zwei Flüssen erbaut, dem Duthóg hier und dem Teara im Norden, der tiefer ist und voll mit Lachsen und Forellen. Die beiden Flüsse vereinigen sich irgendwo und münden schließlich weiter östlich, bei Ard Fhionáin, in den Fluss Suir.«

Hinter dem Wäldchen lag das Flussufer. Der Fluss entsprach genau Fidelmas Beschreibung. Das Wasser reichte kaum bis an die Fesseln ihrer Pferde, als sie hindurchwateten. Auf der anderen Seite stieg das Gelände zu einer Anhöhe an, auf deren höchstem Punkt eine große Eiche aufragte. Fidelma ritt als Erste den Hügel hinauf, blieb jedoch plötzlich stehen und schrie: »Hört auf! Hört auf und lasst den Strick los, oder der Zorn eures Königs und die Strafe des Gesetzes werden euch treffen!«

Eadulf erschrak, riss sich jedoch sogleich zusammen und eilte hinter Fidelma her. Von oben konnte er die Häuser des Dorfes überblicken, und unmittelbar unterhalb ihres Standorts hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Die Menge starrte stumm zu ihnen hinauf, Fidelmas mit machtvoller Stimme befohlene Anweisung hatte sie zum Schweigen gebracht. Eadulf bemerkte vor den Versammelten eine Gestalt in einer Mönchskutte und am Fuß des Baumes mehrere Männer, die dabei gewesen waren, etwas mit einem kräftigen Strick an einem vorspringenden Ast in die Höhe zu ziehen, und jetzt wie gelähmt dastanden. Der Strick war um den Hals eines Mannes geschlungen, dessen Füße zuckend in der Luft hingen. Er drohte jeden Moment zu ersticken.

Kapitel 2

Zunächst herrschte betroffenes Schweigen, das schließlich der Mönch, Bruder Gadra, als Erster brach. Zornig verzog er sein ohnehin schon vor Wut gerötetes Gesicht.

»Wie kannst du es wagen, Frau, Befehle zu erteilen und dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich überhaupt nichts angehen!«, blaffte er Fidelma an. Dann drehte er sich zu den Männern um, die den Strick gelockert hatten, und befahl: »Bringt eure Aufgabe zu Ende.«

Die Männer rührten sich nicht.

»Bringt Gottes Werk zu Ende, sage ich euch!« Bruder Gadras Stimme überschlug sich vor Jähzorn.

Der junge Schultheiß Fethmac, dessen Arme nach wie vor von den zwei Männern neben ihm festgehalten wurden, versuchte sich erneut aus ihrem Griff zu befreien.

»Lasst das Seil los! Vor euch steht die Schwester des Königs!«, rief er aufgeregt. »Vor euch steht Schwester Fidelma von Cashel!«

Einer der Männer, die den Strick in Händen hielten, ließ sofort los und riss erschrocken die Augen auf, als ihm klar wurde, wer sie war und welche Befugnisse sie hatte. Unter den Versammelten erhob sich nervöses Gemurmel. Widerwillig ließen weitere Männer den Strick los, und der Körper ihres halb bewusstlosen Opfers plumpste zu Boden, als der Letzte von ihnen sein Gewicht nicht mehr halten konnte.

»Lockert den Strick, damit er wieder Luft bekommt«, befahl Fidelma.

»Wartet!«, schrie Bruder Gadra. »Du hast hier nichts zu sagen, auch wenn du mit dem König verwandt bist. Jemand nannte dich eben Schwester Fidelma. Warum bist du dann nicht wie eine Nonne gekleidet? Hast du deine Religion etwa aufgegeben? Du hast nicht das Recht, uns vorzuschreiben, was wir tun dürfen. Als Vertreter der Kirche bin ich dir gegenüber weisungsbefugt.«

Fidelma musterte den jähzornigen Mönch mit eisigem Blick.

»Ich habe aufgehört, eine Nonne zu sein; ich habe das Nonnengewand abgelegt, nicht aber meine Religion«, entgegnete sie aufgebracht.

»Das ist doch ein und dasselbe«, spottete Bruder Gadra. »Du hast den Glauben aufgegeben, und deshalb bist du diejenige, die zu verdammen ist.«

»Bruder Gadra«, rief Fethmac, »hast du wirklich noch nie davon gehört, dass Fidelma das Amt einer dálaigh bekleidet und einen ausgezeichneten Ruf als Rechtsberaterin des Königs von Muman genießt? Ich kann deine Unwissenheit nur auf die Tatsache zurückführen, dass du erst kürzlich in unser Land zurückgekehrt bist und davor viele Jahre im Reich der Franken verbracht hast.«

Bruder Gadra starrte Fethmac an; zum ersten Mal hatte es ihm die Sprache verschlagen. In diesem Moment erkannte Fidelma, dass sie die Menge jetzt im Griff hatte.

»Eadulf, schau doch bitte mal, ob du dem armen Kerl da vorn helfen kannst.« Sie deutete auf den Gefangenen, der am Boden lag und kaum Luft bekam, weil der Strick ihm noch immer den Hals einschnürte. Eadulf schwang sich vom Pferd, und Fidelma drehte sich zu den Anwesenden um und musterte sie voller Zorn. Einige stierten missmutig drein, andere ließen schuldbewusst den Kopf hängen und wichen ihrem Blick aus.

»Seht ihr die Farbe seiner Haut?«, kreischte Bruder Gadra plötzlich. »Er ist ein Tier. Er ist nicht von hier. Er hat bei uns keine Rechte.«

»Alle Menschen haben Rechte, egal, woher sie kommen«, entgegnete Fidelma empört. »Als Mönch und Christ solltest du das wissen.« Dann wandte sie sich an die Versammelten. »Lasst euern Schultheiß augenblicklich frei und geht nach Hause. Ich werde herausfinden, wie es zu dieser Gräueltat kommen konnte.«

Die beiden Männer, die Fethmac gepackt hatten, ließen ihn sofort los, als hätten sie sich an ihm die Finger verbrannt. Die Menge begann sich in Zweier- und Dreiergrüppchen zu zerstreuen, bis nur noch der junge Schultheiß und der finster dreinblickende Mönch übrig waren. Als Fidelma absaß, wich Bruder Gadra nicht von der Stelle, während Fethmac zu ihr hinübereilte und sich vorstellte.

»Lady, mein Name ist Fethmac. Wir haben uns kürzlich auf einer Zusammenkunft von Rechtsgelehrten kennengelernt. Gott sei Dank, dass du hier aufgetaucht bist.«

Fidelma nickte. »Ich habe dich wiedererkannt. Auf dem besagten Treffen in Ard Fhionáin ging es um die gesetzliche Regelung von Grenzziehungen. Erklär mir, warum du die Dorfbewohner nicht unter Kontrolle hattest. Bist du dafür nicht ausreichend ausgebildet? Erkennen sie deshalb deine Autorität nicht an?«

Der junge Mann entgegnete verzagt: »Lady, ich bin sehr wohl gut ausgebildet und habe vier Jahre lang Rechtswissenschaft studiert – aber hier wurde ein Verbrechen begangen, das die Leute dermaßen erzürnt hat, dass sie nicht mehr vernünftig denken konnten. Diesen gewaltigen Zorn hatte ich genauso wenig unter Kontrolle wie sie selbst.« Er hielt inne, deutete auf den untersetzten Mönch und fügte verbittert hinzu: »Bruder Gadra, der noch nicht lange bei uns ist, duldete ausdrücklich ihre Absicht, das Gesetz zu übertreten, und spornte sie dadurch geradezu an, sich über meine Ermahnungen hinwegzusetzen.«

Fidelmas Augen blitzten wütend, als sie auf den Mönch zuging. Doch Eadulf hatte sich gerade erhoben – er hatte neben dem Opfer gekniet, das nach wie vor am Boden lag und nur mit Mühe Luft bekam – und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.

»Wir sollten diesen Burschen an einen wärmeren Ort bringen. Wohnt er in der Nähe?«

Fethmac schüttelte den Kopf. »Er hat hier kein Zuhause. Er ist ein ráithech – ein Wanderarbeiter.«

»Gibt es im Ort eine Herberge?«, fragte Fidelma.

»Es gibt nur eine Scheune gleich neben meinem Haus«, antwortete der junge Schultheiß. »Da können wir ihn einquartieren. Zumindest ist es dort trocken und warm.«

»Sehr gut.« Dann wandte sie sich an Bruder Gadra. »Du kommst auch mit uns mit, denn ich möchte ganz genau wissen, was hier vorgefallen ist und wieso jemand, der von sich behauptet, die Lehre Jesu zu predigen, einen Mordversuch billigen konnte.«

Bruder Gadra starrte sie herausfordernd an.

»Ich stütze mich auf die Autorität des Glaubens, Frau«, rief er kalt und ohne jede Spur von Reue. »Du wirst mich nicht über dein Gesetz belehren. Außerdem verlange ich, mit Vater Gadra angesprochen zu werden, denn das ist der Titel, der mir zusteht.«

Fidelma lächelte unbeeindruckt, ein gefährliches Zeichen, wie Eadulf wusste.

»Mein Gesetz? Ich stütze mich auf die Autorität des Gesetzes der Fünf Königreiche, Bruder Gadra, denn so lautet meiner Meinung nach dein korrekter Titel. Ich bin eine anerkannte anruth und stehe somit nur einen Rang unter dem Obersten Brehon dieses Königreichs.«

»Ich schere mich nicht um die Gesetze dieses Königreichs, sondern ausschließlich um die Gesetze Gottes.«

Et patrem nolite vocare vobis super terram unus enim est Pater vester qui in caelis est4