»Ich glaube, dass dies die besten Worte für einen Abschied sind. Bitte stirb nicht. Lebe.«
Während eines Aufenthalts in einer europäischen Stadt, die im weißen Winterschlaf liegt, überfällt die Erzählerin plötzlich die Erinnerung an ihre Schwester, die als Neugeborenes in den Armen der Mutter starb. Sie ringt mit dieser Tragödie, die das Leben ihrer Familie bestimmt hat, ein Ereignis, das in Bildern von Weiß wieder und wieder aufscheint: das Weiß der Muttermilch, der Windel, der reiskuchenweißen Haut des kleinen Mädchens.
Nur eine Autorin wie Han Kang vermag es, aus einer so zutiefst persönlichen Erinnerung eine große literarische Erzählung zu erschaffen: »Weiß« ist ein Buch über Trauer und die Widerstandskraft des menschlichen Daseins - Han Kangs persönlichstes Buch und zugleich ihr literarisches Meisterstück.
»›Weiß‹ ist ein tiefgründiges und kostbares Werk. Die Sprache ist schmerzlich persönlich, jedes Bild wahrhaftig und tief bewegend. Eine ungeheure Leistung, Han Kang ist ein Genie.« Lisa McInerney
Über Han Kang
Han Kang ist die wichtigste literarische Stimme Koreas. 1993 debütierte sie als Dichterin, seitdem erschienen zahlreiche Romane. Seit sie für »Die Vegetarierin« gemeinsam mit ihrer Übersetzerin 2016 den Man Booker International Prize erhielt, haben ihre Bücher auch international großen Erfolg. Auch der Roman »Weiß« war für den Booker Prize nominiert, »Menschenwerk« erhielt den renommierten italienischen Malaparte-Preis, zuletzt erschien bei Aufbau »Deine kalten Hände«. Derzeit lehrt sie kreatives Schreiben am Kulturinstitut Seoul.
Ki-Hyang Lee, geboren 1967 in Seoul, studierte Germanistik in Seoul, Würzburg und München. Sie lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.
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Weiß
Aus dem Koreanischen
Von Ki-Hyang Lee
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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1 Ich
Tür
Wickeltuch
Babyhemdchen
Mondförmiger Reiskuchen
Nebel
Weiße Stadt
Dinge im Dunkel
In Richtung des Lichts
Muttermilch
Sie
Kerze
2 Sie
Raureif
Frost
Flügel
Faust
Schnee
Schneeflocken
Ewiger Schnee
Welle
Graupelschauer
Weißer Hund
Schneesturm
Asche
Salz
Mond
Spitzenvorhang
Atemwölkchen
Weiße Vögel
Taschentuch
Milchstraße
Weißes Lächeln
Lilienmagnolien
Weiße Tablette
Zuckerwürfel
Lichter
Tausende von Silberpunkten
Glanz
Weißer Stein
Gebleichter Knochen
Sand
Weißes Haar
Wolken
Glühbirnen
Polarnächte
Lichtinsel
Weiße Rückseite eines dünnen Papiers
Auseinanderstieben
Auf die Stille
Grenzen
Schilf
Weißer Schmetterling
Seele
Reis
3 Alles weiß
Deine Augen
Totenhemd
Ältere Schwester
Wie eine Handvoll Wörter auf weißem Papier
Trauerkleid
Rauch
Stille
Untere Schneidezähne
Abschied
Alles weiß
Impressum
Als ich im Frühjahr beschloss, über weiße Gegenstände zu schreiben, machte ich mir als Erstes eine Liste:
Wickeltuch
Babyhemdchen
Salz
Schnee
Eis
Mond
Reis
Schaumkronen
Lilienmagnolien
Weißer Vogel
Weißes Lächeln
Blankes Papier
Weißer Hund
Weißes Haar
Totenhemd
Bei jedem Gegenstand, den ich notierte, hatte ich seltsames Herzklopfen. Ich fühlte, dass ich das Buch unbedingt schreiben wollte und dass mich der Schaffensprozess verändern würde. Er wäre für mich Balsam, den ich dringend benötigte, gewissermaßen weiße Salbe auf einer Wunde und Gaze, um sie zu verbinden.
Aber als ich einige Tage danach erneut die Liste durchging, fragte ich mich, welche Bedeutung die nähere Betrachtung dieser Wörter hätte.
Sie würden in mir gedreht und gewendet werden und schließlich in Form von Sätzen herausvibrieren wie fremde, klagende oder schrille Töne, die der Geigenbogen einer Metallsaite entlockt. War es mein gutes Recht, mich zwischen diesen Sätzen zu verstecken, eingehüllt in weiße Gaze?
Diese Frage war schwer zu beantworten, weswegen ich das Projekt erst einmal verschob. Im August nahm ich mir für einige Zeit eine Mietwohnung in der Hauptstadt eines mir unbekannten Landes und begann dort zu leben. Ungefähr zwei Monate später, als die Kälte beißend wurde, überfiel mich eines Abends meine altvertraute Migräne wie ein teuflischer Freund, und nachdem ich einige Tabletten mit lauwarmem Wasser hinuntergespült hatte, wurde mir klar, dass es unmöglich war, mich zu verstecken.
Hin und wieder spüre ich, wie die Zeit vergeht. Vor allem, wenn ich Schmerzen habe, bohrt sie sich schneidend in mein Bewusstsein. Die Migräne begann mich heimzusuchen, als ich ungefähr dreizehn war, und äußert sich durch heftige Magenkrämpfe, die meinen normalen Tagesablauf komplett zum Erliegen bringen. Ich verkrieche mich dann und ergebe mich dem Schmerz, während die Zeit Tropfen für Tropfen verrinnt, wie rasiermesserscharf geschliffene Edelsteinchen, die meine Fingerspitzen blutig ritzten, tippte ich sie nur an. Ich atme und spüre dabei, wie ich Augenblick um Augenblick weiterlebe. Doch noch Tage nachdem ich wieder in meinen Alltagstrott zurückgekehrt bin, schwebt dieses Gefühl wie ein Damoklesschwert über mir. Es hält kurz den Atem an und wartet.
So stürzen wir uns von einer gläsernen Klippe, von dem scharfen Grat der Zeit, der immer wieder aufs Neue entsteht. So verlassen wir den festen Grund, den unser Leben uns bis dahin geboten hat, und tun diesen letzten gefährlichen Schritt ins Leere, ohne zu zögern. Nicht weil wir besonders mutig wären, sondern weil es keine Alternative gibt. Jetzt, genau in diesem Augenblick, fühle ich die schwindlig machende Erregung. Ohne Wenn und Aber wage ich den Schritt in eine Zeit, die ich noch nicht gelebt habe, und in ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe.
Es ist schon einige Zeit her.
Bevor ich den Mietvertrag schließlich unterschrieb, besichtigte ich noch ein letztes Mal die Wohnung.
Die metallene Eingangstür musste einmal weiß gewesen sein, war mittlerweile aber vergilbt. Sie war schmutzig, und die Farbe blätterte an einigen Stellen ab, was den Blick auf den darunterliegenden Rost freigab. Wäre das alles gewesen, wäre sie mir nur ungewöhnlich alt und schäbig vorgekommen. Was mich störte, war die Art und Weise, wie die Apartmentnummer 301 darauf geschrieben war.
Jemand – wahrscheinlich einer der Vormieter – hatte mit einem spitzen Werkzeug die Ziffern in die Oberfläche geritzt. Ich sah mir die Riefen näher an. Nichts ist mir etwas wert. Nicht der Raum, in dem ich wohne, nicht die Tür, durch die ich jeden Tag gehe, und nicht einmal mein verdammtes Leben.