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Marion Petznick

Das Böse ruht nie

Ein Ostsee-Krimi

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Ostsee Krimi

Petznick, Marion: Das Böse ruht nie. Ein Ostsee-Krimi. Hamburg, edition krimi 2020

1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-946734-35-2

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ePub-eBook: 978-3-946734-36-9

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar
Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, edition krimi
Umschlagmotiv: www.pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© edition krimi, Hamburg 2020
Alle Rechte vorbehalten.
https://www.edition-krimi.de

„Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“

William Faulkner

Prolog

Sein Haus grenzte an die Rostocker Heide und lag nahe an der Ostseeküste. Soweit die Augen sahen, streckten sich mächtige Laub- und Nadelbäume in die Höhe. Dagegen wirkten die mit Schilfrohr gedeckten Häuser winzig, wie auf eine Perlenschnur gefädelt. Seines fügte sich bescheiden in die Reihe der anderen Häuser ein, ohne Blumen vor der Tür oder anderem Schnickschnack. Obwohl er die bröckelnde Hausfassade erneuern ließ, war das einzige Auffällige das Unauffällige geblieben und das harmlose Grau des neuen Anstriches hatte nichts daran geändert. Friedlich steht das Haus da und wirkt verlassen und nicht nur, weil der äußere Glanz fehlt. Längst ist die Patina, die nur den mit Leben gefüllten Häusern eigen ist, verloren.

Niemand ahnte, selbst bei näherer Betrachtung nicht, was sich an diesem Ort einst zugetragen hatte. Doch nicht nur das Haus hatte sich von einer auf die andere Minute geändert. Alles was dem Jungen wichtig war, wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ohne Ankündigung überschlugen sich die Ereignisse in seiner Familie.

Inzwischen längst im Erwachsenenalter, schien wenigstens seine kräftige Statur von Vorteil zu sein. Wie ein Schutzschild schirmte sein riesiger Körper ihn vor lauernden Blicken der Nachbarn ab. Die fragten ihn ohnehin nicht, wie es ihm in all den Jahren erging. Die meisten Leute hatten sich zurückgezogen, obgleich ihre Neugier ständig präsent blieb. Gern hätten sie gewusst, was tatsächlich am Rande des Waldes mit den Eltern geschah, damals als der Junge allein zurückblieb.

Seitdem waren einige Jahre vergangen und sie wären für den Jungen besser zu ertragen gewesen, wenn sein Körper nicht so oft von Anspannungen und Ängsten heimgesucht wurde. Ständig plagten ihn Zweifel, in deren Stunden sich sein Plan nicht umsetzen ließ. Manchmal erschien ihm selbst alles sinnlos. Immer dann, wenn sein Körper von einem zittrigen Beben gepackt wurde. Das Schlimmste an diesem Zustand war, dass er überhaupt nichts dagegen tun konnte. Ganz im Gegenteil, er wurde immer unsicherer und fiel in ein noch tieferes Loch. Jedes Mal wurde es schwieriger und es gelang ihm nur mit allergrößter Mühe aus dieser Finsternis herauszukommen. War er erst aus dem Gleichgewicht gebracht, setzte ungewollt diese altbekannte Nervosität ein. Ein erbärmlicher Zustand, den er aus seinen letzten Kindertagen kannte. Ob er wollte oder nicht, durch diese Qualen wurde er viel zu früh erwachsen.

Inzwischen hatte er gelernt, seine innere Zerrissenheit zu kaschieren. Nur wer näher mit ihm zu tun hatte, merkte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Wer ihn oberflächlich betrachtete, erkannte zwar das nervöse Zucken in den Augen, hielt das aber eher für eine Marotte oder einen Schönheitsfehler. Begann die Unruhe, mied er den direkten Blickkontakt. Generell aber hielt er dem festen Blick unbekannter Personen schlecht stand. Mit den Jahren unterließ er es deshalb, konsequent über seine seelischen Wunden zu sprechen. Manchmal sagte eine Stimme in seinem Kopf: „Vertrau dich jemandem an, das ist besser für dich, die Last der Erinnerung ist allein schwer zu ertragen.“

„Nein, das, was dir passierte, kann niemand wirklich verstehen“, gab bald darauf eine andere Stimme ihm die Antwort.

Je mehr Jahre vergingen, desto stärker wurden die Zweifel, sich überhaupt helfen zu lassen. Wer sollte das schon können? Ihn verstehen?

Als Ergebnis seiner Zwiegespräche blieben meist jede Menge Fragen zurück.

Längst hatte er die Hoffnung, so etwas wie Gelassenheit in sein Seelenleben zu bringen, begraben. Zwar wurden seine Selbstgespräche seltener, aber waren sie erst mal da, packten sie ihn mit voller Wucht. Er schien in ihnen gefangen zu sein. An manchen Tagen litt er wie ein Hund, rein gar nichts schien ihm dann zu gelingen. In diesen Momenten empfand er seine Lage ausweglos und igelte sich total ein. An anderen Tagen fühlte sich sein Herz schwer und weich zugleich an. Es gab Tage, an denen er glaubte, den Dreh für sich herausgefunden zu haben, um wenigstens etwas gelassener leben zu können. Das lag am routinierten Ablauf seiner Arbeit und den planbaren Zeiten seines Studiums. Beides sorgte für eine Balance im Alltag, die ihm gut tat. Manchmal keimte sogar ein winziger Hoffnungsschimmer auf, sein Leben könnte doch noch einen normalen Verlauf nehmen. Er hatte inzwischen gelernt, allein, ohne den Vater, dem Lehrmeister von einst, weiterzumachen. Job und Studium schienen ohnehin nur diesem einen Ziel untergeordnet zu sein, er musste das Angefangene zu Ende bringen. Ein winziges Zeichen seines Vaters würde jedoch helfen, den Sinn seines Tuns lebendig zu halten.

Seit er verlassen wurde, lebte er allein, ja fast isoliert. Er kannte es nicht anders von seinen Eltern, also hielt er es so wie sie. Zu niemanden hatten sie Kontakt, nicht mal zu den Nachbarn. Aber genauso wenig nahmen diese jetzt Notiz von dem Jungen. Er wollte unter keinen Umständen auffallen und setzte deshalb in der Wahl seiner Kleidung darauf, möglichst salopp zu erscheinen. Damit hob er sich kaum von den anderen seines Alters ab. Mit seinem sportlichen Look entsprach er dem allgemeinen Bild junger Leute auf der Straße. Aber da gab es noch die andere Seite von ihm: In regelmäßigen Abständen wiederholte er ein Ritual. Dieses Ritual ließ ihn Höhen und Tiefen gleichermaßen durchleben. Es gehörte wie Essen und Trinken zu ihm. Die Kerze am Fenster als Signal des Wartens. Warten auf ihn, seinen Vater!

Vor etwa zehn Jahren fing alles an. Sein Vater verschwand einfach so nach dem Frühstück. Knapp ein Jahr später, kam auch seine Mutter nicht von der Arbeit zurück. Anders als bei dem Vater deutete ein kurzer Brief von ihr an, dass sie fortgegangen war, um nach etwas zu suchen. Aber nach was? Wonach wollte sie suchen, allein und ohne ihn? Das verstand er als Jugendlicher nicht und suchte auch nach keiner möglichen Erklärung. Er war gerade vierzehn Jahre alt geworden. In ihrem Brief bat die Mutter den Jungen, ihr zu verzeihen. Aber verzeihen, nein, das konnte er nie.

Das Verschwinden der Mutter schien für alle Behörden eindeutig zu sein. Ähnliche Familientragödien kamen hin und wieder vor. Die Frau verließ ihr Kind, um irgendwo ein anderes, neues Leben zu beginnen. Ohne Mutter zu leben, so entschied ein Amt, sei er zu jung. Der Bruder des Vaters und eine weitläufige Tante kamen in unregelmäßigen Abständen, um ihn bei wichtigen Angelegenheiten im Haus zu unterstützen. Schnell bekamen die beiden mit, dass der Junge ihre Hilfe missbilligte und die ohnehin kurzen Besuche wurden seltener, bis sie ganz wegblieben. Der Junge igelte sich fortan ein und lebte ungestört, ohne Bevormundung der Verwandten, sein Leben weiter. Irgendwie wurde er erwachsen.

Einfachheitshalber bewohnte er von Anfang an nur den oberen Bereich im Haus. Nie würde ihm in den Sinn kommen, die einstigen Räume der Eltern zu betreten. Allerdings brachte in letzter Zeit seine Phantasie häufig Bilder zum Vorschein, die ihn mehr verwirrten als trösteten. Trügerisch ließen ihn diese Sinnbilder Umrisse seiner Eltern erkennen. Zwar halfen solche Sinnestäuschungen manchmal, mit dem Alleinsein fertig zu werden, doch meist blieb er deprimierter als zuvor zurück. Und diese Tagträume waren auch der Grund, dass er an der äußeren und inneren Seele des Hauses kaum etwas verändert hatte. Peinlichst genau achtete er auf winzigste Details. Alles sollte im Haus originalgetreu erhalten bleiben. Sämtliche Gegenstände befanden sich auf ihrem ursprünglichen Platz. Haargenau, so wie es war, als sie noch zu dritt hier lebten. Neue Möbel, Teppiche, Geschirr oder derlei Sachen brauchte er ohnehin nicht. Im Wohnzimmer stand auch noch der einstige Lieblingssessel seines Vaters, den er schon sehr früh auf besondere Weise kennengelernt hatte. Dieser Sessel blieb für ihn für immer das hässlichste Relikt aus seinen Kindheitstagen. Niemals durfte er ohne den Vater darauf Platz nehmen. Schon beim Anblick des antiken Ohrensessels lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Dieser Sessel versetzte ihn mehr als alles andere im Haus in die Tage seiner Kindheit zurück. Damals schien sein Vater ganz und gar darin zu versinken und der Junge beobachtete ihn häufig dabei. An einigen Tagen saß der Vater reglos darin und grübelte. An anderen Tagen saß er wie auf einem Thron und las konzentriert in seiner Zeitung. In den vielen Jahren des Alleinseins bemühte sich der junge Mann den Teil seiner Erinnerung, die mit diesem Sessel zusammenhingen, auszulöschen. Das gelang mal mehr und mal weniger. Fühlte er sich einsam, ging er hinters Haus, um einen Blick auf den Sessel zu erhaschen. Manchmal erschien dann das Phantombild des Vaters. Seine Silhouette in der typischen Haltung: Angespannt nach hinten gelehnt und die Hände auf seinem Bauch waren gefaltet. Er sah sie wieder, seine nervösen Augen, die mit langem Blick nach etwas gierten. Wenn er aus seinem Sessel hervorkroch, sahen seine Augen leer und kalt aus. Bei den Gedanken an diese kalten Augen seines Vaters wurde er von Ekel gepackt. Selbst der grobe Griff fiel ihm wieder ein, mit dem er ihn an Händen und Füßen packte. Die damals empfundenen Schmerzen wurden plötzlich real und deutlich zu spüren. Gab es für ihn einen Ausweg aus diesem Martyrium oder sollte er für immer darin gefangen bleiben? Unzählige Fragen tauchten wieder auf. Wo sollte er damit hin? Er blieb gefangen in der Vergangenheit, ohne Licht oder dem Gedanken an einen neuen Tag. Er musste etwas tun, um sich von seinem inneren Wirrwarr zu befreien …

Graal-Müritz im August

In der Luft lag noch immer die letzte Stille der Nacht. Die Sonne war gerade über dem Meer aufgegangen und erste Geräusche eines Tages, der gerade anbrach, wurden im Sekundentakt lauter. Noch bevor die Küstenbewohner ihre Augen richtig offen hatten, wussten sie, dass ein heißer Sommertag bevorstand. Endlich ein Sonntag, der diesen Namen tatsächlich auch verdiente. Die nicht enden wollende Hochdrucklage schob seit Wochen eine derartige Gluthitze vor sich her, dass dieser Sommer mehr an einen am Mittelmeer als an den an der Ostseeküste erinnerte. Jahrelang zeichnete kein Wetterdienst an der mecklenburgischen Küste so ein stabiles Hoch mit Werten über 30 °C auf. Der beste Grund für den Rostocker Meteorologen, Stefan Kreibohm, auf der Insel Hiddensee grienend vor der Kamera zu stehen. Selten genug hatte er so viel Gutes zu berichten. In Fachkreisen der Wetterfrösche wurde der diesjährige Sommer längst als der „Jahrhundertsommer“ gehandelt.

Faszinierende Sonnenuntergänge ließen die zuvor andauernden Regenwochen vergessen. Das waren unzählige Wochen, in denen eine unvorstellbare Menge Wasser, wie aus Kannen gegossen aufs Land klatschte. Überall in Graal-Müritz, auf den Wiesen, im Wald und selbst in den Ortschaften ringsherum, kam es zu Überschwemmungen. Blitzschnell waren die Wiesen voll mit Wasser, riesige Seenlandschaften bildeten sich und verwirrten den Blick des Betrachters, selbst Souterrainwohnungen mussten ausgepumpt werden. Über eine längere Zeit waren die Graal-Müritzer Einwohner mit außergewöhnlich hohen Schäden beschäftigt, nicht nur an den eigenen Häusern. Das viele Wasser zerstörte Pflanzen und Bäume, auch gab es Schäden im beliebten Rhododendron Park. Selbst die größte Buche im Park, um die herum sich im Sommer Lyrikfreunde trafen, um ihrer Muse freien Lauf zu lassen, wurde so stark beschädigt, dass sie ein Opfer der übermäßigen Wassermassen wurde. Obendrein durchzog ein penetrantes Lüftchen alle Ecken des Ortes. Selbst das Meer konnte den Geruch von stinkendem Morast nicht übertünchen. Die hoch gepriesene Meeresbrise, dahin war sie und das für lange Zeit. Noch schlimmer sollte es kommen, weil der eklige Geruch unzählige Insekten anzog, die kamen jetzt aus nicht erkennbaren Löchern gekrochen. Überall schienen sie sich breit machen zu wollen.

Wetterkapriolen sind an der Küste oft zu erleben. Einheimische und Touristen waren an manch ein außergewöhnliches Ereignis gewöhnt, nicht nur die Herbststürme schienen gefährlich zu sein. Aber während der stürmischen Tage dieses Sommers waren sich die Einheimischen in Graal-Müritz ausnahmsweise mal einig.

„So schlimm wier dat noch nie, all gor nich in’n Sommer“, meinte auch Karl Hansen. Er war einer von vier alten Graal-Müritzer, die sich fast jeden Abend um Punkt 19 Uhr zum Klönen auf der Seebrücke trafen. Kamen sie ins Streiten, wurden sie sich meist beim Wetter einig. Beim abendlichen Snack auf Platt kamen interessante Neuigkeiten aus dem Ort ans Licht. Trotz unterschiedlicher Meinung war immer etwas dabei, das sie eher verband als trennte. Jeder von ihnen sorgte Abend für Abend für spannenden Gesprächsstoff. Auf diese Weise standen alle vier Männer wenigstens einmal am Tag im Mittelpunkt. Allein deshalb waren ihnen diese abendlichen Treffen auf der Seebrücke wichtig, denn zu Hause gaben meist ihre Frauen den Ton an.

So war es nicht verwunderlich, dass vor allem die pikanten und frivolen Geschichten in ihrer Altherrenrunde heiß begehrt waren. Selten genug passierte etwas in dem beschaulichen Ort Graal-Müritz. Die vier Alten von der Seebrücke passten auf. Egal, ob es brannte oder ein Einbruch passierte, sie wussten über alles als erste Bescheid. Bei der Überführung harmloser Täter half der eine oder andere schon mal mit. Vor kurzem erst hatte einer von ihnen zwei Jungs erwischt, die ein geschnitztes Holztier im Klangwald zerstören wollten. Alle außer Erwin hatten ihr ganzes Leben hier verbracht, sie waren nicht weit rumgekommen.

„De Krimistoff licht bi uns up de Straat“, wusste Hansen zu berichten. Er war der Älteste der Vier. Mit seiner über jedes Ziel hinausschießenden, kriminellen Phantasie ließ er seine Freunde von der Seebrücke oft irritiert zurück. Doch die spannendsten Geschichten kannte nur er und brillierte in spannender Erzählweise täglich damit. Er wusste von kriminellen Jugendlichen genauso zu berichten, wie von aufgesetzten Hörnern manch eines Ehemanns.

„Dat is so as in anner Kaffs och. Wat fählt, is mal so ein echtet grotet Ding as vör twei Johr“, stellte Hansen spitzfindig fest. „Uns’ Urt ist väl tau ruhig, passiert rein gor nix, von den välen Touristen in’n Sommer mal ganz afseihn.“

Von der Seebrücke, dem zentralen Platz im Ort, ließen sich Neuigkeiten rasant wie ein Lauffeuer verbreiten. Erwin, der einzige Zugezogene unter ihnen, war des Plattdeutschen nicht mächtig. Heute erinnerte er an den einzigen aktiven Detektiv im Ort: „Erinnert ihr euch an Kommissar a.D. Ole Timm? Der hat ja jede Menge auf dem Faden. Wie viele Strolche der wohl inzwischen hinter Gitter gebracht hat?“

„Un nich nur in Graal-Müritz.“

„In letzter Zeit ist es etwas ruhiger um ihn geworden“, erzählte Erwin weiter. „Bestimmt will hei ok bloß mal Rentner sin“, gab Enno seinen Senf dazu.

„Nee, ick heff hürt, dat hei all wedder an einen niegen Fall an is“, ergänzte Karl Hansen.

„Wir passen ja auch noch auf, und wenn nichts passiert, helfen wir eben den Touristen“, so Erwin auf Hochdeutsch. Das sich in dieser Runde immer noch ganz befremdlich anhörte.

Im Sommer wimmelte es an der Ostseeküste nur so von Touristen und für die Alten bedeutete das jede Menge Erzählstoff. Doch am liebsten diskutierten sie, wie die meisten Alteingesessenen im Ort, über alte Zeiten.

Das war die Zeit als die Graaler und die Müritzer eigenständige Orte waren. Müritz stammt aus dem Slawischen und bedeutet so viel wie „Gegend am Meer“. Graal dagegen wurde erst viel später, 1752, in Büdnereien aufgeteilt. 1938 wurden dann beide Teile per Dekret zusammengelegt und seitdem wurde der Ort lediglich mit einem Bindestrich getrennt. Das sollte formal gesehen als Trennung genügen. Nicht so in Graal-Müritz. In den Köpfen einiger alteingesessener Einwohner gab es immer noch Barrieren. Ganz früher machte sich der Satz breit: „Die Graaler leben, aber die Müritzer müssen leben.“ Offenbar gab es noch heute einige Meinungsunterschiede von damals. Einige Einwohner sahen den Teil, in dem sie selbst wohnen, als den Schöneren an.

Doch wenigstens einte so ein lang anhaltendes Hoch alle wieder und nicht nur bei den Einheimischen herrschte Freude darüber. Nach dem schlechten Saisonstart sorgte ein Hoch für einträgliche Geschäfte bei allen im Ferienort. Die Küstenbewohner atmeten auf und der Regen schien vergessen.

Aber nicht nur das Meer stand in der Gunst der Erholungssuchenden. Genau genommen schien die Rostocker Heide höher frequentiert zu sein, als die Waldbrandstufe es hergab. Eine erfrischende Kühle mit dem Reiz der besonderen Stille lockte Urlauber und Einheimische gleichermaßen in den Wald. Einige von ihnen empfanden die Luft wie Samt und Seide. Das waren jene, denen die Natur weitaus mehr Erholung als die gnadenlose Hitze am Strand bot. Ein empfindsames Ohr gelangte zur Ruhe und weder hupende Autos noch kreischende Kinder nervten. Unter schattigen Bäumen ließ es sich lang und tief durchatmen. In aller Frühe störte keine Menschenseele den Frieden in der Rostocker Heide. Wenn da nicht eine eher seltene Meldung in der Morgenausgabe der Sonntagszeitung auf sich aufmerksam machen würde.

Die Nachricht war winzig, und wahrscheinlich wurde die Vermisstenanzeige von niemandem richtig wahrgenommen. Nur spärliche Hinweise konnte man lesen: „Wer hat junge, dunkelhaarige Frau gesehen? Seit Freitag wird sie vermisst. Wer kann Angaben machen? Bitte helfen Sie bei der Suche!“

Für die vier Alten von der Seebrücke war so eine Meldung genau das Richtige, um ihre Phantasie zum Blühen zu bringen. Endlich hatten sie eine echte Gelegenheit, ihre Spürnasen mal richtig in Einsatz zu bringen. Aber lasen sie so früh am Tag die Zeitung? Ein Sonnenanbeter sowieso nicht. Die fühlten sich von so einer knappen Nachricht an einem heißen Tag wohl kaum angesprochen, obwohl um Mithilfe der Bürger gebeten wurde. Der Schreiber hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die gesuchte Person präzise zu beschreiben. Lediglich allgemeine Angaben über Haare und Größe wurden erwähnt. Dabei wusste doch jeder, wie im Sommer die Uhren tickten. In den Orten entlang der Küste gab es jede Menge Veranstaltungen und niemand interessierte sich für eine vage Geschichte in der Zeitung. Wer das las, dachte vielleicht eher an eine Ente, die das berüchtigte Sommerloch stopfen sollte.

Rostocker Heide – Rövershagen

Am Ortseingang von Rövershagen hielt ein Auto. Zwei Personen stiegen aus, nur begleitet von einem zu kurz geratenen Vierbeiner. Unvermittelt blieb die Frau auf dem Hauptweg, der direkt in den Wald führte, stehen.

„Michael, meinst du die Richtung stimmt?“ Kritisch schaute sie ihren Mann an. „Es gibt nirgendwo einen Hinweis!“ Thea zweifelte schon wieder, ob ihr langgehegter Wunsch, Wald und Meer an einem Tag zu genießen, sich überhaupt umsetzen ließe. Beides hatte sie lange zuvor für diesen Tag geplant. Dazwischen einen sehr speziellen Ort aufsuchen, das war’s, was sie viele Monate vor sich herschob. Heute endlich sollte es klappen. Erst gestern hatte sie alles perfekt eingefädelt. Warum also zweifelte sie jetzt wieder? Michael brauchte sich nur auf ihr Vorhaben einzulassen. Aber sie hätte es besser wissen müssen, dass ihr Mann sich schräg stellen würde. Sie verlangte nie etwas von ihm, nicht mal heute konnte er sich ihr zuliebe überwinden und Freude zeigen.

Michael trottete gelangweilt neben ihr her, trotz des kurzen Fußmarsches.

Vor ihren Augen zeigte sich eine Gabelung mit Wegen in alle Himmelsrichtungen.

„Und? Wie weiter?“ Theas ratloser Blick sprach Bände. „Ich geh mal zum Unterstand rüber“, meinte sie resigniert.

Neben der verwitterten Hütte stand eine Holztafel. Wenige Schritte nur und sie stand vor dem Schild.

„Sieh dir das bloß mal an!“, rief Thea ihrem Mann zu. „Es ist kaum noch was zu entziffern, das Schild hat seine besten Tage lange hinter sich. Vielleicht erkennst du ja was?“

Michael ging zu seiner Frau und schaute genervt auf das Schild. „Idioten! Diese blöden Typen sägen noch mal den Ast ab, auf dem sie selbst sitzen“, schimpfte er sofort los. Vandalismus machte ihn jedes Mal sauer. Ausnahmsweise beruhigte er sich heute schnell wieder. „Ist doch klar! Lass uns den rechten Weg nehmen!“

„Wenn du meinst.“ Thea willigte ohne Widerstand ein, ihr Mann war zwar maulfaul, aber auf seine Orientierung konnte sie sich stets verlassen.

Kaum waren sie auf dem schmalen Schotterweg unterwegs, herrschte wieder Funkstille. Lediglich ihr Hund schien den Tag genießen zu können. Quietschvergnügt lief er an langer Leine weit voraus. Stolz deutete sein erhobener Schweif an, dass er längst wusste, welche Richtung er zu gehen hatte. Gut, dass wenigstens einer wusste, was er wollte und sich dabei noch pudelwohl fühlte. Sie bemühte sich ihre gute Laune doch noch auf ihren Mann zu übertragen.

Munter plauderte sie drauf los: „Ideales Ausflugswetter, aber für dich wohl eher zu still?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie sofort weiter: „Gut, dass wir früh losgekommen sind.“ Kein Kommentar.

Typisch mein Mann, dachte Thea. Er liebt lediglich die Stille seines Arbeitszimmers. Sein Lebensplan ist eben auf andere Dinge fokussiert. Ausflüge in der Natur gehörten nicht dazu. Und das wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Immerhin hatte er überhaupt zugestimmt. Thea riss ihren Mann aus seinen Gedanken. „Wir sollten vor dem Strandgang Meyers Hausstelle aufsuchen. Das Café wurde neu ausgebaut und liegt mitten im Wald. Das wird dir gefallen. Die Eigentümer öffnen im Sommer jeden Tag, auch am Wochenende. Passt doch!“

Michael schien aufzuhorchen. Thea entging das nicht und fügte schnell hinzu: „Neulich erzählte mir jemand von der netten Atmosphäre, ’ne Menge Haustiere ringsherum und freundliche Gastgeber. Vor allem der Nusskuchen muss eine Klasse für sich sein. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, wenn ich nur daran denke.“

Michaels Interesse hielt sich trotz Theas ausschweifender Beschreibungen in Grenzen.

„Hast es gestern wieder gut hinbekommen, deinen Willen durchzusetzen und jetzt willst du mich mit einem blöden Kuchen ködern?“

Thea blieb gelassen, überlegte stattdessen, wie sie ihr derzeit wichtigstes Thema anbringen konnte. Der RuheForst in Rövershagen spukte schon lange durch ihren Kopf. Sie fragte sich seit geraumer Zeit, ob das eine reale Option für sie und ihren Mann wäre, in diesem Waldstück die letzte Ruhestätte zu finden.

Ohne zu zögern, ließ sie raus, woran sie eben dachte: „Bin gespannt auf diesen RuheForst, auch wenn das Gerede von Claudia und Hans für mich eher übertrieben ankam. Was meinst du?“ Schweigen. „Ein abgestecktes Areal mitten im Wald, ob uns das wirklich anspricht?“ Sie sprach weiter ohne eine Antwort abzuwarten. „Die heftigen Gefühle neulich bei Hans? Ob die überschwängliche Begeisterung überhaupt echt war? Wir kennen ihn ja nicht wirklich, aber so ein Theater? Erinnerst du dich?“

„Klar erinnere ich mich an diesen arroganten Schnösel. Von der Performance seines Lebens sprach der. So ein Geschwafel in einem solchen Zusammenhang.“

Thea registrierte wohlwollend, dass Michael ihr wenigstens zuhörte und ging auf seine Argumente ein. „Genau! Und seine unpassende Wortwahl. Sinnliche Atmosphäre im Wald, was soll das schon bedeuten? Arme Claudia, wie die das mit dem Typ aushält? Aber sie kennt ihn ja auch erst kurze Zeit. Was soll im Ruhewald überhaupt anders sein als hier?“

Mit fragendem Blick drehte Thea sich im Kreis und blickte sich demonstrativ zu ihrem Mann um! Michael lief bereits in einem gehörigen Abstand zu ihr und hatte dennoch zugehört.

„Als deine Sportsfreundin neulich den Kerl anschleppte, hätte ich ihn am liebsten rausgeschmissen, so blöd wie der sich benahm. Der muss psychisch krank sein, sonst reagiert man nicht in dieser Art. Ich bin froh, dass wenigstens zwischen uns nicht solche schwülstigen Gespräche ablaufen“, entgegnete er ihr, immer noch leicht genervt.

„Geht mit dir wohl kaum! Intimen Gesprächen weichst du aus oder fegst das als Weiberkram vom Tisch“, konterte Thea.

„Wenn du meinst! Mich wunderte viel mehr, dass dir nicht auffiel, wie der Typ deiner Freundin ständig ins Wort fiel. Und das mit einem bissigen Ton! Ich dürfte nicht annähernd so arrogant sein.“

„Bleib mal ganz ruhig! Im Gegenteil, ich würde mich freuen, wenn du dich überhaupt an einem Gespräch beteiligst. Selbst auf die Gefahr hin, dass du mich mal unterbrechen solltest.“

Thea wollte ihren Mann nicht komplett verärgern, aber mit ihrem Thema war sie noch nicht durch: „Claudia blieb während des Gesprächs über den RuheForst pietätvoll und sachlich. Bei ihr hörte sich alles plausibel an.“

„Genau! Und nur deshalb lasse ich mich auch auf dein Abenteuer ‚Wald‘ ein.“

„Falls Claudias Beschreibung zutrifft, könnte der Ruhewald für uns interessant werden. Zum Glück hast du dich von einer Seebestattung verabschiedet. Aufs Wasser schauen ist ja ganz okay, aber was von uns bleibt, sollte besser auf festem Grund bleiben.“

Michaels Lust über Hans und Claudia zu sprechen, hatte sich endgültig erledigt. Seine Miene sprach Bände. Das entging Thea natürlich nicht. Sie atmete tief durch Mund und Nase, um die Luft völlig übertrieben herauszustoßen.

„Du atmest viel zu flach. Riech mal bewusst die satte Waldluft. Einfach phantastisch. Überhaupt Wald passt zu uns.“

Michael kannte Theas Monologe zur Genüge. Inzwischen hatte er gelernt, halb zuzuhören und zugleich den eigenen Gedanken nachzuhängen. An diesem Tag schien sie besonders aufgedreht zu sein.

„Zurück zur Natur, das war’s, was wir wollten. Die Nähe von Wald und Meer genießen. Erinnerst du dich an meinen Lieblingsspruch? Wer Meer hat braucht weniger. Ich kann mir meine letzte Ruhestätte im Wald gut vorstellen. Perfekte Idylle, und die Ostseeküste ganz nah.“

Die gestrige Arbeit kreiste längst durch seinen Kopf.

Und etwas später ertönte schon wieder seine gereizte Stimme: „Bei deinen Plänen im Wald habe ich nur einen Wunsch. Achte bei der Wahl eines Baumes im Ruhewald bitte darauf, dass der Baum weit von den beiden entfernt steht. Sonst könnte es mit der Ruhe schnell vorbei sein. Und vom Lauschen des säuselnden Windes ganz zu schweigen.“ Kaum war sein letztes Wort gesagt, machte sich ein dickes Grienen in seinem Gesicht breit.

Das allerdings blieb von Thea unbemerkt. „Was hast du? Ich mag Claudia. Überhaupt, ohne die beiden hätten wir den Ausflug wieder und wieder verschoben. Irgendwann wäre es zu spät. Außerdem schließt sich im Wald der Kreislauf des Lebens. Wir kommen zur Natur zurück, dort wo wir hergekommen sind. Ein wunderbarer Gedanke.“

Auf Außenstehende machte die spezielle Art ihrer Unterhaltung meist den Eindruck eines Streitgesprächs. Für sie war es hingegen völlig normal, solche Gespräche zu führen, das war wie an jedem x-beliebigen Tag.

Plötzlich zog der Hund stark an der Leine und Michael musste all seine Kraft aufwenden, um den ungestümen Hund zu bändigen. „Was hat der denn auf einmal“, murrte er entsetzt.

„Arko ist eben ein echter Jack Russell, der weiß, dass er im Wald aufzupassen hat“, rief Thea ihrem Mann zu.

Sie und Michael mussten sich ranhalten, um mit dem Hund Schritt zu halten.

„Bei seinem Tempo sind wir wahrscheinlich in wenigen Minuten total erschöpft und den RuheForst können wir vergessen.“ Thea schnaufte hörbar, kaum, dass sie die Worte herausgebracht hatte. Die Hektik stand ihr mit der stark einsetzenden Röte förmlich ins Gesicht geschrieben.

Michael konnte die Leine von Arko nicht mehr festhalten. Plötzlich rannte der wie vom Blitz getroffen samt Leine quer durch den Wald. Er entfernte sich in einem derart rasanten Tempo vom eigentlichen Weg, dass beide dem Hund nur noch verwirrt hinterher schauen konnten. Sie riefen laut Arko hinterher. Keine Reaktion.

„Was soll das denn bedeuten? So was hat er sich noch nie geleistet. Macht sich einfach aus dem Staub.“ Thea bemühte sich den Hund nicht aus den Augen zu verlieren.

„Ich glaube, er ist in diese Richtung“, meinte Michael und zeigte nach links zu einer Stelle, die noch tiefer in den Wald hineinführte.

Thea blieb ratlos stehen. „Was hat Arko bloß?“, fragte sie irritiert. „Er kennt sich gar nicht hier aus und rennt los, als ob er ein Ziel hätte.“

Die gesamte Gegend war mit meterhohem Farn überwuchert und sofort fehlte vom Hund jede Sicht. Um wenigstens die Richtung im Auge zu behalten, mussten sich die beiden ranhalten. Michael schien etwas zu hören: „Psst, sei still, hörst du das, da drüben? Das jämmerliche Jaulen?“

„Hoffentlich ist er in keine Tierfalle getappt?“, schlussfolgerte Thea.

„Ach was, nicht unser Arko!“, widersprach Michael. „Irgendwas ist jedenfalls passiert! Er rennt doch nicht ohne Grund einfach weg?“ Michael war sich jetzt ganz sicher, dass sein Hund etwas entdeckt hatte und setzte noch eins drauf. „Auf mein Wort hört er jedenfalls, weil ich ihn nicht so verwöhne wie du.“

„Das ist ja jetzt ganz klar zu erkennen“, giftete Thea ironisch zurück.

„Bleib mal ganz ruhig! Sieh da vorn, er kommt zurück.“

„Sieht aus, als wäre alles ok. Auf den ersten Blick jedenfalls.“

Außer Atem rannte der Hund direkt seinem Herrchen entgegen. Energisch stieß er mit seiner Schnauze immer wieder an dessen Hosenbein, jaulte dabei und lief unruhig hin und her.

„Nee, da stimmt etwas nicht. Er muss was entdeckt haben, das er uns zeigen will“, meinte Michael nun auch unruhig geworden. „Komm, lass uns gleich nachsehen! Ich finde sein Verhalten jedenfalls sehr merkwürdig.“

Thea würde am liebsten kehrtmachen. „Willst du dich wirklich durch den dichten Farn quälen? Was soll da schon sein? Nur Zecken, nichts weiter“, maulte sie weiter.

So wie meist, wenn es nicht nach ihrem Kopf ging, wurde sie schnell lustlos und launisch. Ihr Mann ließ sich nicht abhalten. Seine Neugier war geweckt und er nahm denselben Weg wie vorhin der Hund. Nicht ohne Mühe kämpfte er sich durch den dichten Farn und kam nur langsam voran. Arko rannte voraus, so als wollte er ihm den Weg weisen.

Hinter sich hörte er nur noch seine Frau rufen: „Wahrscheinlich findest du bloß das Versteck von Kindern.“

Oder die Reste eines toten Tieres, dachte Michael gerade noch, als der Hund erneut zu jaulen begann. Arko blieb wie erstarrt stehen, genauso Michael. Er konnte nicht glauben, was er vor sich sah. Ein eisiger Schauer erfasste sofort seinen gesamten Körper und ihm wurde augenblicklich kalt. Ein Grab mitten im Wald? Stumm blieb er stehen und suchte verzweifelt nach Worten: „Thea … Komm …! Da … ist … Das kann nicht … nicht … wahr sein …!“

Thea merkte sofort, dass etwas passiert sein musste und beeilte sich schnell bei ihrem Mann zu sein. Der Mund blieb ihr offen stehen, als sie sah, was Michael längst gesehen hatte. Zuerst schaute sie auf ihren Mann, dann mit langem Blick auf den ungewöhnlichen Fund. Ringsherum lag wüst herausgerissener Farn, der die Sicht auf die gesamte Fläche freigab. In der Mitte war ein Hügel angeschüttet worden, der den Eindruck einer Grabstelle vermittelte. Eine rechteckige Fläche in der Länge von etwa zwei Meter wurde geschaffen und alles ringsherum mit Farn bedeckt.

„Eine Frau? Ja …! Klar“, beantwortete sie sich selbst die Frage. „Schläft sie“, flüstert Thea leise ihrem Mann zu.

Michael traute sich etwas näher an die Grabstelle heran und sah in das Gesicht der Frau. Er konnte keinerlei Atembewegungen darin erkennen, stattdessen sah er ein blasses, lebloses Gesicht vor sich. Mehr brauchte er gar nicht sehen.

Thea konnte nicht anders, sie musste was sagen. Vor lauter Aufregung purzelten ihr jetzt im Gegensatz zu ihrem Mann andauernd die Worte nur so heraus. „Ein Grab mitten im Wald. Die geschlossenen Augen? Irgendwie sieht das hier fast liebevoll hergerichtet aus.“

„Unsinn!“ Michaels Ton wurde barsch. Er wollte nur noch diesen Schreckensort verlassen. Seine Frau sprach weiter als stünde sie unter Schock: „Und die weiße Calla? Könnte ja ein Symbol sein, aber für was?“ Diese Frage richtete sie mehr an sich selbst als an ihren Mann.

„Die Frau … Der Platz … Die Blume …? Sehr seltsam. Wie sie hingelegt wurde? Die reinste Inszenierung. Das ist blanker Wahnsinn.“ Theas Worte klangen inzwischen mehr verzerrt.

„So was …, das … macht doch kein normaler Mensch!“ Auch Michael brachte seine Worte jetzt nur noch bruchstückweise heraus. „Wie brutal muss jemand sein, erst eine Frau zu töten und sie dann so zu präsentieren! Aber vielleicht waren das mehrere durchgeknallte Typen?“

Wie erstarrt blieben beide eine gefühlte Ewigkeit am Fundort stehen. Thea war inzwischen so überdreht, dass aus ihr nur noch wirre Ideen heraussprudelten: „Die Tat muss aus langer Hand geplant worden sein. Das sieht man doch! Ja genau, das sieht aus wie ein Ritual. Die riesige Menge Farn und wie die Frau hingelegt wurde. Dazu die weiße Calla, das alles kann kein Zufall sein! Sie sollte genauso gefunden werden!“

„Könnte auch ganz anders sein“, überlegte Michael. „Etwas Entscheidendes spricht gegen deine These. Der Platz ist viel zu abgelegen. Wir selbst wären ohne Arko nie so nah herangekommen. Genau, der Hund war es ja, der uns hierhergelockt hat! Freiwillig hätte ich mich nie durch diesen dichten Farn gequält.“

Michaels Worte erreichten Thea und sie reagierte genauso fassungslos: „Ein Verbrechen der übelsten Sorte. Und das in unserer friedlichen Gegend!“

„Die Polizei muss her! Pass bloß auf den Hund auf, der darf der Frau nicht zu nahekommen.“ Theas Worte klangen unverständlich und kleinlaut.

„Los, wir sollten endlich was unternehmen! Das Ganze ist schlimm genug und kann nur von der Kripo geklärt werden.“ Michael drängte jetzt energisch darauf, den Platz zu verlassen.

Theas Atem wurde schneller, trotzdem konnte sie sich nicht verkneifen, auch in das Gesicht der Frau zu sehen. Als ob sie darin eine Antwort finden könnte. Sie traute sich sogar etwas näher heran. Doch als sie merkte, dass ihr Atem unkontrollierter wurde und ihren gesamten Brustkorb beben ließ, entfernte sie sich schnell. „Ich hab’ genug und halte das nicht länger aus. Was reden wir hier eigentlich, die Polizei muss her!“

Michael sah auf die Frau und murmelte fast unverständlich: „Warum mussten wir auch in diesen Wald?“

„Mit so einem grauenvollen Fund konnte wohl niemand rechnen“, zischte Thea.

„Mir wird das jetzt zu viel. Was, warum und wie es hier aussieht, darum sollen sich die kümmern, die wissen, wie das geht. Ich wollte gar nicht erst her. Nun hast du deinen Wald, aber ohne Ruhe, die ist nämlich dahin. Wer weiß, wann wir die wiederfinden.“

Deprimiert schaute Thea auf Arko. „Alles deinetwegen“, schimpfte sie ihren Hund mit gequälter Stimme aus. Und ihr Blick wurde von dem Hund fast ebenso traurig erwidert! „Warum musstest du uns in dieses Versteck drängen?“ Theas Stimme hörte sich selten so kraftlos an, wie in diesem Moment.

Als ob Arko jedes Wort verstanden hätte, drängte auch er jetzt darauf, den Ort zu verlassen. Er jaulte laut und machte sich auf seine Weise bemerkbar.

„Halt bloß den Hund fest!“, rief sie entsetzt ihrem Mann zu, als sie merkte, dass der sich an der Frau zu schaffen machen wollte.

„Arko weg da. Die Spuren werden noch gebraucht“, belehrte Michael seinen Hund, als ob der alles verstehen würde. „Im Tatort wird auch gezeigt, wie wichtig DNA-Spuren sind. Sie sind der einzige Beweis, um den Täter einwandfrei zu überführen.“

„Vielleicht aber haben sich mehrere Täter hier zu schaffen gemacht? Los ruf endlich die Polizei“, schrie Thea ihren Mann buchstäblich an.

Die Farbe ihres Gesichtes hatte sich komplett verändert. Das auffällige Rot von vorhin war einer aschfahlen Blässe gewichen. Dabei erkannte sie jetzt erst, wie mitgenommen auch ihr Mann aussah. Michael griff in seine Hosentasche, doch sein Handy konnte er nicht ertasten. „Es ist nicht da! Hab ich das jetzt verloren oder nur vergessen? Ich weiß noch nicht mal, ob ich es überhaupt eingesteckt habe.“

„Was jetzt? Die Polizei muss aber schnell her! Wie kriegen wir das ohne Handy hin?“

Michael musste an die Frau denken. „Wer weiß, wie lange die tote Frau hier bereits liegt. Kann sein, dass längst nach ihr gesucht wird.“

„Unseren Ausflug können wir jedenfalls abhaken. Komm wir laufen weiter zum Köhlerhof, da gibt es garantiert ein Telefon.“

Es dauerte eine Weile, eh sie den Köhlerhof erreichten. Bereits von Weitem erkannten sie, dass sich am Haus im Wald nichts rührte.

„Das darf nicht wahr sein. Alle Türen zu, und kein Auto in der Nähe! Nicht mal ein Hinweis, ob sich das demnächst ändern würde.“

„Los, dann laufen wir halt weiter, hier in Wiethagen muss es doch ein Telefon geben.“

Das erste Mal seit dem schrecklichen Fund machte Michael den Eindruck wieder Herr seiner Sinne zu sein. „Von deinem hoch gelobten Ruhewald keine Spur und mit einem erholsamen Waldspaziergang hat das Ganze auch nichts zu tun. Wer weiß, wann wir uns davon überhaupt erholen?“

„Ich weiß, dass nichts mehr sein wird wie zuvor. Die wenigen schönen Stunden, alles dahin.“ Thea murmelte leise: „Ich würde mich nicht wundern, wenn wir sogar von bösen Träumen heimgesucht werden.“

„Mord, das sieht man sonst nur im Fernsehen. Nie hätte ich geglaubt, dass derart Schreckliches so nah an uns heranrückt.“

Beide merkten ihre körperliche Abgeschlagenheit und nicht nur ihre Psyche war davon betroffen. Ihnen fiel jetzt selbst das Laufen schwer. Auf diese Weise kamen sie nur langsam voran. „Hoffentlich werden die Täter schnell gefunden, ansonsten kann man sich hier in der Gegend nicht mehr sicher sein, weil womöglich ein Mörder frei herumläuft. Dann wird sich auch keiner mehr vor die Tür trauen.“

„Vielleicht stecken die sogar noch ganz in der Nähe oder es war überhaupt gar kein Mord?“

„Ach, was sonst? Die sind längst über alle Berge. Und die Tiere hier? Wäre gut, wenn die sich wenigstens zurückhalten würden. Ansonsten kann es für die Polizei mit den Spuren schwierig werden.“

Nach etwa einer halben Stunde erkannten sie die ersten Häuser von Wiethagen. Als die näher heranrückten, liefen ihre Füße automatisch weiter. Fast waren sie am Ausgangspunkt ihres Ausfluges zurückgekehrt. Allerdings jetzt kraftlos und ohne jeden Schwung. Nicht zu vergleichen mit Theas Freude noch am Morgen.

Thea klingelte an der erstbesten Haustür. Kurz schilderte sie die Lage, ohne zu viele Details zu verraten, erfuhren die Leute, wie wichtig es war, dass sie die Polizei anrufen musste. Der Hausherr erkannte sofort die Brisanz und reichte ohne große Fragen sein Handy weiter. Thea hielt innerlich bebend den Hörer fest in der Hand und wählte zitternd die 110. Voller Ungeduld musste sie warten, eh sie zum Kriminalkommissariat Rostock durchgestellt wurde. Endlich meldete sich eine kraftvolle Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Die Frau am Apparat hörte Thea aufmerksam zu und leitete sie ohne noch einmal nachzuhaken sofort weiter.

Hauptkommissar Heilmeyer und sein Team waren mit den speziellen, nichtalltäglichen Delikten beschäftigt. Deshalb wurde er als erster aus der Zentrale benachrichtigt. Er nahm relativ schnell den Anruf entgegen. Sofort spürte er, dass es sich bei der Anruferin um eine ernstzunehmende Nachricht handeln könnte.

Plötzlich war ich allein. Wochenlang konnte ich nicht mehr denken und schon gar nicht etwas fühlen. Ich grübelte, ob ich im Verlies überhaupt weitermachen sollte. Lange Zeit war mir nur noch kalt. Ich verkroch mich unter der Erde und konnte nichts anfangen mit dem, was ich vorfand.

Im Moment geht es wieder los. Die Zweifel sind zurück. Ich zweifle an allem, doch vor allem daran, welchen Sinn die Arbeit in der Höhle macht. Warum hattest du mich in dieses verdammte Verlies geführt und mir das Versprechen abgerungen, alles fertigzustellen. Ich war viel zu jung, um zu begreifen, was das für mich bedeuten würde.

Inzwischen ist aus deinem Plan längst auch mein Plan geworden. Ich muss das jetzt zu Ende bringen. Und ich werde dir beweisen, dass ich stärker bin als du je geglaubt hattest. Staunen sollst du!

Hier schreibe ich alles für dich auf. Mit jeder Zeile sollst du blasser werden, wenn du liest, was du mir angetan hast. Erst, wenn du mir gegenüberstehst, werde ich endlich loslassen können:

Mutter hatte früh Geld für mich angelegt. Das reichte eine Zeitlang, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Inzwischen musste ich diese blödsinnige Arbeit in der Hohen Düne annehmen. Obwohl ich mit fünf Kollegen zusammenarbeite, ist meine Einsamkeit geblieben. Menschen bedeuten mir, seitdem ich allein lebe, sowieso gar nichts mehr. Die Chaträume, die ich jeden Tag besuche, helfen mir zwar zu vergessen, dass ich allein bin. Doch ich finde im Internet immer seltener etwas, das mich antreibt. Hier fragt mich wenigstens keiner, was ich mache und wer ich bin. Das ist gut, denn mein Wissen soll geheim bleiben. Die Nähe zu den Menschen ist mir regelrecht zuwider. Du sollst wissen Vater, dass ich unser Geheimnis behüte, dieses Versprechen hattest du mir bereits als Kind abgerungen.

Seit knapp einem Jahr arbeite ich inzwischen in der Putzkolonne im Yachthafen Hohe Düne. Dabei muss ich einen Riesenaufwand betreiben, um überhaupt dort hinzukommen. Und das alles für einen Job, der so eintönig ist. Die Arbeit wäre besser zu ertragen, wenn die Kollegen mich in Ruhe lassen würden. Sie quälen mich mit ihrer dämlichen Fragerei. Mein Schweigen macht sie noch neugieriger. Diese Schwätzer machen sich nur wichtig. Wenn meine Kollegen wüssten was ich …? Staunen würden die. Ich arbeite ja nur, weil die Arbeit gut bezahlt wird, alles andere interessiert mich nicht. In der Nacht schon mache ich mich auf den Weg zum Yachthafen, um tagsüber studieren zu können. Wenn ich morgens von der Schicht zurück bin, wartet immer noch die einzige Aufgabe auf mich, die meinem Leben lange Zeit wenigstens einen Sinn gab. Aber dieses Tempo werde ich nicht bis zum Ende durchhalten. Die nächtliche Arbeit im Wechsel mit dem Studium verlangt mir so viel ab. Bereits eine Stunde vor dem Feierabend werde ich unruhig, kann das Ende der Nachtschicht kaum erwarten. Zu Hause angekommen, beginnt sofort die nächste Schicht. Seit Tagen bin ich beunruhigt. Im Haus gegenüber hat sich etwas verändert. Dort brennt ständig Licht. Wenn ich frühmorgens nach Hause komme, fühle ich mich beobachtet. Jeden Morgen! Das macht mich nervös. Manchmal sehe ich ein trübes Gesicht im bläulichen Schein des flimmernden Bildschirms. Ob der Fernsehapparat aus Gewohnheit läuft? Aber nicht nur der Fernseher, auch die Lampen brennen tagelang. Warum leuchtet alles? Glauben sie dadurch mehr Sicherheit zu bekommen? Das ist Selbstbetrug! Ich kann sie zu jeder Zeit ungestört beobachten. Aber sie mich auch. Tun sie das? Ich muss aufpassen. Erstaunlich, als ich heute nach Hause kam, wirkte das Licht nicht so grell wie an den anderen Tagen und ich hatte mich dabei ertappt, dass es mir warm und vertraut erschien. Ein Gefühl, das ich mal kannte, aber längst vergessen hatte.

Graal-Müritz, Strand

Kaum hatte Lisa den Strand erreicht, fühlte sie sich ohne ihre Strandmuschel der gleißenden Sonne erbarmungslos ausgeliefert. Das gesamte Strandequipment mitzuschleppen, hätte nur den Rahmen gesprengt. Für die wenigen Stunden reichten ihr das große Strandtuch und etwas zu trinken. Wenn die Sonne den Sand erst richtig aufheizte und man sich die Füße darin verbrannte, half sowieso nur eine Abkühlung im Meer. Bei den Temperaturen gab es auf der Welt keinen besseren Fleck, dachte sie sich und lag inzwischen entspannt auf ihrer kleinen Decke und hatte sich eingerichtet. Mit blinzelnden Augen nahm sie ein paar Schäfchenwolken am leuchtend blauen Himmel wahr. Nie besuchte sie einen anderen Strand als den in Graal-Müritz. „Strand der guten Träume“, nannte sie ihn, wenn sie von den Touristen mal nach einem idealen Strand gefragt wurde. Bisher fand sie an der gesamten Ostseeküste keinen besseren. Wenn ihr Lieblingsplatz am Rande der Dünen frei war, dann brauchte sie nichts anderes mehr.

Am Strandaufgang 10 hatte sie heute sogar noch freie Platzwahl. Im Gegenteil, der gesamte Strandabschnitt sah relativ leer aus. Sie wählte immer den Aufgang 10. Hierher verirrten sich selten mal Touristen. Der Strandaufgang wurde vor allem von den Einheimischen des Ortes genutzt und war ohne Fahrrad nur aufwendig zu erreichen. Den Mehraufwand nahm Lisa gern in Kauf. Dafür konnte sie ohne quietschende Kinder und lärmende Jugendlichen relaxen und entspannt den tanzenden Wellen zusehen. Bei ihrem intensiven Job machte ein Strandtag am schnellsten ihren Kopf frei. Und einen klaren Kopf brauchte sie im Moment dringend.

Seit gestern quälte sie die Frage, ob das geplante Jura-Studium überhaupt das Richtige für sie sei. Ihr Vater kreiste bei dem Gedanken immer wieder in ihrem Kopf herum. Das hing mit ihrer Studienbewerbung zusammen. Eigentlich glaubte sie, den Konflikt mit ihm hinter sich gelassen zu haben. Doch das Gegenteil schien der Fall zu sein.