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Jürg Häusermann

Konstruktive Rhetorik

Der Dialog als Schlüssel
zum erfolgreichen Vortrag

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Jürg Häusermann, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, gibt seit den 1980er-Jahren Rhetorikkurse für Menschen aus den verschiedensten Berufen. Er zeigt dabei, wie man auch beim Sachvortrag vor Publikum den Dialog betonen kann und damit Rednern und Zuhörenden die Sache leichter macht. Seine Lehrbücher basieren auf seiner Erfahrung in der linguistischen Forschung, der eigenen Vortragstätigkeit und der Arbeit als Radiojournalist.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

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© UVK Verlag 2019

Lektorat: Rainer Berger, München

UVK Verlag

Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG

www.narr.de

ISBN 978-3-7398-3007-0

für Bärbel

Prolog: Das Überschreiten der Schwelle

Mit ihren Vorlesungen über Radioaktivität hat Marie Curie Geschichte geschrieben. Sie war die erste Frau auf einem Lehrstuhl einer französischen Universität, und was sie dozierte, waren Ergebnisse aus der Spitzenforschung einer Nobelpreisträgerin. Dennoch kostete es sie jedes Mal Überwindung, vor den Studierenden oder vor einer größeren Öffentlichkeit zu sprechen. Ihr liebstes Medium waren die privaten Gespräche mit ihrem Ehemann Pierre, mit den Studierenden und ihren Kollegen. Die biografischen Quellen lassen es leicht rekonstruieren: Marie Curie war in ihrem Element, wenn im kleinen Kreis ein aktuelles Thema diskutiert wurde – und noch mehr, wenn sie mit ihrem Gatten Pierre zu zweit über „ihr geliebtes Radium“ plauderte. Aber dieselben Gedanken zu präsentieren, bedeutete für sie Stress.

So wie es ihr ging, geht es vielen. Ob es sich als Lampenfieber ausdrückt oder einfach als erhöhte Konzentration – wer auch immer sich an ein Publikum wendet, spürt den Unterschied zwischen dem alltäglichen Gespräch und der öffentlichen Rede.

Marie Curie war zwar eine gute Rednerin; schon in ihrem zweiten Jahr an der École Normale Supérieure de Sèvres hatte sie sich zu einer sehr beliebten Dozentin entwickelt. Aber sie spürte den Schritt zur öffentlichen Präsentation jedes Mal als große Herausforderung, wie ihre Tochter Eve Curie erzählt:

»Montag und Mittwoch ist Marie vom frühesten Morgen an nervös und aufgeregt. Um fünf Uhr hat sie Vorlesung. Nach Tisch schließt sie sich in dem Arbeitszimmer ihrer Wohnung ein. Sie bereitet die Vorlesung vor, notiert sich die einzelnen Abschnitte des Vortrags. Gegen halb fünf Uhr fährt sie ins Laboratorium und schließt sich wieder in dem kleinen Ruheraum ein. Sie ist unruhig, gespannt, unzugänglich. Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren liest Marie. Und doch hat sie unweigerlich jedes Mal Lampenfieber, wenn sie vor ihren zwanzig oder dreißig Schülern in dem kleinen Vortragssaal erscheinen soll.«1

Wer vor Publikum spricht, überschreitet spürbar eine Schwelle. Er verlässt die Kommunikationsformen des alltäglichen Gesprächs und betritt einen Bereich, in dem andere Regeln gelten. Die Anforderungen an Sprache, Sprechweise und Körpersprache sind grundlegend anders, sobald man sich an eine Gruppe wendet: Es wird eine aufrechte Haltung erwartet, eine deutliche Aussprache, eine strukturierte Rede, bei der man nicht unterbrochen wird – und das sind nur einige Besonderheiten dieser Art des Redens. Sie ergeben sich aus der einfachen Tatsache, dass die Rollen der Beteiligten klar aufgeteilt sind, in einen Sprecher und eine Gruppe von Zuhörenden.

Die „Öffentlichkeit“, vor der Marie Curie Respekt hatte, bestand nicht nur in der Gruppe von zwanzig bis dreißig Studierenden, die sich „alle zusammen erhoben, wenn sie den Hörsaal betrat,“2 und die ihr kritisch folgten. Es kam der universitäre Rahmen dazu, der ihre Vorlesungen ermöglichte. Was sie sagte, wurde beobachtet und weiterverbreitet, weit über die Hochschule hinaus. Sie wusste, dass ihr Wort in der ganzen wissenschaftlichen Welt – und darüber hinaus – Aufmerksamkeit fand. Auch dies trug dazu bei, dass ihr der ganz konkrete Schritt vom Labor in den Hörsaal, vom Gespräch zur Vorlesung, schwerfiel.

Es ist dieser Übergang von der nichtöffentlichen zur öffentlichen Kommunikation, der die Faszination, aber auch die Schwierigkeiten des Redens ausmacht. Menschen, die sich in der persönlichen Begegnung problemlos behaupten, müssen große Hürden überwinden, sobald sie vor einer Gruppe von Zuhörenden stehen, weil sie fürchten, den Anforderungen, die da an sie gestellt werden, nicht zu genügen. Dieses Buch behandelt dieses Thema in zwei Teilen. Der erste beschreibt die Bedingungen und Herausforderungen des öffentlichen Redens. Der zweite Teil zeigt, wie damit praktisch umgegangen werden kann und dass bessere Resultate erzielt werden, wenn das Reden vor Publikum als Dialog verstanden wird.

Inhalt

Prolog: Das Überschreiten der Schwelle

1. Teil|Reden in der Öffentlichkeit:
Was sich beim Reden vor Publikum verändert

1Eine neue Rolle, ein weiter Raum

2Die Zeit ist begrenzt

3Der Veranstalter spielt mit

4Normen von Kultur und Gesellschaft

5Reden entstehen geplant

6Das Publikum ist nie passiv

7Das Problem: Monolog statt Dialog

8Rhetorik: Die Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit

9Das Gegenprogramm: Dialog

2. Teil|Wie aus dem Vortrag ein Dialog wird: Praxis der konstruktiven Rhetorik

Verbal|Mit Wörtern den Dialog eröffnen

10Verständlich, attraktiv, transparent

11Fragen und Antworten als Schlüssel zum Dialog

12Erzählen intensiviert den Kontakt

13Redeaufbau als Frucht der Zusammenarbeit

14Beweisen, begründen, plausibel machen

15Von der geschriebenen Sprache wegkommen

16Verständliche Sätze

17Wo sind wir eigentlich gerade? – Transparenz schafft Orientierung

18Damit alle dranbleiben: Attraktivität

19Freies Formulieren macht den Dialog leichter

Übungen|Verbal

Portionieren

Frei formulieren

Storytelling

Aussagen beleben

Metakommunikation einfügen

Paraverbal|Wie man Menschen mit der Stimme erreicht

20Sprechtraining und seine Grenzen

21Wie es klingt: Atem, Stimme, Artikulation

22So erreichen die Worte die Zuhörenden

23Das Geheimnis der Sprechhandlung

24Probleme und Lösungen bei der freien Rede

Übungen|Paraverbal

Tätscheln

Befreite Lektüre

Der hilfreiche Korken

Sinnschritte erkennen

Eine Partitur anfertigen

Sprechhandlungen nutzen

Nonverbal|Wie man mit dem Körper auf den Raum
und die Menschen eingeht

25Was kommt zurück?
Wie die Körpersprache den Dialog unterstützt

26Wie man auf den Raum reagiert

27Was heißt Blickkontakt mit einer ganzen Gruppe?

28Die verräterische Mimik

29Gesten, die Kontakt schaffen

Übungen|Nonverbal

Auseinandersetzung mit dem Raum (Gruppenübung)

Stehenbleiben (Einzelübung)

Sightseeing (Gruppenübung)

Gestik-Repertoire (Einzelübung)

Medial|Wie Wandtafel, Handout
und Beamer den Dialog fördern

30Medienverwendung im Alltag

31Wie wir Medien im Vortrag einsetzen

32So unterstützen Medien die Rede

33Wie Vortrag und Bilder zusammenspielen

34Redner, Publikum und Medium im Raum

35Einzelne Medien, und wie man sie im Dialog einsetzt

36Vorbereitung auf den Dialog

Übungen|Medial

Texte vereinfachen

Choreografie für Flipchart/Whiteboard/Tafel

Objektpräsentation

PowerPoint-Karaoke

Epilog

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

Personen- und Sachregister

Gender-Hinweis

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen zwischen der männlichen und der weiblichen Form abgewechselt. Leserinnen und Leser sind gleichermaßen angesprochen.

1. Teil|Reden in der Öffentlichkeit:
Was sich beim Reden vor Publikum verändert

imageReden traditionell

Der erste Teil dieses Buchs macht die Herausforderungen des öffentlichen Redens erfahrbar. Im Mittelpunkt stehen die Faktoren, die die Kommunikation für Redner und Publikum erschweren:

imageräumliche und zeitliche Bedingungen

imagesoziale und kulturelle Vorgaben

imagesprachliche, sprecherische und körpersprachliche Normen

Seit dem Jahr 2003 lädt die Universität Münster die Schulkinder der Stadt zu spektakulären Vorlesungen ein – etwa: Wie verklage ich meine Eltern auf Taschengeld? oder: Warum brennt ein Pups?3 Die Kinder verfolgen die Vorträge fasziniert. Sie schildern ihre Professoren als „schlau, aber nicht allwissend“, als „locker und lustig“.4 Dennoch sind sie nicht mit allem zufrieden. Was sie unter anderem stört, ist der Raum, in dem die Professoren zu ihnen reden. Es ist gewöhnlich der Hörsaal H1 am Münsteraner Schlossplatz, der 1.142 Sitzplätze umfasst. Pädagoginnen haben sie dazu befragt und herausgefunden: Die Kinder sind zwar von der Größe des Hörsaals beeindruckt, beklagen aber auch, dass es ihnen schwerfällt, sich aktiv zu beteiligen, und dass die Redner in dem Rahmen schlecht auf individuelle Bedürfnisse eingehen können.5

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Abb. 1: Begegnung mit einem traditionellen Redner: Kinder-Uni im großen Hörsaal.

Zum einen genießen die Kinder, dass sie Vorträge besuchen können, die sonst Erwachsenen vorbehalten sind. Zum anderen legen sie auch sogleich den Finger auf den wunden Punkt: Zum ersten Mal mit einer öffentlichen Rede konfrontiert, erkennen sie, dass die Rahmenbedingungen die Kommunikation auch erschweren können. Der Einzelne verschwindet in der Masse, die Distanz zum Vortragenden ist größer als zum Lehrer in der Schule, und wenn sich jemand zu Wort meldet, verstehen ihn die anderen Zuhörenden nicht.

Die kritischen Reaktionen der Kinder sind also gar nicht überraschend. Interessant ist vielmehr, wie die Autorinnen der Studie, die selbst aus der Universität stammen, damit umgehen: Darauf, dass die Kinder bedauern, dass der Dialog erschwert ist, gehen sie gar nicht ein. Sie kommentieren es mit dem lapidaren Satz: „Dies steht aber bei der Organisationsform einer Vorlesung auch nicht im Vordergrund.“

Die Forscherinnen stammen selbst aus der Universität und sind seit ihrem Studium mit der herkömmlichen Form des wissenschaftlichen Vortrags vertraut. Diese ist für sie so selbstverständlich, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, das Feedback der Kinder ernst zu nehmen. Es könnte ja eine berechtigte Kritik sein – nicht an dem Stoff, der hier für sie aufbereitet wird, sondern an den Rahmenbedingungen. Vorträge vor großem Publikum sind gerade wegen ihrer monologischen Anordnung weniger erfolgreich als die Unterrichtsformen, die Kinden aus der Schule kennen und in denen der Dialog zentral ist. Sie macht den Dialog nicht unmöglich, aber sie erschwert ihn.

Wer erfolgreich vortragen will, muss die Rahmenbedingungen kennen, die über Jahrtausende hinweg das Reden in der Öffentlichkeit geprägt haben. Und dann geht es darum, ihnen etwas entgegenzusetzen. Die räumlichen Verhältnisse, die Zeitvorgaben, die Zielsetzungen des Veranstalters stehen einer ungezwungenen, fruchtbaren Kommunikation entgegen. Aber das ist nicht unüberwindbar. Es ist möglich, die prinzipiell monologische Situation in eine tendenziell dialogische zu verwandeln. Um dies zu erreichen, muss man aber die Ausgangslage kennen – die Vorgaben des öffentlichen Redens – und erkennen, dass sie Chancen zu einer unkonventionellen Kommunikation bieten.

imageBestimmende Faktoren des öffentlichen Redens

imageRollenaufteilung Redner – Publikum

imageErweiterung des Raumes

imagezeitliche Begrenzung

imageformale und inhaltliche Vorgaben des Veranstalters

imagegesellschaftliche und kulturelle Normen

imagebesondere Produktionsweisen bei Vorbereitung und Formulierung

imageeingeschränkte Beteiligung des Publikums

1Eine neue Rolle, ein weiter Raum

Öffentlich zu reden, bedeutet, in einem größeren Raum zu reden. Dies ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet. Sie braucht deshalb einige Meter Abstand und die Zuhörenden brauchen alle ihren Platz. Oft werden diese Bedingungen noch verschärft: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgt für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass ein Redner sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die ihn hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem er aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt er ein Zeichen. Er erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um ihn Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.

In vielen Fällen sind für öffentliche Reden spezielle architektonische Räume geschaffen worden. In Parlamentsgebäuden, Gerichtssälen, Kirchen, oder Schulzimmern bestimmen starre architektonische Vorgaben, wo der Redner steht und wo die Zuhörenden sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit etc.

Dass der Raum sich weitet, hat zu bestimmten Verhaltensformen geführt, insbesondere was die Körpersprache betrifft. Vieles, was Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen – sind durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.

Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Julimonarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.

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Abb. 2: Honoré Daumier: Zwei Anwälte vor ihrem Auftritt in kollegialem Gespräch.6

Ein anderes Bild zeigt die beiden in der Hitze des rhetorischen Gefechts. Dem plädierenden Anwalt ist anzusehen, dass er zu einem ganzen Saal spricht. Man ahnt die große Lautstärke, auch die Gestik ist für die Wirkung im Raum ausgelegt. Mit seiner Körperhaltung, leicht nach hinten gedehnt, vergrößert er sogar noch die Distanz zum gegnerischen Anwalt, der den indignierten Kollegen spielt.

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Abb. 3: Honoré Daumier: Der Anwalt beim Plädoyer.7

Dieser drastische Unterschied zwischen nichtöffentlicher und öffentlicher Rede gilt auch in vielen anderen Situationen – sogar bei einfachen Vorträgen. Der Redner ist exponiert und weiß um die Sichtbarkeit seines körperlichen Ausdrucks. Das verleitet die einen zu besonders deutlichen Gesten, andere hemmt es. In den meisten Fällen ist das Repertoire aber im Vergleich zur Alltagskommunikation reduziert, auf einige wenige Formen beschränkt.

Auch das Verhalten des Publikums wird durch die räumliche Einrichtung geleitet. Die Menschen werden auf eigens angeordnete Sitze verwiesen. Das gibt die Blickrichtung vor und fördert damit die Aufmerksamkeit. Es schränkt aber auch ihre Beweglichkeit ein. Zwischen anderen Zuhörenden eingepfercht, ist man zu einer ruhigen, wenn nicht gar starren Haltung gezwungen. In einem gewissen Sinn isoliert die räumliche Anordnung den Redner; sie verstärkt den Eindruck der Distanz zwischen ihm und dem Publikum.

Die Raumverhältnisse beim öffentlichen Reden beeinflussen auch die akustische Gestaltung. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nichtöffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Wer dagegen im Freien redet, spürt, dass der Nachhall fast völlig fehlt und sich die Stimme leicht verflüchtigt. In beiden Fällen ist die sprecherische Kommunikation grundsätzlich erschwert. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt; Menschen klingen anders, sobald sie „öffentlich“ werden. Da lauter gesprochen werden muss, sind längere Pausen zwischen Satzteilen oder gar Wörtern erforderlich. Dies führt meistens zu einer gleichförmigen Betonung. Und auch wenn heutzutage Mikrofone und Verstärkeranlagen eingesetzt werden, ist diese typische Festredner-Sprechweise noch immer nicht ausgerottet.

imageDer Einfluss des Raums

imagegrößere Distanz des Redners zum Publikum

imagereduzierte Bewegungsmöglichkeiten des Publikums

imagevereinfachte, auf Deutlichkeit ausgerichtete Körpersprache

imagelautes, gleichförmiges Sprechen

Deshalb ist sie auch in weniger offiziellen Situationen erkennbar, sobald jemand die Ebene des nichtöffentlichen Redens verlässt und gleichsam symbolisch den Raum weitet. Körperhaltung und Sprechweise zeigen dies ebenso wie ein Rückgriff auf ein respektableres Vokabular.

Ich kauere mit meinem kleinen Sohn im Sandhaufen und wir sprechen unsere vertraute Familiensprache. Rings um uns und mit uns spielen andere Kinder. Da tut Andreas etwas, das meinen Erziehungsprinzipien widerspricht und ein kurzes erzieherisches Gespräch erfordert. Aber ich weiß: Wir stehen unter der Beobachtung aufmerksamer schwäbischer Mütter und Väter. Also richte ich mich auf, erhebe meine Stimme und weise ihn zurecht. Ich werde für alle, die in der Nähe sind, hörbar und ich verwende einige festgefügte Wendungen, die die Gesellschaft für solche Fälle entwickelt hat. „Das tut man nicht!“ – „Reiß dich zusammen!“ – „Wird's bald?“8

Dass ich mich aufrichte, lauter rede und solche festen Redewendungen gebrauche, zeigt: Ich rede im Bewusstsein, dass andere Leute zuhören. Ich rede so, als ob das Gespräch von diesen Zuhörenden kontrolliert würde. Die Redesituation wird etwas geöffnet; die Redeabsicht verändert sich, die Rede scheint an Wichtigkeit zu gewinnen. Öffentlichkeit im soziologischen Sinne wird da zwar nicht hergestellt.9 Für die praktische Rhetorik aber ist das Bild eines konkreten Raums hilfreich, in dem sich die Distanzen zwischen den Beteiligten vergrößern, sobald einer von ihnen die Rolle des Redners annimmt. Unsere Kommunikation wird für andere zugänglich – ein erster Grad des Veröffentlichens. Und generell wird damit gerechnet, dass die Inhalte der Rede weitergetragen werden und über das anwesende Publikum hinaus wirken. Dies gilt für die Kinder-Uni ebenso wie für die Vereinsversammlung. Die Anwesenden werden das Gehörte weiterverbreiten, in der Familie, in anderen sozialen Gruppen. Deshalb werden die Redner in ihrem Verhalten dadurch bestimmt, dass mehr Resonanz möglich ist als im Alltagsgespräch.

Rhetorik ist die Lehre vom öffentlichen Reden in diesem Sinne: vom Reden, wenn der Raum sich weitet und die Rollen in Redner und Publikum aufgeteilt sind. Man sieht und hört es einem Menschen an, wenn er seine private Redeweise verlässt und – je nach Typ – doziert oder referiert oder predigt. Er begibt sich auf Distanz, nimmt eine neue Rolle an und verhält sich nach anderen Normen.

2Die Zeit ist begrenzt

David Alexander Day war ein amerikanischer Missionar, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westafrika tätig war. In einer Missionsstation in Liberia predigte er nicht nur, sondern studierte auch die Sprache und Redepraktiken der afrikanischen Bevölkerung. Auch wenn er sie als uncivilized people betrachtete, war er beeindruckt vom Reichtum ihrer Sprache und ihrer Erzählungen. Er notierte seine Beobachtungen für Zeitschriften in der Heimat, zum Beispiel die folgende über einen Brauch, den er als One-Leg-Talk übersetzte:

»Wenn die Zeit knapp ist, wird der Redner oft angehalten, auf einem Bein zu stehen, und er hat nur so lange das Wort, als er in der Haltung bleiben kann.«10

Day kommentiert dies scherzhaft, indem er sagt:

»Die Zuhörer und Gemeinden in der Heimat könnten dies als Hinweis nehmen und diese Regel auf langatmige Redner anwenden. Die Idee ist nicht patentiert, aber ich erwarte, dass alle Gemeinden, die sie umsetzen, uns als kleines Dankeschön eine Schachtel mit Kleidern schicken.«

Das amerikanische Publikum hat diesen Bericht dankbar aufgenommen, und es kommt heute noch vor, dass in launigen Reden oder auch in gedruckten Ratgebern darauf angespielt wird, unabhängig davon, wie gesichert diese Behauptung ist.11 Die öffentliche Rede wird als ein Spiel verstanden, in dem das Publikum dem Redner Zeit und Aufmerksamkeit leihen, aber auch entziehen kann. Viel stärker als in privaten Situationen wird vom Redner ein adäquates Zeitmanagement erwartet. In der Regel gibt es Absprachen über die Rededauer. Dennoch verhalten sich viele so, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, als ob sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.

Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leer gelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent mit weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu.12 Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“

Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung und tippt mit dem Finger darauf herum (was auf der Leinwand keinen Effekt erzeugt). Als er hinter dem Pult angekommen ist, sagt er, noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“

Erst bei „Tag“ blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörenden mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:

image Betreten des Raums

image Durchschreiten des Raums

image kurzer Blickkontakt mit den Zuhörenden

image Ergreifen der Fernbedienung (mit einem weiteren Blick ins Publikum)

image Blick auf die Fernbedienung, Bedienung

image Einnahme der endgültigen Redeposition

image drei sprachliche Äußerungen:

image Ansprechen der Verspätung („etwas zu spät“)
– eventuell in der Meinung, dies werde als Entschuldigung verstanden

image Überbrücken einer Pause („Äh“)

image Begrüßung („Schönen guten Tag!“)13

All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Damit überfordern sie sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörenden in Kontakt zu kommen.

Das ist kennzeichnend für den Umgang mit der Zeit in der öffentlichen Rede. Der Ausgangspunkt ist eine harmlose und selbstverständliche Rahmenbedingung des öffentlichen Redens: die Zeitabsprache. Wie geredet werden soll, ist vorgegeben, und es wird erwartet, dass die Person, die vorne steht, die vereinbarte Zeit auch einhält. Dies ist ein wichtiger Unterschied zum Alltagsgespräch. Dort ist ein flexibler zeitlicher Rahmen die Regel.14 Für öffentliche Debatten und Reden dagegen gibt es nicht nur feste Termine, sondern auch eingehende Absprachen darüber, wer wie lange reden darf. Diese Regelung wird fast in jedem Fall als Einschränkung verstanden, seien es die großzügigen 90 Minuten der universitären Vorlesung oder die fünf Minuten, die den Mitgliedern des Deutschen Bundestags für „Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse“15 zuerkannt werden. Es führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.

imageDer Einfluss der Zeit

imageZeitmanagement durch die Rednerin (im Gegensatz zum gemeinsamen Zeitmanagement im privaten Dialog)

imageTendenz zu vorzeitigem Beginn

imageTendenz zu hoher Sprechgeschwindigkeit

imagegleichzeitiges Ausführen verschiedener Handlungen (z.B. Sprechen und Bedienung technischer Geräte)

Wesentlich ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.

Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so vielen oder so wenigen Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.

3Der Veranstalter spielt mit

Man schreibt das Jahr 1687. An der Universität Leipzig warten die Studierenden gespannt auf die Vorlesung des Juristen und Philosophen Christian Thomasius. Er hat Unerhörtes angekündigt: Er wird deutsch dozieren, nicht mehr lateinisch, wie bis anhin gemeinhin üblich. Zum Skandal aber wird sein Auftritt noch aus anderen Gründen: Thomasius tritt nicht mehr in der Universitätsrobe auf, der langen Amtstracht, die die Professoren, ähnlich wie die Vertreter der Kirche und des Rechts, von der übrigen Bevölkerung unterscheidet. Statt des schwarzen Talars trägt Thomasius ein französisches Seidengewand, goldenen Schmuck und dazu eine passende Perücke.16 Er folgt damit der Mode der vornehmen Stände und setzt sich von den Vorgaben seiner Hochschule und seines Standes ab.

Thomasius zog damals Tadel auf sich – nicht nur von der Universität, sondern auch vom König und von der Kirche. Für ihn als Vorkämpfer der Aufklärung, der unter anderem gegen Vorurteile aller Art, insbesondere aber gegen Hexenprozesse ins Feld zog, war der Protest gegen alte Zöpfe ein wichtiges Symbol. Er war damals noch auf weiter Flur der Einzige, der sich auf diese Weise auflehnte. Das ist kennzeichnend dafür, wie stark der Einfluss der institutionellen Rahmenbedingungen auf das Verhalten von Rednern sein kann.

Vieles hat sich seither gewandelt. Aber noch immer brauchen Reden eine öffentliche oder private Einrichtung, die ihnen den Rahmen verleiht: die Schule, das Gericht, das Parlament usw. Diese Einrichtung ist der Veranstalter und schafft den Raum für die Rede. Sie sorgt für ein Publikum und setzt den Redner in Szene. Gleichzeitig gibt sie Regeln vor, die beim Reden einzuhalten sind. Sprache und Kleidung haben dabei meist weniger Gewicht als der Inhalt, auch wenn sie oft den Vorwand für ein Einschreiten des Veranstalters bieten.

Einfluss auf die Verbreitung

Eine Rede wird von drei Mitspielern bestritten. Nicht nur Redner und Publikum gehören dazu, sondern auch der Veranstalter. Dieser hatte schon in jedem Jahrhundert seine eigenen Möglichkeiten, auf eine Rede und ihre Wirkung Einfluss zu nehmen. Wie dies im 21. Jahrhundert geschehen kann, zeigt das Beispiel der weltumspannenden Vortragsfirma TED. Sie veranstaltet Bühnenprogramme mit Kurzvorträgen, die später im Internet Millionen von Klicks generieren. Die Teilnehmenden müssen sich aber an einen ganzen Katalog von Vorschriften halten. Damit bringt TED immer wieder Redner und Publikum gegen sich auf. So zum Beispiel im Jahr 2012, als im Center Theater im kalifornischen Long Beach der Unternehmer und Investor Nick Hanauer auftrat. Sein Vortragsstil fügte sich zwar nahtlos in die Reihe der TED-Vorträge ein. Dennoch führte er zu einer heftigen Kontroverse.

Hanauer – Mitte 50, kurzes schwarzes Haar – trägt weder Robe noch Anzug, sondern einen schwarzen Pulli und blaue Jeans. Er ist es gewohnt, vor Publikum zu sprechen, und wirkt dennoch etwas angespannt. Im Scheinwerferlicht sieht er nicht viel weiter als bis zu den ersten Reihen. Er sucht noch seine endgültige Position, als er schon zu sprechen beginnt:

»Es ist erstaunlich, wie einschneidend eine einzelne Idee eine Gesellschaft und ihre Politik beeinflussen kann …«

Nick Hanauer gehört zu der Gruppe der gut 600 Milliardäre der Vereinigten Staaten, aber die Botschaft, die er verkündet, ist für Seinesgleichen ungewöhnlich. Seine These: Die Steuervorteile, die reiche Bürger und große Unternehmen genießen, bringen der Gesellschaft keinen Nutzen. Zwar werde üblicherweise behauptet, dass sie die so erzielten Einsparungen für neue Arbeitsplätze nutzten. Aber Hanauer streitet dies vehement ab:

»Reiche Leute wie ich schaffen keine Arbeitsplätze; Arbeitsplätze sind die Folge einer Rückkopplung von Kunden und Unternehmen.«

Für die Zuhörenden, vor denen er spricht, ist Hanauer ein Nestbeschmutzer. Die zweitägige Veranstaltung ist ein Festival für vermögende und erfolgreiche Persönlichkeiten, die in kurzen Vorträgen die Geheimnisse ihres Erfolgs preisgeben. Hanauer passt da nicht richtig ins Konzept. Vielleicht wirkt er deshalb zu Beginn eher unsicher, fängt zu früh mit Reden an, entwickelt wenig Gestik, lächelt kaum.

Im Publikum sitzen genügend reiche Leute, die sich nicht besonders geschmeichelt fühlen. Und es zeigt sich, dass auch der Veranstalter, TED, wenig Interesse hat, die Reichen und Superreichen, die schon viel zu seinem Erfolg beigetragen haben, zu brüskieren. Die Quittung folgt denn auch sogleich. Während andere TED-Vorträge auf der Website der Organisation prominent in Szene gesetzt werden, beschließt der CEO in diesem Fall, das Video von Hanauers Rede nicht zu veröffentlichen.

Die Begründung: Die Leistung sei „mittelmäßig“ gewesen, das anwesende Publikum habe gemischte Reaktionen gezeigt und mit der politischen Botschaft könnten sich viele Geschäftsleute angegriffen fühlen.17

Mitspieler Nummer 3, der Veranstalter, hatte zugeschlagen. In seiner Macht steht es, den Rednern eine Plattform zur Verfügung zu stellen oder auch zu entziehen. Er sorgt dafür, dass die Rede einer weiteren Öffentlichkeit zugänglich wird. Im Fall von Hanauers TED-Auftritt wäre dies die Verbreitung über eine vielbeachtete Internetplattform gewesen, deren Inhalte (oder ebene fehlende Inhalte) von anderen Medien aufgenommen und kommentiert werden. Der TED-Internetauftritt ist die Pforte für den öffentlichen Diskurs. Ohne sie fehlt dem Vortrag die Chance, Thesen und Argumente zum Thema auszutauschen – in diesem Fall zum Themenkomplex Steuer, Reichtum und Armut, soziale Ungleichheit.

Einfluss auf Inhalt und Sprache

Was gesagt werden kann und wie es gesagt werden soll, ist in der öffentlichen Rede Beschränkungen unterworfen. Der Veranstalter kann für die Reden, die in seinem Einflussbereich gehalten werden, eigene Regeln formulieren. Was die TED-Vorträge betrifft, so existiert eine Liste, die angibt, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Dies geht so weit, dass Behauptungen, die sich „außerhalb orthodoxen wissenschaftlichen Denkens“18 bewegen, der Zensur unterworfen werden.19 Aber auch für die Sprache gibt es Regeln. So ist zum Beispiel „unpräzises New-Age-Vokabular“ verboten.20 Es ist leicht denkbar, dass es da Redner schwer haben, die eine radikale politische oder philosophische Position vertreten.21

Als selbständiges Unternehmen hat TED die Freiheit, seine eigenen Regeln aufzustellen, ähnlich, wie es auch für andere Veranstalter gilt, seien es jetzt Ausbildungsstätten, Vereine oder andere private oder öffentliche Einrichtungen. Meistens bleiben die Regeln unausgesprochen, bis daraus Konflikte entstehen. Im Fall von Hanauer kam es bald zu einem Kräftemessen zwischen TED und dem Redner, der immerhin finanzkräftige Partner hinter sich wusste. Er wehrte sich erfolgreich. TED gab klein bei, lud später Hanauer sogar erneut ein, um ihn dann sehr schmeichelhaft auf der TED-Website zu präsentieren.22

Die Regeln des Veranstalters müssen nicht, wie bei TED, schriftlich festgelegt23 sein; andernorts hält man sich mehr oder weniger unbewusst an traditionelle Formen. Wie der Pfarrer bei der Taufe spricht (in welcher Kleidung, welchen Worten, an welchem Platz in der Kirche und mit welchen Gesten), ist in der Liturgie des Gottesdienstes festgeschrieben. Was im Parlament möglich ist und was nicht, schreibt die Geschäftsordnung vor. Aber auch wenn Jugendliche einen Debattierclub gründen, stellen sie ad hoc Regeln auf, die nicht sehr von den überlieferten Gebräuchen abweichen, obwohl sie es in der Hand hätten, völlig neuartige Formen auszuprobieren.

imageDer Einfluss des Veranstalters:

imagePlatzierung der Rede im Programm: im Kontrast zu anderen Reden

imageRegeln zur Form: von der Kleidung bis zum sprachlichen Ausdruck

imageFestlegung inhaltlicher Grenzen

imageEntscheidung über die Weiterverbreitung: Kontakt zur Presse, Internetauftritt, Aufnahme in Publikationen

Alle diese Formen der Einflussnahme lassen einen wichtigen Grundton des Redens in der Öffentlichkeit erkennen: Es geschieht in einem Kontext der Autorität. Der Rollenunterschied zwischen Redner und Zuhörenden fügt sich ein in das Machtgefälle von Veranstalter und Publikum. Wenn der Redner sich den Vorgaben des Veranstalters fügt, profitiert er von dessen Macht. Wenn er (wie Hanauer) Thesen vertritt, die den Interessen des Veranstalters widersprechen, oder formale Vorgaben unterläuft (wie es gelegentlich bei Oscar-Verleihungen zu beobachten ist), nimmt er einen Machtkampf auf, den er auch verlieren kann. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von Reden oft gerade darauf zurückzuführen, dass der Redner in Maßen auf Distanz zum Veranstalter geht, mit dessen Regeln kokettiert oder sie explizit missachtet.

In der Fernsehserie Wie man mit Mord davonkommt24 steht eine Juraprofessorin im Mittelpunkt, die ihre Strafrechtsvorlesung nicht als Theorie von Recht und Unrecht konzipiert hat, sondern als Anleitung, das Gesetz zu umgehen. Damit hebt sie sich explizit von ihren Kollegen ab. Gleichzeitig erzielt sie auf diese Weise einen enormen Zulauf von Studierenden und nützt damit nicht nur ihrem eigenen Renommee, sondern auch dem ihrer Universität.

Zu berücksichtigen bleibt, dass institutionelle Vorgaben auch etwas Gutes haben. Auch wenn sie in vielen Fällen lächerlich oder veraltet wirken, erleichtern sie andererseits auch die Kommunikation. Sie unterstreichen die Funktion der betreffenden Person und verleihen ihr damit mehr Autorität. Zur rhetorischen Praxis gehört es, sich zu überlegen, inwieweit es möglich ist, von den Normen des Veranstalters zu profitieren, aber auch von ihnen abzuweichen, um nicht nur als Vertreter einer abstrakten Instanz, sondern auch als Individuum in den Dialog mit dem Publikum zu treten.

4Normen von Kultur und Gesellschaft

Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht. Als dieser aber seine Entdeckung beim internationalen Astronomen-Kongress bekannt machte, habe ihm niemand geglaubt, „und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen“.

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Abb. 4: Antoine de Saint-Exupéry: Der Astronom in traditioneller Kleidung.

Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“25, berichtet Saint-Exupéry.

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Abb. 5: Antoine de Saint-Exupéry: Der Astronom elf Jahre später.

Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seiner Organisation und seiner Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.

Das Redeverhalten wird oft als Kriterium der Beurteilung der Persönlichkeit missbraucht. Am 6. Dezember, abends, wenn es dunkel war, besuchte uns der Nikolaus. Er hatte einen Sack mit Nüssen, Äpfeln und Lebkuchen bei sich und war ein Vorbote der Bescherung zu Weihnachten. Nur stellte er uns Kinder auch vor eine Aufgabe, die nicht allen leichtfiel. Wir mussten in den Tagen zuvor ein kurzes Verslein auswendig lernen. Am Nikolausabend galt es dann, vor diesem Mann, den wir als ziemlich bedrohlich empfanden, und vor der ganzen versammelten Familie dieses Verslein vorzutragen.

Wer dies gut hinter sich brachte, wurde als „brav“ gelobt. Nun hat zwar brav zu sein, nichts mit der Fähigkeit zu tun, ein Gedicht auswendig zu sprechen. Aber es ist nicht ganz untypisch dafür, wie im Alltag mit Sprachnormen umgegangen wird. Eine persönliche Eigenschaft, die damit nichts zu tun hat, wird damit verknüpft, wie sich jemand sprachlich äußert. Uns wurde damals mit der Pflichtübung vor dem Nikolaus eingebläut, dass öffentliches Reden etwas Besonderes ist.

Was für den kleinen Jungen im Vorschulalter galt, gilt für ihn auch im späteren Leben. Eine rednerische Aufgabe ist zu lösen und das Resultat wird dazu genutzt, den Redner als Gesamtpaket zu beurteilen. Das Reden – die Sprachverwendung überhaupt – dient als Indiz für Charaktermerkmale und Fähigkeiten, die damit wenig zu tun haben. Die rednerische Brillanz oder das rednerische Ungeschick überdeckt alle anderen, wichtigeren Fähigkeiten.

Derartige Voraussetzungen lassen sich nicht durch einen einzigen Auftritt torpedieren. Das Spiel muss im Rahmen seiner Regeln gespielt werden. Aber es lässt sich sanft in einer Richtung korrigieren, die es sowohl dem Redner leichter macht als auch die Informationsvermittlung verbessert: in Richtung Dialog. Die Schwerpunkte im praktischen Teil dieses Buchs haben genau dies zum Ziel.

Tradition, Ritual, Macht

Dass gesprochene Sprache und Ritual eng zusammengehören, wird zu einem gewissen Grad immer so bleiben. Ohne den rituellen mündlichen Vortrag, der noch im Mittelalter weit wichtiger war als der Umgang mit der Schrift, wäre unsere Literatur arm dran.26 Reden werden gehalten, um Jubilare zu ehren, um Begräbnissen einen würdigen Rahmen zu geben oder auch um an einem politischen Feiertag ein Zeichen zu setzen. Nicht was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird, ist wichtig. Ohne gesprochene Formeln bei Gründungsakten, Taufen oder Ernennungen könnte die betreffende Handlung gar nicht durchgeführt werden. Einen negativen Einfluss auf den Umgang mit dem Reden hat erst der Umstand, dass in vielen Fällen Äußerlichkeiten, Form und Gehabe wichtiger genommen werden als der Inhalt. Und so lange es das Reden als Ritual gibt, wird man es auch mit Werten verknüpfen, die sich weitab vom Inhalt des Gesagten bewegen.

Dies ist in der öffentlichen Rede ständig präsent. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen, sich vom sozialen Druck, der daraus entsteht, so weit wie möglich zu emanzipieren und nur diejenigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, ohne die man nicht auskommt. Es geht also darum, sich an die Erwartungen der Umgebung so weit anzupassen, dass die Verständigung nicht darunter leidet.

Dass der Versuch, den rhetorischen Machtverhältnissen eigene Werte entgegenzustellen, in der klassischen Rhetoriktradition aber bald auf Grenzen stößt, zeigt drastisch auch die Genderproblematik.

Das Reden in der Öffentlichkeit galt seit jeher generell als Männerdomäne. Die klassische Rhetorik demonstriert dies sehr gut, deren Vorannahmen und Regeln auf männliche Juristen, Politiker oder Kulturschaffende ausgerichtet waren. Die ideale Rednerpersönlichkeit war der vir bonus, der rechtschaffene Mann. Frauen, die sich in der Antike poetisch oder politisch im männlich definierten öffentlichen Raum äußerten, wurden von männlicher wie weiblicher Seite gleichermaßen kritisch beäugt und ihr Einfluss und Respekt wurden „in der Regel unterminiert.“27 Konrad Lienert, Verfasser einer „Einführung in die Redekunst“, die es vor gut hundert Jahren zu sieben Auflagen brachte, setzte dem Buch mit dem Titel Der moderne Redner noch ohne Bedenken die folgenden Zeilen voran:

»Das war ein Mann! Sein Schwert hat er geschwungen,
Das Schwert des Wortes, männlich, kühn und scharf,
Und Jauchzen schallte, wenn dies Schwert erklungen,
Wenn es zu Boden jeden Gegner warf.«28

Da ist alles drin, was zur Verherrlichung der „Macht des Wortes“ gehört,29 und nicht nur der Führer des Schwertes ist ein Mann, sondern auch das Schwert selbst, das jeden Gegner niederschlägt, ist männlich.

Nun hat sich zur Zeit des besagten türkischen Astronomen in Europa einiges getan. Die Frauenbewegung kämpfte für die Gleichberechtigung, Politikerinnen wie Rosa Luxemburg verschafften sich trotz Anfeindungen Gehör. Aber die Normen blieben männliche Normen. Auch die kriegerische Vorstellung, dass öffentliches Reden ein Kampf sei, in dem das stärkere Argument obsiegt, passt zu einer Welt, in der die Männer für Sieg und Niederlage zuständig sind, die Frauen dagegen für den Ausgleich und das Zusammenkehren der Scherben.

Es ist zwar ein Topos der praktischen Rhetorikliteratur, dass „Frauen den Beziehungsaspekt in ihrer Rede in den Vordergrund stellen und einen partnerschaftlichen, kooperativen und integrativen Redestil pflegen.“ Männer dagegen bevorzugen angeblich einen Stil der Auseinandersetzung und der Sachlichkeit.30 Es existieren moderne Rhetorikratgeber für Frauen, die ein Redeverständnis vertreten, „das nicht auf der Unterscheidung von Sieg und Niederlage basiert, sondern das Raum für ein Nebeneinander von souveränen Subjekten lässt.“31 Doch dies hat bisher in der öffentlichen Rede weder zu einem erkennbaren weiblichen Stil noch zu einem Umdenken männlicher Redner geführt.

imageDer Einfluss gesellschaftlicher und kultureller Normen

imageAnwendung von Praktiken der eigenen Gruppe/Kultur auf andere

imageVerwechslung rednerischer Fähigkeiten mit persönlichen Qualitäten

imageBetonung ritueller Funktionen von Reden

imageVorgabe „männlich“ besetzter Rede-Ideale

Für die Ziele dieses Buchs ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass zu den traditionellen Rahmenbedingungen des öffentlichen Redens Faktoren gehören, die sich aus institutioneller, politischer und geschlechtsbezogener Macht ergeben. Der rednerische Auftritt in einem Rahmen über Jahrhunderte entwickelter Machtinstrumente ist nicht möglich, ohne dass auch die Rednerin auf diese zurückgreift. Aber es ist in vielen Fällen möglich, auf Kommunikationsweisen zu verzichten, die nur dem Machterhalt und nicht der Sache dienen, und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.32 Hilfreich ist es dabei, die Funktion der einzelnen Rede nicht zu überschätzen, sondern sie als einen von vielen Kommunikationsprozessen in einem größeren Ganzen zu sehen. Nicht der Auftritt der Politikerin in der Gemeindeversammlung ist entscheidend, sondern die Gesamtheit der Arbeitsschritte, die ihm vorangegangen sind und folgen werden.

5Reden entstehen geplant

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch hatte keine Probleme damit, seine Kollegen und Mitarbeiter im direkten Gespräch zu beeindrucken. Bevor er aber seine Vorlesung an der Universität Zürich hielt, war er so aufgeregt, dass er um das Hörsaalgebäude laufen musste, um sich zu beruhigen.33 Loriot, der Humorist, der jede Alltagssituation souverän karikieren konnte, entwickelte vor seinen Bühnenauftritten ein so starkes Lampenfieber, dass er gegen Ende seiner Laufbahn seinen guten Freund Otto Sander bat, für alle Fälle als Ersatz bereitzustehen.34 Es half weder Sauerbruch noch Loriot, zu wissen, dass ihre Zuhörenden sie fast bedingungslos akzeptierten, wenn sie am Rednerpult oder auf der Bühne standen. Dennoch nahmen sie die Schwelle zum öffentlichen Auftritt immer wieder auf drastische Weise wahr.

Lampenfieber und Redeangst bestimmen viele Berichte über das öffentliche Reden. Wenig beachtet wird dabei die Tatsache, dass wir in den allermeisten Redesituationen frei von Lampenfieber sind: beim Reden im Gespräch von Gleich zu Gleich. „Im Gespräch mit ihm fühle ich mich wohl“, heißt es oft. Und in den meisten Fällen denkt man nicht einmal darüber nach. Klar, denn im Alltagsgespräch braucht man keine Sorge zu haben, ob das Gesagte „gut“ oder „korrekt“ formuliert ist. Die anderen werden nicht als Publikum verstanden, sondern als Gesprächspartner. Sie helfen bei Bedarf auch aus, vervollständigen einen Satz oder Gedanken und nehmen dadurch der Situation den Druck, den man allenfalls empfinden könnte. Es ist ein dialogisches Sprechen, ein Miteinander.

Öffentliches Reden aber behindert Spontaneität. Reden entstehen unter dem Vorzeichen eines zu erreichenden Redeziels und sind deshalb immer zu einem gewissen Grad vorbereitet. Vier wichtige Aspekte, in denen sich die Redeproduktion vom nichtöffentlichen Gespräch unterscheidet, sollen hier behandelt werden:

image der psychische Übergang vom Unauffälligen des Alltäglichen zum Exponierten der Ausnahmesituation, der sich in Lampenfieber äußert,

image die geistige Vorbereitung, die notwendig ist, damit die Rede ein Publikum verdient,

image der Einfluss früherer Texte auf die eigene Sprache und Redeweise,

image die Ausrichtung der Rede auf ein einziges Ziel.

Vom Nutzen des Lampenfiebers

Fast alle berühmten Schauspielerinnen, Musiker, Akrobatinnen, Clowns – die meisten Menschen, die auf irgendeine Weise vor Publikum aufgetreten sind, können vom Lampenfieber erzählen. Genauso gilt es für Rednerinnen in unterschiedlichsten Situationen. Sogar Menschen, die die Angst zu einem gewissen Grad überwunden haben, beteuern, dass ein Respekt für die Aufgabe notwendig sei. Dass sich dieser auch in Nervosität ausdrückt, gilt als normal.