Tim Krohn, 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, lebt mit seiner Frau und vier Kindern in der Schweiz, im kleinen Bündner Bergtal Val Müstair. Er veröffentlichte zahlreiche Romane und Erzählungen, zuletzt 2018 Der See der Seelen und Julia Sommer sät aus. Unter dem Pseudonym Gian Maria Calonder schreibt er außerdem Krimis, die im Engadin spielen und in der Schweiz fast ununterbrochen auf der Bestsellerliste stehen. Mit Berlin verbindet den Autor viel, unter anderem hat er zur Zeit des Mauerfalls als Student dort gelebt und gehörte 1993 zu den Gewinnern des ersten Open Mike. Sein Wenderoman Dreigroschenkabinett feierte an der Berliner Volksbühne Premiere, und weite Teile seines Kultromans Vrenelis Gärtli wurden in Berlin verfasst. Mit dem Roman Die heilige Henni der Hinterhöfe, an dem er über zehn Jahre lang gearbeitet hat, kehrt er literarisch in seine zweite Heimat zurück.
Nachdem Henni Binneweis sich vier Wochen lang fast lüstern mit dem blutigen Attentat auf Herzogin Sophie und ihren Gatten befasst, Zeitungsausschnitte gesammelt, Fakten und Namen auswendig gelernt und an der Ungerechtigkeit der Welt gelitten hatte, war sie begeistert, als Kaiser Wilhelm den Serben den Krieg erklärte. Nichts konnte gerechter sein als das. Dass Männer Männer umbrachten, war ja normal. Dass dagegen ein Mann eine Frau erschoss, dazu noch eine Herzogin und Mama und eine, die brav im Auto gesessen hatte und keinem etwas antun wollte … Was mussten diese Serben für Barbaren sein! Jeden Abend lag Henni noch ein Weilchen wach und malte sich aus, wie sie sich zwischen das Automobil und den Schützen werfen würde, um mit der eigenen, schmalen Brust die Kugel abzufangen, und dabei fühlte sie eine innige Verzweiflung darüber, dass sie die arme, hilflose Sophie Maria Josephine Albina Gräfin Chotek von Chotkowa und Wognin, Fürstin und Herzogin von Hohenberg, an jenem 28. Juni in Sarajevo nicht vor diesem Gavrilo Princip hatte retten können, sondern zum Schulausflug auf dem Wannsee gewesen war. Der Name Henriette Binneweis wäre zweifellos in die Geschichtsbücher eingegangen, man hätte sie zum Ritter geschlagen oder heiliggesprochen. Es war zu ärgerlich, und manchmal weinte sie deswegen sogar ein paar richtig echte Tränen.
Damit sie flossen, half es, wenn sie daran dachte, was die drei verwaisten Herzogskinder wohl in dem Moment durchmachten, die zwölfjährige Sophie, der kleine Ernst und Max, der Mittlere, der wie Henni elf war. Sicher lagen sie jetzt auch schlaflos irgendwo in diesem fernen Böhmen und heulten Sturzbäche. Der Erzherzog hatte ja, ehe ihn die Kugel traf, seine schon getroffene Frau noch extra angefleht: »Sopherl, Sopherl, stirb net, bleib am Leben für unsere Kinder!« So hatte es in Frau und Welt gestanden. Und was hatte es geholfen? Da lagen sie nun ohne Mutter, ohne Vater, in einem finsteren, leeren Schloss in Böhmen, und ihre Zukunft war wüst und leer. Wo Böhmen lag, hatte Henni mehrmals nachgeschlagen und immer gleich wieder vergessen, aber sie stellte sich eine weite karge Landschaft vor, in der es tagein, tagaus dämmerte, und wer dort aufwuchs, war zart und bescheiden und hatte – sogar die Adeligen – ganz abgearbeitete Hände.
Bestimmt würden Sophie, Max und der kleine Ernst, schutzlos, wie sie waren, dort sehr bald auch ermordet.
Das malte sich Henni ganz besonders gern aus, wobei sie sie abwechselnd vergiften oder erdrosseln ließ. Leider blieben ihre Fantasien dabei etwas blass, weil sie so vieles nicht wissen konnte. Schliefen Adelskinder zum Beispiel auch auf piksenden Rosshaarmatratzen? Und schliefen sie in Wäsche oder nackig? Aus diesem Grund ging sie schließlich dazu über, sich selbst und Kuddl meucheln zu lassen, am liebsten von ganzen Horden böser Buben, deren Augen unter schwarzen Kapuzen hervorfunkelten und die sie mit haarigen, sehnigen Händen am Schopf die Treppe runterzerrten, wo sie gefesselt, bespuckt und auf Karren verladen wurden. Das brachte Hennis Blut so richtig in Wallung, und sie wand sich und stöhnte nach Herzenslust, bis Kuddl einen Schuh nach ihr warf, weil er nicht schlafen konnte.
Kurz vorm Einschlafen dachte sie dann wieder an die Kaiser. Erst an den bösen, an Kaiser Franz Josef von Österreich, der sich erfrecht hatte, Herzogin Sophie ein Staatsbegräbnis zu verweigern, bloß weil ihm ihr böhmischer Adel zu unfein gewesen war, dabei war sie für sein Österreich gestorben. Dann, als Krönung sozusagen, nochmals daran, wie nun ihr deutscher Kaiser den Serben die Lektion erteilte und nicht eine Sekunde danach gefragt hatte, ob die Sophie böhmisch, österreichisch oder deutsch gewesen war. Eine Frau gehört nicht so erschossen, Punktum. Ja, an ihrem Kaiser sollte Franz Josef sich mal ein Beispiel nehmen in Sachen Größe und Güte! Bisher war Henni so deutsch gewesen, wie man etwa brünett ist oder Senkfüße hat oder angewachsene Ohrläppchen. Aber seit Kaiser Wilhelm den Krieg erklärt hatte, war sie richtiggehend stolz darauf.
Und sie zweifelte auch nicht daran, dass jetzt ihr eigenes kleines, popeliges Leben eine Wende nahm. Denn das war ihr geweissagt worden. An ihrem vierten Geburtstag, dem 29. November 1906, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, mit ihrem Papa, dem Postbeamten Arthur Binneweis, auf den Spielplatz zu gehen. Nicht den normalen am Wörtherplatz, sondern raus auf die Hasenheide, zum sogenannten »großen« Platz, zu dem ein Wunderkreis gehörte, ein Rundlauf, eine Schlängelbahn, Turngeräte und vor allem ein haushohes Klettergerüst aus Stangen und Seilen. Das nämlich wollte Henni besteigen, und da war es ihr piepegal, dass über Nacht an den Fenstern Eisblumen gewachsen waren und es nasse, schwere Flocken schneite.
Während also Mama Honigkuchen buk und Kuddl in der Schule saß, fuhr Arthur Binneweis, der extra freigenommen hatte, mit Henni in der Elektrischen nach Neukölln und ritt sie huckepack zur Hasenheide. Das Wasser rann ihm von der Hutkrempe und Henni unters Mäntelchen, und auf dem Spielplatz standen dicke Pfützen. Doch der Kletterturm war dort, wo er hingehörte, und anderes zählte nicht.
Die nassen Taue machten klamme Finger, und das Holz war glitschig, aber Henni zögerte nur kurz. Als Papa fragte: »Wollen wir die Kletterei nicht bis zum Frühjahr schieben und dafür im Josty heiße Schokolade trinken?«, kletterte sie schon vom ersten Balken und zog sich Sprosse um Sprosse hoch. Anfangs stützte er sie noch, dann stieg sie einfach weiter, immer weiter, und im Nu war sie oben.
»Ich bin oben!«, rief sie. »Siehst du mich?«
Arthur Binneweis applaudierte und rief: »Und nun steig mal wieder ab, bevor mein Hut sich auflöst, dann trinken wir zur Feier im Josty Schokolade.«
»Ich weiß aber nicht, wie runter.«
»Na, einfach runter«, rief Papa wenig hilfreich, »so, wie du hochgekommen bist.«
»Geht nicht, du musst mich holen.«
»Schritt für Schritt, es ist ganz einfach.« Arthur Binneweis sah seine Tochter im Schneegestöber nur noch wie schraffiert.
Sie tapste mit einem Fuß im Leeren, dann rief sie wieder: »Geht nicht, komm mich holen.«
»Also gut, ich hole dich!« Er hängte Hut und Mantel an ein Pauschenpferd und stieg aufs Gerüst. Aber kaum war er ein paar Meter hoch, rutschte er in seinen Halbschuhen ab, fiel halb, sprang halb vom Gerüst und stauchte sich den Knöchel.
Henni hörte ihn wohl schreien, sie fragte aber nur: »Holst du mich jetzt? Ich fühle meine Fingerchen gar nicht mehr.«
Arthur Binneweis versuchte sie nochmals zum Klettern zu bewegen. Er sah sie jetzt auch besser, weil es nicht mehr schneite, sondern regnete, und wollte ihr beschreiben, wo die Sprossen waren.
Doch Henni schrie nur immer: »Komm mich holen, komm mich holen!«
»Ich hole Hilfe«, erklärte er schließlich und humpelte zum nächsten Haus. Dort öffnete ihm ein Mädchen, das etwas älter war als Henni, vielleicht sieben.
»Den Kletterturm kenne ich gut«, sagte sie und versprach, Henni herunterzuhelfen.
»Das ist Elfriede«, rief Arthur Binneweis, als sie wieder auf dem Spielplatz waren, »sie hilft dir runter.«
Elfriede kletterte hoch und machte direkt unter Henni halt. »Ich nehme jetzt deinen Fuß und setze ihn auf die untere Sprosse. Dann stehst du drauf, und ich nehme den anderen Fuß.«
Henni klammerte sich aber nur am Gerüst fest, und als Elfriede ihren Fuß vom Seil ziehen wollte, trat sie zu.
Elfriede heulte gleich los. »Sie hat mich ins Gesicht getreten, der helfe ich bestimmt nicht runter.«
Vergeblich versprach Arthur Binneweis ihr einen Groschen. Elfriede blutete aus der Nase, daher bekam sie den Groschen dann auch so und einen zweiten dafür, dass sie Arthur Binneweis zur Feuerwehr brachte.
»Henni, hältst du durch?«, fragte er davor. »Ich hole die Feuerwehr.«
»Ich will bei Josty dafür aber Wiener Schokolade mit viel, viel Sahne«, erklärte Henni.
Arthur Binneweis humpelte los, schrie und ächzte bei jedem Schritt und war bald schweißgebadet.
Danach ging alles ganz schnell: Zwei Mann rückten mit dem Leiterwagen aus, und bis Arthur Binneweis sich zurück zur Hasenheide gekämpft hatte, war der eine schon bei Henni, hob sie vom Gerüst, setzte ihr seinen Helm auf und trug sie runter.
Während Arthur Binneweis sich ans Pauschenpferd klammerte und nach Luft rang, machte Henni es sich auf dem Arm des Feuerwehrmanns gemütlich.
»Entschuldige dich bei den Herren für die Mühe, Henni«, sagte Arthur Binneweis.
Doch ehe Henni etwas sagen konnte, lachte der eine Feuerwehrmann. »I wo, Ihr Frollein Tochter is nu mal eene, die will hoch hinaus, find ick prima. Fußvolk ham wir ja mehr als jenuch in Preußen. Ihre Henni dagegen, dit sarick Ihn, is zu Höherem jeborn, aus der wird wat. Da wernse noch staunen.«
Und danach setzte er Henni sogar auf den Leiterwagen und kutschierte sie zur Straßenbahn, Arthur Binneweis humpelte hinterher. Zum Café Josty schaffte er es nicht mehr. Als sie nach Hause kamen, war sein Knöchel geschwollen wie eine Melone, Fieber hatte er auch, und statt heißer Schokolade gab es nun Essigwickel oben und unten.
Dafür hatte er eine Geschichte, die er von da weg an jedem Geburtstag erzählte. Henni sagte meist nicht viel, sie erinnerte sich auch bald nur noch daran, wie sie der Feuerwehrmann vom Gerüst gehoben und gesagt hatte: »Die Henni is zu Höherem jeborn.«
Und wenn in ihrer Mietskaserne am Prenzlberg wieder Katzenjammer herrschte, weil es mit Deutschland einfach nicht aufwärtsgehen wollte, und erst Krieg mit den Hottentotten war und dann oder darum oder trotzdem Hunger herrschte, in Moabit Kohlearbeiter und Kutscher erschossen wurden, weil sie nicht mehr hungern wollten, die deutsche Fußballelf gegen England nur unentschieden spielte und dann auch noch die Titanic unterging, die doch laut Papa nicht nur das größte Schiff der Welt gewesen war, sondern vor allem ein Beweis für den Sieg des modernen Menschen und darum als Sonderdruck des Berliner Anzeigers über der Essbank gehangen hatte, und Mama heulte: »Was soll in soner Welt nur aus den Kindern werden?«, dann wusste Henni immer genau, dass aus ihr schon etwas werden würde, wenn auch noch nicht abzusehen war, was.
Arthur Binneweis konnte sich für seine Tochter nichts Besseres denken, als dass sie Fräulein vom Amt oder Stenotypistin würde. Hennis Mama Ruth Binneweis versuchte sie dagegen für die Häuslichkeit zu begeistern: für fachgerechtes Scheuern der Fußböden (Fettlauge und Bürsten nach Strich für die Bohlen, Milchwasser und Leinen für den Linoleumteppich, dazu täglich Bohnern mit einem Ärmel von Papas alter Jägerjoppe, die ihm lange vor Hennis Geburt ein aufgebrachter Terrier zerrissen hatte, als er auf Pirsch mit seiner schlagenden Verbindung gewesen war, sowie Salmiak und kaltes Wasser für den gelackten Flur), fürs Wäschewaschen mit Kleie, Borax und Essig, und zwar mit Hebelwaschmaschine und Dampfwaschhafen, fürs Entfernen von Flecken in der Wäsche mit Sauerkleesalz und Schwefeldampf, Panamarinde, Terpentin, Magnesia, Löschpapier und Soda, fürs Stärken, Walken, Flicken, Bügeln, fürs Heizen, Kochen, Einmachen und Backen mit Klingenberger Turff, englischer Anthrazit- oder belgischer Würfelkohle, Buche, Kiefer oder Petrol, fürs Lampen-, Herd- und Öfenputzen, fürs Bettenmachen und Teppichklopfen, Sticken, Stricken, Nähen, Häkeln, Knüpfen, Flechten, für ordentlich Ordnung im Wäscheschrank, für Einkauf und Buchführung mit Einschreiben und Abschluss, Menüplanung und Lagerung.
Doch Henni begeisterte sich nur für die Wartung des Erste-Hilfe-Schränkchens, weil sich dabei manch wunderbar Schauriges denken ließ, und fürs Pumpen an der Waschmaschine. Dabei malte sie sich aus, sie fahre auf der Eisenbahn-Draisine noch weit hinter die Hasenheide, und zwar ins wilde Kurdistan, von dem Kuddl ihr erzählt hatte (er las, seit er die Daimon-Taschenlampe hatte, jede Nacht bis in die Puppen unter der Bettdecke Karl May) und wo sie sicherlich Größeres werden konnte als neben ihrer Mama. Die war eine stille, duldsame Frau, verrichtete, seit Henni denken konnte, Tag für Tag im selben schwarzen Wollkleid mit Krinoline und Haarteil die Hausarbeit, und fragte Michel Pavellek oder Frau Professor Hein nach ihrem werten Befinden, sagte sie immer nur: »Och, das Jesulein am Kreuze hat doller gelitten, denk ick ma.«
Das sagte sie auch, wenn Henni sich wieder mal das Knie aufschlug: »Nu, nu, nu«, sagte sie, »das Jesulein am Kreuze …« Und selbst, als Kuddl im Hof von der Leiter fiel, weil er um eine Murmel gewettet hatte, dass er es schaffte, auf einer freistehenden Leiter bis ganz nach oben zu steigen, und einen offenen Bruch am Arm davontrug, der Knochen kiekste aus dem Fleisch, und Kuddl brüllte wie am Spieß, da meinte sie nur: »Weißt du, Kurt, das Jesulein am Kreuze …«. Dabei machte der Anblick sie ganz käsig im Gesicht, und dann übergab sie sich.
Als das passierte, war Henni acht und heulte danach den ganzen Abend, und Arthur Binneweis saß noch lange bei ihr am Bett, versuchte sie zu trösten und rief: »Das Kind hat einfach zu viel Gemüt!« Dabei heulte Henni, weil sie gemein fand, dass Kuddl den Arm gebrochen hatte und nicht sie und dass er in die Charité gefahren worden war und jetzt einen großartigen Gips hatte, und zum Abendbrot hatte Mama Binneweis sein Lieblingsessen gekocht, ausgerechnet, Eisbein mit Kartoffelsalat, das sie sonst nie kochte, weil Henni Eisbein nicht ausstehen konnte, und ganz allgemein war Kuddls Unfall das Größte, was den Binneweisens je passiert war. Und dabei war doch sie diejenige, die hoch hinauswollte, und nicht Kuddl, das war einfach nicht gerecht.
Eine zweite Ahnung von Größe erlebte Henni im Jahr darauf, als Mamsell Szàbo, eine Ungarin, die eigentlich als Zugängerin in Pankow arbeitete, an Schwindsucht darniederlag. Mama Binneweis brachte ihr manchmal doppelte Kraftbrühe, und Henni ging gern mit, weil der Anblick, wie die Mamsell so wächsern und fast schon tot in ihrer schmutzigen Spitzenbettwäsche in der engen Besenkammer lag und röchelte, großartig feierlich war, und wenn sie was sagte, roch es nach Gruft, und einmal kam plötzlich ein Schwall Blut aus ihrem Mund. Aber auch Mamsell Szàbo kam dann zum Sterben in die Charité, und das ganz plötzlich. Als Henni von der Schule kam, war schon alles geschehen, und Justus Karnerich, das Faktotum in der Mietskaserne, räucherte gerade die Besenkammer aus. Die stand danach eine Weile leer, und manchmal versteckte Henni sich darin und spielte schwindsüchtig, denn darin steckte wenigstens eine Ahnung von Größe. Aber richtig wahre Größe war es noch nicht.
Die kam erst, als Kaiser Wilhelm den Serben den Krieg erklärte. Am nächsten Tag schon wurde mobilgemacht, und halb Berlin rannte zum Schloss, um ihm zuzujubeln, und der Kaiser hielt vom Balkon herab eine Rede. Binneweisens kamen zu spät, aber Justus Karnerich erzählte ihnen, dass der Kaiser von seiner verkrüppelten Linken einen Tennisschläger hatte baumeln lassen, ganz so, als wollte er die Serben damit persönlich verkloppen, das fand Henni wieder herrlich. Und alle sangen »Die Wacht am Rhein« und schrien: »Schlagt die Serben!« Als Binneweisens nach Hause kamen, begegneten sie der Professorengattin Hein, die mit ihrem Mann in der Beletage im Vorderhaus wohnte und der Henni öfters für einen Groschen den Dackel Gassi führte, und die fand: »Nun sollen unsere Männer dieses Pack mal tüchtig Mores lehren«, obwohl ihr Mann niemanden mehr Mores lehrte, denn der war bestimmt schon über sechzig und damit raus aus dem Alter, in dem man durch Schützengräben robbt.
Sonst wurde aber auch in ihrer Mietskaserne auf Teufel komm raus mobilisiert. Die Salomons aus dem ersten Hinterhaus schickten gleich drei Söhne los, der mittlere, Adolf, wurde davor noch schnell kriegsgetraut, das ging, weil Krieg war, ohne Aufgebot und alles. »Passiert mir was, kriegt mein Schnorrchen immerhin Rente«, hatte er erklärt. So was wurde zwar nicht gern gehört, da doch alle wussten, in zwei Wochen war der Krieg vorbei, aber getraut wurde er doch (und Schnorrchen bekam später auch die Rente). Bestimmt fünfzig Männer marschierten ein, die meisten freiwillig, sodass schließlich fast alle Familien ihren Soldaten hatten. Nicht jeden nahmen sie mit Kusshand, der Frisör Michel Pavellek mit seinem verkürzten Bein wurde in Berlin abgewiesen und musste vier Garnisonen im Umland abklappern, bis eine ihn nahm. Fuhrmann Meisel dagegen durfte sogar seine Pferde mitnehmen und bekam dafür noch tausend Mark. Nur eben Professor Hein war zu alt für den Krieg, und leider rückte auch Hennis Vater nicht ein. Er bekleide auf der Post eine kriegswichtige Position, sagte er, als sie vom Kaiser zurück waren und noch ein spätes Abendbrot verdrückten, und das mochte schon stimmen, aber peinlich war es Henni und Kuddl doch. Auch Mama benahm sich nicht schön, sie hatte gleich Zucker, Reis, Schmalz, Mehl, Grieß und Graupen für ein ganzes Jahr gehamstert und hätte noch mehr eingekauft, hätte Kaufmann Wisniewski ihr nicht für den Rest der Woche Ladenverbot erteilt, dazu schimpfte er sie ein »pessimistisches Element« und hatte recht damit. Kuddl jedenfalls wäre sofort an die Front, mit seinen knapp dreizehn Jahren durfte er natürlich noch nicht. Für die nationale Sache konnte er vorerst nichts weiter tun, als am nächsten Morgen früh um halb sechs dem Schuster Klapp den Pappkoffer an den Bahnhof zu tragen.
Dort erfuhr er auch, dass alle zivilen Reisen gestrichen waren. Sonst fuhren die Binneweisens im August immer nach Plön, wo Hennis Halbschwestern lebten, die Zwillinge Emma und Ella. Zu fünft oder sechst, je nachdem, ob Mama mitkam, quetschten sie sich in ein Fischerhäuschen an einem der Plöner Seen, das Onkel Albrecht gehörte, und Henni schlief wahlweise unterm Waschtrog oder draußen auf der Veranda, wo es von Mücken wimmelte. So war sie dem Kaiser für den Krieg gleich doppelt dankbar. Und Kuddl hatte noch was zu erzählen: Sonderbarerweise fuhren nämlich die Soldatenzüge gar nicht ostwärts nach Serbien, sondern erst hörte er, die Front sei in Russland, dann hieß es Frankreich. Tatsächlich eroberten die deutschen Soldaten an dem Tag aber Luxemburg und Belgien, was wiederum gar nicht weit von Plön lag, da hätten sie glatt mitfahren können. Was Luxemburg mit den Serben und Herzogin Sophie zu tun hatte, hatte Kuddl niemand erklärt, und auch Henni fand den lieben langen Tag keinen, der es ihr erklären konnte, nicht mal Papa wusste Bescheid. Aber sie beschloss dann für sich, dass der Kaiser schon das Richtige tat und einfach besonders raffiniert war.
Kuddl war lange am Bahnhof geblieben, denn dort gab es viel zu sehen. Der Bahnhof war gerammelt voll mit Wehrpflichtigen, dazu kamen allerhand Truppen auf Durchreise, die in Baracken verpflegt wurden, ehe sie weiterfuhren, und Tausende Schaulustige, die »Hurra« und »Deutschland« brüllten. Die Züge waren bemalt und beschrieben wie für einen Kinderumzug, und die Soldaten in den Fenstern winkten und machten flotte Sprüche. Landsturmleute und Bahnbeamte mit Gewehr bewachten die Bahnsteige, damit kein Spion eine Bombe legte oder eine Achse ansägte. Sah jemand zu fremdländisch aus, wurde er von den Leuten verprügelt und vom Landsturm hopsgenommen, denn man durfte kein Risiko eingehen.
Das brachte Kuddl auf die Idee, sie könnten auch in der Mietskaserne auf Jagd nach Spionen gehen, bei ihnen wohnte ja eine ganze Reihe Ausländer. Die meisten waren in den Tagen davor aufs Amt zitiert worden, damit sie entweder dem Deutschen Reich die Treue schworen oder interniert oder abgeschoben wurden. Aber Kuddl meinte, er würde wetten, dass der eine oder andere sich noch in der Wohnung verkrochen hielt, und das wäre dann der Beweis dafür, dass der ein Spion sei und nur darauf warte, zuzuschlagen.
Er machte Henni den Vorschlag, dass sie sich auf die Lauer legten, zum Beispiel unter der Treppe bei den Briefkästen, bis sie einen entdeckten, der vorbeischlich, ihn dann fesselten und im Handwagen auf die Wache führten. Doch als er auf die Idee kam, war es schon fast Mittag, und zu Hause warteten Latkes mit Apfelmus und saurer Sahne, was eine von Hennis Leibspeisen war. Außerdem reichte allein die Tatsache, dass einer zu Hause war, der Polizei kaum als Beweis, dass er auch Bomben legte. Und so entschied Henni, einfach zu klingeln und die Ausländer ins Gesicht zu fragen, wie sie es mit den Serben hielten und ob sie planten, den Krieg zu sabotieren.
Kuddl fand das doof. »Warum sollten sie dir überhaupt aufmachen, wenn sie sich doch verstecken«, sagte er.
Doch Henni fand: »Lass mich nur machen«, und zog gleich von Stock zu Stock und Hof zu Hof, um bei allen zu klingeln oder klopfen, die einen komischen Namen hatten oder sonst wie verdächtig waren.
Sie kannten sie ja alle. »Herr Spolianski«, rief sie durch die Türen, »Herr Sullivan, Frau Chevalier, können Sie mich verstecken?«
Die meisten machten wirklich nicht mehr auf. Erst im vierten Hinterhaus, zwei Treppen links, kam Herr Fjodorov ihnen sogar nachgelaufen, als sie weiterzogen. »Entschuldige, Kindchen«, sagte er und hielt noch einen Topf in der Hand, in dem er rührte, »ich koche meinen Katzen gerade das Essen und wollte nicht mehr Gas verbrauchen als nötig. Komm nur rein, vor wem musst du Ärmste dich denn verstecken? Kurt, willst du ihr etwa böse?«
Herr Fjodorov war wohl pensioniert, jedenfalls war nicht ersichtlich, wovon er lebte. Seine Wohnung teilte er mit mindestens zehn Katzen, und so roch er auch. Dafür holte er Henni manchmal, wenn eine der Katzen geworfen hatte, und sie durfte die Jungen streicheln, bevor Herr Fjodorov sie seufzend in einen ausgedienten Futtersack von Fuhrmann Meisel steckte und in der Spree versenkte, weil der Hausverwalter ihm eigentlich schon die zehn anderen Katzen nicht erlaubte.
»Kuddl doch nicht«, sagte Henni, »nein, wir sind Spione, Herr Fjodorov, und wenn man uns findet, werden wir verkloppt. Sind Sie auch Spion? Also wir jagen ja heute Nacht einen Zug in die Luft, und Sie?«
Herr Fjodorov brauchte einen Augenblick, bevor er begriff, wovon sie redete, dann lachte er aber und sagte vergnügt: »Wofür habe ich wohl all die Katzen, na, Kindchen? Morgen binde ich jeder eine Bombe um den Bauch, und dann lasse ich sie in der Hauptpost laufen.« Vor ihnen her ging er in seine Wohnung zurück. »Dann kommt mal rein.«
Doch Henni schüttelte den Kopf. »Etwas in der Art hatte ich eben befürchtet, Herr Fjodorov«, sagte sie traurig, nahm Kuddl an der Hand und rannte mit ihm auf die Straße, um Herrn Fjodorov zu melden. Zwei Schupos holten ihn dann auch gleich ab.
Henni hatte sich das Enttarnen von Spionen allerdings heroischer vorgestellt, irgendwie blieb ein fieser Nachgeschmack, und so hatte sie beim Mittagessen gar keinen richtigen Appetit.
»Wer kümmert sich jetzt um die Katzen?«, fragte sie nach einer Weile und überlegte, ihre Latkes zu sparen und ihnen zum Abendbrot zu bringen.
»Vergiss die Katzen«, sagte Kuddl und mopste ihr die Latkes vom Teller, »denk lieber an die Wohnung, die frei wird. Mensch, drei Zimmer, da kann eine ganze deutsche Familie drin wohnen.«
Leere Wohnungen gab es in den nächsten Jahren allerdings noch viele. Von den drei Salomon-Söhnen zum Beispiel kehrte kein einziger wieder: Einer blieb in Galizien, einer in Sibirien, einer habe, hieß es, aus dem Krieg weglaufen wollen und sei an der holländischen Grenze erwischt worden, der wurde gehenkt. Bald danach zogen auch die übrigen Salomons fort, die Eltern und zwei Mädels, mit denen Henni nie gern gespielt hatte, weil sie nach Salmiak rochen.
Es gab noch mehr Verluste, und Henni war immer froh, wenn die Hinterbliebenen wegzogen, denn ihre langen Gesichter konnten einem den Krieg verderben. Der war nämlich im Großen und Ganzen sehr lustig, alles geriet drunter und drüber, überall wurde improvisiert, und das führte dazu, dass den Kindern viel mehr erlaubt war. Zum Beispiel waren die meisten Lehrer an der Front, zur Aushilfe kamen ein paar pensionierte zurück, außerdem wurden Frauen angelernt, die mit den Mädchen vor allem strickten. Am Morgen wurde Abgetragenes aufgedröselt, am Nachmittag wurde gestrickt. Das war langweilig, zugegeben, umso langweiliger, als auch Hennis Mama strickte. Sie schloss sich sogar einer Strickgruppe vom Roten Kreuz an, und natürlich wollte sie, dass Henni sich nach der Schule gleich zu ihr setzte. Dafür wurden dann in der Schule Frontpäckchen gepackt. In der ersten Lieferung, schön verziert, schickten sie hundertfünfzig Paar Pulswärmer, achtzig Paar Socken, zwölf Leibbinden und zwölf Paar Kniewärmer in den Krieg.
Das Abgetragene sammelten sie in der Nachbarschaft, und nicht alles wurde aufgedröselt, vieles ging direkt an die Armen und Kriegsinvaliden, Hosen, Westen, Joppen und Überzieher. Die durften sie einmal selber zur Verteilstelle bringen, und so konnten sie zusehen, wie die Krüppel sich eindeckten. Sie sammelten noch viel mehr: Gummi, Papier, Laub, Kirschkerne, Brennnesseln, Weißdorn, Kastanien, sogar Knochen, aus denen wurde Seife gekocht, leider auswärts, nicht in der Schule. Später wurden auch Zettel verteilt, in denen die Leute aufgefordert wurden, Kriegsanleihen zu zeichnen, damit der Kaiser neue Kanonen und Flugzeuge kaufen konnte, weil die alten nicht reichten, so viel Krieg wurde geführt.
Über das Gesammelte wurde Buch geführt, und manchmal erkor die Schule eine Sammelsiegerin, die gewann dann eine Murmel, die Oberschulleiter Menke gestiftet hatte – und nicht irgendeine Murmel, sondern eine, die er noch vor dem Krieg gekauft hatte und die ganz tief in Flaschengrün oder Kobaltblau oder einem unbeschreiblichen Lila leuchtete und gleichzeitig fast durchsichtig war. Muranomurmeln hieß die Sorte. Henni gewann nie eine, aber das war ihr nicht wichtig, schließlich brachte Kuddl immer mal wieder eine nach Hause.
Während nämlich die Mädels dröselten und strickten, durften die Knaben den Heeresbericht studieren, der täglich am Polizeirevier angeschlagen war. Das heißt, jeden Morgen, nachdem die ganze Schule sich im Hof getroffen und entweder gesungen hatte: »Der König rief: Mein Volk, wach auf« oder »Die deutsche Flagge, sie soll wehn« (mit der Zeile »Tot lieber, als kein Deutscher sein«, die Henni so liebte, dass sie sie regelrecht brüllte), durften zwei Jungen los und den Heeresbericht abschreiben, kamen atemlos zurück ins Klassenzimmer gerannt, weil natürlich die Ehre verlangte, dass sie blitzschnell zurück waren, und dann wurde bei Lehrer Wuppke analysiert und diskutiert, was es bedeuten mochte, wenn da stand: »Zwischen Narew und Bug hielten die Russen in der gestern gemeldeten Linie hartnäckig stand. Der Nurzecübergang ist am späten Abend von unseren Truppen erzwungen. Die Armee des Generals v. Gallwitz nahm 3550 Russen gefangen (darunter 14 Offiziere) und erbeutete 10 Maschinengewehre. Der Ring um Nowo-Georgiewsk schließt sich enger. Auf allen Fronten wurde Gelände gewonnen.«
Außerdem führte jeder Knabe Buch darüber, wo wie viele Gefangene genommen, wie viele feindliche Schiffe versenkt, wie viele Flugzeuge abgeschossen worden waren und wie viel Kriegsgerät man erbeutet hatte. Auch da gab es nämlich wieder einen Wettbewerb: Wer zum Jahresende der amtlichen Statistik am nächsten gekommen war, gewann wieder eine von Menkes Muranomurmeln. Das war besonders knifflig, weil die amtlichen Zahlen zum Jahresende nochmals ganz andere waren, als die Arithmetik erwarten ließ, und meist gewann einer, der gar nicht gut rechnen konnte, deshalb wurde der Wettbewerb dann auch eingestellt.
Wie Kuddl (der ziemlich gut rechnete) zu seinen Murmeln kam, erfuhr Henni erst im zweiten Kriegsjahr. Sie hätte auch lieber den Heeresbericht studiert als Pulswärmer gestrickt und kaufte sich von dem Groschen, den die Frau Professor Hein ihr jede Woche dafür zahlte, dass sie ihren Dackel Winnie Gassi führte, sonntags die Deutsche Kriegszeitung. Dort erklärte ein alter preußischer Offizier, der ungenannt bleiben wollte, immer sehr ausführlich, wie der Kaiser den Krieg zu gewinnen gedachte und was in der letzten Woche dafür getan worden war. Und wenn Kuddl sich sonntagabends mit seinen Kameraden bei Wertheim traf, weil dort in einem der Schaufenster auf einer großen Landkarte mit Zinnfiguren und Pappschildern der Kriegsverlauf nachgestellt wurde, und darüber philosophierte und fachsimpelte, wie die Russen oder Franzosen sich aus der Patsche hätten befreien können, in die ihre Dämlichkeit sie immer wieder ritt – denn die Deutschen gewannen natürlich alle Schlachten oder gingen höchstens auf »taktischen Rückzug« und nahmen jede Woche ein paar zehntausend Russen und Franzosen gefangen, sodass es ein unerklärliches Wunder blieb, wieso der Endsieg noch immer auf sich warten ließ –, dann bestürmte Henni ihn jedes Mal, sie mitzunehmen, damit sie überprüfen konnte, was sie gelesen hatte. Und oft wusste sie besser Bescheid als die Jungen.
Manchmal ließ Kuddl sich erweichen. Das heißt, eigentlich ließ er sich dafür bezahlen, entweder mit Nachtisch oder mit sogenannten »Diensten«, zum Beispiel übernahm Henni das Ofenputzen für ihn.
Erst als sie zwölf war, hörte das auf. Eines Sonntagabends quetschte sich vor dem Schaufenster bei Wertheim nämlich einer der Kameraden aus Kuddls Klasse, Matze, dauernd von hinten an sie, als könnte er sonst nichts sehen, dabei war er ein so langer Lulatsch. Erst als sie ihm eine schmierte, rückte er ihr von der Pelle, und so bekam sie auch heraus, dass Kuddl doppelt abkassierte. Kuddl verprügelte Matze nämlich danach, und erst dachte Henni, es sei wegen der Bruderehre. Doch Tatsache war, dass Matze Kuddl eine Murmel dafür schuldete, dass er Henni mitgebracht hatte, und die wollte Matze jetzt nicht mehr rausrücken. Offensichtlich nahm Kuddl Henni also immer genau dann mit, wenn wieder einer der Jungen in Henni verknallt war, und dafür ließ er sich bezahlen.
Wogegen Kuddl danach die Murmeln eintauschte, verriet er ihr nie. Aber jedenfalls bezahlte Henni ihn danach nicht mehr dafür, dass er sie mitnahm.
Im dritten Hinterhaus über dem Leierkastenmann wohnte Hendrik zur Untermiete beim Schuster Klapp. Wie Kuddl im Kleinen, handelte Hendrik im Großen. Er war ein kantiger Schlaks mit schwarzem Wuschelhaar, den sie als Kinder immer abgepasst hatten, weil er selbst noch ein halbes Kind war und außerdem so schön erzählen konnte. Zum Beispiel behauptete er, sein »Alter« sei in China beim Boxeraufstand und »Muttchen« samt Hendriks kleinem Bruder Max anno 09 in der Petersburger Choleraepidemie umgekommen, und das habe ihm nicht nur ein nettes Erbe eingebracht, sondern dazu noch Vollwaisenrente. Ob das stimmte, war nicht zu sagen, aber tatsächlich hatte er 1910, mit siebzehn Jahren, Geld genug, um eine ganze Fuhre Gasmasken zu kaufen, fabrikneu, weil gerade der Halleysche Komet im Anflug war und alle damit rechnen mussten, an giftigen Gasen zu sterben. Auf der Straße verschacherte er sie zum vierfachen Preis, außerdem verkaufte er Flaschen mit »Höhenluft«, die hatte er über Nacht einfach geöffnet unters Dach gestellt. Kuddl, der damals acht war, durfte ihm für einen Fünfer helfen, die Etiketten aufzukleben. Als der Komet dann vorbeigerauscht war und kein Mensch vergiftet, kaufte Hendrik die Gasmasken um einen Pappenstiel zurück und lagerte sie seither unterm Dach. »Der nächste Komet kommt ooch noch«, sagte er, wenn der Leierkastenmann Paul Pauli schimpfte, es stinke an den heißen Tagen bis in seine Bude hinunter nach verbranntem Gummi.
Hendrik machte andauernd Geschäfte. Als der Krieg kam, konnten Frontsoldaten auf Urlaub, die nicht gleich wieder einrücken mochten, bei ihm »Jeschlechtskrankheiten koofen«. Eine Mark kostete eine erfolgreiche Ansteckung mit Tripper, damit landete man für vier Wochen in der Charité – das Honorar der beteiligten Dame wurde separat verrechnet. Für zwei Mark gab es weichen Schanker und sechs Wochen Charité, fünf Mark kostete die Syphilis, dafür war das »jeschlechtliche Vergnügen« gratis, weil die Dame angeblich froh über Besuch war, und mit dem lustigen Soldatenleben war’s ziemlich sicher für immer vorbei.
Als Hendrik selber einrücken sollte, waren die ungesunden Huren vom Reichsgesundheitsamt leider gerade aus dem Verkehr gezogen worden. Er versuchte sich erst mit Geschenken und »guten Kontakten« zu drücken, da war sein Geld aber schnell alle. Deshalb seifte er den linken Arm dick ein, wickelte ihn über Nacht in nasse Tücher und rannte am Morgen, als er einrücken sollte, mehrmals gegen den Türrahmen. Er hatte sich sagen lassen, dass man sich so sehr zuverlässig den Arm brechen konnte. Der brach und brach aber ums Verrecken nicht, also rückte er notgedrungen ein.
»Lass ich mich eben durchlöchern wie mein Alter«, rief er alle paar Meter, während er zur Kaserne marschierte.
Stattdessen war er jedoch schon im Sommer darauf wieder zu Hause, und der linke Arm nicht bloß gebrochen, sondern ganz weg, Handgranate. »So jehts ooch«, sagte er.
An der Front war er schon wieder reich geworden, er hatte mit Sexcoupons gehandelt. Das deutsche Heer hatte nämlich so ein System, damit die Soldaten »nicht den Feind schwängern«. Dazu gehörte neben Dienstbordellen und ärztlich kontrollierten Damen ein Büchlein mit Coupons, die jeder Frontsoldat bekam, das war seine Ration an Vergnügen. Die Dauer der Bordellbesuche, Tageszeit und Güteklasse der Huren errechnete sich aus Dienstgrad, Heereseinheit und Zahl geleisteter Kampfeinsätze. Wie gut sich mit diesen Coupons handeln ließ, begriff Hendrik, als er selbst im Lazarett war, da lagen Hunderte Rationen brach. Er organisierte sich ein Startkapital und einen, den er »Steher« nannte. Der stand im Heerescasino auf der Matte, denn dort verkehrten die, die ihre Ration Sex bereits verfrühstückt hatten, und verkaufte ihnen Extrarationen. Damit der »Steher« Hendrik nicht behumpste, besorgte der ihm Morphium vom Lazarettarzt.
Beim Lazarettarzt wiederum, der ebenfalls mit seinen Coupons nichts anfangen konnte, weil er auf »Knabenliebe« stand, legte Hendrik selber Hand an. »Eene hab ick ja noch.« Darüber kicherten Henni und Kuddl am meisten, und »Eene hab ick ja noch« wurde für eine ganze Weile ihr Spruch.
Kriegszeitung