Lea Singer, 1960 in München geboren, studierte Kunstgeschichte, Gesang, Musik- und Literaturwissenschaft. Mit ihren Romanen über historische Persönlichkeiten ist die promovierte Kunsthistorikerin ebenso erfolgreich wie mit ihren Sachbüchern, die sie als Eva Gesine Baur schreibt. Sie lebt in München und wurde mit dem Hannelore-Greve-Literaturpreis, dem Schwabinger Kunstpreis und dem Bodensee-Literaturpreis ausgezeichnet.
Im Kampa Verlag erschien zuletzt ihr Roman Der Klavierschüler.
Für Ferri
Eigenartig, wie er ging. Ich stand auf dem Balkon und ärgerte mich, dass ich noch immer hinstarrte. Es war diesig, aber hell um sieben Uhr abends. Der kleine Platz, über den er sich entfernte, war menschenleer und nackt, nichts, was blühen oder grünen konnte. Fast alle Plätze hier verschwiegen, ob es Frühling war oder Spätherbst. Auffallend langsam ging er, nicht schleppend, nicht wie jemand, der erschöpft ist, enttäuscht oder traurig. Geduckt, ohne die Knie durchzudrücken, schlich er mit großen Schritten und rollte bei jedem Schritt den Fuß von der Ferse bis zum Ballen ab, als wollte er das geringste Geräusch vermeiden. Sein Nacken, ein kräftiger Nacken für einen Mann Anfang zwanzig, der nicht arbeitete, wirkte angespannt, auch sein Rücken. Er ging wie jemand, der sich anpirscht aus dem Hinterhalt, alle Sinne auf ein einziges Ziel gerichtet und darauf bedacht, dass keiner vorzeitig wittert, was er vorhat. Lächerlich sah das aus auf dem nackten Platz, als hätte sich einer, der nicht bei Verstand war, aus dem Röhricht auf Rebhuhnjagd in die Stadt verirrt.
Er pirschte sich nirgends an. Weggeschickt hatte ich ihn, von hier oben, vom Balkon aus, nachdem er unten mit einem Stiefel gegen die Tür getreten hatte. Die meisten Nachbarn hatten an diesem Abend ihre Fenster noch offen stehen und ließen den lauen Märzwind aus dem Süden herein. Vielleicht hatten sie mich gehört: Nein, ich werde nicht aufmachen, bestimmt nicht, ich habe heute keine Zeit für dich.
Als ich mich umwandte und in den Schatten des Zimmers trat, legte sich das Nein beruhigend auf meinen Unterleib, verschaffte mir Luft, ließ meinen Hals in die Länge wachsen und hob mein Kinn, als wollte es meinen Kopf in eine andere Position bringen.
Der Mann, der diese Nacht in meinem Bett verbringen sollte, saß im einzigen Sessel, einen Ellbogen auf die Lehne gestützt, die Schläfe in der Handfläche, und beobachtete mich aus der Schräge; bis auf die Schuhe war er nackt. Vom Adamsapfel abwärts hatte er etwas von einem alt gewordenen Säugling, seine Hände aber waren die einer Hebamme, fast weiß, als hätten sie durchs ständige Waschen ihre Farbe verloren, nicht zu groß und geschickt, die Knochen weich verpackt. Mein Körper und seiner verstanden sich wortlos, redend wären wir nie zu etwas gekommen; er konnte Sätze bilden, die länger waren als meine Haare, ohne sich zu verheddern. Trotzdem, jede andere hätte wohl ihn weggeschickt und den eingelassen, den ich weggeschickt hatte.
Es ist dein Recht, sagte er, sonst nichts, er konnte auch kurze Sätze. Seine Augen schauten melancholisch, so schauten sie immer, und schon das machte ihn für mich begehrenswert. Er wusste nicht, wie gut mir der Abstand tat, den einem die Schwermütigen lassen. Seine Schuhe, teure Schuhe aus weichem Leder, vermutlich Ziege, standen auf einem der blau-roten orientalischen Teppiche, die gerade Mode waren, der Spiegel über seinem Scheitel war eindrucksvoll, trotz des feinen Sprungs, der den Preis auf ein Fünftel gesenkt hatte, der intarsierte Tisch, auf dem er sein Weinglas abgestellt hatte, stand so ähnlich in gutbürgerlichen Wohnzimmern, meiner musste aber neu verleimt werden; ich hatte das meiste Geld für die Matratze ausgegeben, die war wichtiger.
Was du für dein Recht hältst, ist das, worauf du dich niemals verlassen solltest. Falls du es tust, rechne mit allem, hatte mein Vater gesagt und sich geräuspert. Er war bei der Geheimpolizei; seit er dort arbeitete, räusperte er sich ständig, die feuchten Räume seien daran schuld.
Ursprünglich war mein Vater Schreiber bei der Stadtverwaltung gewesen, hatte jeden Platz in der Mitte überquert und war jede Treppe in der Mitte hinaufgestiegen. Die Einsicht, was das Recht betraf, hatte ihm leider zu spät gedämmert.
Stell dir vor, sie wollten mir zu Weihnachten einen Kapaun schenken, wenn ich ihnen helfe, das Baugesuch durchzubringen, erzählte er meiner Mutter früher beim Abendessen. Sie freute sich. Natürlich habe ich abgelehnt, sagte er. Warum das natürlich sein sollte, habe ich nicht kapiert. Egal was genehmigt oder untersagt werden sollte, das Lied blieb gleich und sein Refrain auch. Manchmal war es Bargeld, manchmal ein Gemälde, ein Ring oder ein Teppich, manchmal ein Boot oder ein Fass Wein, meine Mutter hatte die Vorfreude längst weggepackt.
Er war der einzige Heilige in meinem Leben, sonst nahm ich keinem diese heldenmütige Unbestechlichkeit ab, im Nachhinein lässt sich viel erzählen. Ich wollte keinen anderen Vater haben, damals nicht. Aber er war im Büro aufgewachsen, seit er mit zwölf Aktenstapel mit gezwirbelten Schnüren, die, wie er sagte, zum Erhängen getaugt hätten, zu binden und gewissenhaft zu verknoten gelernt hatte; er war dort zu Hause, ich auf der Straße und hätte ihm schon als Kind sagen können, dass so etwas hier in Venedig schiefgehen musste. Der brave Onkel der Metzgerstochter aus unserer Pfarre Sant’Andrea della Zirada hatte ein Messerfutteral gefunden, leer lag es auf dem Pflaster, er hatte es eingesteckt, um es abzugeben, und war als Mörder gehenkt worden. Mit dem Messer, das fehlte, hatte ein anderer einen Mord begangen, gesehen worden war nicht er, nur der Futteralfinder beim Aufheben, und weil brave Menschen meistens schlechte Nerven haben, hatte er den Mord schließlich gestanden. Als der echte Täter gefasst wurde, streckte der falsche schon den Spaziergängern auf der Piazzetta seine schwarze Zunge heraus.
Geradeaus kam man hier nirgendwohin. Nur den Fremden, wenn sie sich verlaufen hatten und nach dem Weg fragten, sagte ich: Immer geradeaus. Leider wurden die Fremden trotzdem nicht weniger.
Mich hat es also nicht gewundert, dass die Kollegen es schafften, meinen Vater wegen Bestechlichkeit feuern zu lassen. Er war gebrochen und wuchs dann krumm wieder zusammen, das eröffnete neue berufliche Perspektiven. Zu seinen vielen Aufgaben bei der Geheimpolizei gehörte es von da an, Denunziationen aus den dafür in der ganzen Stadt eingerichteten Briefkästen zu sortieren und weiterzuleiten an die Justizbehörde. Die Briefe mussten zwar mit Namen unterzeichnet sein, der aber werde geheim gehalten, hieß es; eins der wenigen Versprechen, an die sie sich hielten, weil sie jede Anschuldigung brauchen konnten, um jemanden loszuwerden, der sie störte. Mein Vater kehrte immer später von der Arbeit nach Hause zurück, es störten offenbar viele. Als Erstes fragte er dann: Was war heute dran? Er fragte das so, als erhoffte er sich von der Antwort eine Art Erlösung.
Schulunterricht bekamen Mädchen bei uns nur, wenn sie sich lebenslang ins Kloster einsperren ließen. Es gab da ein paar Ausnahmefamilien, wo die Väter Privatlehrer für ihre Töchter anstellten, vielleicht wollten sie sich über die Schande hinwegtrösten, keine Söhne zustande gebracht zu haben. Dass mein Vater sich so etwas leistete, konnte nur einen Grund haben: Wenigstens zu Hause wollte er noch eine aufrechte Figur machen. Das tröstete mich, bis meine Mutter mir diesen Satz zusteckte, heimlich, wie die Großmutter etwas Geld mit der Bemerkung Zum Verschwenden. Das mit dem Lehrer hab ich durchgesetzt, sagte sie, die selbst kein Wort lesen konnte. Ich weiß, wo du eigentlich hingehörst.
Den letzten Satz drehte und wendete ich in meinem Kopf herum, als wäre es ein Brocken Melone im Mund, vielleicht süß, aber zu groß zum Zerbeißen und zum Hinunterschlucken zu sperrig.
Mein Lehrer war ein Geistlicher.
Sie haben ihn mir als einen gründlichen Mann empfohlen, sagte mein Vater. Gründlich war er. Beim Gesangsunterricht überprüfte er meine Atemtechnik, indem er meine frisch gesprossenen Brüste abtastete, und ich erfuhr durch das tiefe Atmen vieles: dass er seinen Unterleib nicht wusch, daheim einen Ofen hatte, der nicht zog, und Knoblauch liebte. Es grauste mir, ich schrie aber nicht. Während er rezitierte, was große Astronomen und Naturforscher über den Ursprung der Welt geschrieben hatten, suchte er zwischen meinen Schenkeln danach. Es grauste mir noch mehr. Ich schrie noch immer nicht. Weißt du eigentlich, was dein Vater sich abspart und versagt, damit du etwas lernst?, hatte meine Mutter mich gefragt. Es war keine Frage. Das, sagte sie, ist ein großes Geschenk in Gottes Namen. Vielleicht war mein Vater deshalb blasser als alle anderen Männer, die ich kannte, nur seine Fingerkuppen waren immer gerötet, als würden sie von dem, was er täglich anfasste, wund. Schon als er Mitte dreißig war, verliefen seine Falten im Gesicht von oben nach unten, sogar in den Augenwinkeln.
Außerdem, man schreit nicht um Hilfe, wenn man etwas geschenkt bekommt. Sicher, ich wehrte mich gegen meinen Lehrer, schlug ihm ins Gesicht, trat ihm gegen das Schienbein und in den Unterleib, aber nur nachts, wenn ich allein im Bett lag und er sogar noch meine Träume befingerte.
Meine Mutter war eine fromme Frau, auch äußerlich ein ideales Modell für Muttergottesbilder, da waren sich alle einig, die sie kannten, und zu glauben, dass ein Geistlicher sich an ihrer Tochter vergriff, wäre ihr todsündig erschienen, eine Misstrauenserklärung an Gott. Sie war Dienstmädchen gewesen und konnte nicht anders als dienen. Widerspruch war in ihrem Kopf nicht vorgesehen.
Frech hatte meine Mutter meinen Blick genannt, auch anderen gegenüber. Er machte ihr Sorgen; als ich den Lehrer dreist nannte und durchblicken ließ, warum, gab sie diesem Blick die Schuld. Damit hätte ich rechnen können, das musste sie tun, um den Mann Gottes zu entlasten. Sonst wäre ihr mit Weihen und Wundern vollgerammeltes Glaubensgebäude in sich zusammengebrochen und hätte das mühsam erbetete und erkniete Seelenheil unter sich begraben.
Ich musste mich nach jemand anderem umsehen, wenn ich beschützt oder verteidigt werden wollte.
Auf einmal merkte ich, wie zugig unser Haus war und dass keine meiner Freundinnen im Ernstfall zu gebrauchen sein würde.
Meine Freundinnen fanden es ungerecht, dass ich mehr lernte als sie, nicht weil sie etwas lernen wollten, nur weil das meine Chancen erhöhte, einen besseren Mann zu heiraten, einen, der im eigenen Haus wohnte, ein eigenes Unternehmen hatte, Hausmädchen finanzierte und alles, was bei anderen Frauen Neid erweckte. Wohin dann mit dem gesammelten Neid, in eine Neidbüchse zum Sparen aufs Alter, wenn nichts mehr reinkam? Für solche Fragen hatten meine Freundinnen keinen Kopf, sie waren mit ihrem einen einzigen Ziel voll beschäftigt.
Ich hatte drei Ziele. Das erste: mir niemals das nehmen zu lassen, was mein Vater für einen sicheren Posten verkauft hatte, nennen wir es Würde, es ginge aber auch kleiner, Selbstachtung vielleicht. Die Folge seines Verkaufs war wohl auf meiner Stirn eingebrannt: Alle nannten mich hier La Zaffetta, weil mein Vater für sie ein Zaffo war, ein Spitzel; mir war klar, dieser Name würde nicht mit ihm sterben. Allmählich musste ich anfangen, über einen anderen Vater nachzudenken, wollte ich nicht lebenslang die Tochter eines Mannes sein, dem keiner über den Weg traute.
Zweites Ziel: mein Geld selbst zu verdienen, zu erben war keins, es zu heiraten kam eine Frau hier teuer zu stehen.
Drittes Ziel: blond zu werden.
Vorsatz Nummer eins hätten meine Freundinnen für überflüssig gehalten, sie meinten wohl, Würde sei etwas, das Greise einklagen, und die Freiheit komme über sie wie der große Regen im November. Vorsatz Nummer zwei musste ich ihnen verschweigen; sie hätten kein Wort mehr mit mir gewechselt, mit so jemandem redeten anständige Mädchen nicht. Außerdem hätten sie doch selbst beobachten können, wie die Männer, die Sorte, von der meine Freundinnen träumten, hier ihre Frauen wegsperrten, bis sie sich zu Tode langweilten; nicht einmal auf die Straße durften sie schauen, ausschließlich hinten hinaus, wo nichts los war. Die Fremden, die rund ums Jahr unsere Stadt begafften, fragten sich, warum hier außer an Festtagen öffentlich nichts zu sehen war von den schönen Venezianerinnen, die sie von Bildern und aus Reiseführern kannten, nur schwitzende und schnaufende Frauen, die schleppten und schrubbten, verkauften und verpackten, weil ohne die nichts lief.
Ich würde jedem, der zum ersten Mal nach Venedig reist, raten, seinen Kopf vollständig leer zu räumen und auszuräuchern, als hätte jemand mit einer hoch ansteckenden Krankheit darin gewohnt. Die eingeschleppten Vorstellungen von dieser Stadt machen die klügsten Besucher zu Trotteln. Sie benehmen sich, als wären sie berauscht und umnebelt von einem Liebeswahn. Alles, was an Venedig ekelhaft, brutal und hässlich ist, übersehen sie. Dabei ist es eigentlich als Station zum Ausnüchtern ideal geeignet.
In Venedig wurde schon immer gerechnet, nicht geträumt. Es gab hier keinen Berufsverband der einheimischen Kaufleute, die ganze Stadt war einer, jede Bäckersfrau handelte und spekulierte nebenher mit irgendetwas. Mittlerweile standen rund um den Rialto über dreißig Bankhäuser. Das Einzige, was Menschen hier zum Träumen brachte, war, wie sie das Geld in Schönheit umsetzen konnten, damit man es auch sah; für Männer gehörte dazu der Erwerb einer schönen Frau. Das Heimtückische an dieser Anschaffung war, dass sie nicht vor Diebstahl sicher war. Die bis auf Sonntage, Feiertage und Feste inhaftierten Frauen wurden in ihrem Luxusgefängnis mit schweineteurer Garderobe und Schmuck behängt, das sparte Steuern, die nach dem letzten verlorenen Krieg ein paar Jahre vor meiner Geburt steil angestiegen waren und auf jedes Bankguthaben zu entrichten waren.
Meine Freundinnen teilten nur mein drittes Ziel, blond zu werden, weil sie wussten, dazu brauchte es Geld, also den angepeilten Mann. Das Bleichmittel war nicht kostspielig und mühelos zu beschaffen, aber nur wer einen Dachbalkon besaß, konnte es richtig anwenden. Man zog einen Hut auf, der aus nichts als einer breiten Krempe bestand – das Gesicht durfte keinerlei Farbe annehmen –, breitete die mit Bleichmittel eingestrichenen Haare auf der Krempe aus und setzte sich auf der Altana ein paar Stunden in die Sonne. Warum ich blond werden wollte, hätten sie allerdings niemals verstanden. Ein ängstlicher Mann taugte nicht als Liebhaber, und eine blonde Frau machte den meisten Männern weniger Angst, Albinos wirken auch so, als wären sie nicht recht überlebensfähig. Meine Patentante hatte ihren Mann früher Adler genannt, er war auch einer gewesen; längst hatte sie ihn in gesalzenen Bemerkungen über seine fehlende Manneskraft zum Suppenhahn verkocht. Dabei hatte sie ihn selbst kastriert mithilfe ihrer Sippe, gegen die seine nur Schrott war, ihr Vater war der Größte und ihr Bruder der Beste.
Ich war in jenem Dezember zur Welt gekommen, als die gesamte Lagune zugefroren war. Pferdegespanne fuhren Fleisch, brettharte Stockfische, Rüben und Kohlköpfe von der Terraferma oder Torcello oder Chioggia übers Eis, jeder Feind hätte ein leichtes Spiel gehabt, die ungeschützte Stadt zu stürmen. Es passierte ihr nichts. Von Kind an war ich überzeugt, dass auch mir nichts passieren würde, und hatte niemals Angst im Dunkeln.
Mit sechzehn Jahren hatte ich Ziel zwei und drei erreicht und nun an diesem Abend im April um halb acht Uhr abends Ziel Nummer eins verteidigt.
Ich hatte zum ersten Mal einen Mann weggeschickt, obwohl ich wusste, wer und vor allem was er war. Er stammte aus einer Familie, bei deren Name jeder erst mal verstummte und dann etwas von altem Geld raunte, als würde Geld durchs Alter vornehmer. Den Palast, in dem er wohnte, kannte jedes Kind, seine Verwandten saßen in der Regierung, hatten schon einmal den Dogen gestellt und ich weiß nicht wie viele Prokuratoren und Admiräle. Von seinem Schneider, Nachbar meiner Eltern, wusste ich, dass das Pelzfutter seines Wintermantels doppelt so viel kostete, wie mein Vater im Jahr verdiente, warum auch nicht. Was kaum jemand verstand, der davon wusste, war sein Ziel. Er, der in einer Marmorbadewanne voll Reichtum, Ruhm und Einfluss saß, wollte ausgerechnet als Schriftsteller bekannt werden.
Ich heiße Angela, das ist nicht mein offizieller Vorname, ich habe ihn mir selbst gegeben, als Gegengift zu La Zaffetta, nachdem ich darauf gekommen war, dass Wünsche wie Parfums überzeugen können, gerade wenn sie zu groß bemessen sind. Überirdisch war an mir gar nichts. Mein Hals etwas zu kurz, die Beine ebenfalls, die Füße stabil genug für lange Fußmärsche, die Oberarme kräftig, die Hände zupackend, geeignet, um Fische zu schuppen, Hühner zu rupfen, Böden zu schrubben; das konnten sie auch. Trotzdem galt ich als schön. Was andere Frauen auf glatt und rosarot schminkten – Karmesin wurde sogar auf die Brustwarzen gepudert –, war bei mir glatt und rosarot, mein Fleisch war so prall, dass man kaum hineinkneifen konnte, meine Brüste fest und, was angesagt war, nur so groß, dass eine kräftige Männerhand sie verdecken konnte; das wäre aber bestenfalls als Aphrodisiakum gehandelt worden, nicht als Schönheit. Mein Kapital war mein Gesicht, so offen für Deutungen, dass jeder in mir sehen konnte, was ihm verboten war oder für ihn unerreichbar, jeder sich einreden konnte, ich wäre seine Göttin, nur für ihn nach seinen Vorstellungen hergestellt. Mein Gesicht war wohl in dieser Stadt der Rechner eines der Reservate, wo ein Mann Träume haben durfte, Träume, in denen er zum Helden wurde, und das machte mich begehrt. Schon immer war das eigentliche Geschlechtsorgan der Venezianer ihr Auge. Als beliebteste unter allen Strafen, für machtlüsterne Dogen, für Diebe und Betrüger jeder Art, hielt sich daher das Ausstechen der Augen. Damit wurden sie gleichzeitig entmannt.
Der Mann mit dem schwermütigen Blick, der sich schon auf meine gute Matratze gelegt hatte, sagte noch einmal: Es ist dein Recht.
Jetzt kam es an. Hör auf die Stimme der Vernunft, hatte meine Mutter mir eingeschärft. Sie hatte damit nicht das gemeint, was ich jeden Morgen tat, schon aus Gründen der inneren Sicherheit, wenn ich mich abhörte vom Scheitel bis zu den Fußsohlen, ob nichts zog, nichts pochte, stach, brannte, ausfloss oder juckte. Die Stimme, die sie gemeint hatte, hätte mir in diesem Fall befohlen, den Mann, den ich weggeschickt hatte, einzulassen. Überall.
Es war meine Wut, die jede Art von Reue verbellte, die Wut darüber, dass als unvernünftig galt, was ich getan hatte.
Zwischen sechs und sieben war ich, als ich sie kennenlernte, fast genau zehn Jahre bevor das geschah, was ich jetzt mit überreifen dreiundzwanzig endlich aufschreibe. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind übrigens kein Zufall, und dass alle Beteiligten noch am Leben sind, macht meine Geschichte spannender.
Ich lungerte vor der Haustür herum und probierte im Schatten, auf den Fingern zu pfeifen. Sie war mager und fahl wie ein Straßenhund, der seit Wochen nichts gegessen hatte, ein Sack voller Knochen, der zu klappern schien, und lief mit Büchern unter dem Arm vorbei, die ihr beinahe aufs Pflaster gekracht wären. Direkt bei mir blieb sie stehen, stöhnte nicht, versuchte aber angestrengt, den Griff um die Bücher zu ändern.
Warum schleppen Sie die schweren Bücher?, fragte ich.
Ich setze meine Studien fort, sagte sie, ging in die Hocke, erstaunlich schnell, zerrte mit der freien Hand ein Tuch von den Schultern, ließ es auf den Boden fallen, schob die Ecken auseinander, legte die Bücher drauf und packte sie in das Tuch ein.
Mir war gleich klar, dass sie log. Frauen studieren nicht.
Sie musste etwas jünger sein als meine Urgroßmutter, noch keine sechzig.
Als sie das Bündel am Knoten hochziehen wollte, knickte sie um.
Mein Mann ist letzte Woche gestorben, sagte sie, griff wieder nach dem Buchpaket und wankte davon.
Als ich meinem Vater von der Lügnerin erzählte, die wahrscheinlich gestohlene Bücher zu einem Hehler geschafft hatte, sagte er: Das kann nur die alte Fedele gewesen sein. Sie war einmal berühmt und hat anscheinend noch immer rund ums Jahr mit Briefschreiben zu tun, weil alle möglichen Adligen und Gelehrten mit ihr korrespondieren. Wenn ein weiblicher Staatsgast kommt, wird sie manchmal geholt, um die Begrüßungsrede zu halten.
Er wusste ihren Vornamen und schüttelte sich, wie ein Vater nur auf so etwas verfallen konnte – Cassandra.
Dass eine Frau, die einmal berühmt gewesen war, wie ein Straßenhund daherschlich, niemanden kannte, der ihr half, und nichts Besseres zu tun hatte, als Bücher nach Hause zu schleppen, ratterte in meinem Schädel, bis er wehtat.
Keine Woche später kam sie wieder vorbei. Ich hatte zum Spielen eine aufgeblasene getrocknete Schweinsblase gekriegt, aber es war niemand da, dem ich sie auf den Kopf schlagen konnte, also schlug ich damit gegen die Hauswand und langweilte mich.
Ich bot der alten Frau an, zwei Bücher zu tragen. Hätte ich geahnt, wie weit es zu ihr nach Hause war, ich hätte es bleiben lassen. Nah am Ghetto waren die Mieten fast so niedrig wie die Zimmer. Das Haus am Rio della Misericordia sah schon von außen krank aus. Im Eingang roch ich den Schimmel in den Wänden. Die alte Fedele wohnte im Erdgeschoss. Sie öffnete die Tür ohne Schlüssel. Bücher stiehlt hier in dieser Ecke keiner, sagte sie. Modergeruch wehte mir entgegen. Die alte Fedele dankte und kickte mit dem Fuß die Tür hinter sich zu.
Selbst schuld, dass ihre Möbel im Hochwasser geschwommen sind. Im Erdgeschoss wohnt man in Venedig nicht. Meine Mutter wusste, was sich gehörte.
Ich hätte ihr besser verschwiegen, wie die alte Fedele hauste, nun roch sie es, wenn ich bei ihr gewesen war. Meine Mutter misstraute ihr, als wäre sie eine Versucherin.
Was habt ihr geredet?
Nichts, log ich, sie hat mir vorgelesen.
Die alte Fedele besaß drei Wände voll Bücher, eine Leiter, ein Bett, einen Schreibtisch, einen Stuhl und einen Herd; ich saß immer am Fuß der Leiter, sie hinter ihrem Schreibtisch. Von dort schoss sie Fragen ab wie Walnüsse, sie aufzuknacken war meine Sache.
Was macht diese Stadt?, fragte sie.
Ich wusste es nicht.
… diese Stadt mitten im Wasser.
Sie spiegelt sich.
Wann und wie oft?
Dauernd.
Was passiert, wenn ein Mensch tagaus, tagein in den Spiegel starrt?
Ich denke, er wird verrückt.
Antworten gab sie so gut wie nie.
Irgendwann warf sie sich auf die Männer von Venedig.
Was fällt dir zu ihnen ein?
Sie sind mutig.
Warum sind sie mutig?
Weil sie alles riskieren, um Venedig stolz und reich zu machen, also weil sie zum Beispiel die Reliquie von San Marco aus Alexandria hierhergebracht haben.
Das hatte mein Vater mir erzählt. Erst durch die Gebeine von Marco konnte sich das Bistum Venedig gegen das von Aquileia behaupten; die Venezianer hatten zwar schon die Reste von Tòdaro, irgendeinem griechischen Krieger und Märtyrer, aber nun endlich etwas Exklusives, einen der vier Evangelisten. Ich fand es schwachsinnig, dass durch ein paar alte Knochen ein Ort wichtig wurde, trotzdem, die Kerle hatten ihrer Heimat damit eine Art Heiligenschein verschafft.
Wem gehörte die Reliquie zuvor?, fragte die Fedele.
Alexandria … also vermutlich den Ägyptern.
Wie haben die Venezianer die Reliquie in ihren Besitz gebracht?
Zwei Männer namens Rusticus und Tribunus haben sie erbeutet.
Aber die Venezianer führten doch keinen Krieg dort.
Dann eben den Muslimen abgekauft.
Hätten sie die Gebeine in diesem Fall unter Schweinefleisch, das kein Muslim berühren darf, außer Landes geschmuggelt?
Dann können sie die Knochen nur gestohlen haben.
Die Fedele war zufrieden.
… im Auftrag der Regierung.
Mit acht konnte ich dank der alten Fedele lesen, mit neun wusste ich dank der alten Fedele, was Venedig ausschließlich seinen eigenen Söhnen zu verdanken hatte. Sie hatten die Methode erfunden, eine Stadt im Wasser zu bauen, die Einkommensteuer, die offizielle Denunziation, die Herstellung von flachen Spiegeln, die schnellste Druckerpresse und die schnellste Galeere, die totale Kontrolle eines Staatsoberhaupts, den Suezkanal, den der Sultan allerdings nicht baute, das mundgeblasene Glas, Schuhe mit derart hohen Absätzen, dass keine Frau ohne Hilfe von zwei Begleitern darauf gehen konnte, den Patentschutz, die Großproduktion von Brillen und eine internationale Fahndungskommission mit Lizenz zum Töten flüchtiger Geheimnisträger. Sie hatten aus Jaffa die Überreste des heiligen Nicolò geraubt, weil auch die Seeleute einen Schutzpatron zu Hause haben wollten, und aus Byzanz die des heiligen Tòdaro; den, sagte Fedele, brauchte man in ihrer Kindheit noch, weil er für die Rückführung entlaufener Sklaven sorgte, mit denen die venezianischen Händler damals ordentlich Geld machten.
Die Venezianer, sagte die alte Fedele, handelten immer nach dem Vorsatz: Venedig zuerst. Das kam gut an. Sie stahlen aus Tiryns auf der Peloponnes Schiffsladungen von Reliquien und bestückten die Markuskirche mit dem, was sie in Konstantinopel nach der Abschlachtung der Einwohner hatten mitgehen lassen. Die Pferde aus dem Hippodrom, die seit Langem die Fassade schmücken, die Ikone der Madonna Nicopeia, die als wundertätig galt, ein Stück des Wahren Kreuzes, das Kaiser Konstantin gehört haben sollte, die beiden frei stehenden Säulen auf dem Markusplatz, zwischen denen gefoltert und hingerichtet wurde, außerdem alles, was man für den Domschatz so brauchen konnte an Gold, Edelsteinen, Kelchen und Emailarbeiten.
Die alte Fedele sah Venedig anders als die übrigen Venezianer, weil sie es jahrelang von Kreta aus betrachtet hatte – gehörte zwar zum Staat Venedig, hatte aber nichts damit gemeinsam. Auf dem Rückweg von der Insel hatten sie und ihr Mann, ein Arzt, ihren gesamten Besitz durch einen Schiffsunfall ans Meer verloren, die gewonnenen Einsichten aber waren nicht mit abgesoffen. Kam ich zu ihr, nahm sie die Brille ab. Damit ich dich unscharf sehe, sagte sie.
Als ich zehn war, begann sie ihre Spaziergänge mit mir in die Druckereien der Stadt, nirgendwo auf dem Kontinent gab es mehr als hier, hundertfünfzig ungefähr. Die Fedele machte sich darüber lustig, dass in Venedig Jahr für Jahr dreimal so viele Bücher gedruckt wurden wie in Mailand, Rom und Florenz zusammen, ausgerechnet in Venedig, wo es die besten Maler des Landes gab, aber kaum einen namhaften Schriftsteller oder Dichter.
Nach Harz und Ruß und Öl roch es in den Gewölben der Drucker, gesprochen wurde nichts, nicht einmal geflucht. Männer, deren Hemden wie Insektenflügel an den Leibern klebten, bedienten hölzerne Winden, drehten Kurbeln, drückten Hebelarme herunter, um armdicke Schrauben zu bewegen, wuchteten bleischwere Setzkästen und Papierblöcke, schoben Karren an, schmierten Gewinde, wechselten ihre Plätze, schnaubten und hoben den Blick nicht. Was drucken Sie?, fragte ich jedes Mal. Viele Druckereien boten etwas Besonderes. Wir drucken Arabisches mit arabischen Lettern, hörte ich dann, oder: Wir drucken Griechisches mit griechischen oder Glagolitisches mit glagolitischen, Armenisches mit armenischen, Hebräisches mit hebräischen Lettern, und die Lettern gießen wir selbst. Wir drucken Musiknoten und erotische Gedichte, wir drucken Landkarten und Kochrezepte, Reiseberichte und Ablassformulare, mathematische Abhandlungen und Handzettel zum Verteilen, Bücher über schwarze Magie und Gesetzestexte, jüdische Gebetbücher und politische Satiren, Heiligenlegenden und Schmähschriften.
Sie druckten alles, jedenfalls wurde alles irgendwo gedruckt.
Die Fedele fragte auch hier bis zum Anschlag.
Nein, abgelehnt wird kein Auftrag, kein einziger. Wenn wir es nicht machen … Sie verstehen? Die Auftraggeber von Schmähschriften zahlen am besten, hieß es, umso mehr, je schneller wir drucken.
Schmähschriften gegen wen?
Egal, sagten alle, der Inhalt geht uns nichts an, die Korrektoren haben sich um Satzfehler und Rechtschreibung zu kümmern, basta. Fürs Verbieten und Verbrennen sind die Gerichte da, die von der Zensur oder die von der Inquisition, wir sind für den Kunden da. Für den zählt, dass unterwegs ist, was er verbreiten will. Für immer unterwegs.
Für immer? Auch wenn das Gedruckte im Feuer landet oder im tiefsten Kanal versenkt wird und kein einziges Exemplar mehr aufzutreiben ist?
Ja, auch dann. Hast du jemandem ein tödliches Gift verabreicht, kannst du es nicht mehr zurückholen.
Es war der älteste der Druckereibesitzer, der mir das gesagt hatte, so gelassen, dass ich zu schwitzen begann.
Wie Traubenmost gärte es in mir. Als ich mit der alten Fedele allein war, schoss es den Spund heraus: Das kann doch nicht wahr sein, dass Lügen und Gerüchte nicht totzukriegen sind!
Was weißt du über Marin Falier?, fragte die Fedele.
Was jeder in Venedig über ihn weiß: dass er der dritte Doge aus der Familie Falier war und nicht mehr vom Rat kontrolliert werden wollte.
Was wollte er?
Alleine herrschen.
Wie versuchte er das?
Durch Hochverrat.
Woher weißt du das?
Davon, wie es ausging, und das habe ich oft gehört. Die Mitverschwörer wurden gehenkt, Falier wurde geköpft, der Kopf zwischen seine Füße gelegt.
Wie sah Falier aus?
Wie ein Verräter.
Gibt es ein Bildnis von ihm?
Es hängt golden gerahmt im Dogenpalast neben den Porträts der anderen Dogen, aber es wurde mit einem schwarzen Tuch übermalt.
Warum?
Damit jede Erinnerung an ihn auf immer und ewig gelöscht ist.
Gibt es Prozessakten?
Auch die wurden vernichtet oder verschwanden, weiß jeder in Venedig.
Woher weiß dann jeder in Venedig, dass er wie ein Verräter aussah und des Hochverrats schuldig war?
Weil es seit seinem Tod vor hundertundsoundsoviel Jahren weitererzählt wird.
Obwohl niemand weiß, ob es stimmt?
Als ich dreizehn war, fing die alte Fedele an, nach meinen Zielen zu fragen.
Ich kam nicht bis zum Blondsein. Als ich von einem freien und unabhängigen Leben in den eigenen vier Wänden redete, brach aus ihrem knochigen Körper ein Lachen, das ich ihm nie zugetraut hätte; es hatte Brüste wie unsere Geflügelhändlerin am Rialto, die sprangen aus dem Ausschnitt, wenn sie einer Gans den Kopf abschlug. Mit großer Geste wies einer von Fedeles dürren Armen auf ihren Hausrat; so sähe das dann aus, sagte sie, das freie unabhängige Leben. Mit der Sorte Illusion hatte sie Erfahrung.
Als Sechzehnjährige hatte sie jede Unterhaltung auf Latein führen können, als Siebzehnjährige auf Altgriechisch, worüber und mit wem auch immer. Als sie achtzehn war, hatte einer der Bellini-Brüder sie als Madonna verewigt, und ihr Vater hätte sie am liebsten auf eine Leistungsschau mitgenommen, die gab es jedoch nur für Hengste und Zuchtbullen. Berühmt wurde sie mit zweiundzwanzig; ihr Cousin Lamberto hatte in Padua sein Examen bestanden, sie wurde eingeladen, eine Lobrede auf die Wissenschaften zu halten, selbstverständlich lateinisch, die Rede wurde mit Ovationen gefeiert, zwei Jahre später gedruckt und in Europa verbreitet.
Ich kam damals wie gerufen, sagte die Fedele.
Sie passte ins Konzept von prominenten Wissenschaftlern und Gelehrten, die das Mittelalter zur Welt der Finsternis erklärten, bevölkert von dumpfen, übel riechenden, grausamen, menschenverachtenden Monstern. Die Zeit jetzt, ihre Zeit, verkauften sie als erhellt von Geist, Humanität, Erneuerung und Erkenntnisdrang.
Neu war offenbar die Erkenntnis, dass eine junge Frau denken konnte, und Männer, die ihr das zubilligten, bewiesen damit Geist und Humanität.
Die venezianische Regierung fand, dass ihr Cassandra Fedele ausgezeichnet stand; sie zeigen immer alles her, worauf sie sich etwas einbilden, die ganze Szenerie um den Dogenpalast wirkt wie aufgestellt für die Ankömmlinge, auf dass ihnen die Spucke wegbleibe. Man führte die Fedele bei offiziellen Anlässen vor, vergaß aber über aller Begeisterung nicht, dass sie eine Frau war, also weder Geld noch eine Zukunft brauchte. Als Königin Isabella von Kastilien ihr an ihrem Hof beides bot, untersagte der Doge Cassandra Fedele, die Republik Venedig zu verlassen. Von da an wurde sie nicht mehr für öffentliche Vorführungen engagiert, sie hätte vielleicht gepetzt.
Cassandra heiratete so spät, dass ihre Familie sie auslachte, nicht mehr gebärfähig, was sollte das, und sie haute ab samt Mann nach Kreta.
Ihr Vater sei weise gewesen, sagte die Fedele, als er sie auf den Namen der Seherin aus Troja taufte, die sah, was kommen würde, der aber kein Mensch glaubte.
Mit meiner Mutter redete ich nicht über meine Zukunft, sie glaubte an die göttliche Vorsehung und hoffte, dass ihre unerfüllten Wünsche durch ihr Kind in Erfüllung gingen. Vermutlich hoffen das alle Eltern, die zu kurz gekommen sind. Von den venezianischen Malern, deren Helfer auf der Suche nach einem Madonnenmodell sämtliche Sestieri abgrasten, ob da nicht mitten im Steinernen eine Rose blühte, hatte keiner meine Mutter entdeckt, kein einziger, und das, obwohl der Bedarf an Madonnenbildern in keiner Stadt höher ist als hier. Sogar die lausigen Pinsler, Madonnieri schimpft man sie, werden ihr Zeug los, als Souvenir an Fremde und für den Hausgebrauch.
In jeder Kirche hier gibt es mindestens eine gemalte Muttergottes, in manchen bis zu fünf, und meine Mutter wusste bei denen, die noch nicht zu lange dem Verkündigungsengel zuhörten, im Stallgeruch auf den Säugling starrten, am Kreuz heulten oder auf Wolken gen Himmel fuhren, wer sie waren: die Frau des Dachdeckers hinter Zanipolo, die Tochter des Fischers bei den Zattere, die Nichte des Leichenwäschers am Campo della Bragora.
Verheiratet mit einem der gefragten Maler, hätte ich meiner Mutter vielleicht doch noch zu einem Platz auf irgendeinem Hochaltar oder wenigstens einer Nebenkapelle verhelfen können. Der Tod Mariens wurde auch verewigt, und mit Mitte dreißig wäre sie dafür dann als Modell im richtigen Alter; Maria muss zwar beim Sterben Mitte fünfzig gewesen sein, aber die Maler litten an Jugendsucht wie alle Männer in Venedig; zumindest, wenn es nicht um sie selbst ging. Für Dogen fing die Karriere meistens erst mit achtzig an.
Kluge Frauen bemerkten, dass sich die Jugendsucht in manchen Fällen wie Trunksucht auswirkte und sogar Künstler unzurechnungsfähig machte. Zu Marias Himmelfahrt, obwohl die erst nach dem Tod möglich war, wurden bestenfalls Neunzehnjährige zugelassen, in wenigen Jahren war auch für mich diese Chance vorbei. Ich selbst hatte von meiner Mutter allerdings nichts geerbt, was madonnenhaft war, schon gar nicht den schamhaften Blick, und der lässt sich nicht lernen. Er buckelt und tastet sich dann von unten nach oben. Eigentlich ist der unschuldige Blick schuldbewusst, wer ist schon unschuldig, ich war mir aber nie einer Schuld bewusst.
Es gäbe nichts zu beichten, erklärte ich jedes Mal vor dem Spitzenbortengitter, hinter dem einer saß, der ähnlich wie mein Lehrer herausstank; offenbar beschwerte er sich bei meiner Mutter. Sie wusste, was ich verschwieg. Als ich dann beichtete, von meinem frommen Lehrer an den Brüsten und meinem Geschlecht befingert zu werden, wurde ich wegen Verleumdung zu so vielen Rosenkränzen verdonnert, dass ich mir neue Knie hätte kaufen müssen. Trotzdem führte das Erlebnis zu einer inneren Läuterung: Ich beschloss, meiner Mutter nie mehr etwas anzuvertrauen. Wir bewohnten von da an zwei Kontinente, die nichts teilten, schon gar nicht die Sprache, nur wusste sie davon nichts. Legte sie ihre sahnigen Arme um mich und ich atmete ihren Duft ein, diese Mischung aus schwarzer Seife, ein wenig Schweiß, eingekochten Früchten, einem warmen Bett und Rosmarin, war ich manchmal nahe dran, umzufallen, hinein ins weiche Herz ihrer Dummheit. Doch ich blieb standhaft.
Mein Vater setzte, was meine Zukunft anging, auf eine Heirat mit einem Richter, der dafür sorgen könnte, jene Kollegen, die ihn denunziert hatten, mit einer Anschuldigung aus den Briefkästen zur Strecke zu bringen; auch er träumte offenbar in meinem Gesicht. Altersarmut wie bei Cassandra Fedele kam in den Gedanken der beiden nicht vor.
Die Sorge meiner Mutter steckte in dem Satz, den sie mir mit jedem Frühstück auftischte: Verschenk dich nicht, Kind, verschenk dich bloß nicht an einen, der dich nicht verdient.
Ich sah die alte Fedele vor mir. Ihr Mann hatte sie wohl verdient, das hatte aber nicht gereicht.
Irgendwie kam ich an dem Punkt nicht weiter, auch nicht mit der klugen Fedele.
Seither, seit ungefähr drei Jahren, hatte ich sie nicht mehr gesehen, und das war mein Fehler.
Ich war ihr abtrünnig geworden, seit ich ihm begegnet war.
Die alte Fedele hatte mich vor ihm gewarnt, und sie wusste vieles von mir, nicht aber, wie Warnungen auf mich wirkten. Kein Vorbild, der Mann, aber verantwortlich für die wesentliche Entscheidung meines Lebens.
Er kam mir um die Ecke herum entgegen auf dem Campo von San Zanipolo, wo ich gerade mal wieder nichts gebeichtet hatte. Ich hörte ihn, seine maronenbraune Stimme, bevor ich ihn sah.
Mein Bett wäre unter ihm zusammengebrochen, und sein Mantel mit den goldenen Borten hätte einen Wandbehang abgegeben, für den bei uns zu Hause keine Wand breit genug gewesen wäre. Das schwarze Bartgestrüpp reichte bis zu den Schlüsselbeinen, und die langen schwarzen Haare hatte er mit einem orientalischen Schal hochgebunden. Auf der Brust glänzte ein fettes Goldmedaillon, an einem Ohr baumelte ein Klunker, so groß und so rot wie eine Kirsche, Glas war das nicht. Er brachte den Platz zum Dröhnen.
Erst eineinhalb Jahre war es damals her, dass Aretino nach Venedig gezogen war, das Pflaster in Rom war ihm zu heiß geworden. Längst kannte ihn hier jeder, er galt als so etwas wie ein Gegen-Doge, fürstlicher, weil er prächtiger war, Geld verschenkte, anstatt es zu kassieren, und weil keiner ihn kontrollieren konnte. Einen Satz von ihm reichten sich die Venezianer weiter wie den Klingelbeutel in der Kirche. Ich bin wirklich ein König, ich kann mich selbst beherrschen. Ich hatte den Satz eingepackt und trug ihn mit mir herum, ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte, doch ich war sicher, irgendwann würde ich ihn brauchen können.
Alles, was ich über Aretino wusste, verdankte ich der alten Fedele.
Sein Woher war noch weniger beeindruckend als meines. Sein Vater, hieß es, sei ein Schuster im toskanischen Arezzo gewesen, der aus gutem Grund fast nichts verdiente; seiner Mutter hatte man, nach Ansicht der Fedele ohne jeden Beweis, einen zweifelhaften Ruf angehängt. Schulbildung besaß er angeblich überhaupt keine, und gelernt hatte er den Beruf des Buchbinders, was ehrenwert war, dafür schäbig bezahlt und aussichtslos, das schien typisch fürs Ehrenwerte zu sein. Aber schon mit Ende zwanzig hatte er sich zu einem Schriftsteller hochgearbeitet. Seinen Künstlernamen leitete er von seiner Geburtsstadt ab.
Aretino gelang der Durchbruch, hatte die Fedele erzählt, als das Lieblingstier des Papstes starb, ein Elefant; er starb an Halsentzündung und Durchfall nach einer Überdosis Abführmitteln. Papst Leo X. hatte ihn seinen Leoparden und sogar den Chamäleons vorgezogen. Aretino gab blitzschnell Das Testament des Elefanten heraus, eine Schlüsselgeschichte über die Zustände im Vatikan. Der Schlüssel lag bei.
Fast jeder in Rom ahnte, dass es dort abartig zuging, Aretino überraschte sie alle. Die Ahnungen waren Heiligenlegenden gegen das, was er haargenau berichtete. Er wusste, welcher Würdenträger in welchem Bordell Stammgast war, welcher Kardinal sich durch welche Korruptionsgeschäfte, Unterschlagungen oder Geldwäschen bereichert hatte und wer von den Bischöfen sich nach seinen Predigten mit angelieferten minderjährigen Knaben erholte. Aretino wurde mit Inbrunst geliebt und bis aufs Blut gehasst, also mehr gelesen als irgendein anderer seiner Generation. Das sei wohl das Erfolgsrezept der Zukunft, schwante der Fedele, Aufmerksamkeit erregen, egal mit welchen Mitteln. Hauptsache, möglichst viele zerreißen sich das Maul über dich. Eine Figur musst du sein, kein Charakter. Es wird nur noch zählen, prophezeite sie, wie viele hinter dir dreinrennen, nicht welche. Kein Zweifel, sie würde nicht hinter Aretino herrennen, auch nicht, wenn sie vierzig Jahre jünger wäre.
Als das Testament erschien, war Aretino bereits bekannt wie ein bunter Hund. Dank einer Statue, nach der sich ohne ihn und ein paar andere mit messerscharfen Zungen kein Mensch umgedreht hätte. Eh ein Wunder, dass man diese Figur aus dem Bauschutt gezogen hatte, sie war so verstümmelt, dass keiner sagen konnte, wen sie zeigte, nur dass es ein nackter Bewaffneter war.