Als Capaul am Mittwochmorgen um halb acht in Uniform die Mansarde im Gasthof Zum Wassermann verließ und in die Gaststube kam, saß seine Wirtin Bernhild kopfschüttelnd an ihrem kleinen mausgrauen Laptop, den sie mit einem Abziehbild des Eishockeyclubs St. Moritz verziert hatte. Sie trug das übliche Putzkleid und eine Schürze mit kleinen Fliegenpilzen. Ihr spärliches Haar war frisch getönt, karottenrot diesmal, dazwischen schimmerte die rosige Kopfhaut durch. Der zärtliche Blick, den sie ihm schenkte, als er sich zu ihr setzte, mahnte ihn, sich bald nach einer eigenen Wohnung umzuschauen. Nur war das im Oberengadin nicht einfach, umso mehr, als sein Lohn als Polizeidebütant noch mager war und er ziemlich hohe Schulden hatte.
»Hast du gehört?«, fragte sie und latschte in ihren grasgrünen Crocs hinter die Theke, um ihm Kaffee zu machen. »Am Linard Pitschen war gestern Abend ein Bergsturz. Wie aus dem Nichts kam plötzlich eine dicke graue Staubwolke aus der Val Lavinuoz und ist über Lavin gerollt.«
»Ach deshalb! Ich hatte mich schon gewundert, wieso die Fenster so verstaubt sind. Sie sehen aus wie gepudert.«
Die Brotscheiben im Körbchen waren in Plastik gewickelt gewesen. Er strich sich ein Marmeladenbrot und versuchte abzubeißen, es ließ sich aber nur reißen.
»Hallo? Ich sagte ›grau‹«, erklärte Bernhild inzwischen. »Das an den Fenstern ist Saharastaub, roter Saharastaub. Der ist zwar auch erstaunlich, hat aber nichts mit dem Bergsturz zu tun.«
»Wer weiß«, sagte Capaul, um sich zu retten, »im Grunde hat alles mit allem zu tun.«
Sie stellte ihm seufzend den Kaffee hin.
»Du elender Besserwisser. Genauso gut kann man sagen, es ist eine Krankheit gewisser Leute, dass sie überall krampfhaft Zusammenhänge suchen.« Sie stellte sich hinter seinen Stuhl und ordnete notdürftig Capauls dunkles verstrubbeltes Haar. »Du hast doch heute dein Gespräch. Etwas frisieren hättest du dich schon können.«
»Wieso krampfhaft? Zusammenhänge sind doch schön! Und ja, ich habe das Gespräch. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass Gisler sich um meine Frisur schert. Er ist mein Offizier, nicht mein Zuhälter.« Er grinste.
»Sag mal, bist du überhaupt nicht nervös?«, fragte sie, wartete die Antwort aber gar nicht ab. »Wenn ich recht verstanden habe, geht es um nichts weniger als deine Zukunft. Suspendiert bist du schon, dabei hast du die Stelle nicht mal richtig angetreten. Heute heißt es Top oder Flop, oder nicht?« Sie sah zu, wie Capaul schweigend Schlieren von geronnenem Rahm aus seinem Kaffee fischte, dann fuhr sie fort: »Und was deine Frisur angeht: Doch, deinen Gisler wird das hoffentlich kümmern. Ein Polizist muss Vertrauen erwecken. Und dazu gehört eine ordentliche Frisur.«
»Oh, gewissen Leuten gefalle ich auch unfrisiert ganz gut.«
»Das weiß ich. Ich rede aber nicht von Verführung, sondern von Vertrauen. Das sind Gegensätze.«
Capaul lachte, dabei verschluckte er sich.
»Du redest heute einen Unsinn nach dem anderen«, stellte er fest, als er sich erholt hatte. »Was ist los mit dir?«
Sie setzte sich wieder an den Laptop. »Mir egal, ob du es für Unsinn hältst, ich weiß, wovon ich rede. Außerdem verdreht der Saharawind die Gedanken, das weiß jedes Kind. Oder besser gesagt der Föhn. Bei uns weht der Saharawind ja als Föhn, und Föhn verdreht die Gedanken.«
»Schon wieder so ein Blödsinn! Ich denke, du glaubst nicht an Zusammenhänge?«
Er wischte sich den Mund ab und erhob sich.
Beleidigt sah sie von ihrer Lektüre auf. »Ich sage nicht, dass es keine gibt. Es hängt nur nicht alles mit allem zusammen.«
»Was war denn der Grund für den Bergsturz?«
Sie überflog den Bildschirmtext. »Die Hitze offenbar. Es ist auch nicht normal, dass wir hier oben im November noch zwanzig Grad haben.«
Capaul triumphierte. »Also doch der Saharawind!«
»Klugscheißer.« Sie warf eine Papierserviette nach ihm, doch die flog nicht sehr weit. »Ich sage nur, der Staub am Fenster … Ach! Wären alle Polizisten so wie du, würde die ganze Bevölkerung im Knast landen.«
»Unlogisch.«
»Was soll daran unlogisch sein?«
»Die Polizisten können die anderen nur einlochen, wenn sie selbst nicht eingesperrt sind. Also sitzt nicht die ganze Bevölkerung.«
Diesmal warf Bernhild einen Löffel, aber Capaul entwischte gerade noch durch den speckigen, vergilbten Plastikvorhang am Eingang.
Doch, er war nervös. Und wenn Capaul nervös war, wurde er albern. Er trat nach draußen und stieg die enge Gasse in den Dorfkern von Samedan empor, in dem das Polizeirevier lag. Obwohl die hohen Häuser sicherlich den Wind bremsten, fühlte es sich an, als durchschreite er die Luftschleuse in ein Kaufhaus. Er wollte tief durchatmen, um sich zu entspannen, doch die Luft war heiß und trocken, schon beim ersten Einatmen pappten ihm Nase und Mund zusammen, außerdem schmerzte der Staub in den Augen.
Als er den Polizeiposten erreichte, musste er klingeln, er hatte wegen seiner Suspendierung noch nicht einmal einen Schlüssel. Sein Kollege Linard öffnete, die beiden verband keine Liebe. Linard hatte ihn wegen Falschparkens in den letzten Tagen schon zweimal gebüßt. Er telefonierte gerade und winkte nur lässig, dann zeigte er den Flur hinab.
Gisler erwartete Capaul im hinteren Sitzungszimmer. Auch er hatte offenbar mit dem Staub zu kämpfen. Als Capaul eintrat, saß er halb abgewandt und schnäuzte sich erst ausgiebig und sonor in ein Tempotaschentuch, dann reinigte er die Nasenlöcher aus jedem erdenklichen Winkel, indem er das Taschentuch immer von Neuem um den kleinen Finger drapierte. Nachdem er das Taschentuch im Papierkorb versenkt hatte, stöhnte er leise und fuhr noch zwei-, dreimal mechanisch über den buschigen Schnurrbart. Dann endlich streckte er Capaul die Hand hin.
»Ganz schön staubig draußen«, bemerkte Capaul.
Doch Gisler schien das Thema abgeschlossen zu haben. Er betrachtete Capaul mit bemüht wohlwollendem Blick, dann wies er auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Sitzungstischs.
»Sie sind ja noch in der Probezeit«, stellte er fest, »genauer gesagt zu Beginn Ihrer Probezeit. Trotzdem waren Sie bereits fünf Tage wegen Reglementsverstößen freigestellt und zehn Tage krankgeschrieben.«
Capaul schaffte es, diplomatisch zu bleiben. »Ich freue mich darauf, endlich den ordentlichen Dienst zu beginnen.«
»Glauben Sie denn überhaupt noch, dass Sie für die Polizei taugen?«
Capaul versuchte, Lockerheit auszustrahlen. »Vor nicht zehn Minuten hat man mir gesagt: ›Wären alle Polizisten wie du, säße das ganze Land hinter Gittern.‹ Abgesehen vom logischen Fehlschluss halte ich das für ein Kompliment.«
Gisler legte den Kopf schief. »Welchem Fehlschluss?«
»Nun, die Polizisten sitzen selbstverständlich nicht und gehören doch auch zur Bevölkerung.«
»Was macht Sie da so sicher?«
Capaul stutzte. »Was? Dass wir Teil der Bevölkerung sind?«
»Quatsch, dass ein Polizist wie Sie nicht hinter Gittern landet.«
Capaul war sich keiner konkreten Schuld bewusst, trotzdem wurden seine Hände sofort schwitzig, und er hielt sich unwillkürlich an der Tischplatte fest.
Gisler wartete noch immer auf Antwort, sein Blick war nicht grimmig, eher freundlich neugierig.
Capaul war erleichtert, er lachte verlegen. »Ich glaube an unser Rechtssystem«, antwortete er schließlich. Das war hochtrabend, aber ihm fiel nichts Besseres ein. »Ich vertraue darauf, dass jeder bekommt, was er verdient. Selbst wir Polizisten.«
»Und was haben Sie verdient?«
Capaul lachte lauter. »Bestimmt keinen Knast. Etwas Lob wäre nett. Ich habe vielleicht Fehler gemacht, aber mich ins Zeug gelegt. Am meisten jedoch wünsche ich mir Gelegenheit, im offiziellen Dienst zu beweisen, was ich wirklich kann.«
Gisler rieb sich wieder den Schnurrbart. »Ach, Sie sind zur Polizei gekommen, um sich zu beweisen? Das sagen mir sonst die Zwanzigjährigen. Sie sind wie alt?«
»Dreiunddreißig.« Er musste puterrot sein. »Natürlich will ich mich nicht beweisen wie ein Zwanzigjähriger. Was ich meine …«
Gisler interessierte nicht, was er meinte. »Fragen wir anders«, unterbrach er ihn. »Was, glauben Sie, ist Ihre primäre Aufgabe?«
»Als Polizist oder im Leben?«
Das hatte klug klingen sollen, doch Gisler schien die Lust an ihrem Gespräch zu verlieren. »Ich sage es Ihnen, Capaul: Die Ordnung aufrechtzuerhalten. Normalen Bürgern ein normales Leben zu ermöglichen. Zu schauen etwa, dass niemand zu schnell fährt. Dazwischenzugehen, wenn jemand dreinschlägt. Zu beschwichtigen. Zu beschützen. Es ist nicht Ihre Aufgabe, Capaul, Misstrauen zu säen, Menschen zu verunsichern oder sie zu provozieren. Wer immer nur bohrt, Capaul, mag zwar dann und wann auf Öl stoßen, aber selbst wenn, muss man sich fragen, ob das permanente Bohren nicht viel mehr zerstört, als es einbringt.«
Capaul konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gleichzeitig schoss ihm Bernhilds Bemerkung durch den Kopf: Ein Polizist muss Vertrauen erwecken, nicht verführen.
Gisler war womöglich überrascht, dass Capaul nicht protestierte oder sich verteidigte, denn er fuhr um einiges sanfter fort: »Bei Polizist Meier werden Sie eine Geländeausrüstung fassen, danach fährt er Sie nach Lavin. Dort assistieren Sie der Dienststelle Zernez dabei, alles zu regeln, was mit dem Bergsturz zu tun hat. Genauer gesagt war es ein Felssturz. Sie werden dabei nicht denken, Capaul, nur zupacken. Das Denken überlassen Sie Ihren erfahrenen Kollegen. Glauben Sie, das schaffen Sie?«
Capaul nickte. »Danke, Herr Gisler.« Er stand auf und wollte ihm die Hand geben.
Gisler rührte sich nicht. »Für Sie immer noch ›Herr Offizier‹«, bemerkte er ruhig. »Polizist Capaul, abtreten!«
Damit hatte sein Dienst offiziell begonnen.
Leicht benommen verließ Capaul das Sitzungszimmer. Sein Kollege Linard – »Polizist Meier« – lümmelte in seinem Drehstuhl. Grinsend schob er ein Paar gut eingetragene Bergschuhe mit Stahlkappen und einen abgewetzten Geländeanzug übers Pult. Offenbar war der Ausgang des Gesprächs schon vorher klar gewesen.
Capaul verzog sich hinter eine Stellwand und wechselte die Kleider. »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Bergsturz und einem Felssturz?«, wollte er wissen, als er wieder hervorkam.
Linard zog einen Schlüsselbund aus der Schublade und ließ ihn locker um den Finger kreisen. »Einmal stürzt ein Berg, das andere Mal ein Fels, nehme ich an.« Pfeifend schnappte er seine Jacke und ging voraus.
Der Streifenwagen stand auf einem der Parkplätze direkt vor dem Revier.
»Ein Berg, das sind doch aber auch Felsen«, beharrte Capaul. »Der Berg stürzt ja nicht als Ganzes.«
Linard überhörte ihn. Kopfschüttelnd stand er vor dem Wagen und betrachtete die Staubschicht.
»Lass mich machen«, sagte Capaul und wollte ihn mit dem Ärmel wegwischen.
Linard zog ihn überraschend brüsk zurück. »Trottel, du zerkratzt die Scheibe! Das Zeug ist hart und scharf wie Diamantenstaub. Da hilft nur spülen.« Er öffnete die Tür, setzte sich hinters Steuer und sprühte Fensterreiniger auf die Scheibe. Der verwandelte den Staub zuerst in eine dunkle Pampe, dann fraßen sich einige Rinnsale hindurch, die immer breiter wurden. Endlich rutschten ganze Schollen herunter. Die letzten Reste beseitigte der Scheibenwischer.
Die Seitenfenster und die Heckscheibe blieben verklebt, im Wagen war es schummrig wie in einer Höhle – einer vom Geruch von Fensterputzmittel geschwängerten Höhle.
Capaul schnallte sich an, und Linard gab ihm eine Straßenkarte. »Schlag mal auf.« Er steuerte den Wagen aus dem Parkplatz, dann tippte er mit dem Finger auf Lavin. »Nördlich davon liegt der Piz Linard, und die kleine Spitze davor ist der Linard Pitschen. Das Material hat sich ganz oben gelöst, in dreitausend Metern Höhe, und ist bei der Alp d’Immez gelandet, tausend Meter tiefer. Nicht allzu viel, zwanzig-, dreißigtausend Kubikmeter, aber wer weiß, wie viel noch kommt.«
»Wie viel ist das?«
»Beim großen Unglück in Bondo waren es zwei Millionen, soviel ich weiß. Aber schon ein einzelner Stein kann töten. Und die Brocken in Lavin sollen bis zu sechzig Kubikmeter groß gewesen sein, so viel fasst ein Vierzigtonnen-Lastwagen.«
»Donnerwetter«, sagte Capaul. »Gab es Tote?« Sie fuhren nun den Inn entlang, dessen blassrote Farbe ihn an das Spülwasser bei einer Obduktion erinnerte.
Linard zuckte mit den Achseln. »Ich habe nur gehört, dass ein paar Wanderer und Sennen mit dem Helikopter ausgeflogen werden, ein Wanderer wird noch gesucht.«
»Und was tue ich?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Zernez Verstärkung angefordert hat. Lavin und Susch sind seit ein paar Jahren Teil der Gemeinde Zernez.«
Ein Hubschrauber strich dicht über ihnen in Schräglage den Talboden entlang Richtung Unterengadin.
»Die ›Heli Bernina‹ ist in Samedan stationiert«, sagte Linard, »vermutlich ist er das.«
Capaul hatte gleich einige Fragen auf der Zunge, doch Linard kam ihm zuvor: »Mach mal das Handschuhfach auf. Da, der kleine Würfel, das ist ein Verstärker.« Gleichzeitig suchte er etwas auf dem Handy. »Perfekt, Dire Straits: Sultans of Swing. Dem Wetter zu Ehren. Steck ein und stell an.«
Er gab Capaul sein Handy, Capaul schloss den Verstärker an und drückte »Play«. Das kleine Teil hatte einen enormen Bass, an ein Gespräch war nicht mehr zu denken.
Capaul lehnte sich zurück und sah hinaus. Sie fuhren an Nadelwäldern und Wiesen vorbei. Die Lärchen standen nackt und krakelig an den steilen Hängen, ein Teppich aus goldenen Nadeln bedeckte den Waldboden und floss weiter, über das welke Gras bis hinab auf den Talgrund. Auch hier lag über allem ein Hauch Wüstenrot, doch das Gold war stärker. Der kleine Wasserfall dagegen, der kurz vor Susch über die Straßengalerie hinabschoss, erinnerte ihn wieder an den Seziertisch, und auch der Himmel dahinter schimmerte fahl wie die Haut eines Toten.
Capaul erwähnte es in der Pause zwischen zwei Liedern.
Linard lachte nur. »Wie viele Tote kannst du Frischling schon gesehen haben?« Gleich darauf begann das nächste Stück, und er sang lauthals mit: »If you wanna run cool, you got to run on heavy, heavy fuel.«
Capaul versuchte in Gedanken die Menschen zu zählen, die er in den Tod begleitet oder deren Leichen er gewaschen und eingekleidet hatte. Die Zeit vor der Polizeischule, als er noch im Sterbehospiz gearbeitet hatte, lag nicht weit zurück.
Er war noch nicht fertig mit Zählen, als Linard von der Kantonsstraße abbog und den Wagen durch Lavins enge Gassen führte, dann unter dem Bahngleis und wiederum der Kantonsstraße hindurchfuhr, um auf einen schlichten Abstellplatz am Waldrand zu gelangen, hinter dem ein Bach sich mit den Jahrhunderten oder Jahrtausenden einige Meter tief ins Gestein gegraben hatte. Neben ihnen stand ein Kastenwagen der Polizei geparkt. Ein Korporal und eine Polizistin mit Gefreitenabzeichen saßen darin bei geöffneter Tür, er funkte, sie telefonierte. Als sie Linard hinterm Steuer erkannte, winkte sie ihm fröhlich zu.
Linard grüßte, bedeutete mit einer Geste, dass er gleich wieder verschwinden würde, und schlug Capaul kumpelhaft auf die Schulter. »These mist covered mountains are home now for me«, sang er. »Wobei ›mist‹ nicht Mist meint, klar?«
Er ließ Capaul bei laufendem Motor aussteigen, wendete schwungvoll – wobei er eine Menge Staub aufwirbelte – und fuhr davon.
Danach war es still. Der Bach war nur ein dünnes steingraues Rinnsal von fast öliger Konsistenz, vermutlich war das Bett weiter oben mit Schutt verstopft. Von fern hörte er das Stottern des Hubschraubers und vom Kastenwagen her gelegentlich die Signalfrequenz – tüdelüt – des Funkgeräts.
Die beiden Beamten waren noch immer beschäftigt. Um die Zeit zu überbrücken, folgte Capaul der Straße weiter bergwärts. Allerdings überquerte sie gleich darauf den Bach, und um in Sichtweite seiner neuen Kollegen zu bleiben, kehrte er bald um, bewunderte eine bestimmt zwanzig, wenn nicht dreißig Meter hohe Lärche, die direkt am Bachbettrand pfeilgerade in den Himmel schoss, und wunderte sich, dass kein Gewitter, kein Erdrutsch, keine Schneeschmelze sie je mitgerissen hatte.
Nachdem er zum Parkplatz zurückgebummelt war, studierte er die Wanderwegweiser. Einer der Wege, beschildert mit Chamanna Marangun, war mit einem einfachen Streifenband abgesperrt, davor warnte eine provisorische Tafel: Steinschlag! LEBENSGEFAHR! Er schlüpfte unter dem Band hindurch und stieg einen steilen Pfad empor, der in einen sorgsam terrassierten, mediterran anmutenden Hang führte: Talwärts waren mit Maschendraht einige Gärtlein abgeteilt, bergwärts wechselten sich karge Wiesenstufen mit nacktem Fels, krummen Birken und dornigem Gestrüpp ab, vermutlich Alpenrosen.
Man sah von hier aus weit ins Tal. Auf halber Höhe am Berg schlängelten sich die Straße und die Eisenbahn, ganz unten floss der Inn zwischen Häusern hindurch, an Gärten und Äckern entlang. Ein kleines Dorf, nur ein Häuserkranz, lag erhöht, das musste Guarda sein. Bei seinem Anblick dachte Capaul unwillkürlich an eine Dornenkrone.
Die Freude, hier arbeiten zu dürfen, wurde nur getrübt durch den Staub, der in alle Öffnungen drang. Capaul spuckte aus. Als er sich umwandte, um zum Parkplatz zurückzukehren, überrannte er fast die Polizistin.
»Attenziun«, rief sie lachend – wobei sie eine staubverklebte Oberzahnreihe entblößte – und klammerte sich an ihn, bis sie das Gleichgewicht wiederfand. »Wir brauchen nicht noch mehr Tote.« Dann schüttelte sie ihm die Hand. Ihre war schmal, doch ausgesprochen kräftig. »Ich bin Barbla. Entschuldige, dass wir dich haben warten lassen. Komm.«
Capaul stieg hinter Barbla den abschüssigen Pfad hinab. Er hatte Mühe, ihr Tempo zu halten.
»Von Toten hat Linard gar nichts gesagt«, bemerkte er aufgeregt. »Wie viele sind es? Gibt es Verletzte? Was kann ich tun? Und wo sind alle anderen?«
»Welche anderen?«
»Armee, Räumungstrupps, Planungsstab, Sanitäter.«
Sie hatten den Parkplatz erreicht.
»Moment«, sagte Barbla belustigt, »das mit den Toten war so dahingesagt. Acht Leute waren in der Berghütte Chamanna Marangun, als es passiert ist, fünf Erwachsene, drei Kinder. Die werden gerade ausgeflogen, ich hoffe, sie genießen den Flug. Danach holt Franz, der Pilot, noch zwei Hirten raus.«
Während sie redete, löste sie ihr langes, fahlblondes Haar, das zu einer Art Knoten gebunden gewesen war, schüttelte es aus und band es neu. »Helfer haben wir nicht, das heißt, wir holen telefonisch Rat. Lavin ist nicht Bondo, per furtüna da Dieu.«
Während sie sprach, prägte Capaul sich die markanten Merkmale ihres Gesichts ein: die schmalen, schlecht durchbluteten Lippen, goldene Kügelchen an den fleischigen Ohrläppchen und ihre graublauen Augen, deren Iris ein kräftiger schwarzer Ring abschloss.
»Sieh mich nicht so an«, bat Barbla. »Ich ziehe zwei Kinder groß. Da bleibt keine Zeit, zum Friseur zu gehen, auch wenn ich nur Teilzeit arbeite. Hast du Kinder?«
Statt zu antworten, fragte er: »Was war das dann für ein Spruch mit den Toten?«
»Ach so. Einer ist verschollen, ein Sonderling aus dem Dorf, er heißt Tumasch. Seit wohl zwei Jahren steigt er praktisch jeden Tag hinauf in die Val Lavinuoz, um dort Steine fortzuräumen und aufzuschichten. Steine, die vom Berg fallen. Niemand weiß genau warum.«
»Die Steine fallen schon länger?«
»Ja, Steinschlaggefahr herrscht dort permanent. Und Tumasch räumt die Steine jeweils wieder weg. Seine Frau kann nicht mit letzter Gewissheit sagen, dass er gestern oben war, aber mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit. Zudem kam Tumasch in der Nacht nicht heim.«
»Kann man ihn nicht orten? Über sein Handy etwa?«
»Haben wir versucht, aber das Handy ist tot. Was wiederum dafür spricht, dass Tumasch dort oben ist, denn die Val Lavinuoz ist ein Funkloch.«
»Habt ihr es mit einer Wärmekamera versucht?«
Sie lächelte – bestimmt fand sie ihn altklug – und erklärte: »Bei diesen Temperaturen unterscheidet sich ein lebender Körper kaum von der Umgebung. Das ist das eine. Das andere: Selbst wenn wir Tumasch orten und er noch leben sollte, wie kriegen wir ihn von dort fort? Solange sich die Lage am Berg nicht stabilisiert, dürfen wir niemanden in die Falllinie schicken. Er müsste sich also selbst anseilen, und sogar dann käme der Hubschrauber nicht nah genug heran, um ihn hochzuziehen. Die Steine fallen tausend Meter tief und prallen ab. Trifft einer den Rotor, haben wir Tote im Plural.«
Das leuchtete Capaul ein. »Und was tun wir jetzt?«
»Nun, die Idee ist, dass du mit Franz hochfliegst und die Gegend mit dem Fernglas absuchst. Wir haben gehört, deinen schönen Augen entgehe nichts.«
Capaul wurde rot. »Wer sagt so was?«
»Linard natürlich. Wobei er es anders formuliert hat, nämlich als Warnung. Egal, hör zu: Franz nimmt dich an Bord, sobald er die Hirten abgesetzt hat. Er landet auf der anderen Talseite, auf dem Sportplatz eines Ferienheims. Roman fährt dich dorthin, ich selber fahre schleunigst heim und stelle mich an den Herd. Zu Hause wollen drei Männer gefüttert sein.«
»Die alle drei nicht kochen können?«
»Na ja, die Jungs sind acht und zehn, und mein Mann hat gerade mal eine halbe Stunde, bevor er wieder losmuss.«
Inzwischen hatte Roman, ein Fünfzigjähriger mit Wohlstandsbäuchlein und sorgfältig gestutztem Vollbart, der ohne Uniform als Lehrer durchgegangen wäre, den Kastenwagen verlassen und trat zu ihnen.
»Aktion abgeblasen«, erklärte er. »Der Staub greift angeblich das Hubschraubergetriebe an.«
Er reichte Capaul eine babyweiche, klamme Hand.
»So plötzlich?«, wunderte sich Barbla. »Die ›Heli Bernina‹ untersucht doch Bergstürze.«
»Nicht unser Staub ist das Problem, sondern der Saharastaub. Den weht es zwar auch öfters hierher, aber nicht in dieser Menge. Franz sagt, er frisst sich ins Metall, und das Gewinde leiert aus, oder so ähnlich. Die beiden Hirten hat er noch ausgeflogen, aber jetzt macht er Feierabend.«
Barbla verdrehte die Augen. »Che miseria! Also einmal mehr Plan B.« Sie ging zum Kastenwagen und griff zum Telefon.
Capaul fragte: »Und wie geht dieser Plan B?«
»B sco blöffar«, antwortete Roman. »B wie bluffen. Barbla gibt gleich die Meldung durch. In der heißen Phase einer Katastrophe muss jede Stunde eine Meldung raus, sonst steigt uns die Presse aufs Dach.«
»Und wenn es nichts zu melden gibt?«
»Eben blöffar«, sagte Roman. »Zusammen mit der Medienabteilung der Polizei in Chur fällt uns immer was ein. Steigen wir ein.«
Barbla hängte schon wieder auf. »Anke sagt, das öffentliche Interesse hält sich in Grenzen. Wir haben schon so was wie ein Schlusskommuniqué formuliert. Um drei Uhr sollen wir uns noch mal melden.« Dann hielt sie Capaul die Beifahrertür auf. »Rutsch durch, ich muss als Erste raus.«
Roman fuhr zum Bahnhof, dort stieg Barbla in ihr eigenes Auto um.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte ihn Capaul.
»Die Geretteten befragen, ob sie Tumasch gesehen haben. Wir haben sie in der Crusch Alba hier in Lavin einquartiert.«
Das Wirtshaus Crusch Alba lag am Dorfeingang. Es handelte sich um ein altes Engadinerhaus mit tief eingeschnittenen Fensternischen und Sgraffiti, welche eine kletternde Gämse und verschiedene geheimnisvolle Zeichen zeigten.
Die Befragung war kurz und vergeblich. Die Wanderer – zwei neuseeländische Familien, die eigentlich schneeschuhwandern wollten – hatten den Tag auf dem Hüttenboden verbummelt und niemanden bemerkt, der weiter vorn im Tal Steine geschichtet hätte. Die Sennen ihrerseits hatten am Plan San Jon das Terrain sondiert, um vielleicht im kommenden Jahr dort einen Viehunterstand zu bauen. Auch sie waren also zu weit von der Stelle entfernt gewesen, an der Tumasch die Tage verbrachte.
Inzwischen hatte Franz Fotos gemailt, die er vom Hubschrauber aus gemacht hatte. Roman und Capaul setzten sich in den Kastenwagen, um sie auf Romans Handy zu sichten. Keines gab irgendeinen Hinweis auf den Verbleib des Sonderlings.
Um zwölf Uhr drehten sie das Radio an und hörten das Pressekommuniqué in den Nachrichten: »Bergabbruch im Engadin fordert mutmaßliches Todesopfer. Ein Felssturz am Linard Pitschen oberhalb von Lavin hat acht Wanderer und zwei Sennen über Nacht in der Val Lavinuoz eingeschlossen. Diese konnten heute früh unverletzt aus dem Krisengebiet geflogen werden. Die Suche nach dem verschollenen Einheimischen musste zwischenzeitlich eingestellt werden, da der Berg noch immer aktiv ist. Das mutmaßliche Opfer hatte sich zur Zeit des Niedergangs im Zentrum des Ablagerungsgebiets nahe der Alp d’Immez aufgehalten. Laut Meldung der Kantonspolizei Graubünden wurde der Sechsundfünfzigjährige mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Felsmassen begraben. An der Ostflanke des Linard Pitschen lösten sich am Dienstagabend rund dreißigtausend Kubikmeter Gestein und stürzten tausend Meter talwärts.«
»Was für ein Unsinn«, wunderte sich Capaul. »Es wurde doch noch gar nicht gesucht. Und ob Tumasch dort war, wissen wir auch nicht mit Sicherheit.«
»Natürlich haben wir gesucht«, sagte Roman und stieg aus dem Wagen, »vom Hubschrauber aus. Wir haben Fotos ausgewertet. Und wenn Tumaschs Frau sagt, er war in der Val Lavinuoz, dann war er auch dort. Komm, wir essen bei Emil.«
»Aber da könnte doch jeder kommen«, schimpfte Capaul und ging ihm nach. »Ich höre im Radio, dass in der Gegend ein Bergsturz ist, schlage meinen Mann tot und behaupte, er ist dort oben umgekommen.«
»Felssturz, nicht Bergsturz«, korrigierte Roman ruhig. »Und warum sollte Meta das tun? Sie hat ihn so viele Jahre ausgehalten. Jeder hätte verstanden, wenn sie Tumasch verlassen hätte. Was heißt ›verstanden‹. ›Geh‹, haben die Leute gesagt, ›mach was aus deinem Leben, du bist doch noch jung. Lass dich von diesem Krüppel nicht runterziehen.‹ Aber sie hat gesagt: ›Cla war mein Schicksal, und Tumasch ist mein Schicksal. Sein Schicksal wählt man nicht, und man weicht ihm auch nicht aus.‹ Cla, musst du wissen, war ihr Sohn. Er war noch ein halbes Kind, als er gestorben ist.«
»Woran?«
»Jagdunfall.«
»Und wieso Krüppel?«
»Tumasch hatte eine Gehbehinderung.«
»Und was du über diese Meta und die Leute gesagt hast, woher weißt du das alles? Seid ihr befreundet?«
»Nein, bei uns weiß man so was eben.«
Inzwischen hatten sie das Hotel Piz Linard erreicht, einen rosafarbenen Jugendstilbau, der den Hauptplatz dominierte. Roman trat in die Gaststube, sagte im Vorbeigehen etwas zur Wirtstochter und steuerte den Stammtisch an. Sie waren die einzigen Gäste.
»Trotzdem kann man doch kein Todesopfer melden, ehe man nicht die Leiche findet«, fing Capaul wieder an. »Dazu nur gerade einen einzigen Tag nach dem Unglück.«
»Warum nicht?«, fragte Roman und schnappte sich eine Scheibe Brot vom Nebentisch. »Was sonst? Weißt du, wie lange es normalerweise dauert, bis ein Vermisster für tot erklärt wird? Fünf Jahre. Fünf lange Jahre wartet die Ehefrau darauf, sich Witwe nennen zu dürfen, fünf Jahre lang bekommt sie keine Entschädigung, keine Rente, darf nicht wieder heiraten, hat kein Grab, an dem sie trauern