Gommer Sommer

Über Kaspar Wolfensberger

Autorenfoto: © Ayse Yavas

KASPAR WOLFENSBERGER, lebt und arbeitet in Zürich und in seiner zweiten Heimat, dem Goms, das er also bestens kennt. Wolfensberger ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder, Großvater, leidenschaftlicher Weltenbummler, Wüsten­fahrer und Wildniscamper, musikalischen, kulinarischen, önologischen und sonstigen Genüssen sehr zugetan und von Berufs wegen Psychiater und Psychotherapeut.

 

Einzelne Gebäude, Örtlichkeiten und Flurnamen, denen im Rahmen dieser Kriminalgeschichte eine Bedeutung zukommt, sind realen Objekten, Orten und Bezeichnungen im Goms nachempfunden, existieren in der beschriebenen Form jedoch nicht.

Gommer Sommer

Noch nicht ganz sechs Uhr in der Früh, ein neuer Tag bricht an. Über der Furka beginnt es golden zu leuchten. Wie Scherenschnitte heben sich die schwarzen Bergzacken vor dem heller werdenden Himmel ab. Ein erster Sonnenstrahl trifft auf den Gipfel des Brudelhorns. Gegenüber, hoch über dem Minstigertal, glänzen die Felswände im Morgenlicht. Im Westen, hinter dem nächsten Dorf, steht weiß auf grüner Matte die Feldkapelle. In der Ferne, im milchigen Rosarot des Morgens, das mächtige Weisshorn. Eine Nebelbank liegt über dem Rotten. Die Lärchen und Fichten an den Berghängen ruhen noch im Schatten. Aufrecht, stoisch und friedlich. Die Morgenluft ist frisch und rein. Tautropfen hängen an Blättern und Halmen. Es riecht nach dem am Vorabend gemähten Gras. In der Ferne tönen vereinzelte Kuhglocken. Vögel zwitschern in die Morgenstille hinein.

Die zwei Männer auf dem Parkplatz neben den Bahngleisen haben weder Augen noch Ohren für die Schönheit der Landschaft. Der Große flüstert in sein Handy, steckt es wieder ein, drückt dann lautlos die Beifahrertür zu. Die beiden ziehen los, der Kleine immer einen Schritt voraus. Sie sind wärmer angezogen als es, selbst zu dieser kühlen Morgenstunde, nötig wäre: dicke Jacken, Halstuch, Handschuhe. Der Große trägt einen Schlapphut, der Kleine eine Langläufermütze tief ins Gesicht gezogen. Bei einem

Das Dorf erwacht.

Kauz war schon in Ferienstimmung. Zu Hause in Altstetten stand alles für die Abreise bereit. Auf acht Uhr fünfzehn war er zu seiner obersten Chefin zitiert worden, Punkt Viertel nach acht klopfte er an. Er war darauf gefasst, einen Rüffel, vielleicht sogar einen Verweis einstecken zu müssen. Was dann kam, darauf war er nicht gefasst gewesen.

Die Kommandantin, Frau van Hooch, empfing ihn im Stehen. Sulzer, Leiter der Human Resources, und Senn, Chef der Kriminalpolizei, sein direkter Vorgesetzter, standen neben ihr.

Kauz wurde es mulmig.

Mit eiskalter Miene stellte Frau van Hooch ihn vor die Wahl, in den administrativen Dienst versetzt zu werden oder das Arbeitsverhältnis im gegenseitigen Einverständnis mit sofortiger Wirkung aufzulösen.

Frau Dr. iur. Doris van Hooch, patentierte Rechtsanwältin, ohne jegliche Praxis in diesem Beruf, dafür aber mit einem Master of Business Administration dekoriert und Absolventin eines postdoktoralen universitären Lehrgangs in Applied Ethics, war einst die umstrittene, um nicht zu sagen berüchtigte Reorganisatorin im Volksschulamt gewesen. Seit einem Jahr war sie nun Kommandantin der Zürcher Kantonspolizei. Der graue Businessanzug saß perfekt. Sie war makellos geschminkt, das stylish getönte Haar war flott geföhnt.

Nicht mehr gegeben?, dachte Kauz. Gar nie vorhanden gewesen!

Dass er seine Mitarbeiter gegen sie aufwiegle, fuhr Frau van Hooch fort, könne sie nicht weiter hinnehmen.

In der Tat, Kauz hatte seine neue oberste Chefin nie riechen können. Und er hatte kein Hehl daraus gemacht, was er von ihrer hektischen, von einem McKinsey-Team am Reißbrett ausgeheckten Reorganisation des Polizeikorps hielt. Ohne die Meinung der gestandenen Polizistinnen und Polizisten, Dienstchefs und Offiziere auch nur anzuhören, ohne auf Einwände und Bedenken einzugehen, hatte sie wie ein Wirbelwind das ganze Korps auf den Kopf gestellt. Was sich irgendwie umstrukturieren ließ, wurde umstrukturiert. Bewährtes wurde über den Haufen geworfen, Neues mit großen Worten angekündigt und ohne Rücksicht auf Verluste implementiert. So lautete das Lieblingswort der Kommandantin. Titel, Diplome und CAS zählten mit einem Mal mehr als persönliche Eignung und Berufserfahrung. Die meisten kuschten oder machten die Faust im Sack. Fast alle hatten Familie und konnten es sich nicht leisten, ihren Job zu riskieren. Denn die Kommandantin hatte die Rückendeckung der neu gewählten Regierungsrätin, von der sie auf den Posten gehievt worden war. Aber Kauz hatte den Mund nicht halten können. Frau van Hooch hatte von Insubordination gesprochen, als er sich einmal etwas gar weit aus dem Fenster lehnte, und absolute Loyalität gefordert. Dass Kauz dagegen protestierte, mit seinen Leuten in ein Großraumbüro umzuziehen, und dass einzelne von ihnen sich auch selber dagegen auflehnten, war für Frau van Hooch wohl schon Aufwiegelung. Dass Kauz sich jetzt rundweg weigerte, die Konsequenzen, die sein Protest nach sich zog, zu akzeptieren und Hals über Kopf in eine neue

Und dann erst seine Arroganz, hörte er sie jetzt sagen, seine überhebliche Art … Kauz war, als rede sie hinter einer gläsernen Wand.

Da sie unmöglich mangelnde berufliche Leistung ins Feld führen konnte – er hatte als Kriminalpolizist und als Dienstchef stets nur erstklassige Qualifikationen erhalten –, deutete sie an, dass eine Disziplinaruntersuchung gegen ihn eingeleitet werde, sollte er den Dienst nicht freiwillig quittieren. Dabei werde man natürlich auch seine Spesenabrechnungen, seinen E-Mail-Verkehr und die Festplatte seines Computers unter die Lupe nehmen. Kauz wusste selbst am besten, dass bei einer solchen Nachforschung immer irgendetwas zum Vorschein kam, das sich notfalls aufbauschen und sogar strafrechtlich verfolgen ließ.

Doch er war durch und durch Polizist, der administrative Dienst kam für ihn nicht infrage. Für die Frühpensionierung war er noch zu jung. Und eine Privatdetektei, wie manche ehemaligen Polizisten sie betrieben, war nicht nach seinem Gusto. Zwar war er ein findiger Fahnder und hartnäckiger Kriminalpolizist, mit einer sehr respektablen Aufklärungsquote. Und er war gut vernetzt – keine schlechten Voraussetzungen für einen Privatdetektiv. Aber er wusste, dass er die Polizeiarbeit vermissen würde. Also hatte er darauf spekuliert, dass irgendwann schon offensichtlich würde, welches Chaos die neue Kommandantin im Korps anrichtete und wie demoralisierend sich ihr Führungsstil auswirkte. Er hatte gehofft, dass das Wochenblatt die Sache aufgreifen würde und Frau van Hooch schließlich den Dienst quittieren müsse. Aber da hatte er sich wohl verrechnet.

Kauz stand in verwaschenen Jeans, abgewetztem Kordjackett und kariertem Hemd vor seiner piekfeinen Kommandantin. Frisch rasiert konnte man ihn nicht nennen, und ein

Kauz fühlte sich wie von der Kommandantin geohrfeigt.

»Das kommt jetzt etwas unerwartet«, murmelte er, »nach dreiunddreißig Dienstjahren. Sie …« Er hatte nicht die Absicht, auf Mitleid zu machen. Vielmehr wollte er darauf anspielen, dass Frau van Hooch gerade mal ein einziges Dienstjahr vorzuweisen hatte. Nur fand er im Schock die Worte nicht.

»Werden Sie jetzt nicht pathetisch, Herr Walpen«, unterbrach ihn die Kommandantin.

»Geben Sie her«, sagte Kauz abrupt, obschon er wusste, dass er sich hatte provozieren lassen und jetzt möglicherweise den größten Fehler seines Lebens beging. Er streckte die Hand aus.

Frau van Hooch nahm Sulzer das Papier aus der Hand, das

Kauz las die vorbereitete Vereinbarung durch. Nur kurz ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er einen Rechtsanwalt nehmen und die aufgezwungene Entlassung anfechten müsste.

Dann unterschrieb er.

»Tut mir aufrichtig leid, Herr Walpen«, flüsterte Senn.

Frau van Hooch sah den Kripochef tadelnd an.

Feigling, dachte Kauz. Opportunist.

»Wenn Sie wünschen, können wir Ihnen ein Coaching vermitteln«, sülzte Sulzer.

»Wofür? Ich bin ja entlassen.«

»Nun, für die berufliche Neuorientierung. Sie sind siebenundfünfzig, da …«

»Das weiß ich selber«, fuhr Kauz ihn an.

Sulzer sah ihn bekümmert an. Dann gab er sich einen Ruck: »Sie machen aber keine Dummheiten, nicht wahr, Herr Walpen?«, hakte er nach.

Kauz warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

»Ach ja, wenn wir gerade dabei sind«, sagte Frau van Hooch. »Herr Senn wird Sie jetzt an Ihren Arbeitsplatz begleiten. Dort nimmt er Ihnen den Badge und Ihre Dienstwaffe ab.« Mit einer hochgezogenen Augenbraue unterstrich sie den unausgesprochenen Auftrag an Senn, allfällige Dummheiten zu verhindern. »Bis neun Uhr müssen Sie Ihren Platz geräumt haben«, fuhr sie fort. »Danach erlischt Ihre Zugangsberechtigung zum Kommando. Das wars, Herr Walpen. Ich wünsche Ihnen alles Gute«, schloss sie, ohne eine Miene zu verziehen.

So viel Selbstbeherrschung brachte Kauz nicht auf.

»Wissen Sie was?«, fragte er, und jetzt versuchte er tatsächlich, ein bisschen herablassend zu klingen, »ich werde weder mich selbst noch sonst jemanden über den Haufen schießen.

Damit steckte er die Kopie des unterzeichneten Entlassungspapiers ein und ließ sie stehen.

Seine Mitarbeiter scharten sich um ihn, als er im Büro erschien und unter Senns Augen seinen Arbeitsplatz zu räumen begann. Sie verstanden die Welt nicht mehr.

»Lasst das bloß bleiben!«, raunzte er, als einzelne ankündigten, sie würden bei der Kommandantin vorsprechen und gegen seine Entlassung protestieren. Er fürchtete, es könnte ihnen sonst auch an den Kragen gehen.

Am Freitag, den dreißigsten Juni, Schlag neun Uhr morgens, stand Kauz auf der Straße. Seiner Funktion als Dienstchef Leib und Leben bei der der Zürcher Kriminalpolizei enthoben, per Ende Jahr entlassen und mit sofortiger Wirkung freigestellt.

Es regnete in Strömen, wie schon seit Wochen. Vom Zürcher Regenwetter hatte Kauz die Nase nun so richtig voll. Er schlug den Mantelkragen hoch, packte seine pralle Aktenmappe, die Sport- und die Einkaufstasche, die ihm zwei Kolleginnen mit Tränen in den Augen geliehen hatten, um seine Siebensachen zu verstauen, und ging aufs Tram.

*

Der Einsatz war zu Ende, was jetzt folgte, war nur noch Bürokram. Auf dem Rückweg von Münster wies Polizeikorporal Ria Ritz den Aspiranten Benjamin Carlen an, den Streifenwagen vor der Bäckerei in Fiesch zu parken. Carlen blieb am Steuer sitzen. Ria Ritz, ihres Zeichens Postenchef in Fiesch – es wäre ihr nie eingefallen, sich als Postenchefin zu

Eigentlich wäre die mobile Patrouille für diesen Einsatz zuständig gewesen, aber die war zu einem schweren Carunfall im Pfynwald gerufen worden. Ria hatte Pikettdienst gehabt. Sie war um halb sieben schon auf gewesen, hatte Benjamin per Handy aus den Federn geholt, sich in die Uniform gestürzt und war in ihrem Familienauto zum Posten gefahren.

Benjamin Carlen saß schon im Streifenwagen, als sie dort ankam, stellte Blaulicht und Sirene an und fuhr los. Mitten in der Ausbildung zum Gendarmen – so lautete die offizielle Bezeichnung – absolvierte er ein Praktikum auf dem Posten Fiesch. Als sportlicher Autofahrer war er ganz erpicht auf solche Einsätze. Er liebe Action – Äggschn –, sagte er bei jeder Gelegenheit.

»Schwerverletzter in Münster, mitten im Dorf«, sagte Ria Ritz knapp. »Verkehrsunfall. Vom Unfallfahrzeug keine Spur. Fahrerflucht.«

»Okay, Chef, dann mal Äggschn«, meinte der junge Polizeiaspirant erfreut und fuhr rassig, aber kontrolliert die engen Kurven hinauf.

Korporal Ria Ritz überlegte: Mit Blaulicht dauerte die Fahrt von Fiesch nach Münster zwölf Minuten. Der Zeitpunkt des Unfalls lag bestimmt länger zurück. Wenn der Unfallfahrer talabwärts flüchtete, dann wäre er schon bei Fiesch vorbei, unterwegs Richtung Brig und Visp. Nahm er aber talaufwärts Reißaus, dann wäre er bald über alle Berge. Die dritte Möglichkeit war, dass der flüchtige Fahrer aus dem Goms stammte, sich jetzt irgendwo versteckte oder zu

Ria ging davon aus, dass die Rettungssanitäter, die in Münster auf Pikett standen, und auch der Dorfarzt längst auf der Unfallstelle waren.

Benjamin Carlen gab Gas. Er kannte das Goms wie seine Westentasche. Einmal an der Abzweigung Fürgangen vorbei, hatte er freie Fahrt. Die Strecke blieb kurvig, wies aber kaum noch Steigung auf. Niederwald, Beni drückte das Gaspedal durch. Blitzingen, volle Pulle, immer Richtung Galenstock. In Selkingen nahm er den Fuß vom Pedal, in Biel bremste er leicht ab. Ab Ritzingen gab er wieder Vollgas. Jetzt passierte er Gluringen, die reinste Rennstrecke. Reckingen, Endspurt. Erst eingangs Münster lockerte er in der Steigung sein rechtes Bein und schaltete herunter.

»Nicht schlecht«, nickte Ria Ritz anerkennend, als er schließlich mit quietschenden Reifen hielt.

Die Unfallstelle lag tatsächlich mitten im Dorf an einer etwas engen Stelle, gleich nach einer unübersichtlichen Kurve. Ria hatte hier schon mehr als einmal Unfallrapporte erstellen müssen, aber bis anhin war es bloß um Sachschäden gegangen. Die schwereren Unfälle, mit Toten und Verletzten, passierten sonst eher auf den Strecken zwischen den Dörfern, wenn Auto- und Motorradfahrer Überholverbot oder Tempolimite missachteten.

Korporal Ria Ritz erfasste die Situation mit einem Blick: ein Verletzter, bewegungslos neben einer Hausmauer auf der Straße liegend, den Kopf in einer Blutlache; Bremsspuren, Lack- und Glassplitter auf der Straße. Zwei Einwohner, die früh unterwegs waren, hielten den Verkehr auf, der talaufwärts fuhr. Oberhalb stand das Ambulanzfahrzeug, das

Die Rettungssanitäter hatten die Taschen des Verunfallten durchsucht. Einen Notfallausweis konnten sie nicht finden, aber er trug seine Identitätskarte auf sich: Hubert Trapper war sein Name, achtundvierzig Jahre alt. Ria Ritz schaltete sofort: Das war doch der Gemeindeschreiber von Münster! Der Verletzte wurde auf die Bahre gehoben und ins Ambulanzfahrzeug geladen. Wenig später fuhren die Rettungssanitäter mit dem Bewusstlosen auf das Flugfeld am Rotten hinunter, wo der Rettungshelikopter landen würde.

Nun ging Korporal Ritz zu Doktor Kalbermatten. Er war ein Hüne mit weißem Vollbart und dicker Hornbrille, eine Figur wie aus einem alten Heimatfilm. Neben seinem Auto kniend packte er die Notfalltasche zusammen.

»Überlebt er?«, fragte sie.

Kalbermatten hob die Schultern. »Ich weiß nicht, Meggä«, sagte er. »Schädelbruch. Wahrscheinlich mehrfache innere Verletzungen. Vielleicht auch die Wirbelsäule. Ganz nüchtern ist er übrigens nicht.« Doktor Kalbermatten tippte mit dem Zeigefinger an seinen Nasenflügel, zum Zeichen, wie er den Befund erhoben hatte.

»Das mache ich. Ich kenne die Familie«, sagte der alte Doktor.

Ria war heilfroh, dass er selbst anbot, die Familie Trapper über das Unglück zu informieren. Erleichtert drückte sie dem Arzt die Hand.

Nach weniger als vierzig Minuten waren die Leute von der Spurensicherung da. Die Unfallstelle wurde aus allen Richtungen fotografiert, die Lage des Verletzten, die Korporal Ritz markiert hatte, die Reifen- und alle übrigen Spuren, auch die an der Hausmauer, gegen die der Bedauernswerte geschmettert worden war, wurden dokumentiert. Was im Labor chemisch oder unter dem Mikroskop untersucht werden musste, wurde mit Wattestäbchen aufgetupft, mit Pinzetten gefasst oder mit Gummihandschuhen eingesammelt, in Reagenzgläser, Plastiktüten oder kleine Container gesteckt und in einem Koffer versorgt. Die Kleidung des Unfallopfers würden sie im Spital untersuchen, sagten die Kriminalisten. Die Rechtsmedizin werde natürlich auch eingeschaltet.

Als die Kriminaltechniker fertig waren, packten auch die zwei Uniformierten ihre Ausrüstung ein und schlugen die Heckklappe zu. Dann setzten sie sich in den Streifenwagen.

»Mach das Blaulicht aus, Beni«, sagte Ria, als Carlen losfahren wollte. »Und keine Sirene, klar?«, sie kannte die Vorlieben ihres Praktikanten.

»Setzt es dir zu?«, fragte sie ihn, als sie unterwegs waren, und sah ihn von der Seite an.

»Geht so«, gab der zu. »Hab nicht so genau hingeschaut.« Tatsächlich hatte er sich ziemlich auf Distanz gehalten und es seiner Chefin überlassen, sich in die Nähe des Verletzten zu begeben. »Was glaubst du«, fragte er. »Wer hat den auf dem Gewissen?«

»Ein Blaufahrer«, meinte Ria knapp.

»So früh am Morgen?«

»Blau war wohl auch der Verletzte. Wenn das wirklich der Trapper Hubert war. Der hat alle paar Wochen einen gewaltigen Rausch.« Ä moorts Chischtä, nannte er den Zustand. Benjamin Carlen, gelernter Landwirtschaftsmaschinenmechaniker, war im Obergoms aufgewachsen und kannte hier jeden und jede. Für die Polizeiausbildung hatte er ins Waadtland ziehen müssen, aber während des Praktikums auf dem Posten Fiesch hatte er bei einer Tante im Ort ein Zimmer bezogen.

Für den Rest der Rückfahrt schwiegen beide.

»So«, meinte Korporal Ritz zum Aspiranten Carlen, als sie an ihren Schreibtischen ihr verspätetes Frühstück einnahmen, »für heute haben wir unsere action gehabt. Von mir aus darf der Rest des Tages etwas ruhiger verlaufen.«

*

Kauz fühlte sich wie ein geprügelter Hund. Er saß an seinem Küchentisch, die Ellbogen aufgestützt, das Kinn auf den geballten Fäusten. Dann rappelte er sich auf und tigerte durch die Wohnung, abwechselnd empört, gekränkt und gedemütigt. Genau wie damals, als Chantal ihn verlassen hatte. Sie hatte ihm ja auch ganz ähnliche Dinge gesagt wie heute die Kommandantin: Es fehle die gemeinsame Basis. Er sei ein schwieriger Mensch. Das Zusammenleben mit ihm sei eine Zumutung.

Muss wohl was dran sein, dachte er resigniert und legte sich im Schlafzimmer auf das frühere Ehebett. Chantal hatte das Möbelstück im dänischen Stil nicht haben wollen. Fast das ganze übrige Mobiliar aus der gemeinsamen Wohnung, lauter Schischi, hatte sie dagegen behalten, aber ihm war es nur recht gewesen.

Die Wohnung war nun eher karg eingerichtet. Er hatte

Sein Handy summte. Kauz ging ins Wohnzimmer, setzte sich an den Esstisch und schaute auf das Display. Es waren mittlerweile haufenweise Anrufe und SMS eingegangen: Das darf doch nicht wahr sein! – Was fällt der da oben bloß ein?! – Wir stehen zu dir, Kauz. Das lassen wir uns nicht gefallen. – Kopf hoch, Kauz, wir kämpfen für dich.

Anders als bei seiner obersten Chefin war Kauz bei seinem Team beliebt, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner kauzigen Art. Seine Polizistinnen und Polizisten wären für ihn durchs Feuer gegangen. Die Nachrichten taten ihm gut. Aber sie änderten nichts an der Tatsache, dass er entlassen war.

Vielleicht bin ich der Feigling, dachte er, nicht Senn. Ich hätte mich selbst wehren, nicht auf seine Rückendeckung warten müssen. Für die eigenen Interessen zu kämpfen war noch nie seine Stärke gewesen.

Eine Stunde lang haderte er mit sich und schwankte, ob er seine Ferienpläne fahren lassen, sich ins Bett legen und die Decke über den Kopf ziehen oder sich betrinken solle. Auf die Einladungen seiner Mitarbeiter zu einem Treffen in der Mittagspause oder einem Feierabendbier ging er nicht ein. Er hatte keine Lust, sich bemitleiden zu lassen oder einen Aufstand zu provozieren. Er würde sich mit ihnen treffen, wenn sich die Gemüter beruhigt hatten. Aber er hatte trotzdem das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Chantal wollte er auf keinen Fall anrufen. Und Xaver? Nein, der hatte seine eigenen Sorgen. Mit wem also reden?

Jetzt stand sein Entschluss fest: Er würde trotz allem in die Ferien fahren. Wie geplant, nur eben ein paar Stunden früher. Wieso auch nicht? Gewiss, er musste sein berufliches, nein, sein ganzes Leben überdenken. Aber das konnte er auch im Goms. Sogar besser als hier im Zürcher Regen.

Der Speicher stand für ihn bereit, darauf war Verlass. Den Mietvertrag hatte er vor einem Jahr per Handschlag abgeschlossen. So lief das mit Wendel. Wendelin Imfang war ein Mann etwa in seinem Alter, mit dem er sich bestens verstand. Ein alleinstehender, etwas schrulliger Landwirt mit ein paar Kühen, zwei Dutzend Ziegen, etwas Weideland und einigen gepachteten Wiesen. Er besserte sein Einkommen auf, indem er den alten Speicher, der als solcher längst nicht mehr in Gebrauch war, an Feriengäste vermietete, die keine hohen Ansprüche stellten. Vor Jahren hatte der Dorfschreiner das Dach isoliert, die Innenwände getäfert, Fenster eingebaut und zwei Betten, zwei Nachttische, ein Regal und einen Schrank in den Oberbau gestellt. Die Rosshaarmatratzen waren mit groben Leintüchern bezogen, darauf lagen hohe, karierte Federbetten. Für Kauz war es das höchste der Gefühle, in dieser altväterischen Kammer zu schlafen. Er hatte, als er den schlicht umgebauten Speicher zum ersten Mal betrat, augenblicklich Kindheitserinnerungen gehabt. Im Sommer nach seiner Scheidung war er auf einer mehrtägigen Motorradreise in Münster gelandet, hatte den Speicher entdeckt, an dem »einf. kl. Ferienwhg. zu vermieten, ideal für 12 Pers.« stand, und hatte ihn spontan für zwei Wochen gemietet. Fürs folgende Jahr hatte er dann gleich Sommerferien im Goms geplant.

Danach war es um ihn geschehen: Es zog ihn immer wieder in seine alte Heimat zurück. Genau genommen, in die Heimat seiner Vorfahren. Im Zürcher Stadtquartier

Als Mutters Bann Jahrzehnte später seine Kraft verloren hatte, plante Kauz wieder einen Besuch im Goms. Doch diesmal machte ihm seine Frau einen Strich durch die Rechnung. Chantal weigerte sich, je mit ihm in die Berge, geschweige denn ins Goms zu fahren. Sie mochte Strandferien in Italien oder der Türkei. Vier-, lieber Fünfsternehotels, all inclusive, versteht sich.

Aber nun endlich konnte er tun und lassen, was er wollte. Im Wallis herrschte seit zwei Wochen prächtiges Sommerwetter, in Sitten wurden dreißig Grad gemessen, im Goms durfte man mit angenehmen vierundzwanzig Grad rechnen.

Kauz ließ in seiner Wohnung alles liegen und stehen, schnallte die schon gepackten Satteltaschen und den Rucksack auf den Gepäckträger seiner alten BMW. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Er kickte die Maschine an und ließ Altstetten hinter sich.

Wie jedes Mal, wenn das Wetter es erlaubte, nahm er sich für seine Reise viel Zeit. Er mied die Autobahnen. Die Fahrt ging durchs Sihltal, später über die Axenstrasse, dann immer auf der Kantonsstraße durchs Urnerland, die Schöllenen hinauf nach Andermatt. An der Baustelle des zukünftigen Golfplatzes und Luxusresorts vorbei nach Realp. Fast

Gletsch, im Talkessel zwischen dem Grimsel- und dem Furkapass, übte wie immer einen zwiespältigen Reiz auf ihn aus, halb einladend, halb abweisend. Erst jetzt ging es wirklich ins Goms hinunter. Es war mittlerweile vier Uhr nachmittags geworden. Beim Gasthaus im Rank hielt er an. Hier sollte das Ritual stattfinden, mit dem er sich jedes Jahr auf die Sommerferien einstimmte.

Er stellte sein Motorrad neben das Haus, nahm den Helm ab und spazierte in den Wald hinein. Bedächtig sog er die Luft ein: Da war er, der Geruch, den er erwartet, ja erhofft, auf den er sich gefreut hatte. Der Wald stand an dieser Stelle lichter, der Boden war den ganzen Tag von der Sonne beschienen worden. Jetzt wurde der würzige Duft des Waldbodens durch die Wärme freigesetzt und schlug ihm voll entgegen. Warme Erde, Tannenzapfen, Lärchennadeln, Baumrinde, Harz, Kräuter und vielleicht Ameisensäure – ein Bouquet ohnegleichen. Er bückte sich, nahm eine Handvoll der mit Tannen- und Lärchennadeln vermischten Erde, zerrieb sie mit beiden Händen und roch dann an seinen Handflächen.

Nach einer Weile stand er auf, klopfte sich die Hände ab und ging zum Gasthof im Rank zurück. Glücklich stieg er wieder auf seine Maschine und fuhr nach Oberwald hinunter.

Um halb fünf Uhr nachmittags trudelte er in Münster ein. Jetzt überkam ihn endgültig das Gommer Feriengefühl: Er fühlte sich angekommen, ja fast ein wenig zu Hause. All die Zukunftsängste, die ihn am Mittag noch geplagt hatten, waren wie verflogen. Frau van Hooch mitsamt ihrer Führungsclique und der ganze verflixte Polizeikram konnten ihm gestohlen bleiben.

Ausspannen würde er. Abends oder bei schlechtem Wetter würde er lesen; er hatte ein paar Bücher eingepackt.

Er ließ seine alte BMW ausrollen, deponierte Satteltaschen und Rucksack auf dem Boden, nahm den Helm ab und fuhr mit den Fingern durch sein vom Helmtragen verklebtes Haar. Ein paar Schritte zurücktretend betrachtete er den Speicher.

Ein Prachtstück!, stellte er wieder einmal fest.

Wendel Imfangs Speicher war einer der kleinsten und einer der schönsten im ganzen Dorf, über dreihundert Jahre alt. Der Unterbau war im unteren Drittel gemauert, darüber war mit Holz gebaut. Eine einfache Küche – Schüttstein, Kaltwasserhahn, Campinggasherd mit zwei Flammen, Holztisch und zwei Stühle – war darin eingerichtet. Der Oberbau, der eigentliche Schpiichär, war ein wunderschön gezimmerter, von einem Schindeldach bedeckter Lärchenholzbau. Dieser ruhte, einen guten halben Meter über dem Unterbau, auf acht Steinplatten, die auf hölzernen Stadelbeinen auf dem Unterbau standen. Zwischen Unter- und Oberbau blieb so ein freier Raum. Auf diese Weise waren die Vorräte, die früher im Speicher gelagert wurden, vor den Mäusen sicher gewesen. Durch den Zwischenraum hindurch sah Kauz, auf der Gasse stehend, direkt aufs Weisshorn, das im kräftigen Nachmittagslicht leuchtete. Früher war man über eine Leiter in den Oberbau gelangt. Jetzt waren Unter- und Oberbau mit einer am Blockbau anliegenden, schmalen hölzernen Außentreppe verbunden.

Kauz ging zu Wendels Ziegenstall auf der andern Seite. Der Stall war leer und sauber ausgemistet, die Ziegen waren offenbar schon auf der Alp. Er hatte gehört, dass der Sommer heuer drei Wochen früher gekommen war als in anderen Jahren. Kauz griff an der gewohnten Stelle nach dem Speicherschlüssel. Doch der Schlüssel lag nicht auf dem inneren Fensterbrett.

Merkwürdig, dachte er.

Er umrundete den Speicher und blieb vor dem Küchenfenster stehen. Hände und Stirn ans Fensterglas gepresst, versuchte er etwas zu erkennen: Schüttstein, Tisch und ein Stuhl. Wieso stand nur ein einziger Stuhl vor dem Tisch?! Kauz hatte augenblicklich ein mulmiges Gefühl. Weiter im Kücheninneren nahm er einen undeutlichen Schatten wahr. Seine Alarmglocken läuteten. Er ging zur Tür und drückte kräftig auf die angerostete, handgeschmiedete Türklinke. Sie ließ sich ohne Weiteres herunterdrücken.

Er stieß die Tür auf.

Etwas Unheimliches wehte ihm entgegen. Wie ein kalter Hauch. Trotz der Hitze des Tages. Etwas hielt ihn zurück. Doch er wusste, dass er hineingehen musste. Mit einem Mal war er ganz Polizist. Er trat in die Küche. Er schaute nach rechts: Schüttstein, Tisch und Stuhl. Er schaute nach links – da sah er, was er befürchtet hatte. Dutzende Male hatte er das schon gesehen. Aber der Anblick hatte nichts von seinem

Kälberstrick, dachte er sofort.

Auf dem Boden lag umgekippt der zweite Stuhl. Daneben eine blaue Schirmmütze, die ihm bekannt vorkam. Kauz ging um den Toten herum und schaute von der andern Seite in das blaue, aufgedunsene Gesicht. Kein Zweifel: Da hing Wendel Imfang.

*

Bald Feierabend, dachte Ria Ritz. Kurz bei Papa reinschauen, Emma in die Arme nehmen, das Nachtessen fertig kochen, das Mama vorbereitet hat, dann Fernsehabend mit Tomi.

Es war ein voller Tag gewesen. Wann immer ihr neben der eigentlichen Polizeiarbeit noch Zeit blieb, musste sie sich um den Führungskram kümmern. Ria Ritz hatte die Aufgabe des Postenchefs in Fiesch nicht angestrebt – eigentlich hatte sie sich das Ganze nicht mal zugetraut –, sie war da einfach so hineingerutscht. Der alte Postenchef war vor einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Sein Stellvertreter war als Nachfolger nicht infrage gekommen, denn er stand kurz vor der Pensionierung. Und unter den Restlichen war Ria die Dienstälteste. Kürzlich war dann der Jüngste, Polizeiaspirant Benjamin Carlen, zur Gommer Mannschaft gestoßen. Wenigstens für ein paar Monate, im Hinblick auf die bevorstehende Sommerferienzeit, war er eine willkommene Verstärkung. Der Kreischef in Brig hatte darauf bestanden, dass Ria als Gommerin den Posten ad interim übernehme, denn fürs Goms wolle man keinen Auswärtigen. Bei dieser Übergangslösung war es bis heute geblieben. Natürlich hatte Ria sich gebauchpinselt gefühlt und sich tüchtig ins Zeug gelegt. Ihr Mann Thomas hatte ihr versprochen, in seinem Job

Das Telefon klingelte. Notruf, stellte sie fest. Bloß nicht noch einmal Fahrerflucht, dachte sie. Ihr Pikettdienst war noch nicht vorbei.

Die Zentrale in Sitten leitete den Anruf, da er aus dem Goms kam und der Anrufer deutschsprachig war, direkt auf den Posten Goms in Fiesch weiter.

Värdammt!, dachte sie. Aus dem Feierabend wird wohl nichts.

»Kantonspolizei Goms, Korporal Ritz«, meldete sie sich. Sie wartete einen Augenblick, ob am andern Ende Panik herrschte, ob sie Fragen stellen oder jemanden beruhigen musste. Sie hatte schon alles Mögliche erlebt. Dieses Mal war es anders. Sie brauchte bloß hinzuhören. Und sich Notizen zu machen.

Aspirant Benjamin Carlen saß im Büro nebenan, die Tür weit offen, und spitzte die Ohren. Es roch nach Äggschn.

»Gut, Herr Walpen«, sagte Ria Ritz zum Schluss. »Ich hab alles notiert. Rühren Sie bitte nichts an, ja? Bleiben Sie, wo Sie sind! Warten Sie vor dem Speicher auf uns! Wir kommen sofort.«

»Los, Beni. Äggschn!«, rief Ria ihrem Kollegen zu, »AgT in Münster!«

»Suizid durch Erhängen«, fügte Ria noch hinzu.

»Wer hat angerufen? Ein Angehöriger?«, fragte Beni und schnappte sich schon seine Jacke.

»Nein, ein Feriengast.«

»Ein Feriengast?«, wunderte sich Beni. »Mit Namen Walpen? Äwa!«

*

Noch im Stehen hatte Kauz sein Handy gezückt und den Polizeinotruf angetippt. Jetzt stand er im Speicher neben dem Tisch, fasste den Stuhl mit einem Papiertaschentuch an der Lehne, zog ihn unter dem Küchentisch hervor und setzte sich rittlings darauf.

Er konnte es nicht fassen: Wendel Imfang tot?

Dabei hatte er sich so darauf gefreut, mit ihm heute Abend ein Bier zu kippen und ein bisschen zu plaudern – doorffä, sagte Wendel dazu. Das taten sie jedes Jahr zu Beginn seiner Ferien.

Beklommen sah er auf den am Kälberstrick hängenden Toten: Ein nicht besonders groß gewachsener Mann, mindestens einen Kopf kleiner als er. Dunkelbrauner, krauser Haarkranz, an den Schläfen leicht ergraut. Stallhosen, blaue Jacke, an den Füßen alte Militärschuhe. Die Hände von der Arbeit gezeichnet, die Arme schlaff aus den Ärmeln hängend. Der Kopf unnatürlich abgeknickt – das war für Kauz schon immer das Grässlichste am Anblick eines Erhängten gewesen.

Was hat Wendel bloß zu dieser Verzweiflungstat getrieben?, fragte sich Kauz. Schulden? Eine Frauengeschichte? Eine unheilbare Krankheit? Oder hat er an Depressionen gelitten?

Fragen nach dem Motiv einer Tat gehörten zum Arsenal

Kauz sah sich um. Beim Küchenregal stand eine papierene Einkaufstasche. Er konnte es nicht lassen, die Dinge, die darin waren, mit dem Taschentuch hochzuheben und genau anzusehen. Schließlich waren sie für ihn bestimmt, das wusste er. Ein Stück Alpkäse, ein Glas Honig, ein kleine Flasche mit Drahtbügelverschluss und ein Sechserpack Bier. Unter dem Bier kam ein Kassenzettel zum Vorschein. Er ließ ihn auf dem Boden der Einkaufstasche liegen und bückte sich. Seine Augen waren scharf wie eh und je. Das Bier war am neunundzwanzigsten Juni gekauft worden. Am Vortag also, extra für ihn. Der Sechserpack war aufgerissen, drei Dosen fehlten. Merkwürdig, dachte Kauz. Ob er sich Mut antrinken musste? Er sah sich um. Auf den ersten Blick sah er keine leeren Bierdosen. Die Glasflasche mit Drahtbügelverschluss war ohne Etikett, aber Kauz wusste, was drin war: hausgemachter Heidelbeerlikör. All die Dinge, die Wendel jeweils am Ankunftstag für ihn bereitstellte. Es fehlte bloß der kleine Laib Roggenbrot und der Mocken Trockenfleisch, die bisher immer zu diesem Willkommensgruß gehört hatten.

Aufgewühlt setzte er sich wieder hin.

Wie konnte Wendel bloß so rücksichtslos sein? Er musste

Da stimmt etwas nicht, dachte Kauz.

Er stützte sich wieder auf die Stuhllehne und starrte vor sich hin. Dann auf die Leiche, die bewegungslos über dem Boden hing. Lange sah er sich im Raum um. Nach einer Weile dämmerte es ihm: Das war kein Selbstmord. Wendel Imfang war ermordet worden. Kauz wusste bloß noch nicht, wieso er das wusste.

Bald musste die Polizei hier sein. Kauz zückte sein Handy und begann zu fotografieren.

Dann verließ er den Speicher und ging zum Ziegenstall hinüber. Bevor er sich auf die Außentreppe setzte, ging er auch um den Stall und den danebenliegenden Stadel herum. Gewohnheitsmäßig nahm er die Umgebung genau in Augenschein. Gewisse Dinge stachen ihm ins Auge, ob er wollte oder nicht. Aber er hielt sich zurück, er hatte hier keinen Auftrag.

*

Korporal Ria Ritz stellte sich Kauz mit Namen vor. Als Erstes wollte sie wissen, ob er der Anrufer sei.

Ja, sagte Kauz, er habe angerufen. Walpen sei sein Name.

»Walpä«, nickte sie. »Aber nit va hiä?«

Nein, bestätigte Kauz, aus Zürich. »Üsserschwiiz«, lachte er. »Aber där Name ischt va hiä.«

»Woll äppä«, bestätigte sie.

Auch wenn er das Wallissertitsch problemlos verstand – schließlich hatte sein Vater sein Lebtag dieses Idiom gesprochen –, es war ihm klar, dass er selber nur radebrechte und dass sie sofort hörte, dass er kein Gommer war. Sondern ein »Ausserschweizer«. Aber es freute ihn, dass sie unbekümmert Wallissertitsch mit ihm sprach, noch dazu im Gommer Dialekt.

Sie bat ihn, vor dem Ziegenstall auf ihn zu warten. Er werde noch einige Fragen beantworten müssen. Kauz dachte gar nicht daran, sich als Polizist zu erkennen zu geben. Er wusste, dass er sich nicht einmischen durfte. Da hielt er sich am besten von Anfang an heraus. Soweit er es von seiner Warte aus beobachten konnte, inspizierte die Polizistin den Speicher ohne Aufregung und ohne Spuren zu verwischen. Als Erstes hatte sie sich vergewissert, dass der Erhängte längst tot war und dass es sich erübrigte, den Strick zu kappen. Sie würde den Toten erst zusammen mit Aspirant Carlen herunternehmen, wenn alle andern da waren und der Fundort der Leiche fotografiert worden war. Sie nahm ihr Funkgerät zur Hand und rief heute schon zum zweiten Mal die Einsatzzentrale an.

Dann gab Korporal Ritz dem Aspiranten Carlen Anweisungen und widmete sich ihrer Auskunftsperson. Sie ging mit Kauz in den leeren Ziegenstall. Als wolle sie ihm den Anblick des Toten nicht zumuten.

Das Erscheinen der Polizei war nicht unbemerkt geblieben. Einen Streifenwagen auf Patrouille oder mit Blaulicht und Sirene auf der Furkastrasse zu einem Unfall fahren zu sehen, war nichts Außergewöhnliches. Dass das Polizeifahrzeug ins Dorf hineinfuhr und Uniformierte ausstiegen, um ein Haus

Korporal Ritz wollte von Kauz einiges wissen. Wann er die Leiche gefunden habe, war ihre erste Frage.

Er nannte die Uhrzeit.

Ob die Speichertüre geschlossen gewesen sei – »Isch d Poort züä gsi?« –, ihre nächste. D Poort, wie Kauz dieses Wort liebte!

Zu, bestätigte er, aber nicht abgeschlossen.

»Nicht abgeschlossen?«, fragte sie und runzelte die Stirn. Wo denn der Schlüssel sei? Schlussel, sagte sie, nicht Schlüssel, und Kauz musste unwillkürlich schmunzeln. Hüüs, nicht Huus, sagten die Gommer. Dafür Schlussel statt Schlüssel. Kauz und seine Schwester hatten den Vater jedes Mal geneckt, wenn er Schlussel sagte. Ihn hatte es nicht gekümmert.

»Keine Ahnung«, sagte Kauz.

»Im Türschloss steckt er nämlich nicht«, stellte sie fest.

Ob er den Toten kenne und in welcher Beziehung er zu ihm stehe.

»Ich kenne ihn. Er heißt Wendelin Imfang. Ihm gehört dieser Speicher, ich bin sein Mieter.«

»Dann wohnt er selber also gar nicht hier«, stellte sie fest. Wieder runzelte sie die Stirn, schüttelte verwundert den Kopf.

Sie hat noch kein Pokerface, dachte Kauz.

»Nein, er wohnt weiter weg«, antwortete er, zeigte mit dem Arm die Richtung und beschrieb das Bauernhaus der Imfangs.

»Aha, auf dem Milifäld«, quittierte sie seine Beschreibung. »Sagen Sie, sind Sie ein Angehöriger?«

»Ich weiß. Aber Sie heißen Walpen. Sie könnten ein Angehöriger sein, ein Verwandter.«

»Nein, bin ich nicht.«

»Würden Sie mir bitte Ihren Ausweis zeigen?«

»Klar.«

Kauz klaubte seine Identitätskarte hervor. Korporal Ritz schrieb die Details sorgfältig ab.

»Beruf?«

»Kantonaler Beamter«, sagte er. Immerhin stand er noch ein halbes Jahr auf der Lohnliste. »Zur Zeit im Urlaub.«

»Alles klar«, sagte die Polizistin. »Adresse?«

Er gab sie ihr.

»Wissen Sie, ob der Tote Angehörige hat?«

»Er war ledig. Er lebt bei den Eltern. Oder vielmehr mit den Eltern. Sie leben bei ihm, auf dem Hof, der früher ihnen gehört hat. Geschwister hat er, glaube ich, keine.«

»Sind Sie ganz sicher, dass es sich beim Toten um Wendelin Imfang handelt?«, fragte sie, leisen Zweifel in der Stimme. »Tote sehen manchmal anders aus als im Leben. Besonders – entschuldigen Sie – besonders Erhängte und Ertrunkene.«

»Ich weiß«, sagte Kauz.

Sie sah überrascht auf.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er schnell, um sie abzulenken.

»Der Bezirksarzt muss kommen. Vielleicht kommt der Staatsanwalt persönlich, wenn er es für nötig hält. Vielleicht die Spurensicherung, je nachdem, was der Bezirksarzt feststellt. Und der Bestatter. Wie bei jedem AgT«, erklärte Korporal Ritz. »Wie bei jedem außergewöhnlichen Todesfall, meine ich. Ein Selbstmord ist ein außergewöhnlicher Todesfall.«

»Sicher ist man nie«, sagte sie. Das gefiel Kauz natürlich. »Aber nach einem Verbrechen sieht es mir nicht aus. Keine Kampfspuren, soweit ich es beurteilen kann. Keine Anzeichen von Fremdeinwirkung«, und das gefiel ihm jetzt weniger. »Ich will dem Bezirksarzt ja nicht vorgreifen. Aber wenn Sie mich fragen, ist es ein klassischer Selbstmord.«

Darauf sagte Kauz nichts.

»Obwohl …«

»Was?«

»Obwohl im Speicher kein Abschiedsbrief lag.«

Auch der junge Uniformierte, der sich mit ihr zusammen unten im Speicher umgesehen hatte, hatte keinen gesehen. Er hatte die Speichertür mittlerweile zugezogen, mit einem Polizei-Klebeband versiegelt und stand bei ihnen im Ziegenstall.

Ob ein Brief in der Kleidung des Toten stecke, werde man untersuchen, sobald Bezirksarzt und Staatsanwalt da seien.

Kauz betrachtete die recht groß gewachsene Frau. Sie mochte Ende dreißig, vielleicht auch Anfang vierzig sein. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie machte einen nicht unsportlichen Eindruck, war aber nicht dieser spindeldürre Triathletentyp. Eher kräftig gebaut. Langläuferin?, fragte er sich. Oder Radsportlerin?

»Wie gesagt«, nahm sie den Faden wieder auf, »der Bezirksarzt wird die Legalinspektion vornehmen. Die Leichenschau, wissen Sie. Danach muss der Staatsanwalt entscheiden.«

»Was entscheiden?«, fragte Kauz. Er fand es selbst etwas fies, sich so unwissend zu stellen.

»Ob weiter ermittelt wird oder nicht.«

»Aha. Ja, dann. Brauchen Sie mich noch?«