Maigret und die verrückte Witwe

Links vom Portal am Quai des Orfèvres hielt der Polizist Picot Wache, rechts stand sein Kollege Loutille. Es war etwa zehn Uhr morgens. An diesem Maitag tauchte die Frühlingssonne Paris in Pastellfarben.

Als Picot sie erblickte, maß er ihr keine Bedeutung bei: eine dürre, kleine alte Frau in einem stahlgrauen Kleid, mit einem weißen Hut und weißen Baumwollhandschuhen. Sie ging leicht gebückt vom Alter, und ihre Beine waren sehr dünn.

Ob sie ein Einkaufsnetz oder eine Handtasche bei sich hatte? Er erinnerte sich nicht mehr. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie blieb ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Gehweg stehen und betrachtete die aufgereihten schwarzen Autos im Hof der Kriminalpolizei.

Es kommt häufig vor, dass Neugierige, vor allem Touristen, einen Blick auf das Gebäude der Kriminalpolizei werfen. Die Frau ging zum Portal und musterte den Polizisten von Kopf bis Fuß, dann machte sie kehrt und verschwand in Richtung Pont-Neuf.

»Hier hat doch Kommissar Maigret sein Büro, nicht wahr?«

»Ja, Madame. Im ersten Stock.«

Sie blickte hoch und betrachtete die Fenster. Sie hatte ein sehr hübsches, fein gezeichnetes Gesicht, und ihre hellgrauen Augen wirkten immerzu erstaunt.

»Danke, Herr Polizist.«

Sie trippelte davon, und tatsächlich hatte sie ein Einkaufsnetz dabei, was vermuten ließ, dass sie im Viertel wohnte.

Am nächsten Tag hatte Picot frei. Sein Stellvertreter achtete nicht auf die kleine alte Frau, die sich in den Hof stahl. Sie strich dort einen Augenblick umher, ging dann durch die Tür links und stieg die Treppe hinauf. Der lange Flur im ersten Stock schüchterte sie ein, sie wirkte ein wenig verloren. Der alte Joseph, der Bürodiener, trat auf sie zu und fragte freundlich:

»Suchen Sie etwas?«

»Das Büro von Kommissar Maigret.«

»Möchten Sie den Kommissar sprechen?«

»Ja. Deswegen bin ich hier.«

»Haben Sie eine Vorladung?«

»Braucht man denn eine?«

»Kann ich ihm etwas ausrichten?«

»Ich muss ihn unbedingt persönlich sprechen. Es ist äußerst wichtig.«

»Dann füllen Sie diesen Meldezettel aus, und ich werde mich erkundigen, ob der Kommissar Sie empfangen kann.«

Sie setzte sich an den mit grünem Stoff bespannten Tisch. Die Büros waren gerade frisch renoviert worden, und es roch stark nach Farbe. Insgesamt fand sie die Stimmung für eine Behörde eher heiter.

Den ersten Meldezettel zerriss sie. Sie schrieb langsam, wog jedes Wort ab, unterstrich sogar einige Wörter. Auch der zweite Zettel wanderte in den Papierkorb, dann der dritte, und erst mit dem vierten schien sie zufrieden zu sein. Sie wandte sich an den alten Joseph:

»Sie übergeben ihm das persönlich, nicht wahr?«

»Ja, Madame.«

»Er ist wohl sehr beschäftigt?«

»Ja, sehr.«

»Glauben Sie, er empfängt mich?«

»Das weiß ich nicht, Madame.«

Sie war über achtzig, vielleicht sechs- oder siebenundachtzig, und wog sicher nicht mehr als ein kleines Mädchen. Ihr Körper war mit den Jahren zart

»Tun Sie bitte, was Sie können. Es ist sehr wichtig für mich.«

»Nehmen Sie doch Platz, Madame.«

Er ging zu einer Tür und klopfte. Maigret war in einer Besprechung mit Janvier und Lapointe, die beide standen. Durch das weit geöffnete Fenster drang Straßenlärm.

Maigret nahm den Zettel entgegen, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn.

»Was macht sie für einen Eindruck?«

»Eine sehr höfliche alte Dame, vielleicht etwas schüchtern. Sie hat mich gebeten, alles zu tun, damit Sie sie empfangen.«

Mit einer festen und regelmäßigen Schrift hatte sie in die erste gepunktete Zeile ihren Namen eingetragen:

Madame Antoine de Caramé

Darunter eine Adresse:

Quai de la Mégisserie 8

Und als Grund ihres Besuchs:

Man sah der Schrift an, dass ihre Hand bei diesen Zeilen gezittert hatte; die Buchstaben waren etwas schief. Äußerst wichtige und Kommissar hatte sie unterstrichen. Es geht um Leben und Tod sogar doppelt.

Maigret zog an seiner Pfeife und murmelte:

»Eine Verrückte?«

»Sie wirkt nicht so. Sie ist sehr ruhig.«

Am Quai des Orfèvres war man Briefe von Verrückten oder Halbverrückten gewohnt. Fast immer waren mehrere Wörter unterstrichen.

»Sprich du mit ihr, Lapointe. Sonst kommt sie jeden Morgen wieder.«

Kurz darauf wurde die alte Frau in das kleine Büro am Ende des Flurs geführt. Lapointe war allein, er stand am Fenster.

»Treten Sie ein, Madame. Setzen Sie sich bitte.«

Sie musterte ihn neugierig und fragte:

»Sind Sie sein Sohn?«

»Wessen Sohn?«

»Der vom Kommissar.«

»Nein, Madame. Ich bin Inspektor Lapointe.«

»Aber Sie sind ja noch ein halbes Kind!«

»Ich bin siebenundzwanzig.«

Das stimmte. Aber es stimmte auch, dass er wie

»Ich wollte mit Kommissar Maigret sprechen.«

»Er ist leider so beschäftigt, dass er Sie nicht empfangen kann.«

Sie zögerte, fummelte nervös an ihrer weißen Handtasche und entschloss sich, stehen zu bleiben.

»Und wenn ich morgen wiederkomme?«

»Das ändert nichts.«

»Empfängt Kommissar Maigret nie jemanden?«

»Nur in besonders dringenden Fällen.«

»Aber mein Fall ist besonders dringend! Es geht um Leben und Tod!«

»Das haben Sie bereits auf Ihren Meldezettel geschrieben.«

»Und?«

»Wenn Sie mir sagen, worum es sich handelt, werde ich es dem Kommissar mitteilen. Die Entscheidung liegt bei ihm.«

»Wird er mich dann vielleicht empfangen?«

»Ich kann nichts versprechen. Schon möglich.«

Sie schien lange das Für und Wider abzuwägen und ließ sich schließlich auf der Stuhlkante nieder, Lapointe gegenüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte.

»Worum handelt es sich?«

»Zunächst müssen Sie wissen, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in derselben Wohnung am Quai

»Sie haben von einer Gefahr gesprochen.«

»Ich bin ganz bestimmt in Gefahr, aber Sie werden das sicher für Geschwätz halten. Ihr jungen Leute glaubt gern, dass wir Alten nicht mehr ganz richtig im Kopf sind.«

»Ich denke das nicht.«

»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Seit mein zweiter Mann vor zwölf Jahren gestorben ist, lebe ich allein, und es besucht mich nie jemand in meiner Wohnung. Sie ist für mich allein zu groß, trotzdem würde ich gerne bis zu meinem Tod da wohnen. Ich bin sechsundachtzig, kann mich aber selbst um den Haushalt kümmern.«

»Haben Sie ein Haustier? Einen Hund oder eine Katze?«

»Nein. Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich die Vögel im Erdgeschoss singen höre. Ich wohne direkt über der Vogelhandlung.«

»Was macht Ihnen Kummer?«

»Das ist wirklich schwer zu erklären. Nun ja, in den letzten zwei Wochen haben bei mir die Dinge jetzt schon mindestens fünfmal ihren Platz gewechselt!«

»Ja, genau. Ein gerahmtes Foto hängt schief, oder eine Vase steht nicht mehr so wie vorher.«

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie sich nicht irren?«

»Na bitte! Weil ich alt bin, zweifeln Sie an meinem Gedächtnis! Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich seit zweiundvierzig Jahren in der Wohnung lebe. Ich weiß genau, wo alles hingehört.«

»Und ist etwas gestohlen worden? Ist etwas verschwunden?«

»Nein, Herr Inspektor.«

»Haben Sie Geld zu Hause?«

»Sehr wenig. Nur so viel, wie ich für einen Monat brauche. Mein erster Mann hat im Rathaus gearbeitet, und jetzt bekomme ich eine Witwenrente. Außerdem habe ich Ersparnisse auf der Bank.«

»Besitzen Sie Wertsachen, Bilder, Kunstgegenstände, was weiß ich?«

»An einigen Dingen liegt mir sehr viel, aber die sind nicht wirklich wertvoll.«

»Hinterlässt Ihr Besucher oder Ihre Besucherin Spuren? An einem Regentag könnten es Fußspuren sein, zum Beispiel.«

»Es hat seit zehn Tagen nicht geregnet.«

»Zigarettenasche?«

»Nein.«

»Nein. Nein, es gibt nur einen Schlüssel, und der ist hier in meiner Handtasche.«

Er sah sie verständnislos an.

»Kurz, Sie beklagen sich bloß darüber, dass einige Dinge bei Ihnen zu Hause plötzlich nicht ganz genau da sind, wo sie hingehören?«

»So ist es.«

»Und Sie haben nie jemanden gesehen?«

»Nie.«

»Und Sie haben keine Ahnung, wer es sein könnte?«

»Nicht die geringste.«

»Haben Sie Kinder?«

»Leider nein.«

»Angehörige?«

»Eine Nichte, die ist Masseuse. Aber ich sehe sie nur selten, obwohl sie direkt am anderen Seineufer wohnt.«

»Freunde? Freundinnen?«

»Die meisten meiner Bekannten sind tot. Das ist allerdings noch nicht alles.«

Ihr Blick war fest, ihre Stimme ruhig und unaufgeregt.

»Ich werde verfolgt.«

»Sie meinen, auf der Straße?«

»Ja.«

»Wenn ich mich umgedreht habe, waren da immer mehrere Personen. Aber ich weiß nicht, wer von denen es war.«

»Gehen Sie oft aus?«

»Morgens um acht mache ich meine Besorgungen im Viertel. Ich finde es sehr schade, dass es die Markthallen nicht mehr gibt, die waren gleich um die Ecke, und ich hatte da ein paar gute Adressen. Seitdem habe ich verschiedene Läden ausprobiert. Aber es ist nicht das Gleiche.«

»Ist die Person, die Ihnen folgt, ein Mann?«

»Das weiß ich nicht.«

»So gegen zehn Uhr kommen Sie wohl wieder nach Hause?«

»Ungefähr. Dann setze ich mich ans Fenster und putze mein Gemüse.«

»Bleiben Sie nachmittags daheim?«

»Nur wenn es regnet oder zu kalt ist. Sonst gehe ich in die Tuilerien und setze mich auf eine Bank. Ich bin nicht die Einzige, die da ihre Bank hat. Seit Jahren sehe ich Menschen in meinem Alter immer am selben Platz sitzen.«

»Und Sie werden bis in die Tuilerien verfolgt?«

»Jemand folgt mir, wenn ich meine Wohnung verlasse, als wollte man sichergehen, dass ich nicht gleich zurückkomme.«

»Dreimal. Ich bin wieder in meine Wohnung zurück, als hätte ich etwas vergessen.«

»Es war natürlich niemand dort.«

»Trotzdem waren Dinge verrückt worden. Jemand hat es auf mich abgesehen. Ich weiß nicht, warum, denn ich habe nie einem Menschen ein Leid getan. Vielleicht sind es mehrere.«

»Was hat Ihr Mann im Rathaus gemacht?«

»Mein erster Mann war Bürochef. Er hatte sehr viel Verantwortung. Leider ist er früh gestorben, mit fünfundvierzig, an einem Herzinfarkt.«

»Sie haben wieder geheiratet?«

»Fast zehn Jahre später. Mein zweiter Mann war Verkaufsleiter im Bazar de l’Hôtel de Ville, in der Abteilung für landwirtschaftliche Geräte und Werkzeug aller Art.«

»Und er lebt auch nicht mehr?«

»Er war damals schon lange pensioniert. Wenn er noch lebte, wäre er heute zweiundneunzig.«

»Wann ist er gestorben?«

»Ich glaube, das habe ich Ihnen schon gesagt. Vor zwölf Jahren.«

»Hatte er keine Angehörigen? War er Witwer, als Sie ihn geheiratet haben?«

»Er hatte nur einen Sohn. Der lebt in Venezuela.«

»Hören Sie, Madame, ich werde dem Kommissar berichten, was Sie mir gesagt haben.«

»Er wird Ihnen eine Vorladung schicken, wenn er Sie sprechen will.«

»Haben Sie meine Adresse?«

»Sie steht auf Ihrem Meldezettel, nicht wahr?«

»Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Wissen Sie, ich habe solches Vertrauen in ihn. Ich glaube, er ist der Einzige, der das alles verstehen kann. Ich möchte Sie nicht kränken, aber ich finde doch, dass Sie ein bisschen jung sind.«

Er brachte sie zur Tür und durch den Flur zu der breiten Treppe.

Als er Maigrets Büro betrat, war Janvier bereits fort.

»Nun?«

»Ich glaube, Sie hatten recht, Chef. Eine Verrückte, aber eine friedliche, sehr ruhige und sehr beherrschte Verrückte. Sie ist sechsundachtzig, und ich hoffe, dass ich in ihrem Alter noch genauso gut in Schuss bin.«

»Und diese Gefahr, in der sie angeblich schwebt?«

»Sie wohnt seit über vierzig Jahren in derselben Wohnung am Quai de la Mégisserie. Sie war zweimal verheiratet. Und sie behauptet, dass die Dinge bei ihr zu Hause ihren Platz wechseln, wenn sie die Wohnung verlässt.«

Maigret zündete seine Pfeife wieder an.

»Zum Beispiel?«

»Hat sie eine Katze oder einen Hund?«

»Nein. Aber sie lauscht gern dem Gesang der Vögel im Erdgeschoss.«

»Ist das alles?«

»Nein. Sie ist überzeugt, dass sie verfolgt wird.«

»Hat sie jemanden gesehen?«

»Nein. Eben nicht. Es ist wohl eine fixe Idee.«

»Kommt sie wieder her?«

»Es liegt ihr sehr viel daran, Sie persönlich zu sprechen. Sie sind für sie geradezu der liebe Gott, der Einzige, der sie verstehen kann. Was soll ich tun?«

»Nichts.«

»Sie kommt bestimmt wieder.«

»Dann sehen wir weiter. Du könntest aber für alle Fälle die Concierge befragen.«

Maigret vertiefte sich wieder in die Akte, mit der er befasst gewesen war, und der junge Lapointe kehrte ins Inspektorenbüro zurück.

»Ist sie wirklich verrückt?«, fragte ihn Janvier.

»Wahrscheinlich. Aber nicht verrückt im üblichen Sinn.«

»Kennst du viele Verrückte?«

»Eine Tante von mir ist in einer Nervenklinik.«

»Die Alte scheint Eindruck auf dich gemacht zu haben …«

Am Nachmittag ging Lapointe zum Quai de la Mégisserie, wo in den meisten Läden tatsächlich Vögel und andere Kleintiere verkauft wurden. Bei dem strahlenden Wetter waren die Terrassen der Cafés geöffnet, und als Lapointe hochschaute, stellte er fest, dass die Fenster im ersten Stock offen standen. Nur mit Mühe fand er die Loge ganz hinten im Hof. Die Concierge saß in der Sonne und stopfte Männersocken.

»Zu wem möchten Sie?«

Er zeigte ihr seinen Dienstausweis.

»Können Sie mir etwas über Madame Antoine de Caramé erzählen? So heißt sie doch, oder? Die alte Dame, die im ersten Stock wohnt.«

»Jaja. Antoine ist der Familienname ihres zweiten Mannes, und darum heißt sie eigentlich nur Madame Antoine. Aber sie nennt sich Antoine de Caramé, weil sie so stolz auf ihren ersten Mann ist. Er hatte einen wichtigen Posten im Rathaus.«

»Und wie ist sie so?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ist sie nicht ein bisschen wunderlich?«

»Warum interessiert sich die Polizei auf einmal für sie?«

»Sie hat uns darum gebeten.«

»In ihrer Abwesenheit sollen Dinge in ihrer Wohnung verrückt worden sein. Hat sie Ihnen nichts davon erzählt?«

»Sie hat mich nur gefragt, ob ich fremde Leute zu ihr hätte hinaufgehen sehen. Hatte ich nicht. Von hier aus sieht man auch gar nicht, wer kommt und geht. Die Treppe ist im Flur.«

»Bekommt sie Besuch?«

»Ihre Nichte besucht sie jeden Monat ein- oder zweimal. Aber manchmal bleibt die auch drei Monate weg.«

»Benimmt sich Madame Antoine wie ein normaler Mensch?«

»Sie benimmt sich so wie alle alten Frauen, die allein leben. Sie ist kultiviert und immer höflich.«

»Ist sie zu Hause?«

»Nein. Wenn die Sonne auch nur ein bisschen scheint, sitzt sie auf ihrer Bank in den Tuilerien.«

»Unterhält sie sich manchmal mit Ihnen?«

»Ein paar Worte im Vorbeigehen. Sie erkundigt sich vor allem nach meinem Mann. Der liegt im Krankenhaus.«

»Ich danke Ihnen.«

»Ich soll ihr wohl nicht sagen, dass Sie hier waren, was?«

»Ganz wie Sie wollen.«

»Auf jeden Fall bin ich sicher, dass sie nicht

»Vielleicht komme ich noch mal vorbei.«

 

Maigret war gut gelaunt. Seit zehn Tagen hatte es nicht einen Tropfen geregnet, der Himmel war hellblau, und es wehte eine leichte Brise. In diesem perfekten Mai glich Paris einer bunten Operettenkulisse.

Maigret blieb etwas länger im Büro, um einen Bericht durchzusehen, der schon lange unerledigt herumlag und den er gern loswerden wollte. Er hörte Autos und Busse vorüberfahren, zwischendurch ertönte die Sirene eines Schleppers.

Um kurz vor sieben öffnete er die Tür zum Büro nebenan, wo Lucas mit zwei oder drei Inspektoren den Nachtdienst angetreten hatte, und verabschiedete sich.

Auf der Treppe überlegte er, ob er in der Brasserie Dauphine einen Aperitif trinken sollte. Er war noch unschlüssig, als er durch das Portal schritt, das von zwei Polizisten flankiert war, die ihn grüßten.

Schließlich machte er sich doch gleich auf den Heimweg, aber schon nach wenigen Schritten in Richtung Boulevard du Palais tauchte eine kleine Gestalt vor ihm auf, die er nach der Beschreibung von Lapointe sofort erkannte.

»Sie sind es, nicht wahr?«, sagte sie begeistert.

»Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie auf der Straße anspreche, aber oben lässt man mich nicht zu Ihnen.«

Maigret kam sich etwas lächerlich vor und konnte sich den spöttischen Blick gut vorstellen, den sich die beiden Wachtposten hinter ihm zuwarfen.

»Aber ich verstehe das, ich kann’s ihnen nicht verübeln. Man darf Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören, nicht wahr?«

Am meisten beeindruckten den Kommissar ihre blassgrauen Augen, die sehr sanft waren und doch funkelten. Sie lächelte. Man sah ihr an, dass sie im siebten Himmel war. Aber man spürte auch die außergewöhnliche Energie, die in diesem kleinen Körper steckte.

»In welche Richtung gehen Sie?«

Er deutete zum Pont Saint-Michel.

»Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie ein Stück begleite?«

An seiner Seite wirkte sie noch kleiner.

»Sehen Sie, vor allem müssen Sie mir glauben, dass ich nicht verrückt bin. Ich weiß, was junge Leute über die Alten denken, und ich bin schon sehr alt.«

»Der junge Mann, der mich empfangen hat, hat also mit Ihnen über mich gesprochen. Er ist etwas jung für seinen Beruf, aber er ist sehr gut erzogen und sehr höflich.«

»Haben Sie lange auf mich gewartet?«

»Seit fünf vor sechs. Ich dachte, Sie würden Ihr Büro gegen sechs verlassen. Ich habe viele Herren herauskommen sehen. Aber nicht Sie.«

Sie hatte also eine ganze Stunde gewartet, ohne dass die Polizisten Notiz von ihr genommen hatten.

»Ich fühle, dass ich in Gefahr bin. Es würde doch niemand ohne Grund bei mir einbrechen und meine Sachen durchstöbern.«

»Woher wissen Sie, dass jemand Ihre Sachen durchstöbert?«

»Weil sie nicht mehr genau an ihrem Platz sind. Ich bin eine Ordnungsfanatikerin. Bei mir hat jedes Ding seit mehr als vierzig Jahren seinen Platz.«

»Und das ist mehrmals passiert?«

»Mindestens viermal.«

»Besitzen Sie Wertgegenstände?«

»Nein, Herr Kommissar. Nur all die kleinen Dinge, die sich im Laufe eines Lebens ansammeln und die man aus Sentimentalität behält.«

Sie drehte sich jäh um, und er fragte:

»Werden Sie jetzt gerade verfolgt?«

»Ich werde das Unmögliche versuchen.«

»Versuchen Sie doch noch ein bisschen mehr für eine alte Frau wie mich. Der Quai de la Mégisserie ist ganz in der Nähe. Kommen Sie in den nächsten Tagen vorbei, und ich verspreche Ihnen, Sie nicht aufzuhalten und auch nicht wieder in Ihr Büro zu kommen.«

Sie war ziemlich gerissen.

»Ich komme bald vorbei.«

»Noch diese Woche?«

»Vielleicht. Oder Anfang nächster Woche.«

Sie hatten seine Bushaltestelle erreicht.

»Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich muss nach Hause.«

»Ich verlasse mich auf Sie«, sagte sie. »Ich vertraue Ihnen.«

Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Ihre Geschichte klang wie eine Wahnvorstellung. Aber wenn sie vor ihm stand und er ihr ins Gesicht sah, war er versucht, ihr zu glauben.

Als Maigret nach Hause kam, war der Tisch schon fürs Abendessen gedeckt. Er küsste seine Frau auf die Wangen.

»Du warst doch hoffentlich draußen, bei dem herrlichen Wetter?«

Dann stellte er ihr eine Frage, die sie überraschte:

»Sag mal, gehst du manchmal in einen Park und setzt dich auf eine Bank?«

Sie musste nachdenken.

»Ja, das kommt schon vor. Vor einem Termin beim Zahnarzt zum Beispiel, wenn ich zu früh bin.«

»Heute Abend war eine Frau da, die fast jeden Nachmittag auf einer Bank in den Tuilerien sitzt.«

»Das tun viele.«

»Hat dich dabei schon mal jemand angesprochen?«

»Einmal, ja. Die Mutter eines kleinen Mädchens hat mich gebeten, ein paar Minuten auf ihr Kind aufzupassen, weil sie ein paar Erledigungen auf der anderen Seite des Platzes machen wollte.«

Auch hier war das Fenster weit geöffnet. Zum Abendessen gab es wie an den schönsten Sommertagen charcuterie mit Salat und Mayonnaise.

»Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang?«

Die untergehende Sonne färbte den Himmel noch rosa, und der Boulevard Richard-Lenoir lag still da. Hier und da lehnten sich Leute aus den Fenstern.

Sie gingen, um zu gehen, aus Freude, beieinander zu sein, aber sie hatten sich nichts Bestimmtes zu sagen. Sie betrachteten dieselben Passanten, dieselben Schaufenster, und hin und wieder machte

»Diese merkwürdige alte Dame, die ich heute empfangen habe … Na ja, eigentlich hat Lapointe sie empfangen. Mich hat sie auf dem Quai abgepasst.