LEONARD COHEN, 1934 als Sohn russisch-jüdischer Eltern in einem Vorort Montreals geboren, begeisterte sich schon früh für Literatur und Musik – und sollte sich sein Leben lang beiden Künsten widmen. Es begann mit der Literatur, mit Lyrik und Romanen. Nach ersten Erfolgen als Autor in den sechziger Jahren wandte er sich verstärkt der Musik zu, zunächst aus finanziellen Gründen, und vertonte einige seiner Gedichte, so auch »Suzanne«, das durch Judy Collins zum Hit wurde. Bald stand Cohen selbst hinter dem Mikrophon. Seinen ersten Plattenvertrag unterschrieb der »traurige Poet«, wie ihn der Stern einmal nannte, 1967. Viele weitere Alben folgten. Ende der achtziger Jahre zog sich Cohen in ein Zen-Kloster in den Bergen nahe Los Angeles zurück und wurde zum Mönch ordiniert. Kaum jemand rechnete noch mit seiner Rückkehr ins Rampen licht. Doch 2001 stand er wieder auf der Bühne. Sechs Alben folgten. Leonard Cohen starb am 7. November 2016 im Alter von zweiundachtzig Jahren in Los Angeles. Ein allerletztes Album, Thanks for the Dance, erschien drei Jahre nach seinem Tod.
Im Gespräch mit Christian Fevret, 1988
Der Titelsong Ihres Albums I’m Your Man [1988] zeichnet das Porträt eines Chamäleonmannes, der um der Liebe einer Frau willen zu allem bereit ist. Das ist das Gegenteil des Bildes, das man von Ihnen hat.
Stimmt. Die Aussage dieses Songs ist etwas Neues für mich, ebenso wie die Musik. Sie hat etwas Komisches, denn diesem Mann ist praktisch jedes Mittel recht, um diese Frau zu kriegen.
Und hat das etwas mit Ihnen zu tun?
Ja, das bin ich. Doch es ist gefährlich, sich total mit einem Song zu identifizieren, denn ein Song stellt eine bestimmte Wahrheit zu einem bestimmten Zeitpunkt dar. Es wäre gefährlich, ihn als Parole zu verstehen. Ich bleibe den Notwendigkeiten der Phantasie treu. Das ist die einzige Art Treue, die für einen Schriftsteller von Belang ist. Aber es stimmt, dass es in meinem Leben Dinge gegeben hat, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin. Ab und zu gerät man in Situationen, in denen alles auf den Kopf gestellt wird. Während der Arbeit an diesem Album war ich in einer solchen Situation, und ich glaube, das spiegeln die Songs wider.
War das eine Phase des Zweifels?
Zweifel und Glaube – man bewegt sich ständig zwischen den beiden. Je größer der Glaube, desto größer der Zweifel, das kennt man ja. Was das Ziel ist, weiß ich nicht, denn noch bin ich nicht gestorben. Mal ist man sich selbst gegenüber etwas nachsichtiger, mal steckt man tief in der Scheiße.
Diese Dialektik von Zweifel und Glaube ist für Künstler sehr fruchtbar.
Ich habe für mein Leben nie eine Lösung gefunden. Ich fühle mich so wie mit fünfzehn Jahren. Der Kontext ist ein anderer, aber im Grunde hat sich nichts verändert. Ich bin kein Soziologe, kein Philosoph, ich habe keine Ahnung von dem, was um mich herum geschieht. Ich versuche, meinen Geliebten, meinen Freunden, meiner Familie und den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, gegenüber großzügig zu sein, aber ich komme mir noch vor wie mit fünfzehn.
Das heißt, Sie haben die gleichen Ängste, die gleichen Zweifel wie in Ihrer Jugend?
Etwas ist anders: Man hat einen anderen Blickwinkel durch seine Erfahrungen und eine gewisse Kraft, weil man von der Erde angenommen wurde. Das meine ich jetzt keineswegs mit Blick auf meinen Beruf, sondern in dem Sinn, dass wir da sein müssen, dass es kein Fehler ist, dass wir da sind. Insofern hat es eine Entwicklung gegeben. Doch das Übrige, die Ängste, die Zweifel, die bestehen weiterhin, manchmal werden sie sogar noch stärker. Der berufliche Erfolg ist etwas Ungreifbares. Ich freue mich, dass ich in aller Welt ein Publikum habe, auch wenn es nicht sehr groß ist, aber komfortabel leben kann ich deswegen nicht.
Dennoch muss es irgendwie beruhigend sein.
Es ist in gewissem Maß beruhigend, manchmal macht es auf eine Art glücklich, es verschärft aber auch Probleme und Konflikte, es ist keineswegs eine Lösung für das Leben. Ich glaube, jeder zahlt einen hohen Preis für sein Leben, nichts ist gratis, alle müssen zahlen, alle müssen für ihr Leben das Maximum bezahlen. Ich glaube, verglichen mit dem, was andere ertragen müssen, ist mein Maximum eher bescheiden. Aber für mich ist es das Maximum.
Halten Sie sich für einen Egoisten?
Ich glaube, in jedem Menschen steckt ungefähr gleich viel Egoismus. Es gibt immer ein großes Bedürfnis, zu dominieren, das ist klar, aber manche Leute sind raffinierter, ihnen ist es gelungen, den Ehrgeiz zu zügeln, diesen heftigen Ehrgeiz, den alle haben. Ich beispielsweise habe gelernt, so zu tun, als würde ich nicht vom Begehren verzehrt. Es gibt aber auch Leute wie meinen Freund [den Musikproduzenten] Phil Spector, die Wert darauf legen, diesen Egoismus nicht zu unterdrücken, sondern ihm freien Lauf zu lassen, ihn zu glorifizieren, und in mancher Hinsicht hat das etwas Großartiges. Es hat etwas Großartiges, wenn jemand sich nicht dagegen wehrt, seinen Egoismus auszuleben.
Es gibt in Ihren Songs eine Art Egozentrik …
In den Songs oder der Kunst, wenn ich dieses Wort verwenden darf (ich weiß wirklich nicht, ob das, was ich mache, Kunst ist), versucht man, ein inneres Gleichgewicht zu finden. Man kann etwas schaffen, das auf anmutige Weise in der Welt ist, weder nach Ego noch nach Geilheit riecht, sondern nach etwas anderem, was anerkannt ist und von der Phantasie nicht sterilisiert, aber gewaschen wird und deshalb nicht stinkt. Einzig wenn man schöpferisch ist, kann man etwas schaffen, das ein Gleichgewicht hat, eine Anmut, einen Sinn. Wir, wir haben keinen Lebenssinn. Wir sind einfach da, das ist alles. Für sich einen Lebenssinn zu suchen, ist lächerlich.
Chris Isaak sagt, das Ego von Künstlern sei grenzenlos groß …
Damit will er doch nur sagen, dass sein Ego größer ist als das Ego anderer! Die meisten Künstler – ich spreche nicht von großen Künstlern – befinden sich in einer Art Kindergarten, sie haben keine Ahnung davon, was auf der Welt geschieht. Ein Soldat, ein Polizist, ein Advokat oder ein Geschäftsmann weiß darüber viel besser Bescheid als ein Künstler. Künstler sind die Letzten, die wüssten, was hier geschieht. Die Dichter sind keineswegs erfahrungsgesättigt, nur wenige dringen wirklich ins Innerste vor und wollen genau sehen, was dort stattfindet. Das wäre ihre Aufgabe, aber nur die wenigsten stellen sich ihr. Große Dichter sind sehr selten, nur wenige haben Erhellendes zu sagen. Viele beklagen sich, leiden, reden über verlorene Liebe, gefundene Liebe … Bei den meisten Sängern ist von echter Erfahrung nichts zu hören. Nur einmal in zehn Jahren gibt es jemanden wie Édith Piaf. Ihrer Stimme hört man die Erfahrung an, es geht bei ihrem Gesang nicht nur um musikalische Fähigkeiten und technisches Können, sondern ihre Stimme spricht aus tiefer Erfahrung. Etwas Ähnliches gibt es auch in der Stimme von Ray Charles. Aber das ist ganz selten.
Was haben alle anderen dann beizutragen?
Dass sie überhaupt arbeiten. Wir brauchen Songs, wir haben sie nötig. Das sage ich nicht, um die Bedeutung der Künstler herunterzuspielen, um ihren Beitrag zu schmälern, aber es muss einfach gesagt sein, dass wir Songs brauchen, Fernsehsendungen, Zigaretten, Plattenfirmen … Das ist unsere Welt, man braucht alle möglichen Beiträge, und jeder ist wichtig. Es gibt viele Songs und Sänger, die ich mag, die ich liebend gern höre beim Geschirrspülen, beim Sex, wenn ich in eine andere Stimmung kommen möchte. Ab und zu möchte ich eine Zigarette rauchen, einen Kaffee trinken – all das ist notwendig. Aber für wirklich Hervorragendes braucht man gewisse Kriterien … Das heißt, nein, die braucht man nicht, denn wenn etwas wirklich hervorragend ist, dann ist das offensichtlich. Wir anderen, wir leisten unsere Beiträge, so gut wir können, aber wir müssen uns immer vor Augen halten, wo wir stehen und was wir sind: Wir machen Songs, wir geben ein bisschen was … Ich bin wirklich der Meinung, dass Künstler Kinder sind, verglichen mit den Männern und Frauen dieser Welt.
Weil sie Kinder sind, sind Künstler vielleicht auch dermaßen mit sich selbst beschäftigt.
Das stimmt. Aber wenn man für die Kunst arbeitet mit ihren Regeln und den Regeln des Marktes, dann ist das nicht der ideale Rahmen, um sein Ego zu projizieren. Künstler kennen sich mit ihrem Ego bestimmt aus, aber um diese Arbeit machen zu können, muss man die Grenzen wahren. Außerdem gibt es in der Arbeit eine Art von Disziplin, von Frustration, die das Ich verfeinert. Es ist also vielmehr so: Die wirklich großen Künstler finden zu einer großen Bescheidenheit … Ich rede dabei nicht von mir, sondern von Künstlern, die etwas gefunden haben, denen es gelungen ist, etwas zum Ausdruck zu bringen. Aus ihren Werken spüre ich Bescheidenheit, Disziplin, klare Linien.
Sie unterscheiden zwischen hervorragenden und weniger bedeutenden Künstlern. Wie schätzen Sie Ihr eigenes Werk ein?
Wenn ich Zeit dafür habe (was sehr selten ist), stelle ich mir solche Fragen, und dann fällt mein Urteil in der Regel sehr streng aus. Ab und zu geschieht etwas Unerwartetes, und dann verbessert sich mein Platz auf der Stufenleiter, doch das geschieht sehr selten! In den Interviews, die ich alle zwei, drei Jahre gebe, bin ich gezwungen, mir Fragen zu stellen. Doch die meiste Zeit stehe ich an der vordersten Front jenes Kampfes, den mein Leben darstellt, dann habe ich keine Zeit, mich zu fragen, warum ich da bin, ob ich schön bin, der Schönste oder der am wenigsten Schöne – ich bin einfach da, und ich habe Dinge zu tun.
Sie sind ein Mann, der ungeheuer viele Zweifel hat, strahlen aber Weisheit aus.
Ich kenne eine gewisse Gelassenheit … Es gibt eine gewisse Gelassenheit, eine Stille, die Fischer oder Jäger kennen und die nicht die eines Philosophen ist: Sie sind da, sie müssen etwas erwischen, sie müssen aufmerksam sein und aufpassen, da das Terrain gefährlich ist. Passen sie nicht auf, können sie jederzeit umkommen. Man muss ständig auf der Hut sein. Und dieser Zustand lässt einem nicht viel Zeit, um über diesen Zustand nachzudenken. Denn die Gefahr ist realer Natur, nicht intellektueller. Inmitten all dieser Gefahren lebhaft und aufmerksam zu bleiben, dieses Problem haben wir alle. Gelassenheit ist kein Zustand, sondern hat mit Spannung zu tun: Sie ist das Hinnehmen einer Spannung zwischen zwei Dingen, zwischen Handeln und Kontemplation, zwischen zwei Polen. Akzeptiert man die beiden Pole, dann findet man zu einer gewissen Gelassenheit, aber diese ist nichts Statisches.
Was halten Sie von Ihrem Publikum? Sieht man Jean-Luc Godard in den Medien, hat man den Eindruck, er richte sich nur an seinesgleichen.
Godard ist ein sehr großer Filmemacher, auch wenn er mich doch nicht für die Rolle genommen hat, die er mir angeboten hatte. Er hatte mich angerufen und gebeten, etwas auszuprobieren, das war, glaube ich, vor zwei, drei Jahren.
Für Détective [1985]?
Ja, genau … Er hat dann Johnny Hallyday genommen. Aber ich weiß nicht mehr genau, ob es um diese Rolle ging oder darum, Musik für den Film zu schreiben, es war nicht ganz klar. Er sagte, er würde mich wieder anrufen, um ein Treffen auszumachen, und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört … Trotzdem: Er ist ein sehr großer Filmemacher. Sein Platz in der Geschichte des Kinos ist gesichert. Was er jenseits seiner Filme sagt, hat keinerlei Wert, es mag stimmen oder auch nicht, darüber kann man diskutieren. Seine politischen Ideen kommen mir sehr primitiv vor, diese linke Position, die er vertritt, ist meiner Ansicht nach vollkommen veraltet … Aber das hat mit seinem Werk nichts zu tun. Er kann sagen, was er will, man interessiert sich dafür, weil er Jean-Luc Godard ist. Doch was ihn ausmacht, sind seine Filme, die über seine politischen Ideen hinausweisen. Auch in meinem Fall ist das, was ich über Songs und Sänger sage, nichts. Ich kann in meinen Songs Dinge sagen, die ich im Gespräch nicht ausdrücken kann, deshalb schreibe ich Songs. Doch im Gegensatz zu Godard habe ich das Gefühl, dass die anderen Leute genau so sind wie ich, dass im Grunde ihres Herzens alle gleich sind. Wir haben den gleichen Hunger, gleiche Bedürfnisse, das Bedürfnis nach Liebe, nach Sicherheit, eigentlich sind wir alle dreijährige Kinder.
Aber Sie haben eine ganz spezielle Art, diese Dinge auszuleben.
Es ist mir gelungen, Dinge zu tun, die mehr oder weniger authentisch sind, es ist mir gelungen, da und dort jemanden zu berühren, wenn auch nicht im selben Maß wie die populären Sänger. Ich bin als Sänger nicht wirklich populär, die Größe meines Publikums ist eher bescheiden, dafür ist es über die ganze Welt verstreut.
Viele junge Gruppen wie Echo & the Bunnymen oder die Sisters of Mercy beziehen sich auf Sie. Haben Sie einige von ihnen kennengelernt?
Ja, ich habe viele junge Musiker und Sänger kennengelernt, und es freut mich sehr, dass ich etwas geschaffen habe, das sie schätzen, Leute kennenzulernen, die sagen, ich hätte sie geprägt, oder denen das, was ich gemacht habe, Freude macht. Das ist nicht sonderlich tiefschürfend, aber es ist so. Ian McCulloch [der Leader von Echo & the Bunnymen] ist auf meiner letzten Tournee sogar ein Stück weit mitgereist, in England und in Irland. Ich habe auch You’ve Got Foetus on Your Breath [den australischen Musiker JG Thirlwell] kennengelernt, ein wunderbarer Mann, er hat diesen wunderbaren Song »Gums Bleed« geschrieben … und dann auch Nick Cave und Suzanne Vega …
Aber auch wenn das anerkannte Musikerinnen und Musiker sind: Im Musikbusiness sind sie Outsider.
Auch ich bin eher eine Randfigur, wie meine Verkaufszahlen zeigen. Ich kann nachvollziehen, was es bedeutet, ein Outsider zu sein. Andererseits bin ich überzeugt, dass im Showbusiness sich so ziemlich alle als Outsider empfinden: Tony Bennett, Liz Taylor, Frank Sinatra, Bruce Springsteen und ganz besonders Bob Dylan: Sie alle wollen Outsider sein!
Es gibt im Moment diese zynische Einstellung, dass alles egal sei. Was halten Sie davon?
Um in der heutigen Zeit zu überleben, muss man zynisch, hart und gleichgültig sein. Nun könnte man sagen, das sind wertlose Eigenschaften, aber sie ermöglichen das Überleben: Wer zynisch, hart und gleichgültig ist, der bringt es zu etwas. Nach einiger Zeit werden diese Eigenschaften obsolet und neue Eigenschaften gefragt sein. Die heißen dann vielleicht Integrität und Aufrichtigkeit, und in diesem Fall werden sich Künstler, die über diese Eigenschaften verfügen, auf dem Markt durchsetzen. Vielleicht vermag der Zynismus sich aber auch zu halten.
Hat die Literatur Sie zum Schreiben gebracht?
Gewisse Bücher. Ich lese nicht viel. Zurzeit lese ich alle Bücher von Robertson Davies, einem kanadischen Autor, gegen den ich mich lange Zeit gesträubt habe.
Gibt es Autoren oder Personen, die von entscheidendem Einfluss auf Sie waren?
Ich glaube, für mich waren das Kino und Bücher entscheidend, die Natur und der Mond. Der Mond beeindruckt und erstaunt mich nach wie vor. Und dass wir dieses Leben mit den Frauen teilen, auch das ist für mich etwas Erstaunliches.
Bis heute?
O ja, mehr denn je! Ich staune, dass es zwei Sorten von Menschen gibt. Männer und Frauen. Das bringt allerlei Überraschungen und Gefahren mit sich. Doch zurück zum Thema: Beeinflusst haben mich manche Gebete aus der senegalesischen Liturgie, manche Melodien, manche Verse. Eine einzige Strophe kann mich verändern. So kann ich mich erinnern, dass ich mit fünfzehn oder sechzehn Jahren Federico García Lorca las, und da haben zwei Sätze einen gewaltigen Einfluss auf meinen Stil gehabt, meine Sicht der Dinge von Grund auf verändert, und das waren vielleicht zehn Wörter … Es gibt Leute, die ich bewundert habe, und ich bewundere mehr und mehr Leute, die etwas zustande gebracht haben. Es ist dermaßen schwierig, weiterzumachen, das weiß ich mittlerweile. Ich bewundere die, die weitermachen, aber auch die, die mal was gemacht und dann aufgehört haben.
Haben Sie das Gefühl, sich manchmal geirrt zu haben?
Nein, nicht wirklich geirrt. Zu Anfang habe ich an eine gewisse Tradition angeknüpft, und die habe ich irgendwann aufgegeben. Aber ich glaube nicht, dass das ein Fehler war. Aber es stimmt schon: Man kann sich in eine bestimmte Tradition einreihen und stellt fest, dass man in die falsche Richtung gegangen ist. Dann muss man sich andere Kameraden suchen. Das ist ein bisschen wie mit Robertson Davies: Ich habe mich geweigert, ihn zu lesen, weil ich geglaubt habe, er sei veraltet, gehöre nicht wirklich in unsere Zeit … Ich glaube, solcher Vorurteile wegen habe ich viel verpasst.
Wir haben über Godard gesprochen und seine politischen Ansichten. Man hat den Eindruck, solche Dinge sind Ihnen egal.
»Egal« trifft die Sache nicht. Es hat mit Verwirrung zu tun. Es ist nicht so, dass ich mir vorgenommen hätte, gleichgültig zu sein: Ich verfolge das, was passiert, wie einen Fortsetzungsroman, aber ich verstehe es nicht, ich kann es nicht durchdringen.
I’m Your Man ist eine Art Bilanz, eher negativ und pessimistisch …
Ich selbst entdecke in diesem Album eine gewisse Autorität, eine geistige Stärke, von der ich nicht wusste, dass ich sie hatte, denn ich war mir meiner selbst nicht sicher, als ich diese Platte aufnahm. Doch die Songs kommen mir so abgerundet vor: Sie haben einen Anfang, einen Mittelteil, ein Ende, es gibt einen Leitgedanken, eine Großzügigkeit … Ich rede ungern in solchen Begriffen über mein Werk, aber es kommt mir substanziell, männlich und erwachsen vor.
Wenn Sie in »First We Take Manhattan« sagen »I used to live for music« [»Einst habe ich für die Musik gelebt«], kann man das wörtlich nehmen?
Ich glaube, das bin ich … Ich möchte nicht vor meiner Bitterkeit zurückschrecken. Ja, ich bin verbittert, manche Dinge haben mich schwer enttäuscht, mich verändert. Aber ich muss nicht so tun, als wäre ich nicht verbittert.
Wenn man von dem Album einen Song auswählen müsste …
Ich mag »Tower of Song«, das ist meine Geschichte. Und der letzte Satz ist wirklich sehr egozentrisch: »You’ll be hearing from me baby, long after I’m gone.« [»Du wirst von mir noch hören, Baby, lang nachdem ich gestorben bin.«] Aber manchmal glaubt man selbst an solche Dinge.
In diesem Song machen Sie sich über Ihre »goldene Stimme« lustig. Wann haben Sie eigentlich gemerkt, dass Sie eine besondere Begabung haben?
Ich habe eine Begabung, aber die besteht eben darin, ohne goldene Stimme auszukommen. Ich weiß genau, dass ich meist falsch singe; aber trotzdem als Sänger weiterzumachen, das macht mir große Freude.
Aus dem Französischen von Thomas Bodmer
Im Gespräch mit Christian Fevret, 1991
Was ist die Erklärung dafür, dass Sie an manchen Songs jahrelang arbeiten?
Wahrscheinlich, dass etwas nicht klappt! Wenn ich schreibe, herrscht in meinem Kopf ein Riesendurcheinander, strampelt sich mein Geist am Grund eines tiefen Brunnens ab und sucht nach etwas, das dem Song erlaubt zu existieren. Das scheint schwierig zu sein. Dabei sind die meisten gelungenen Dinge einfach. Ich habe aber nie eine einfache Methode gefunden, um etwas zu tun. Ich bin immer am Suchen. Dass es lange dauert, bedeutet nicht, dass die Sache weniger dringend wäre, sie drängt, und zwar jede Minute. Und deshalb ist diese Situation unerträglich.
Ist der Grund vielleicht ein Drang zur Perfektion?
Der Begriff Perfektion ist viel zu hoch, zu luxuriös für mich. Es geht da um etwas viel Elementareres, es geht ums Überleben. Um mein Überleben und um das meines Werks. Wie soll ich das hinkriegen? Wie finde ich einen gangbaren Weg, auf dem die Songs entstehen können?
Hat sich der Entstehungsprozess verändert, verglichen mit demjenigen der ersten Alben?
Auch das allererste Album [Songs of Leonard Cohen, 1967] war ein Unding. Mehrere Versuche schlugen fehl. Ich hatte mich dermaßen weit von meinen Songs entfernt, dass ich in New York eine Hypnotiseurin besuchte. Es war zum Verzweifeln, völlig verrückt … Ich sagte ihr, ich wolle mich daran erinnern, worum es in diesen Songs geht: »Können Sie mich in eine tiefe Trance versetzen und mir befehlen, mich zu erinnern?« Sie hat es versucht, aber ich habe nur lachen müssen und bin dann gegangen.
Als Sie in den fünfziger und sechziger Jahren an Ihren Gedichten und Romanen gearbeitet haben, ging es da schneller?
Manchmal ging es sehr schnell, aber meinen ersten Roman The Favourite Game [1963] habe ich vier- oder fünfmal umgeschrieben. Als ich jung war, ergaben sich manche Gedichte sehr schnell, aber ich glaube, schon damals habe ich einen Großteil des Materials umgeschrieben, korrigiert, überdacht. Es ist mir egal, wenn es lange dauert und unangenehm ist, solange etwas Gutes dabei herauskommt. Ist ein Song fertig, dann fühle ich mich wohl. Ich beklage mich also nicht. Betrachte ich Songs wie »Hallelujah« oder »Dance Me to the End of Love« [beide Various Positions, 1984], dann weiß ich, was ich reingesteckt habe, dann habe ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben, und das macht mir Freude. Ich weiß dann, dass ich die richtige Form gefunden habe.
Ist es für Sie beim Schreiben von Anfang an ums Überleben gegangen?
Es ist wie bei jeder echten Arbeit: Zuerst kommen die Flitterwochen, danach wird eine Ehe daraus. Die ersten Liebesgedichte wie »With Annie gone / Whose eyes to compare / With the morning sun? / Not that I did compare / But I do compare / Now that she’s gone« [»Nun, da Annie weg ist / Wessen Augen ließen sich mit der Morgensonne vergleichen? / Ich tat es nicht / Doch tu ich’s jetzt / Da sie fort ist«] sind wohl ziemlich spontan entstanden. Betrachte ich in meinem ersten Buch diese Gedichte, die ich mit fünfzehn Jahren geschrieben habe, dann finde ich sie gut. Ich weiß nicht, warum ich einen anderen Weg eingeschlagen habe. Ich wäre ja so viel lieber einer dieser Sänger, die in wenigen Minuten einen Song raushauen können.
Sie stammen aus einer jüdischen Familie, die tiefgläubig ist und Traditionen hochhält. Haben Sie nicht einen völlig konträren Lebensstil?
Bevor meine Werke Anerkennung fanden, war meine Verwandtschaft etwas entsetzt darüber, dass ich Schriftsteller werden wollte. Doch mein Vater starb, als ich jung war, es gab also niemanden, der mir etwas hätte verbieten können. Es wurde allerlei Druck ausgeübt, um mich von der Schriftstellerei abzubringen, aber den habe ich ignoriert. Und meine Mutter hat wiederholt gesagt: »Folge deinem Instinkt.« Man tendierte also durchaus dazu, anzuerkennen, dass es ein Innenleben gibt.
Hatten Sie ein idealisiertes Bild von Ihren Vorfahren, Ihren Eltern?
Mir war klar, was meine Familie zu repräsentieren glaubte. Der Name »Cohen« geht auf das Hebräische »Kohen« zurück, und das bedeutet »Priester«. Ich hatte den Eindruck, dass die Mitglieder meiner Familie das ernst nahmen, dass sie glaubten, das Priestertum geerbt zu haben, einer Priesterkaste anzugehören. Sie waren sich ihrer Bestimmung und ihrer Verantwortung der Gemeinde gegenüber bewusst. Sie gründeten Synagogen, Krankenhäuser, Zeitungen. Ich hatte das Gefühl, auch mir ist meine Bestimmung auf der Welt vererbt worden. Ich nehme an, ohne diese etwas unsinnige Vorstellung von der eigenen Bedeutung hätte ich wohl nie einen Song wie »First We Take Manhattan« [I’m Your Man, 1988] geschrieben. Ich nehme an, das hat mit dieser Herkunft zu tun, dieser übersteigerten Selbsteinschätzung. Allerdings könnte die Ironie des Songs ein Hinweis darauf sein, dass ich das Krankhafte einer solchen Einstellung überwunden habe.
Ging mit diesem Gefühl der Bestimmung die Vorstellung einher, eine privilegierte Beziehung zu Gott zu haben?
Jenseits der Gebete war nie von Gott die Rede. Sehr ernst genommen wurden dagegen Familie, Treue, Ansehen, Loyalität gegenüber der Vergangenheit. Aber das war ja nichts Mystisches.
Wie kam Ihre Familie ursprünglich nach Kanada?
Das war ungefähr 1860. Die Familie meines Vaters stammte aus einer Region in Polen, die heute zu Litauen gehört. Meine Mutter kam in den zwanziger Jahren aus Litauen. Da war sie achtzehn oder neunzehn. Ihre Vorgeschichten waren also sehr verschieden, aber sie gehörten zur selben Gruppierung innerhalb des Judentums. Meine Mutter heiratete meinen Vater 1927. Von Litauen sprach sie nie. In ihrem Milieu legte man großen Wert darauf, Kanadier zu sein, und die Vergangenheit wurde deshalb zum Verschwinden gebracht. Nostalgie war verpönt. Meine Mutter sprach zwar mit einem leichten Akzent, aber ich hatte nie das Gefühl, dass sie darunter litt, dass ihr etwas abhandengekommen war, dass sie etwas aufgegeben hatte.
Welche Bilder sind Ihnen geblieben?
Erstaunlicherweise denke ich nie an meine Familie. Meine Mutter ist in meinem Herzen sehr präsent, besonders seit sie gestorben ist. Ich weiß sehr zu schätzen, dass ich durch meine Familie einer bestimmten Kultur und Denkweise ausgesetzt war, aber immer auf eine gemäßigte Weise. Es gab nichts von dem Fanatismus, den ich bei vielen vergleichbaren Familien bemerke. Ich habe nicht das Gefühl, dass es bedrückend war, das ich irgendetwas verpasst hätte. Es gab durchaus frische Luft. Ich mochte meine Verwandten. Sie waren redlich, ehrlich, freundlich, mir gefiel, wie sie ihre Geschäfte tätigten und ihr Leben führten. Ich rede aber nicht von Persönlichem, ihrer Beziehung zu ihren Frauen und ihren Kindern – die war genauso katastrophal wie in anderen Familien. Doch es waren ehrliche Leute. Sie erwiesen ihrer Welt alle Ehre.
Hat Ihre Mutter nie darüber gesprochen, warum sie nach Kanada ausgewandert ist, über Antisemitismus?
Selten. Natürlich hatte es Pogrome gegeben. Aber diese Geschichten habe ich nie als bedrohlich empfunden. Ich glaube, das Innenleben meiner Mutter war intensiver als ihr Leben als Zeitgenossin. Meine Eltern lebten gewissermaßen zurückgezogen von der Welt. Natürlich war das, was sie erlebt hatten, nicht spurlos an ihnen vorübergegangen, dass sie auswandern und den Ozean überqueren und allerlei Prüfungen überstehen mussten; danach kamen dann die Privilegien, der Komfort … Aber ich glaube wirklich, dass das Leben, das sie führten, nicht so sehr von der Zeitgeschichte geprägt, sondern ausgesprochen persönlich war.
Sehnten sie sich nach ihrer alten Heimat?
Das habe ich nie so empfunden. Sie waren sehr patriotisch: Mein Vater und sein Bruder kämpften im Ersten Weltkrieg, sie waren Offiziere, gehörten zur kanadischen Legion. Sie waren der Königin und dem British Empire treu, gleichzeitig aber auch sehr stolz auf ihre jüdische Tradition, und sie setzten sich für jüdische Institutionen in Kanada ein.
War Ihnen klar, wie komfortabel Sie lebten, waren Sie sich des Geldes und des Ansehens Ihrer Familie bewusst?
Wir gehörten nicht zu jenen bedeutenden Familien, die alles ihrem Reichtum verdanken. So viel Geld war da gar nicht, es gab keine äußeren Anzeichen von Reichtum. Ums Geschäft haben sie sich nie groß gekümmert. Sie empfanden sich vielmehr als Verkörperung dieses priesterlichen Geistes, nahmen eine gewisse aristokratische Haltung innerhalb dieser winzigen Gemeinde in Anspruch. Heute würde man sie wohl zum bürgerlichen Mittelstand zählen.
Haben Sie Geschwister?
Eine fünf Jahre ältere Schwester.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Vater?