SUSAN HILL wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und ihre Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic-Roman Die Frau in Schwarz (im Kampa Verlag in Vorbereitung) läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Für ihre Romane, Erzählungen und Jugendbücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Somerset Maugham Award, und zum Commander of the British Empire ernannt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, in dem in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren.
Bei Gatsby im Kampa Verlag sind bereits die hochgelobten Romane Stummes Echo und Wie tief ist das Wasser sowie die Geistergeschichte Die kleine Hand erschienen, außerdem im Kampa-Programm der Serrailer-Krimi Phantomschmerzen. Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Stephen Mallatratt zum Gedenken in Liebe und Dankbarkeit
Die Geschichte wurde mir von meinem alten Tutor Theo Parmitter erzählt, während wir an einem bitterkalten Januarabend in seinen College-Räumen am Kamin saßen. In jenen Tagen gab es noch echte Kaminfeuer, die Kohlen vom Diener in großen Messingschütten heraufgetragen. Ich war aus London gekommen, um meinen alten Freund zu besuchen, der inzwischen weit in den Achtzigern war, gesund und munter und nach wie vor von scharfem Verstand, jedoch durch eine starke Arthritis in seiner Bewegungsfähigkeit so eingeschränkt, dass er seine Räume nur unter Schwierigkeiten verlassen konnte. Das College sorgte gut für ihn. Er gehörte zu einem aussterbenden Menschenschlag – der alte Cambridge-Junggeselle, dem das College die Familie ersetzte. Seit über fünfzig Jahren lebte er in dieser angenehmen Wohnung und würde hier auch zufrieden sterben. Mittlerweile hatten es sich eine Reihe von uns – seine ehemaligen Studenten aus zurückliegenden Generationen – zur Angewohnheit gemacht, ihn von Zeit zu Zeit zu besuchen, um ihm Neuigkeiten und ein wenig frischen Wind aus der Welt da draußen zu bringen. Denn er liebte diese Welt. Er begab sich nur noch selten hinaus, doch er liebte den Klatsch, hörte gerne, wer welche Stellung bekommen hatte, wer erfolgreich war, wer für dieses oder jenes hohe Amt auf der Vorschlagsliste stand und wer in welche Skandale verwickelt war.
Ich hatte mein Bestes getan, ihn während des Nachmittags und beim Abendessen zu unterhalten, das uns in seinen Räumen serviert wurde. Ich wollte über Nacht bleiben, mich mit ein oder zwei anderen Leuten treffen und einen kurzen Spaziergang durch mein altes Revier machen, bevor ich am nächsten Tag nach London zurückkehrte.
Aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich nur aus Mitgefühl einen alten Mann besuchte, der mir seinerseits wenig zu bieten hatte. Im Gegenteil, Theo war eine enorme Bereicherung, geistreich, scharfsinnig und treffsicher, ein wahrer Quell an Geschichten, die nicht nur die weitschweifigen Reminiszenzen eines alten Mannes waren. Er war ein wunderbarer Gesprächspartner – alle, selbst die jüngsten Fellows, hatten stets darum gewetteifert, beim Dinner in der Halle neben ihm zu sitzen.
Es war die letzte Ferienwoche, und im College herrschte Stille. Wir hatten gut gespeist, eine gute Flasche Bordeaux getrunken und streckten uns jetzt bequem in unseren Sesseln an einem gemütlichen Feuer aus. Doch der Winterwind, der wie immer direkt von den Fens kam, heulte um das Gebäude, und gelegentlich prasselten Hagelschauer gegen die Scheiben.
Unsere Unterhaltung war während der letzten Stunde allmählich zum Erliegen gekommen. Ich hatte von all meinen Neuigkeiten berichtet, wir hatten die Welt wieder ins Lot gebracht, und nun, vor dem lodernden Feuer, war das Gespräch ein wenig abgeflacht. Es war sehr behaglich, hier im Lichtschein der beiden Lampen zu sitzen, und ein paar Augenblicke lang meinte ich, Theo sei eingenickt.
Doch dann sagte er: »Wärst du eventuell bereit, dir eine merkwürdige Geschichte anzuhören?«
»Sehr gerne.«
»Merkwürdig und ein wenig verstörend.« Er bewegte sich auf seinem Sessel. Er klagte nie, aber ich vermutete, dass ihm die Arthritis beträchtliche Schmerzen bereitete. »Genau die richtige Geschichte für so einen Abend.«
Ich warf ihm einen Blick zu. Sein Gesicht, erhellt vom Flackern des Feuers, zeigte einen so ernsten Ausdruck – ich würde beinahe sagen, todernst –, dass es mich erschreckte. »Mach daraus, was du willst, Oliver«, sagte er leise, »aber ich versichere dir, dass die Geschichte wahr ist.« Er beugte sich vor. »Könnte ich dich darum bitten, die Whisky-Karaffe näher zu stellen, bevor ich beginne?«
Ich stand auf und ging zu dem Bord mit den Getränken, und während ich das tat, sagte Theo: »Meine Geschichte handelt von dem Bild zu deiner Linken. Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern?«
Er deutete auf ein schmales Wandstück zwischen zwei Bücherregalen, das in tiefem Schatten lag. Theo war immer als gewiefter Kunstsammler bekannt gewesen, als Besitzer einiger recht wertvoller Zeichnungen alter Meister und Aquarelle aus dem achtzehnten Jahrhundert, alle, wie er mir einst erzählt hatte, in seinen jungen Jahren für bescheidene Summen erworben. Ich kenne mich mit Malerei nicht besonders aus, und sein Geschmack entsprach nicht so ganz dem meinen. Aber ich trat zu dem Bild, auf das er deutete.
»Schalte die Lampe dort an.«
Obwohl es ein etwas dunkles Ölgemälde war, konnte ich es jetzt recht gut erkennen und betrachtete es interessiert. Es stellte eine venezianische Karnevalsszene dar. Auf einen Landungssteg neben dem Canal Grande und über den Platz dahinter schob sich eine Menschenmenge in Masken und Umhängen, unter ihnen Gaukler – Jongleure, Akrobaten und Musikanten –, die in Gondeln stiegen, andere bereits auf dem Wasser, die Boote so eng beisammen, dass die Stangen der Gondolieri aneinanderprallten. Das Bild war typisch für jene, deren Schauplätze durch Laternen und Fackeln erleuchtet werden, welche hier und dort einen unheimlichen Schimmer werfen, Gesichter und Farbtupfer der Kleidung und das silbrige Kräuseln des Wassers erhellen, während andere Teile in tiefem Schatten bleiben. Ich fand, dass es etwas Gekünsteltes hatte, aber sicherlich war es ein vollendetes Werk, zumindest für meine unerfahrenen Augen.
Ich schaltete die Lampe aus, und das Bild mit seinen leicht sinistren Nachtschwärmern zog sich wieder in seine dunkle Ecke zurück.
»Ich glaube nicht, dass ich es schon einmal bemerkt habe«, sagte ich und schenkte mir einen Whisky ein.
»Besitzt du es schon lange?«
»Länger, als ich das Recht dazu hatte.«
Theo lehnte sich in seinem tiefen Sessel so weit zurück, dass auch er nun im Schatten war. »Es wird eine Erleichterung sein, jemandem davon zu erzählen. Das habe ich noch nie getan, und es war eine Last. Vielleicht macht es dir nichts aus, mir einen Teil dieser Last abzunehmen?«
So hatte ich ihn noch nie sprechen hören, noch nie diesen todernsten Klang vernommen, aber natürlich zögerte ich nicht, ihm zu versichern, dass ich alles tun würde, was er wünschte, ohne mir jemals vorstellen zu können, was es mich kosten würde, ihm »einen Teil der Last« abzunehmen, wie er es nannte.
Meine Geschichte beginnt vor etwa siebzig Jahren, in meiner Kindheit. Ich war ein Einzelkind, und meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Ich habe keine Erinnerung an sie. Heutzutage würde sich ein Vater vielleicht bemühen, das Kind allein großzuziehen, zumindest bis er eine zweite Frau findet, aber damals waren die Zeiten ganz anders, und obwohl er mir sehr zugeneigt war, hatte er keine Ahnung, wie man einen kaum den Windeln entwachsenen Jungen versorgte, daher wurden eine Reihe von Kindermädchen und dann Gouvernanten eingestellt. Sie waren alle durchaus freundlich und gutwillig, alle tüchtig, und auch wenn ich mich nur wenig an sie erinnere, verspüre ich eine allgemeine Wärme ihnen gegenüber und der Art, wie sie mich ins Knabenalter führten. Doch meine Mutter hatte eine Schwester, verheiratet mit einem wohlhabenden Mann, der einen beträchtlichen Landbesitz in Devon hatte, daher verbrachte ich von meinem siebten Lebensjahr an viele Ferien bei ihnen, und es waren idyllische Zeiten. Mir wurde erlaubt, mich frei zu bewegen, ich genoss den Umgang mit den einheimischen Jungen – meine Tante und mein Onkel hatten keine Kinder, doch mein Onkel hatte einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe, dessen Mutter im Kindbett gestorben war – und die Gesellschaft der Pächter, der Dorfbewohner, der Pflüger und Schmiede, Pferdeknechte und Heckenschneider und Grabenbauer. Ich wuchs gesund und robust auf, weil ich so viel Zeit im Freien verbrachte. Doch wenn ich nicht im Freien war, wurde mir im Haus eine ganz andere Erziehung zuteil. Meine Tante und mein Onkel waren kultivierte Menschen, erstaunlich belesen, und besaßen eine hervorragende Bibliothek. Mir wurde erlaubt, diese Bibliothek genauso zu durchforschen, wie ich den Landsitz durchforschte, und ich folgte ihrem Beispiel und wurde ein unersättlicher Leser. Meine Tante war jedoch auch eine große Kunstkennerin. Sie liebte englische Aquarelle, fand aber auch einen breit gefächerten, wenngleich traditionellen Geschmack an alten Meistern, und obwohl sie es sich nicht leisten konnte, Bilder berühmter Künstler zu kaufen, hatte sie eine gute Sammlung unbedeutenderer Maler erworben. Ihr Mann zeigte wenig Interesse an diesem Gebiet, war aber durchaus bereit, ihre Leidenschaft zu finanzieren, und als Tante Mary bemerkte, dass ich schon früh Gefallen an gewissen Bildern im Haus fand, ergriff sie die Gelegenheit, mit jemand anderem ihren Enthusiasmus zu teilen. Sie begann, mit mir über die Bilder zu reden und mich zu ermutigen, über die Künstler zu lesen, und ich begriff sehr schnell, welche Freude sie an ihnen hatte, und entdeckte meine eigenen Favoriten unter ihnen. Besonders gefielen mir einige der großen Seestücke und auch die Aquarelle der East-Anglia-Schule, die wunderbaren Himmel und flachen Moore – ich glaube, mein Kunstgeschmack hatte eine Menge mit meinem Vergnügen an der freien Natur zu tun. Für Porträts oder Stillleben konnte ich mich nicht erwärmen – Tante Mary allerdings auch nicht, und sie besaß auch nur wenige davon. Interieurs oder Bilder von Kirchen ließen mich kalt, und ein junger Knabe versteht noch nichts von dem Reiz der menschlichen Figur. Doch sie ermutigte mich, für alles offen zu sein, nicht ihren Geschmack nachzuahmen, sondern meinen eigenen zu entwickeln und immer darauf zu warten, von dem, was ich sah, überrascht und herausgefordert wie auch entzückt zu werden.
Meine nachfolgende Liebe zur Malerei verdanke ich ausschließlich Tante Mary und diesen glücklichen, prägenden Jahren. Als sie starb, gerade als ich nach Cambridge kam, hinterließ sie mir viele der Bilder, die du jetzt hier hängen siehst, und auch andere, von denen ich einige verkauft habe, um neue zu erwerben – wie sie es sich sicherlich von mir gewünscht hätte. Sie war eine unsentimentale Frau, und sie hätte gewollt, dass ich meine Sammlung lebendig halte, um den Erwerb neuer Gemälde zu genießen, wenn ich der alten überdrüssig geworden war.
Kurz gesagt, an die zwanzig Jahre oder länger wurde ich zu einem recht erfolgreichen Kunsthändler, ging regelmäßig zu Auktionen, und während ich meinen Spaß dabei hatte, häufte ich im Laufe der Zeit mehr Vermögen an, als es mir mit meinem akademischen Gehalt je möglich gewesen wäre. Zwischen meinen Ausflügen in die Welt der Kunst stieg ich natürlich langsam auf der akademischen Leiter nach oben, etablierte mich hier im College und veröffentlichte die Bücher, die du kennst. Mir fehlten die regelmäßigen Besuche in Devon, nachdem meine Tante und mein Onkel gestorben waren, und ich konnte meine Verbindung zu einem ländlichen Leben nur durch regelmäßige Wanderferien aufrechterhalten.
Ich habe dir in groben Zügen meine Vorgeschichte skizziert, und du weißt jetzt ein bisschen mehr von meiner Liebe zu Bildern. Aber was dann eines Tages geschah, würdest du nie erraten, und vielleicht wirst du die Geschichte nicht glauben. Ich kann nur wiederholen, was ich dir am Anfang versichert habe. Sie ist wahr.
Es war ein herrlicher Tag zu Beginn der Osterferien, und ich war für zwei Wochen nach London gefahren, um im Leseraum des Britischen Museums zu arbeiten und ein wenig Kunsthandel zu betreiben. An diesem gewissen Tag gab es eine Auktion mit einer Besichtigung am Morgen. Aus dem Katalog hatte ich mir zwei Zeichnungen alter Meister und ein Gemälde ausgesucht, an denen ich besonders interessiert war. Ich nahm an, dass das Gemälde für einen höheren Preis weggehen würde, als ich ihn mir leisten konnte, aber ich machte mir Hoffnungen auf die Zeichnungen, und ich fühlte mich beschwingt, als ich im Frühlingssonnenschein von Bloomsbury hinunter nach St. James ging. Die Magnolien blühten, genau wie die Kirschen, und vor dem weißen Stuck der Reihenhäuser aus dem achtzehnten Jahrhundert wirkten sie so fröhlich, dass einem das Herz aufging. Nicht dass mein Herz je traurig gewesen wäre. Ich war fröhlich und optimistisch, als ich jünger war – in der Tat war ich mit einer sonnigen und ausgeglichenen Natur gesegnet –, und ich genoss meinen Spaziergang und freute mich auf die Besichtigung und die nachfolgende Auktion. Keine Wolke war am Himmel, weder real noch metaphorisch.
Das Gemälde erwies sich dann als nicht so gut, wie es beschrieben worden war, und ich wollte nicht darauf bieten, war jedoch erpicht darauf, wenigstens eine der Zeichnungen zu kaufen; außerdem sah ich zwei Aquarelle, die sich gut für den Weiterverkauf eigneten, und ich hielt es für unwahrscheinlich, dass sie einen hohen Preis erzielen würden, da sie nicht zu der Art von Bildern gehörten, für die viele Händler zu dieser speziellen Auktion kommen würden. Ich vermerkte sie im Katalog und sah mich weiter um.
Dann fiel mir, etwas versteckt neben zwei recht überwältigenden religiösen Tafelbildern, das venezianische Ölgemälde der Karnevalsszene ins Auge. Es war in schlechtem Zustand, musste dringend gereinigt werden, und der Rahmen war an mehreren Stellen abgestoßen. Es war auch nicht die Art von Bild, die mir im Allgemeinen gefiel. Doch es hatte eine seltsame, fast halluzinatorische Ausstrahlung, und ich merkte, dass ich lange davor stehen blieb und mehrfach zurückkam. Das Bild schien mich in sich hineinzuziehen, sodass ich mir wie ein Teil der nächtlichen Szene vorkam, erleuchtet von Fackeln und Laternen, einer aus der Menge der maskierten Nachtschwärmer oder der Gruppe, die eine Gondel bestieg und über den mondbeschienenen Kanal unter eine der uralten Brücken glitt. Ich stand lange davor, spähte in alle Ecken und Winkel der Palazzi mit den hier und da geöffneten Fensterläden vor dunklen Räumen, gelegentlich von einem Kerzenleuchter oder einer Lampe erhellt, in deren Widerschein sich da und dort eine schattenhafte Figur erkennen ließ. Unter den Gesichtern der Nachtschwärmer ließen sich viele klassische Venezianer ausmachen, mit vorspringender Nase, dieselben Gesichter, die als Magier und Engel, Heilige und Päpste auf den großartigen Gemälden venezianischer Kirchen zu sehen sind. Andere gehörten jedoch erkennbar anderen Nationalitäten an, und dazwischen gab es den einen oder anderen Äthiopier und Araber. Ich verinnerlichte das Gemälde auf eine Weise, wie ich es seit langer Zeit nicht getan hatte.
Die Versteigerung sollte um zwei beginnen, und ich trat hinaus in die Frühlingssonne, um noch etwas zu mir zu nehmen, bevor ich in den Auktionsraum zurückkehrte, doch als ich an dem schummrigen Tresen in einem ruhigen Pub saß, durch dessen Fenster gelegentlich die Sonne hereinschien, war ich immer noch von der venezianischen Szenerie erfüllt. Ich wusste natürlich, dass ich das Gemälde kaufen musste. Ich konnte meinen Lunch kaum genießen und wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, dass mich etwas daran hindern könnte, rechtzeitig zum Bieten in den Raum zurückzukehren, daher war ich als Erster dort. Doch aus irgendeinem Grund wollte ich hinten stehen bleiben, entfernt vom Podium, und ich hielt mich nahe bei der Tür auf, als sich der Raum zu füllen begann. Es gab einige wichtige Bilder im Angebot, und ich erblickte mehrere bekannte Kunsthändler, die im Auftrag wohlhabender Kunden dort sein würden. Keiner kannte mich.