Foto: Maria Vogel/Die Hoffotografen
Alexander Oetker, geboren 1982, war langjähriger Frankreichkorrespondent für RTL und n-tv und ist profunder Kenner von Politik und Gesellschaft der Grande Nation. Die ersten drei Bände um Luc Verlain, Retour, Château Mort und Winteraustern, standen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien bei Hoffmann und Campe Alexander Oetkers Romandebüt Und dann noch die Liebe (2020). Alexander Oetker lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Berlin.
Mehr zu Alexander Oetker und seinen Büchern: www.alexanderoetker.de
Fast hätte er sie bekommen. »Nächstes Mal vielleicht«, schienen ihre schwarzen Augen zu sagen, dann breitete die Möwe ihre Schwingen aus, hob ab und flog über den ersten Wellenberg. Er juchzte und sah ihr dabei zu, wie sie über dem Ozean immer höher stieg. Wie schön das war. Alle Schmerzen waren vergessen. Er liebte es. Vorhin hatte er gerufen: »Au ja, Maman. Einen Tag länger Wochenende!«
Maman hatte entschieden, dass es gut wäre, wenn er heute nicht die École Maternelle von Saint-Laurent-Médoc besuchen würde. Er war ein bisschen krank gewesen in der Nacht, ein Kratzen im Hals, erhöhte Temperatur. Er hatte geweint, sie hatte ihn in den Schlaf gestreichelt. Am Morgen ging es ihm eigentlich besser, aber er hatte sie dennoch mit bettelnden Augen angesehen, sie hatte gelächelt – sie lächelte ihn immer so schön an – und gesagt: »Gut, heute bleibst du zu Hause.«
»Fahren wir an den Strand?«, hatte er gerufen, nachdem er sein Müsli gegessen hatte.
Maman hatte überlegt und schließlich genickt. »Ja, das ist eine gute Idee. Ich muss morgen wieder arbeiten, dann fahren wir heute einfach an den Strand, durchatmen ist sicher gut gegen deine Erkältung.« Er hatte gejubelt. Maman arbeitete im Supermarkt an der Ortsausfahrt, sie hatte nicht viel Zeit für ihn. Aber heute würden sie einen ganzen Tag zusammen verbringen.
Er war nicht gerne krank. Es war doof, wenn sein Hals wehtat und er so fröstelte. Doch der Zusammenhang zwischen ein paar Wehwehchen und mehr Zeit mit seiner Maman gefiel ihm.
Er drehte sich nach ihr um. Sie saß weiter hinten vor der gewaltigen Düne aus Sand und las in einer bunten Zeitschrift. Ab und zu sah sie auf und winkte ihm zu, ein Strahlen im Gesicht. Sie war hier viel weniger ernst als zu Hause. Er winkte zurück.
Er war der Möwe ein ganzes Stück hinterhergerannt, und dann hatte er sich an die Wasserkante gesetzt. Nun buddelte er mit seinen Händen im kalten, nassen Sand und baute eine Matschburg, die sich sehen lassen konnte, mit Türmchen und Zinnen, sogar einen Tunnel baute er, doch der stürzte durch das heranspringende Wasser immer wieder ein. Jetzt noch Muscheln für die Verzierung, dachte er und stand auf, um nach ein paar schönen Exemplaren zu suchen. Weiß oder bernsteinfarben, so mussten sie sein. Er ging ein Stück nach Süden, auf der Suche nach den perfekten Muscheln.
Alle paar Meter fand er Venusmuscheln, Meermandeln und Herzmuscheln, daneben kleine Schnecken, und jede, die er besonders schön fand, steckte er in seine Hosentasche. Auf einmal stutzte er. Was lag denn dort vorne, zwischen Meer und Sand? Immer wieder wurde es von den Wellen überspült, etwas Schwarzes, Eckiges. Er ging vorsichtig näher, sah sich um, niemand war zu sehen, Maman saß weit entfernt. Neugierig beugte er sich darüber, ein schwarzes Paket, das dick mit Folie umwickelt und trotzdem an einer Ecke leicht aufgerissen war. Es stand eine Schrift darauf, die er nicht lesen konnte. Er ging erst in die zweite Klasse. Die Worte kamen ihm nicht bekannt vor.
Er griff vorsichtig danach und zog es auf den Strand. Aus der aufgerissenen Ecke rieselte etwas. Weiß, körnig, wie Puderzucker. Er erinnerte sich daran, wie lecker die Weihnachtsplätzchen gewesen waren, die er dick mit Puderzucker bestreuen durfte. Maman hatte das Sieb festgehalten, und er hatte geschüttet.
Er leckte den Finger an, streckte ihn aus und berührte den weißen Staub. Ein bisschen blieb an seinem Zeigefinger hängen. Er betrachtete den Staub, dann drehte er sich noch mal nach Maman um, die zu ihm hinsah und ihm wieder winkte. Er fühlte sich ertappt. Schnell steckte er den Finger in den Mund. Sie sollte nicht schimpfen, weil er etwas Süßes aß.
Doch das weiße Pulver schmeckte nicht süß. Angewidert verzog er das Gesicht. Es schmeckte nach fast nichts. Leicht bitter, irgendwie chemisch. Er schluckte es schnell runter. Dann stand er auf und ging zu Maman. Er würde ihr von dem Päckchen erzählen.
Von Schritt zu Schritt wurde ihm komischer. Er spürte, wie sein kleines Herz immer doller schlug, wie es in seiner Brust zu rasen begann. Ihm wurde ganz heiß, er wollte die Jacke ausziehen, bekam aber den Reißverschluss nicht auf, weil seine Hand zitterte. Er wollte losrennen, doch seine Beine gehorchten nicht.
»Maman«, rief er, aber seine Stimme gehorchte auch nicht mehr richtig, sie war kratzig und gleichzeitig ganz hoch. Maman war aufgestanden, offenbar spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Er wollte nur noch in ihre Arme, wollte, dass sie einfach alles wegstreichelte.
Kurz bevor er sie erreicht hatte, sie hatte die Arme schon ausgebreitet, wurde ihm auf einmal so heiß und schwindlig und irgendwie übel, dass er nicht mehr weiterkonnte. Er setzte sich in den Sand, und dann spürte er nur noch, wie er wegsank, er konnte sich einfach nicht mehr halten. Alles war dunkel.
»Wohin wollen wir denn heute essen gehen?«, fragte Luc in die Runde. Er war zu früh aufgestanden, weil er noch seinen Vater in der Klinik besucht hatte, bevor er ins Büro gefahren war. Deshalb hatte er schon großen Hunger. Anouk und Hugo sahen sich an, als überlegten sie. Etxeberria aber war der Erste, der antwortete: »Na, wie wäre es denn mit dem kleinen baskischen Bistro unten in der Altstadt? Chez Max?« Alle mussten grinsen, weil der Baske dieses Restaurant immer vorschlug – natürlich hielt er die traditionelle Küche dieser wohl patriotischsten aller französischen (und spanischen) Regionen für die beste –, und manchmal ließen sie sich auch von ihm überreden. Luc musste zugeben, dass es bei Chez Max wirklich hervorragend schmeckte, das Risotto mit Ossau-Iraty-Käse war ein Gedicht, genau wie das Steak mit grüner Paprika.
Anouk und Hugo nickten im Einklang. »Abgemacht. Wann wollen wir los? In einer halben Stunde?« Der Fußweg vom Commissariat würde sicher zwanzig Minuten dauern.
»Machen wir so.« Luc lächelte Anouk an. Gerne hätte er das Déjeuner nur mit ihr verbracht. Doch sie gingen während der Arbeit nicht zu zweit in die Pause, das hatten sie gemeinsam entschieden, um die Atmosphäre im Team nicht zu belasten. Natürlich wussten alle im Büro, dass sie ein Paar waren, genauso wie sie von Anouks Schwangerschaft wussten. Sie hatte es ihnen sagen müssen, damit sie Rücksicht auf sie nahmen. Sie würde ohnehin nur noch zwei Wochen Bürodienst machen dürfen, dann hätte sie bis nach der Entbindung Zwangspause.
Die letzten Wochen waren außergewöhnlich ruhig gewesen. Nach dem Fall der beiden toten Austernzüchter im Bassin von Arcachon und der aufsehenerregenden Festnahme, die die Region eine Weile nicht hatte zur Ruhe kommen lassen – zu schrecklich war die ganze Geschichte –, war nicht mehr viel los gewesen in der nördlichen Aquitaine. Sie hatten dem Dezernat für Raub geholfen bei einer Reihe von Banküberfällen, aber die Täter hatten sich in den Osten Frankreichs abgesetzt und wurden nun dort gesucht.
Deshalb hatte die Abteilung Zeit für ausgedehnte Mittagspausen. Und deshalb blickten alle auf, als in diesem Moment das Telefon auf Hugos Schreibtisch klingelte und er sofort abnahm.
»Brigade criminelle in Bordeaux, Brigadier Pannetier?«
Sein Gesicht, auf dem bis eben der fröhliche Ausdruck lag, der ihm so eigen war – besonders, wenn die Mittagspause bevorstand –, wurde ernst, außergewöhnlich ernst. Er, der hartgesottene Polizist, der früher bei der Festnahmeeinheit CRS gearbeitet hatte, wurde sogar etwas blass um die Nase. Luc spannte sich hinter seinem Schreibtisch an, dann stand er auf und ging um den Tisch herum. Er verspürte eine große Unruhe.
»Ich geb’s weiter. Wir kommen sofort.«
»Was ist?«, rief Anouk, noch bevor Hugo wieder aufgelegt hatte. Sein Blick sprach Bände.
»Ein Junge hat am Strand von Hourtin eine unbekannte Substanz zu sich genommen. Er ist umgekippt. Er schwebt in Lebensgefahr. Die Ambulanz ist auf dem Weg.«
»Wie alt?«, fragte Luc leise.
»Fünf Jahre.«
Das »Oh Gott« kam aus allen Mündern gleichzeitig.
»Du lässt den Strand sperren. Und wir: nichts wie hin«, sagte Luc, und Hugo und Etxeberria folgten ihm, Anouk blieb im Büro, um den Einsatz von hier aus zu befehligen und für Verstärkung zu sorgen. Sie warteten nicht auf den Fahrstuhl, sondern rannten die Treppe hinab, Luc nahm jeweils drei Stufen auf einmal.
»Mein Wagen steht vor dem Commissariat im Parkverbot, los, wir nehmen den, dann müssen wir nicht erst in die Tiefgarage.«
Luc sprang hinters Steuer des alten grünen Jaguar XJ6, ließ sofort den Motor an und brauste los, noch bevor Hugo im Fond die Tür schließen konnte. Der Baske klappte die Sichtblende mit der Aufschrift Police herunter und setzte die blaue Rundumleuchte aufs Dach.
Mit Tempo 90 raste er durch die Stadt, dann setzte er sich auf der Rocade, der Stadtautobahn rund um Bordeaux, auf die linke Spur und beschleunigte auf 150. Luc hatte das Radio ausgeschaltet. Nur über Funk kamen ab und zu Meldungen. Sie schwiegen und sahen alle angespannt nach vorne. Ein Kind. Das änderte für Polizisten alles.
Normalerweise brauchte man bis Hourtin eine Stunde, im Sommer auch gerne mal zwei, weil die Straße in die Strandorte einspurig war, sodass sich der Verkehr an den Wochenenden bis in die Innenstadt von Bordeaux staute. Doch bei dem hohen Tempo, mit dem Luc durch die endlosen Seekiefernwälder nördlich von Lacanau flog, brauchten sie nur etwas über eine halbe Stunde, bis der Commissaire an der Schranke vorbeifuhr, die den Zugang zum kleinen Zentrum des Surferstädtchens sperrte – die Police municipale aber hatte den Sicherheitskräften den Schlagbaum schon geöffnet. Er raste vorbei an den alten und bunt gestrichenen Holzhütten, die noch versperrt waren, aus denen heraus aber in der Hochsaison Eis, Waffeln und Crêpes verkauft wurden – und an den vielen Restaurants, die Austern, frischen Fisch und Steaks feilboten. Genau hinter der Düne hielt er an, sie sprangen hinaus und nahmen den Weg über den Sand, der mit hellen Holzbohlen ausgelegt war. Den roten Helikopter sahen sie sofort. Er stand auf dem Sand zwischen Düne und Meer. Sie rannten darauf zu. Ein Arzt und ein Sanitäter hoben gerade die Trage an und hievten sie in das Innere des Hubschraubers. Luc konnte die Decke sehen und den kleinen Körper darauf, der Sanitäter hielt einen Tropf in der Hand. Ein zweiter Sanitäter stützte die Mutter, die in seinem Arm lag, führte sie zu der kleinen Treppe, die in den Helikopter führte und half ihr hinein. Luc erreichte sie, kurz bevor sie die Türen schließen konnten.
»Polizei von Bordeaux, Luc Verlain. Wie geht es ihm?«
Der junge Arzt sah nur kurz auf, er arbeitete an dem Jungen. »Es ist sehr ernst. Wir müssen los.« Dann schloss der zweite Sanitäter die Tür. Luc, Hugo und der Baske zogen sich eilig zurück, hockten sich auf den Boden und senkten den Kopf, denn die Rotorblätter des Hubschraubers begannen sich zu drehen und verwandelten den Strand in eine Sturmwüste, der Sand wirbelte wild umher, und dann hob der Helikopter ab und flog eine scharfe Kurve in Richtung Landesinneres. Er würde den Jungen in die Uniklinik von Bordeaux bringen, vermutete Luc, nur dort gab es eine Kinderintensivstation.
Die drei Polizisten standen wieder auf, und Luc erblickte Lou, der auf ihn zugerannt kam. Hinter Lou flatterte Absperrband in der starken Brise, die vom Meer kam. Um was es gespannt war, konnte der Commissaire nicht erkennen.
»Luc«, rief Lou, sein alter Schulfreund, der seit Jahrzehnten der Chef der Gemeindepolizei von Lacanau war, aber in schlimmen Fällen auch die umliegenden Orte mitbetreute. »Da seid ihr ja. Es ist …«, er schluckte, »es ist so eine Scheiße. Kommt.«
Er führte sie hinunter zur Wasserkante. Auf dem Weg fragte Luc gegen den Wind: »Wie ist der Zustand des Jungen?«
»Sie wissen nicht, ob er es schafft. Sein Herz.«
»Was weißt du über ihn?«
»Er heißt Lucien Dugarry, er ist fünf und aus Saint-Laurent-Médoc. Geht dort auf die Grundschule. Seine Mutter ist alleinerziehend, Supermarktkassiererin, der Vater ist Krankenpfleger, er wird gerade informiert, er lebt in Paris.«
»Warum war Lucien nicht in der Schule?«
»Krank, sagt die Mutter. Sie hat nur noch geschluchzt. Luc, ich habe den Jungen gesehen. Er war so blass, es war, als wäre er schon …«
Luc griff Lou an den Schultern und drückte ihn. So standen sie für einen Moment, dann lösten sie sich wieder und gingen die paar Meter bis zu dem Absperrband, vor dem ein junger Polizist stand.
»Hier, davon muss er etwas probiert haben«, sagte Lou, »nur so können wir es uns erklären.«
Ein viereckiges Päckchen, in schwarze Folie gewickelt. An einer Ecke war ein kleines Loch, die Folie ganz leicht aufgerissen. Heraus rann ein weißes Pulver in einem dünnen, nicht enden wollenden Faden.
Luc erstarrte.
»Ist es …?«
»Das wollte ich von euch wissen«, sagte Lou. »Wisst ihr, ich hab nicht so viel mit Koks zu tun.«
Etxeberria nahm das Flatterband hoch und kniete sich in den Sand, die anderen sahen ihm stumm zu. Er steckte einen Finger in das weiße Pulver und betrachtete es einen langen Moment, dann roch er daran.
»Ich probier es nicht, das ist ja hier kein Krimi«, sagte er grimmig, »aber ich bin mir sicher, es ist Kokain. Und zwar verdammt reines, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Verdammt«, sagte Luc. »Der arme Junge.«
Sie alle wurden bleich angesichts der Vorstellung, dass der kleine Lucien davon probiert haben musste. Denn sie alle wussten: Je reiner der Stoff, desto stärker die Wirkung.
Der Commissaire wandte sich zu Lou um. »Gab es das schon mal? In den letzten Tagen?«
Der Leiter der Police municipale fuhr auf: »Luc, wirklich, meinst du nicht, das hätten wir dir gemeldet?«
»Sicher«, sagte Luc gedankenverloren. »Woher kommt das Zeug?«
Er betrachtete die schwarze Folie, dann glitt sein Blick übers Meer. War da noch mehr in der rauen See versteckt? Noch mehr todbringende Ware?
»Lou, wir machen eine amtliche Verfügung draus, auch wenn es etwas panisch wirken sollte – und wir dann die gesamte europäische Presse am Hals haben. Ich möchte, dass ihr die Strände von hier bis runter zum Cap-Ferret sperrt, für die gesamte nächste Woche. Ich schicke euch Verstärkung aus Bordeaux – und aus Paris, wenn das nötig sein sollte. Das hier«, er wies auf das Päckchen, »darf nicht noch einmal passieren.«
»Ich war gestern in der Klinik.« Alle im Raum sahen auf, als Commissaire général Preud’homme diese Worte sprach. Es kam nicht oft vor, dass sich der Leiter der Polizei von Bordeaux so aktiv in laufende Ermittlungen einmischte. Doch als Luc sein bleiches Gesicht sah, wusste er, warum der alte Preud’homme das getan hatte – ein mit Kokain vergiftetes Kind, das war wirklich eine Tragödie. »Lucien liegt weiterhin im Koma.« Der Name Lucien war mittlerweile durch die vielen Presseberichte zum Synonym für die marée blanche geworden, die weiße Flut, wie die Journalisten die Kokainschwemme an den Stränden genannt hatten.
Preud’homme fuhr fort: »Die Familie sitzt seit Tagen bei ihm am Bett. Auch der Vater ist aus Paris gekommen. Die Eltern scheinen sich über diese Katastrophe wiedergefunden zu haben. Aber … die Ärzte glauben nicht, dass er diese schwere Vergiftung überstehen kann.«
Luc senkte den Kopf. Seit zwei Wochen machten sie allmorgendlich diese Lagerunden zu den Drogenfunden, das hier war die erste, an der Anouk nicht mehr teilnahm. Sie war nun im Mutterschutz. Luc war froh darüber, dass sie das nicht mehr direkt mit anhören musste, auch wenn sie ihn nachher natürlich dazu befragen würde.
»Wir müssen endlich rausfinden, was hier los ist«, sagte Preud’homme fest.
In den vergangenen eineinhalb Wochen waren noch achtundfünfzig weitere Pakete angespült worden, an der gesamten Küste der Gironde, von Soulac-sur-Mer bis hinunter nach Biscarrosse. Also neunundfünfzig Pakete insgesamt, alle in schwarze Folie gewickelt, gefüllt mit ein bis zwei Kilogramm Kokain. Gott sei Dank waren die ersten drei Pakete von Polizisten an bereits gesperrten Stränden gefunden worden, Lucs Vorsichtsmaßnahme hatte gefruchtet. Nach und nach hatten die Beamten dann ausnahmslos alle Strände des Départements gesperrt. Mit Helikoptern und sogar mit Drohnen überwachte außerdem das Militär die gesamte Küste, bis hinunter nach Biarritz. Deshalb war niemandem mehr etwas passiert. Der kleine Lucien blieb das einzige Opfer.
Doch das Telefon im Hôtel de Police stand nicht still. Die Bürgermeister der Strandorte klingelten Sturm, sie wollten Erkenntnisse, und sie wollten Gewissheit, dass sie ihre Strände bald wieder öffnen könnten – die Hochsaison nahte und damit die wichtigste Einnahmequelle für die Dörfer am Ozean. Doch Luc konnte nur abwinken – noch war es undenkbar, die Sperrungen aufzuheben, denn noch immer wurden beinahe täglich neue Pakete angespült.
»Commissaire Etxeberria, hat sich das Labor schon gemeldet?«
»Ja, übers Wochenende kam der Bericht«, sagte der Baske grimmig und griff nach dem Packen Papier, der vor ihm lag. »Man hat alle Pakete untersucht, und die Kollegen in Paris sind baff. Die Reinheit des Produkts lag bei allen Proben exakt bei 83 Prozent. Das ist eine unglaubliche Qualität, Junkies würden sich danach verzehren, aber natürlich erreicht Kokain im Straßenverkauf niemals diese Reinheit. Es wird immer gestreckt, alles andere wäre viel zu teuer.«
»Und viel zu stark«, ergänzte Luc, der in seiner Zeit in Paris naturgemäß viel mit Drogenkriminalität zu tun gehabt hatte.
»Stimmt, Commissaire Verlain, das schreiben die Kollegen hier. Ungeübte Konsumenten würden den Kontakt mit derart reinem Stoff wahrscheinlich nicht überstehen. Weil die Wirkung aufs Herz viel zu stark wäre. Das, was wir an den Stränden gefunden haben, ist das Basisprodukt. Es ist die Grundlage des Straßenhandels – und unsere bisher aufgefundenen gut 100 Kilogramm könnten, von den Hintermännern gestreckt, sogar den großen Pariser Markt für einige Monate decken.«
»Und der kleine Lucien musste ausgerechnet dieses Teufelszeug finden«, sagte Hugo wütend. »Es bringt mich um den Verstand, dass wir keine Ahnung haben, woher es kommt.«
»Ursprünglich kommt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus Südamerika. Nur dort wird Stoff in dieser Qualität hergestellt. In Kolumbien, Peru oder Bolivien. Und dann geht’s mit dem Schiff über den Atlantik, in Richtung Europa – oder erst nach Afrika, um von dort dann weiterverteilt zu werden«, referierte der Baske.
»Es gibt nur eine realistische Möglichkeit«, sagte Luc, »es muss von einem solchen Schmugglerboot gefallen sein. Es gab doch diesen Sturm, Agathe oder wie er hieß, anderthalb Wochen vorher, an unserer Küste. Ihr erinnert euch, deshalb gab es in Merignac einen Stromausfall, der Flughafen war für einen ganzen Tag geschlossen. Wenn bei dem Sturm ein Container vom Boot gefallen wäre, hätte es in der Tat einige Tage gedauert, bis die Pakete angespült worden wären. Die Zeit käme hin.«
»Aber diesen Container hätten wir gefunden, der wäre angeschwemmt worden«, sagte Etxeberria.
»Dann war es eine Palette, was weiß ich«, erwiderte Luc.
»Ich bin bei Ihnen, Commissaire, das Boot ist die einzig mögliche Erklärung.«
»Wir sind dran«, sagte Hugo. »Wir überprüfen alle Schiffsbewegungen in allen südwestfranzösischen Häfen im gesamten April, aber bislang gab es da nichts Ungewöhnliches. Die Schmuggler werden ihr Boot ja nicht Cocaïne nennen, deshalb weiß die Brigade nautique auch nicht so genau, wonach sie suchen soll.«
»Ich erinnere mich an 2004«, sagte Etxeberria. »Damals gab es eine ähnliche Sache, kiloweise wurden Pakete mit Kokain angeschwemmt, damals im Baskenland. Den oder die Verursacher haben wir nie gefunden.«
»Wir müssen mit den Basken zusammenarbeiten. Das Schiff kann aus Süden gekommen sein. Das ist sogar sehr wahrscheinlich«, sagte Luc.
Etxeberrias Miene verfinsterte sich. Luc sah ihn an. »Sie müssen nicht selbst mit den alten Kollegen sprechen. Sagen Sie mir nur, wen ich kontaktieren muss, damit ich schnelle Amtshilfe bekomme.«
»Wen Sie wollen. Nur nicht Commissaire Schneider.« Der Baske wandte den Blick ab.
Etxeberria war vor wenigen Jahren als Leiter der Polizei in Bayonne abgesetzt worden, seiner Heimatstadt. Ihm wurde vorgeworfen, Gelder von Kriminellen angenommen zu haben. Ein Vorwurf, der nie bewiesen werden konnte – und dennoch war sein Ruf ruiniert, und er wurde aus der Heimat nach Bordeaux versetzt. Es war eben dieser Commissaire Schneider gewesen, der für Etxeberrias Entlassung verantwortlich war – und der dann selbst die Leitung der Polizei in Bayonne übernahm.
»Diesmal werden wir sie kriegen«, sagte Luc. »Ich werde gleich mit Météo-France in Paris sprechen.«
Preud’homme, Hugo und der Baske sahen ihn fragend an.
»Wir haben die genauen Auffindzeiten aller Pakete an den Stränden unserer Küste. Damit sollte sich doch mit dem Ebbe- und Flutkoeffizienten, den Strömungen und den Wellenbewegungen ungefähr berechnen lassen, wo ein Boot zum Zeitpunkt des Sturmes gewesen ist. Und das gleichen wir dann ab mit den gemeldeten Vorbeifahrten und Routen der Schiffe. Was anderes fällt mir zurzeit auch nicht ein.«
»Das ist ein guter Ansatzpunkt, Commissaire«, sagte Etxeberria.
»Wenn wir die Typen nur finden«, sagte Hugo.
»Wenn nur Lucien aus dem Koma erwacht«, fügte Luc mit dunkler Stimme hinzu.
Sein Leben war perfekt. In genau diesem Moment.
Sie war gerade aufgestanden und aus dem Schlafzimmer gegangen. Sie trug nur ihren Slip, schlicht, weiß. Ihre unglaublichen Beine, schlank und muskulös. Obenrum war sie nackt, ihre Schultern hatten sich bewegt bei jedem Schritt, er hatte ihren Rücken gesehen und die kleine Kuhle oben an ihrem Hals, die er so gerne küsste, wenn sie vor ihm lag. An der Tür hatte sie sich umgedreht, um ihm zuzulächeln, und er hatte ihren schon runden Bauch betrachtet, die Wölbung, die die nächsten Monate immer größer werden würde. Noch knappe vier Monate lang. Sie war nie schöner gewesen als heute Morgen.
»Espresso?«, rief sie aus der Küche. »Oder nur Wasser, und dann gehen wir gleich runter, ins Café?«
»Lass uns runtergehen«, rief er zurück.
Durch das Schlafzimmerfenster, das Anouk geöffnet hatte, zog die noch kühle Frühlingsluft in das aufgeheizte Zimmer, und trotzdem spürte Luc schon, dass der Winter nun wirklich vorbei war. Die Sonne zeigte sich hinter dem Sprossenfenster. Von draußen war das geschäftige Samstagvormittagstreiben auf der Place Canteloup zu hören.
Sie waren lange aus gewesen, hatten Freunde von Anouk getroffen, die mittlerweile auch seine Freunde geworden waren. Ein junges Paar, sie war Malerin, er Weinhändler, sie wohnten nicht weit von hier hinter der Kathedrale.
Etliche Stunden hatten sie im Blisss zusammengesessen, draußen in Mérignac, einem ganz angesagten Restaurant mit Molekularküche, die Luc immer ein wenig zuwider war. Aber gut, sie waren eingeladen worden, und es war wirklich gut gewesen. Dann, nach einem kleinen Abendspaziergang, hatten sich die beiden Freunde verabschiedet. Anouk und Luc aber waren weitergezogen, wie sie es gerne taten. Einfach wild drauflos durch die Stadt, über die dunklen Straßen mit den altertümlichen roten Laternen, über das Pflaster der kleinen Gassen und großen Plätze. Früher waren sie oft eingekehrt, hier auf ein kleines Glas Rotwein, dort auf einen Coupe de Champagne, um schließlich in ihrer Stammbar zu versacken, in der Bar à Vin, ganz in der Nähe des Quinconces. Doch jetzt liefen sie einfach durch die alte Stadt, sahen den Leuten in den Bars zu, Luc streichelte Anouks Bauch, wann immer sie stehen blieben, und sie malten sich ihr Leben zu dritt aus.
Am Ende des Spaziergangs waren sie doch noch in ihre alte Stammbar gegangen. Anouk hatte einen Tee getrunken und Luc ein kleines Glas Château Talbot und ein Eau de Vie. Dann waren sie beide in ein Taxi gesprungen, für einen Fußmarsch hatten sie keine Ruhe mehr, sie waren zu erregt, zu angestachelt, und dann hatten sie sich zu Hause noch in der Küche geliebt, atemlos, hektisch, schnell, um dann im Schlafzimmer weiterzumachen, ruhiger, sinnlicher, tiefer, um dann in einer einzigen Umarmung in einen Dämmerschlaf zu sinken.
Heute stand nichts an. Sie wollten nachher gut mittagessen und dann in den Park. Luc hatte eine Ausgabe von Le Point gekauft, und Anouk freute sich auf die Marie Claire und eine Reisezeitschrift, sie wollte den Sommerurlaub planen, bevor sie erst einmal eine Weile nicht reisen würden.
»Los, raus aus dem Bett jetzt, Schlafmütze!«, rief Anouk durch die offene Tür und riss Luc aus seinen Tagträumen. Gut so.
Unter der Dusche ließ Luc die letzten Monate Revue passieren: Nach den schrecklichen Ermittlungen im Austernmord war es vergleichsweise ruhig geworden. Im Januar hatten sie in einer Reihe von Taschendiebstählen in Arcachon ermittelt und – weil gar nichts los war – dem Drogendezernat in einem Vorort von Bordeaux geholfen.
Und zwischen Anouk und Luc? War es wunderbar verlaufen. Harmonie, gute Gespräche, toller Sex. Und es hatte sich der Alltag eingestellt. Ein wunderschöner Alltag. Die Form von Alltag, die sie beide hatte durchatmen lassen. Den anderen wirklich kennenlernen. Alltag, in dem es Luc bei anderen Frauen immer langweilig geworden war. Bei Anouk war von Langeweile keine Spur. Er war sich sicher: Das war seine Liebe. Die Frau, die er über alle Maßen begehrte und die er in seinem Leben wollte. Und nun war sie schwanger.
Und Luc? Er spürte sich. In einer Tiefe, die er so von sich noch nicht gekannt hatte. Seine Angst war verschwunden. Die Angst vor Verlust, vorm Verlassenwerden. Er hatte stärkeren Zugang zu seinen Gefühlen gefunden. Und konnte endlich zulassen, all die schönen Momente in seinem Leben zu teilen. Schließlich wurden sie dadurch noch schöner.
Als sie vor der Wohnungstür standen, beide in Wochenendklamotten – Luc trug eine Chino und ein graues Sweatshirt gegen die Kälte, Anouk ihre abgewetzte Lieblingsjeans und eine blaue kurze Jacke –, da trat sie noch mal an ihn heran, küsste ihn lang und zärtlich und sagte: »Und, Monsieur le Commissaire? Bereit für den Samstag?«
»Bereit für den Samstag und für dich.«
Jetzt küsste er sie neckender als vorhin, und dann öffnete sie die Tür.
»Was ist das?«
Luc schob sich an ihr vorbei.
»Was denn?«
Sie zeigte mit dem Finger auf das große Kuvert, das mit einem groben dunklen Paketband an die Wohnungstür geklebt worden war.
»Luc Verlain« stand darauf, in feinen Lettern, die Luc von irgendwoher zu kennen glaubte. Er nahm den gelben Umschlag und sah Anouk fragend an. Die zuckte mit den Schultern.
»Willst du ihn wirklich einfach so aufmachen? Oder wollen wir lieber das Sprengstoffkommando holen?«
Luc grinste, dabei war ihm gar nicht komisch zumute. Aber eine Briefbombe? Eher unwahrscheinlich. Woher kannte er diese Schrift? Das Kuvert trug keine Briefmarke, keinen Poststempel, nichts. Der Absender hatte es offenbar persönlich zugestellt, in der Nacht, als sie geschlafen hatten, oder jetzt am Morgen.
Luc befühlte den Umschlag. Nur Papiere. Er öffnete ihn vorsichtig.
Er entnahm dem Kuvert ein A4-Blatt mit einem offiziellen Aufdruck.
Laboratoire médical de Bayonne stand ganz oben. Merkwürdig. Was sollte das?
Und dann las Luc die Zeilen, die sein Leben verändern sollten.
»Lea Poulain, geboren am 21. September 2009 in Paris, Tochter von Aurore Poulain – ausgewiesen durch einen DNA-Test –, ist ausweislich dieses Testes und durch den Vergleich mit einer Haarprobe, übergeben am 11. Februar 2016 an unser Labor in Bayonne, mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99 Prozent die Tochter von Luc VERLAIN, geboren am 28. Oktober 1977 in Bordeaux.
gez. Weber, Maître de Laboratoire«
Luc ließ das Schreiben fallen. Dabei löste sich aus dem Kuvert ein Post-it. Luc hob es auf. Die Zeilen waren mit blauer Tinte geschrieben worden, in dieser fein ziselierten Schrift, von der Luc wieder einfiel, wo er sie nun schon zweimal gesehen hatte.
»Commissaire Luc Verlain. Ich habe das mal für Sie erledigt. Herzlichen Glückwunsch. Wir sehen uns.
Salut de San Sebastián.«
Die Schrift. Sie hatte auf der Karte gestanden, letzten Sommer, der Karte, die ihn in der Aquitaine willkommen geheißen hatte, kurz nachdem er seinen ersten Fall im Südwesten gelöst hatte. Es war dieselbe Schrift wie auf der Karte, die Anouk erhalten hatte. Die sie vor Luc warnen sollte. Und Luc fiel der Einbruch wieder ein. Der Einbruch in seiner Cabane. Letzten Herbst. Als sie Gaston, den alten Restaurantbesitzer, niedergeschlagen hatten. Dabei hatten sie seine Haarbürste gestohlen. Für die Haarprobe. Wer wollte ihn hier vorführen? Wer wusste von einer Tochter?
Er hatte eine Tochter. Lea. Die Tochter von Aurore. Natürlich erinnerte er sich an Aurore. An ihre kurze Beziehung. Viel eher war es nur eine Affäre. Wer hatte davon gewusst? Wer hatte geahnt, dass es Lucs Tochter war? Warum sollte Aurore es ihm auf diesem Wege mitteilen? Das hier, da war er ganz sicher, war nicht ihre Schrift.
Der Hausflur verschwamm vor seinen Augen, er musste sich an der Wand abstützen.
»Luc«, sagte Anouk, die seine Privatsphäre gewahrt hatte, die gar nicht auf die Idee gekommen war, das Schreiben mitzulesen, ohne dass er es wollte. »Luc? Was ist los?«
Er schaute sie an, schüttelte den Kopf, wies nach draußen.
»San Sebastián. Ich muss nach San Sebastián.«
Luc beschleunigte, als er aus dem Kreisverkehr in die Avenue Beau Rivage einbog. Die Stadt lag beinahe hinter ihm, der Ozean war hinter den hohen Mauern der baskischen Häuser zu seiner Rechten verborgen.
Der alte Jaguar gluckste, als genösse er die Fahrt unter diesem sonnigen Himmel, der Commissaire aber konnte sich an der Kulisse von Biarritz nicht erfreuen. In seinem Kopf ging alles durcheinander.
›Ruhig bleiben‹, mahnte er sich seit Stunden, ›bleib ganz ruhig.‹
Von außen musste er den Anschein eines gelassenen Mannes machen, eines Mannes, der mit sich im Reinen war: Er hatte das Fenster heruntergekurbelt, der Ellbogen lag auf dem Rahmen, der Fahrtwind kühlte die schon warme Frühsommerluft. Auf France Culture erklangen die letzten Takte von Pachelbels Kanon, doch Luc war nicht bei der Sache.
Wegen des offenen Fensters hörte er das Aufheulen des Motors hinter sich, noch bevor der Peugeot 307 mit der unverkennbaren Banderole neben ihm war, auf gleicher Höhe, zwei Männer schauten finster herüber, dann setzte sich der Wagen vor ihn, das Blaulicht und die Sirene wurden eingeschaltet und Luc im selben Moment ausgebremst.
»Was soll denn das jetzt?«, murmelte er, doch dann ging er in die Eisen, so heftig zwang ihn der Polizeiwagen zum Anhalten. Der Jaguar spurte sofort und kam auf dem Seitenstreifen hinter dem Kleinwagen zum Stehen, der sein blinkendes Licht auf dem Dach anbehielt wie eine Warnung.
Links und rechts öffneten sich die Türen, die zwei Uniformierten stiegen aus und kamen auf seinen Wagen zu, beide hielten die Hand am Holster. Luc ließ das Fenster herunterfahren.
›Lass die Hände auf dem Lenkrad liegen‹, mahnte er sich, so wie er es auf der Polizeischule gelernt hatte, ›ruhig bleiben, dann fahren sie wieder.‹
Der eine blieb vor seinem Auto stehen, immer noch die Hand an der Waffe. Der andere trat an die Scheibe heran, Luc hörte seine schweren Stiefel auf dem Splitt knirschen. Der Mann war riesig, ein Hüne, er trug eine dunkle Sonnenbrille, sodass seine Züge nur zu erahnen waren. Seine Glatze war schweißnass.
»Steigen Sie aus dem Auto aus«, sagte er im Befehlston.
»Bonjour, Brigadier«, erwiderte Luc, der den roten Streifen auf dem Schulterstück der Uniform ausgemacht hatte, »was ist denn los?«
»Steigen Sie aus dem Auto aus, Monsieur.«
Luc betrachtete den Polizisten nachdenklich, doch der verzog keine Miene. Langsam nahm Luc die Hände vom Lenkrad und hielt sie offen zu dem Beamten hin, dann betätigte er den Türgriff und öffnete die Tür. Er sah, wie der Polizist einen Blick mit seinem Kollegen wechselte. Der Mann, der vor der Motorhaube stand, nickte. Luc stieg aus und sagte an den Brigadier gewandt:
»Mein Name ist Luc Verlain, ich bin Commissaire bei der Police nationale in Bordeaux.«
Es war, als hätte der Polizist Luc gar nicht gehört.
»Drehen Sie sich um, und legen Sie die Hände auf das Autodach.«
»Ich …«
»Die Hände aufs Auto.«
Es war der Mann vorne am Wagen, der nun laut geworden war, er hatte seine Waffe gezogen und richtete sie auf Luc. Der Commissaire sah noch einmal hin, weil er es nicht glauben wollte, dann mahnte er sich wieder zur Ruhe, zuckte die Schultern, drehte sich um und legte die Hände auf das warme Dach seines Jaguars.
Was dann geschah, war merkwürdig. So merkwürdig, dass er sich später ärgerte, nicht genauer aufgepasst zu haben. Dieses Gefühl zu spüren, einmal auf der anderen Seite zu sein. Wie es war, wenn Polizistenhände einen packten, die eigenen Hände zusammennahmen, die metallene Kälte, wenn die Handschellen sich fest um die Handgelenke legten. Die anschließende Durchsuchung, grob und entwürdigend. Der Polizist zog triumphierend die Waffe aus dem Holster, das Luc unter der leichten Lederjacke trug.
»Na, was haben wir denn da?«
»Brigadier, wie ich schon sagte, ich bin …«
»Wir wissen, wer Sie sind.« Der Kollege des Hünen war um den Wagen herumgekommen und stand nun auch hinter ihm. »Wir wissen, dass Sie Luc Verlain sind, und deshalb nehmen wir Sie nun fest. Es gibt einen Haftbefehl auf Ihren Namen, Monsieur, wegen des Verdachts der schweren Körperverletzung mit Todesfolge, der Entführung und des Drogenhandels in gewerbsmäßigem Umfang.«
»Was? Was erzählen Sie denn da?«
Luc wollte herumfahren, doch die Hände des grobschlächtigen Polizisten hielten ihn fest.
»Schön ruhig, Monsieur, Sie wollen doch nicht, dass wir Zwangsmaßnahmen anwenden müssen. Sie kommen mit, der Commissaire général wird Sie verhören, er ist schon auf dem Weg.«
Er sagte kein Wort mehr, sie rissen ihn mit sich, öffneten die hintere Tür des Streifenwagens, ließen ihn einsteigen, indem sie seinen Kopf herunterdrückten, dann setzte sich der kleine Polizist neben ihn, während der Riese den Wagen startete und mit Blaulicht und Sirene anfuhr zurück in Richtung Biarritz. Luc fragte sich, wie der Commissaire général schon auf dem Weg sein konnte – sie hatten ihn doch eben erst erwischt. Verdammt, was war hier los? Wie konnten sie so schnell gewesen sein? Er war doch fast am Ziel.
Er sah den Jaguar, der am Straßenrand stand, in der Rückscheibe immer kleiner werden, bis er nach der nächsten Kurve aus seinem Blickfeld verschwand.