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Innentitel

 

Science-Fiction-Roman


Deutsche Erstausgabe

 

2020

 

© Mystic Verlag

 

Text: Sven Haupt

Umschlagskonzept: Sven Haupt

Umschlaggestaltung: Claudia Gornik

www.coverboost.de

 

Satz: Sven Haupt

Lektorat: Helga Sadowski, H.J. Hetterling

Korrektur: Christine Jurasek, Anke Tholl

 

ISBN: 978-3-947721-45-0

 

Interessierte Leser und Autoren finden weitere Informationen auf unserer Website.

 

www.mysticverlag.de

 

// ARCHIVANFRAGE 0001

// ZUGRIFF BIOEINHEIT <GEORGE>

/*

 

Wo sind die Lilien aus dem hohen Glas,

Die Deine Hand zu hüten nie vergaß –

Schon tot?

 

[Rainer Maria Rilke, 1898]

 

*/


Inhaltsverzeichnis
#include <FRUCHT>
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Danksagung

#include <FRUCHT>

 

Alles in allem, dachte der Schimpanse, ist man als Affe deutlich besser dran. Wenigstens muss ich mich nicht für alle Zeiten mit diesem Unsinn herumschlagen.

Er beobachtete die Frucht nun schon seit mehreren Monaten und sein Unbehagen hatte mit jedem Zentimeter Umfang des großen Gewächses weiter zugenommen. Der mächtige Ast, an dem sie hing, neigte sich seit einigen Tagen immer tiefer über den darunter verlaufenden Astpfad. Nun berührte er schon fast die Rinde des Weges.

Der Affe starrte eine Weile konzentriert, dann seufzte er und brach mit dem Fuß eine Banane von der Staude, welche neben ihm hing. Er schälte sie versonnen, ohne die große Frucht aus den Augen zu lassen. Das seltsame Gewächs hatte annähernd Kugelform und besaß wahlweise eine tiefrote bis dunkelviolette Färbung, je nachdem, aus welchem Winkel man es betrachtete.

Warum ausgerechnet hier?, fragte sich der Affe zum hundertsten Mal. Weiter oben gibt es viel mehr Licht.

Die Sonne konnte man auf den tieferen Ebenen nicht sehen, dafür wuchs dort das Blattwerk weniger dicht als nahe der Krone. Hier unten herrschte das ewige Zwielicht des tiefen Waldes, wo verirrte Lichtstrahlen scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig kamen. Es war den ganzen Tag über gespenstisch ruhig, und brach dann unvermittelt die Nacht herein, sank die Temperatur wie ein Stein und die Welt verwandelte sich in eine trübe Suppe verwaschener Grautöne. Selbst die Geschöpfe des Waldes mieden diese Gegend. Nur die großen Zeitrufer mit ihren kräftigen, weittragenden Stimmen verirrten sich gelegentlich auf diese Ebenen, wo sogar der Schwarm dünner wurde und die Astpfade weniger sorgfältig kontrollierte als oben.

Der Affe sah nachdenklich auf die große Frucht hinab.

Vielleicht ist das ja ein Grund.

Er befand sich auf einer der abgelegensten und einsamsten Ebenen des Waldes, auf die gerade noch genug Licht herabfiel, um das Wachstum von Früchten überhaupt zu ermöglichen. Und was für ein beeindruckendes Wachstum es in diesem Falle war. Im Gegensatz zu allen anderen Gewächsen, wie etwa den Bananen, die so weit unten deutlich kleiner ausfielen, erreichte diese Frucht eine Größe, die alles überstieg, was der Schimpanse bisher kannte. Dabei lebte er hier wahrhaftig schon lange genug, um eine ganze Menge Merkwürdiges gesehen zu haben.

Als er die Frucht das erste Mal bemerkte, war er mal wieder auf der Flucht vor dem Schwarm gewesen. Er hatte zu lange geschlafen und der Weg nach oben in die Krone kam nicht mehr in Frage. Es blieb ihm also nur noch der Weg in die Tiefe. Er eilte gerade auf allen vieren den breiten Astpfad entlang auf der Suche nach der nächsten Spirale, die ihn in die Tiefe bringen würde, als er sie über sich im Dickicht verborgen unter einem dicht belaubten Ast glänzen sah. Damals strahlte sie in einem helleren Ton und ihre Größe glich seiner geballten Faust. Sie schien aus ihrem Inneren heraus zu glühen. Wie vom Blitz getroffen war er stehen geblieben und hatte mit offenem Mund lange in die schimmernde Tiefe der kleinen Kugel gestarrt. So lange, dass ihm der Schwarm fast noch den Weg nach unten abgeschnitten hätte.

 

Diese Begegnung lag nun schon mehrere Monate zurück und seine anfängliche Neugierde entwickelte sich zu einer Obsession. Die schiere Geschwindigkeit des Wachstums der Frucht war atemberaubend. Er sah sich selbst nicht als kleinen Vertreter seiner Art und vor den im Wald lebenden Geschöpfen musste er sich nicht verstecken, aber selbst wenn er sich auf die Hinterbeine stellte und die Arme nach beiden Seiten ausstreckte, konnte er die Frucht schon seit einigen Wochen nicht mehr umfassen.

Ein Ton, der klang wie ein trauriges Hupen, riss ihn aus seinen Gedanken und er schaute auf. Neben ihm, auf einem kleinen Ast, der sanft unter dem Gewicht wippte, saß ein Flatterball aus blauem Gras. Oder eine geflügelte blaue Blume, je nachdem, welche Perspektive man bevorzugte. Der Schimpanse hielt beim Kauen inne und stöhnte. Die große Kugel war rundherum von kurzen, blauen Blättern bedeckt und klammerte sich mit krallenbewehrten Füßchen, die wie frische grüne Zweige aussahen, an den wippenden Ast. Kleine Augen in Form von rosa Blüten sprossen aus einem knubbeligen Kopf und bewegten sich unabhängig voneinander in alle Richtungen. Den Schnabel bildete ein langer, offener Blütenkelch. Mit ihm konnte das merkwürdige Wesen Früchte vom Baum pflücken, die es dann vollständig hinunterschluckte. Der trompetenförmige Schnabel eignete sich darüber hinaus bestens für das getragene, traurige Hupen, mit dem der Nachtrufer den Untergang der Sonne begrüßte. Als großer Liebhaber des Dämmerlichtes hielt er sich tagsüber mitunter auf den tieferen Ebenen auf. Dazu passte seine Vorliebe für kleine bittere Beeren, welche hier überall wuchsen. Seine vier biegsamen, hellgrünen Flügel lagen nach hinten an den Körper gefaltet und zeigten das feine durchscheinende Adergeflecht junger, grüner Blätter.

Der Blick des Schimpansen ruhte düster auf dem Geschöpf.

Es gibt, dachte er, zahllose Möglichkeiten, einen Wald unauffällig und vor allem leise zu bevölkern. Aber nein, stattdessen entwickeln sich zahllose unterschiedliche Arten fliegender Grasbüschel und allesamt sind sie besessen von Uhrzeiten und Ereignissen. Morgenrufer, Abendrufer und Nachtrufer. Außerdem noch Sonnenrufer, Mondrufer und Regenrufer. Er grunzte genervt. Wie wäre es mal mit einem Bananenrufer? Er bemühte sich beständig, seine Gefühle für all diese Wesen möglichst demokratisch unter ihnen aufzuteilen. Er hasste sie alle gleichermaßen.

Der Nachtrufer hupte eine melancholische Begrüßung in seine Richtung und legte dazu seinen großen Blütenkopf schief. Mit einem seiner Augen schien er sich selbst in den Schnabel schauen zu wollen. Wortlos starrte der Schimpanse ihn an, bog dann einen nahen Zweig weit zurück und ließ los. Der zurückschnellende Zweig traf das Wesen und warf es rückwärts. Der Grasball klammerte sich jedoch fest an den Ast, sodass der Flatterball nun kopfüber nach unten hing. Derweil kaute der Affe gelassen weiter an seiner Banane. Der Nachtrufer trötete eine resignierte Tonfolge und pumpte kurz seinen grasbedeckten Körper auf, sodass er aussah wie ein stacheliger blauer Igel. Seine vier Flügel erwachten sirrend zum Leben und trugen das Geschöpf im Zickzack fliegend durch das Blattwerk davon. Sein trauriges Hupen verklang in einiger Entfernung. Der Schimpanse schloss die Augen und schnaufte.

Zumindest weiß man immer genau, welche Tageszeit gerade ist.

Die Morgenrufer hatten ihren Dienst schon lange aufgenommen und ihre Rufe wurden langsam leiser. Vereinzelte Mittagsrufer ließen sich hören, es wurde langsam Zeit für ihn.

Der Schimpanse zitterte leicht und versuchte die morgendliche Kälte zu ignorieren, die heute nicht weichen wollte. Er mochte die tiefen Ebenen nicht. Die ersten Stunden des Tages waren hier immer unangenehm und trugen oft den Geruch von Regen mit sich. Natürlich regnete es hier nie im eigentlichen Sinne, aber auf den höchsten Ebenen hatten sich heute Nacht die Regenblüten geöffnet und mehrere Stunden lang Wasser in die Tiefe ergossen.

Noch ein Grund hoch oben zu leben. Man bleibt von Belästigungen wie fallendem Wasser verschont.

Das Konzert der Regenrufer dauerte oft die ganze Nacht und verstummte erst im frühen Morgengrauen. Wenigstens in dieser Hinsicht hatte er heute Glück gehabt. In seinem Nest in den obersten Wipfeln, ein gutes Stück über den letzten Blüten, machte ihm das Wasser nichts aus. Er hasste Regen fast noch mehr als die Mistviecher, die ihn besangen.

Sein Blick glitt über das dichte Blätterwerk und er starrte konzentriert in das Chaos aus Licht und Schatten in den unzähligen Variationen von Grün, die ihn auf allen Seiten umgaben.

Gleich muss es soweit sein.

Die Sonne blieb hinter dem dichten Blätterdach verborgen, aber wenn jemand so lange im Wald gelebt hatte wie er, dann konnte man sie spüren. Er schob sich das letzte Stück Banane in den Mund und warf die leere Schale achtlos von sich. Sie segelte am Astpfad unter ihm vorbei und verschwand im dichten Blattwerk der unteren Ebenen. Sie würde eine Weile fallen und schließlich auf einem anderen Astpfad landen. Vielleicht trifft sie auch einen der dämlichen Flatterbälle am Kopf, überlegte der Affe. Er spähte noch einen Moment sinnierend in den Abgrund, dann seufzte er, brach noch eine weitere Banane von der Staude und ließ sich mit geschickten Bewegungen langsam auf den Astpfad herab. An dieser Stelle war der Weg breit und vollkommen frei von anderen Gewächsen. Keine der Büsche oder Bäume mit zahlreichen Lianen, die sich sonst an die großen Wege klammerten. Darum kümmerte er sich persönlich. Seit Wochen hatte er das Stück Weg, welches unter der Frucht lag, sorgsam gepflegt

Der Affe schlenderte, die Banane in der Hand und sich mit der freien Hand am Boden abstützend, langsam zu dem großen Gewächs hinüber. Vorsichtig trat er an die Oberfläche heran und strich mit der Hand sanft über die feste, wächserne Haut. Die Frucht fühlte sich warm an und schien unter der Berührung zu pulsieren. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Er lehnte sich zur Seite und spähte konzentriert an der massigen Kugel vorbei in das Blätterdach des Waldes über ihm. Er sah Astpfade, die sich in verschiedene Richtungen durch das endlose Grün des Waldes zogen. Manche verliefen horizontal, andere fielen steil zu tieferen Ebenen hinab oder stiegen in Spiralen aufwärts. In der Ferne konnte er den immer präsenten, dunklen Schatten des großen Stammes gerade noch erahnen. Der Affe sah auf und konzentrierte sich auf einen bestimmten Bereich des Blätterdachs, der heller wirkte als der Rest des Waldes.

Etwa jetzt. Da ist es.

Ein einzelner Lichtstrahl fiel durch das Blätterdach und landete genau auf der Frucht.

Der Affe grunzte zufrieden. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis er endlich genug Blätter und Zweige abreißen konnte, um diese Lücke zu erzeugen. Er musste sein ganzes geometrisches Wissen nutzen, um den Einfallwinkel der Strahlen richtig zu berechnen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, dass ihm als einziges Hilfsmittel Zeit und Geduld zur Verfügung standen. Darüber verfügte er allerdings im Übermaß. Er hatte über zwölf Ebenen klettern müssen und war einmal fast von einem der höchsten Äste gestürzt, die ganz oben, nahe dem Rand der Krone, wuchsen. Aber er hatte es geschafft, ein wenig Licht auf diese Ebene zu bekommen.

Es ist ja auch nicht so, als ob es hier viel anderes zu tun gäbe.

Der Affe tupfte vorsichtig mit seinem Zeigefinger auf den Lichtfleck. Er musste sich beeilen. Sorgfältig positionierte er sich auf der dem Lichtfleck gegenüberliegenden Seite der Frucht, lehnte vorsichtig sein Gesicht gegen die Schale und spähte aufmerksam in deren Tiefe. Der Lichtfleck auf der anderen Seite erhellte den Innenraum und vage Schemen wurden sichtbar. Der Schimpanse hielt den Atem an und starrte aufmerksam in das Innere. So stand er lange Zeit ganz still, bis die Sonne die kleine Lücke im Blattwerk passiert hatte und der Lichtstrahl verblasste.

Schließlich nahm der Affe das Gesicht von der Schale und legte dann nachdenklich den Kopf schief. Er hob die freie Hand und sah eine Weile auf seine Knöchel hinab. Er blinzelte einige Male, zuckte mit den Schultern und klopfte zaghaft gegen die Hülle.

Zunächst geschah nichts, dann bebte die Frucht wie unter einem schweren Schlag. Der Affe riss die Augen auf, starrte seine Hand an und taumelte auf den Hinterbeinen einige Schritte zurück, bevor er sich hinhockte und gebannt die Frucht anstarrte.

Diese erzitterte ein weiteres Mal und wie auf Befehl senkte sich der Ast, an dem sie hing, ein wenig tiefer, sodass das Gewächs nun die Rinde des Pfades berührte. Der Schimpanse rutschte nervös noch ein wenig weiter von der Frucht fort und hielt dabei seine Banane wie einen Schild vor sich. Eine weitere Erschütterung, dann noch eine. Es folgte ein Moment, in dem der Wald den Atem anzuhalten schien. Vielleicht bildete sich der Affe auch das nur ein, aber eine Sekunde lang hielten sogar die dämlichen Grasbälle die Klappe.

Die Schale spaltete sich von der Unterseite aus in der Mitte und mit einem reißenden Geräusch ergoss sich ein gewaltiger Schwall zähflüssigen Fruchtfleisches über den Pfad. Die Frucht öffnete sich. Eine Wolke unterschiedlicher Gerüche wehte dem Affen ins Gesicht. Es roch nach süßen Früchten, Vanille und blühenden Sträuchern im Frühling.

Der Affe starrte konzentriert mitten in den zähen Haufen aus unförmigem Fruchtfleisch. Er nickte zufrieden, als sich dort etwas bewegte. Während sich die klumpige Masse langsam zu großen Pfützen aufteilte, wurde eine Gestalt sichtbar. Der Affe erkannte Beine und Arme, sowie einen kahlen Kopf. Es handelte sich zweifellos um einen Menschen. Er sah genauer hin.

Eine junge Frau, um genau zu sein. Aber schon ausgewachsen. Die Gestalt lag auf dem Rücken und hatte begonnen, desorientiert mit den Gliedmaßen zu zappeln. Jetzt rollte sie unbeholfen auf den Bauch und schob sich schwach in eine kniende Position. Sie stützte sich schwer auf die Arme, ließ einen Moment lang den Kopf hängen und begann, flüssige Schwalle aus rotem Fruchtsaft hervorwürgend, sich auf den Boden zu erbrechen. Mehr von dem süßen Geruch reifer Früchte wehte dem Schimpansen entgegen. Er sah der Gestalt eine Weile beim Würgen zu, während er gedankenverloren seine Banane schälte. Schließlich biss er nachdenklich in die Frucht, ohne seine Augen von dem Schauspiel zu nehmen.

„Das ist ja ekelhaft“, kommentierte er kauend.


#include <NAMEN>

 

„Keine Sorge“, erklärte der Affe und sah aufmunternd über die Schulter zu seiner Begleiterin. „Wir sind gleich da.“

Sie liefen schon seit einer Weile den Astpfad entlang und waren ein paar Mal auf schmalere Wege abgebogen, die sich in weiten Kurven durch den Wald zogen und dabei immer wieder verzweigten. Der Schimpanse hielt die junge Frau bei der Hand und zog sie mehr oder weniger nachdrücklich hinter sich her. Zuerst war er zügig vorausgelaufen, doch sie blieb immer wieder stehen und sah stumm zum fernen Blätterdach empor. Die ganze Zeit über sprach sie kein Wort. Irgendwann griff er sie sanft bei der Hand und führte sie langsam, aber stetig die Pfade entlang, während er auf seine freie Hand gestützt vorweg ging.

Die Frau folgte ihm wie ein gehorsames, aber resigniertes Haustier, welches sich apathisch in sein Schicksal fügte. Er entdeckte keinerlei Anzeichen von Gegenwehr, geschweige denn überhaupt eine Reaktion. Sie schien auch vollkommen indifferent gegenüber ihrer Nacktheit oder dem klebrigen roten Schleim, der immer noch ihren ganzen Körper bedeckte. Gelegentlich wischte sie sich flüchtig über die Augen und blinzelte angestrengt. Danach starrte sie noch eine Weile lang ihre verklebte Hand an und bewegte sie hin und her, als wäre sie unschlüssig, was sie damit anfangen sollte.

Der Affe beobachtete dies und erklärte: „Ich weiß, es ist alles sehr verwirrend, aber das ist völlig normal. Dein Geist lag die ganze Zeit über in einem tiefen Schlaf und ist es noch nicht gewohnt, so viel Input zu verarbeiten. Es ist, wie aus einem tiefen Traum zu erwachen und nicht gleich wieder in die Realität zu finden. Das kann auch noch ein paar Stunden dauern.“

Die junge Frau schwieg und starrte wieder in den grünen Himmel empor. Sie zeigte keinerlei Furcht vor ihrer Umgebung, nicht einmal die tiefen Abgründe zu beiden Seiten des Weges schienen sie zu beeindrucken. Der Affe wusste noch nicht, ob er das als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte.

„Schau, da vorne ist schon unser Ziel. Das hat doch nicht lange gedauert, oder? Ich bin sicher, es wird dir gefallen.“

Der Astpfad wand sich einige Meter voraus in einer engen Spirale auf und bildete eine waagerechte Plattform mit einem Durchmesser von etwa fünf Schritt. Keine drei Meter darüber kreuzte ein anderer, breiter Weg. Dicht mit kleinen Blättern bewachsene Lianen hingen zu beiden Seiten herab und umgaben die Plattform wie ein Vorhang. Der Affe zog die Frau durch die Blätter in den kühlen Schatten und zeigte nach oben. Über ihnen hing eine Traube von großen sackartigen Früchten von der Unterseite des Astpfades herab. Die durchscheinenden Gewächse liefen spitz zu und endeten in dünnen Fortsätzen, die dicht über dem Kopf der jungen Frau baumelten.

„Nur zu“, ermunterte der Affe und wies auf die Wurzeln. „Einfach ausprobieren.“

Die Angesprochene starrte einen Moment lang ausdruckslos zu den Früchten empor, dann griff sie zaghaft nach einer der Wurzeln und zog vorsichtig daran. Die Frucht über ihr gluckerte leise und öffnete zahllose kleine Poren auf ihrer Unterseite. Ein warmer Regen aus duftendem Wasser fiel auf die Frau herab.

Der Affe war einige Schritte zurückgewichen, sorgsam darauf achtend, nicht nass zu werden, und beobachtete die Frau aufmerksam. Diese stand eine Zeit lang einfach regungslos unter dem Wasser und sah zu den Früchten empor, während sich das schleimige Fruchtfleisch langsam von ihr löste und zu Boden rann. Schließlich sah er, wie sich ihre Schultern langsam entspannten, und hörte ein kleines, wohliges Seufzen. Er erlaubte sich ein erleichtertes Lächeln.

Soweit, so gut. Warmer Regen ist bei Menschen immer erstaunlich effektiv.

Er beobachtete die Frau, die weiter regungslos unter dem fließenden Wasser stand und musterte sie kritisch. Zuerst glaubte er, ein Kind vor sich zu haben. Hauptsächlich wegen der schmalen Hüften und der sehr kleinen Brüste. Aber sie war zu groß und bewegte sich falsch. Die Art, wie sie ihren Körper benutzte, verriet eine deutlich ältere Person.

Ich frage mich, ob das Absicht ist, oder ob ich es schon wieder mit korruptem Code zu tun bekomme. Egal, wir werden es herausfinden. So oder so.

Die Wasserfrucht hatte ihren Inhalt derweil vollständig entleert und die junge Frau aktivierte bereits die nächste. Ein Schwall herben Kräuterduftes zog über den Affen hinweg. Er nickte langsam und zog sich für einen Moment auf die andere Seite des Vorhangs zurück, um entlang des Astpfades nach etwas Essbarem zu suchen. Er fand eine große, orange Frucht mit spitzen roten Stacheln, die an einer Liane dicht neben dem Pfad wuchs und angelte sich seinen nächsten Imbiss. Vorsichtig brach er die Frucht auf, knabberte aber nur ein wenig an dem fleischigen Inhalt herum. Als er kurz darauf durch den Blättervorhang trat, stand die Frau bereits unter der dritten Wasserfrucht. Diesmal roch es nach Rosen. Der Affe nahm wieder Platz und wollte sich gerade seinem Imbiss widmen, als die Frau die Augen öffnete und ihn zum ersten Mal direkt ansah.

Er erstarrte mit offenem Mund und versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, was ihm jedoch nicht gelang.

Es ist tatsächlich eine Intelligente, dachte er fassungslos.

Die Frau starrte ihn schweigend an, während der Affe mit offenem Mund vergaß, seine Frucht zu kauen. Schließlich sprach sie mit leiser Stimme: „Ich kann mich nicht erinnern.“

Der Affe schluckte schwer.

„Das …“, stammelte er, „das ist völlig normal. Dein Hirn muss erst noch lernen, richtig zu arbeiten. Es kann eine Weile dauern.“

Die Frau machte nicht den Eindruck, als hätte sie auch nur ein Wort davon gehört.

„Dieser Ort …“, fuhr sie fort und verstummte. Sie blinzelte und versuchte es erneut: „Was ist dies für ein Ort? Er ist so seltsam.“

„Oh, glaub mir“, erwiderte der Affe und bemühte sich um einen aufgeräumten Tonfall. „Das ist noch gar nichts. Wir sind erst am Anfang. Von hier an wird es nur noch viel seltsamer.“

Sie starrte ihn weiter aus regungslosen Augen an und der Affe rutschte nervös am Boden umher.

„Ich hole dir mal etwas zum Abtrocknen“, verkündete er schließlich laut, ließ die Frucht fallen und verschwand schnell wieder auf der anderen Seite des Vorhangs. Dort atmete er tief durch und blickte suchend umher. Er wanderte ein Stück den Weg zurück und fand das Gesuchte schließlich am Rand eines unscheinbaren Seitenpfades. An einem niedrigen Bäumchen voller langer, violetter Blätter hingen einige dicke, braune Schoten. Die Frucht im Inneren wurde von festen, ledrigen Blättern umschlossen.

Der Affe brach zwei davon ab und kehrte wieder auf die Regenplattform zurück. Die junge Frau hatte ihre Position nur verändert, um unter eine neue Wasserfrucht zu treten. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Der Affe setzte sich wieder und begann, geschäftig an den steifen Blättern der Schote zu zerren, ohne die Frau dabei anzusehen.

„Die Dinger sind erstaunlich gut verpackt“, murmelte er genervt, während er ungeschickt an den dicken Schoten herumhantierte. „Wahrscheinlich, um sicherzustellen, dass der Inhalt trocken bleibt.“ Er riss die äußeren Blätter in dünnen Schichten herunter, kam aber dem Ziel nicht wirklich näher. „Dennoch“, grollte er, „sollte man meinen, dass es einem leichter gemacht wird, an die blöden Dinger heranzukommen. Aha!“ Es gelang ihm, die Schote der Länge nach aufzubrechen. Zum Vorschein kam eine flauschige, weiße Rolle, die er der Frau reichte.

Diese trat aus dem Regen und nahm das weiche Etwas entgegen. Von der harten Schale befreit dehnte sich der Inhalt jetzt stark aus. Die Frau drehte die weiche Rolle eine Weile unschlüssig in den Händen, dann schien sie den Zweck zu erfassen und entrollte ein großes, weißes Handtuch.

Der Affe nickte ermutigend.

„Vielleicht möchtest du dich abtrocknen, und dann sollten wir weitergehen. Wir müssen am Hauptstamm sein, bevor die Dämmerung kommt und der Weg ist weit für jemanden, der gerade erst vom Baum gefallen ist.“

Die Frau hatte sich den weichen Stoff vor das Gesicht gepresst und verharrte regungslos.

„Warum?“, klang es schließlich gedämpft durch das Handtuch.

„Weil es sonst dunkel wird“, erklärte der Affe geduldig. „Und ein Spaziergang auf einem Astpfad bei Dunkelheit ohne Lichtquelle und Geländer kann zu einer ebenso überraschenden wie kurzen Erfahrung werden.“

„Es gibt kein Licht?“, fragte die Frau durch den Stoff.

„Oh, es gibt Licht“, erwiderte der Affe. „Kleine leuchtende Krabbelkugeln. Aber die dämlichen Viecher stellen das Leuchten ein, sobald du sie auch nur schief ansiehst. Das ist übrigens eine Erfahrung, die du hier noch häufig machen wirst. Es ist, als wäre der gesamte Wald gerade schlau genug, um zu wissen, wie man einen Primaten am effektivsten ärgern kann.“

Die Frau ließ das Handtuch sinken und sah ihn an.

„Ich bin kein Primat“, verkündete sie.

„Das ist korrekt“, bestätigte der Schimpanse geduldig. „Primaten können klettern, sind sehr stark und dabei kein bisschen nackt oder hilflos.“

„Ich … ich bin ein … ein Mensch“, verkündete die Frau zögernd, als wäre sie erst in diesem Moment zu dieser wichtigen Einsicht gelangt.

Der Affe rollte die Augen.

„Wie schön, dass deine Erinnerungen zurückkehren. Aber glaube mir, diese Kategorien haben hier nicht die geringste Bedeutung.“

„Warum?“, fragte die Frau erneut.

Der Affe holte tief Luft.

„Weil es in diesem Wald nur Pflanzen gibt.“

„Es gibt“, fragte die Frau, „außer uns keine Tiere?“

„Nein, es gibt überhaupt kein tierisches Leben.“

„Aber“, erwiderte sie verwirrt, „ich bin keine Pflanze.“

Der Affe schwieg.

„Ich … ich bin von Menschen geboren worden“, erklärte sie, aber ihre Stimme klang zögernd.

„Und wo“, fragte der Affe leise in einem milden Tonfall, während er auf die Brocken von Fruchtfleisch zu Füßen der Frau blickte, „bist du gewachsen?“

Sie runzelte die Stirn.

„Im … im Bauch meiner Mutter?“

„Und?“, fragte der Affe sehr langsam. „Wie hat sie dich ernährt?“

„Na, über die Nabelschnur, die …“, sie verstummte. Sie ließ das Handtuch sinken und ihr Blick fiel auf ihren Bauch, wo ganz offensichtlich nichts zu sehen war. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die vollkommen glatte Haut, dann sah sie zu dem Affen auf und Angst lag in ihrem Blick.

„Höflich wie ich bin“, kommentierte der Affe trocken, „weise ich mal nicht allzu deutlich darauf hin, dass es bei uns beiden weiter unten nicht besser wird.“

Die Frau sah wieder an sich hinab und blickte stumm auf die Stelle zwischen ihren Beinen, wo ebenfalls nur glatte Haut zu sehen war.

„Aber … aber …“, stotterte sie. „Ich bin ein Mensch. Ein Mensch!“

Der Affe seufzte leise und griff nach der stacheligen Frucht, von der er eben noch gegessen hatte. Er erhob sich auf die Hinterbeine und schritt langsam und ungelenk zu ihr hinüber, während sie weiterhin fassungslos ihren Körper anstarrte. Vorsichtig, fast zärtlich, nahm er ihre freie Hand.

„Es tut mir leid“, erklärte er, „aber meiner Erfahrung nach ist es am besten, wenn man sich diesen Dingen möglichst frühzeitig stellt.“

Mit diesen Worten hob er ihre Hand und stach ihr mit einer der spitzen, roten Dornen in den Daumen.

„Au!“, rief die Frau und riss sich los. „Warum? Das tut weh! Warum? Was soll …“

Sie verstummte und beobachtete mit aufgerissenen Augen den großen Tropfen dicker, grüner Flüssigkeit, der aus ihrem Daumen quoll.

Der Affe hob seine eigene Hand und stach sich fast beiläufig ebenfalls in den Daumen. Wortlos hielt er ihn vor ihr Gesicht. Der gleiche Tropfen grüner Flüssigkeit quoll aus seiner Wunde heraus.

„Willkommen in der Familie“, verkündete er und lächelte schief.

Die Frau blickte stumm von seinem Daumen zu ihrem, sah dem Affen schließlich ins Gesicht und begann zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit einem erstickten Schluchzen hockte sie sich auf den Boden, presste das Handtuch vor ihr Gesicht und begann herzzerreißend zu weinen.

Der Affe trat einen Schritt zurück, sah auf die Frau herab und rollte die Augen.

„Okay“, murmelte er, „das hätte besser laufen können.“

Er setzte sich vorsichtig neben sie und legte ihr zögernd und unbeholfen die Hand auf den Rücken. Dabei gab er ein leises Gemurmel von sich, von dem er hoffte, dass es beruhigend klang. So verharrte er, bis das Schluchzen langsam verklang und die Frau verstummte. Lange hockte sie regungslos neben ihm, bis schließlich ihre gedämpfte Stimme durch das Handtuch drang.

„Ich verstehe diesen Ort nicht. Er ist so fremdartig. Es ist wie ein schlechter Traum. Ich sehe laufend seltsame Dinge und ständig kommen neue Bilder dazu, aber nichts davon ergibt Sinn. Ich erinnere mich nicht einmal an meinen Namen. An meinen eigenen Namen.“

Sie hob den Blick und sah den Affen an. Er sah ihre beiden leuchtend grünen Augen direkt vor sich und spürte Panik in sich aufsteigen.

„Weißt du vielleicht meinen Namen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Oje, dachte er und sah hektisch umher, auf der Suche nach einer Antwort.

Name …, Name …, Name …, dachte er hektisch.

Durch eine Lücke im Blättervorhang konnte er auf den Weg hinaussehen. Von einem der höheren Astpfade hingen dichte Vorhänge aus Blumen herab. Riesige trichterartige Blüten in Gelb und Rosa.

Ach was soll‘s.

„Lilien?“, fragte er.

Die junge Frau blinzelte.

„Lilien, Lil … Lilian …“

Sie schien den Namen vorsichtig zu kosten. Dann lächelte sie zum ersten Mal. Dem Affen wurde flau im Magen.

Lilian!“, rief sie. „Ja, das funktioniert.“

„Wie schön“, krächzte der Schimpanse erstickt.

Sie sah ihn nachdenklich an.

„Hast du auch einen Namen?“, fragte sie.

Der Affe schüttelte nur stumm den Kopf.

Sie betrachtete ihn eine Weile, dann lächelte sie wieder.

„Du lässt mich nie aus den Augen und schaust mich immer so neugierig an. Ich glaube, ich nenne dich George.“

George!“, rief der Affe entgeistert. „Was ist denn das für ein Name? Wie kommst du denn jetzt auf George?“

Lilian lächelte entschuldigend.

„Ich weiß es nicht.“

Der Affe musterte sie entsetzt, dann schüttelte er erneut den Kopf und erklärte schwach: „Du solltest dich abtrocknen, wir müssen aufbrechen. Der Weg ist lang.“

Lilian nickte und erhob sich. Mit schnellen Bewegungen trocknete sie sich ab und warf George wortlos das Handtuch zu. Sie ging zu der zweiten Schote hinüber, hob sie vom Boden auf und betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam. Schließlich nahm sie die Frucht und rollte sie mit festen Bewegungen einige Male zwischen ihren flachen Händen. Es knackte und knisterte. Danach griff sie die Schote am hinteren Ende und schlug sie zweimal fest in ihre freie Hand. Die Handtuchrolle rutschte mit einem Plopp auf ihre leere Hand. Sie schüttelte das große Handtuch aus, wickelte es sich mit einer eleganten Bewegung um den Körper und faltete den oberen Rand zu einem provisorischen Kleid. Nachdem sie einen Moment lang kritisch darauf hinabgesehen hatte, drehte sie sich probeweise einmal und lächelte den Affen an, der sie mit offenem Mund anstarrte.

„Ich bin soweit“, verkündete sie.


#include <LICHT>

 

Die kleine, grüne Graskugel schwirrte um Lilians Kopf herum und gab helle, trillernde Töne von sich. Nach einer weiteren Umrundung setzte sie sich auf den Kopf der Frau und faltete die beiden großen, roten Flügel auf dem Rücken zusammen. Sie sahen aus, als wären sie aus zahllosen winzigen Blütenblättern zusammengesetzt. Das kleine Wesen rollte einen langen, dünnen Rüssel aus seinem Blütengesicht und tupfte Lilian damit von oben auf die Nase. Die Frau lachte und verscheuchte den aufdringlichen Gast von seinem Rastplatz. Der kleine Flatterball hob mit einem Fiepen ab, flog einige Meter voraus und begann sich trillernd im Kreis zu drehen.

„Ich kann nicht glauben“, lachte Lilian, „dass das wirklich alles Pflanzen sind.“

„Und ich kann nicht glauben“, murrte der Affe, während er auf allen vieren vorausging, „dass eine ganze Gattung derart nutzlos und aufdringlich sein kann.“

„Gibt es denn verschiedene Arten von diesen fliegenden Blumen?“, fragte Lilian und winkte dem Grasball zu, der begeistert Loopings schlug.

„Dutzende“, stöhnte George. „Und alle sind sie farbenfroh und nervtötend.“

„Ich finde sie lustig“, erklärte Lilian.

„Warte mal ein paar Ewigkeiten“, murmelte George zu sich selbst, „dann lässt das nach.“

Lilian ließ den Blick über die zahllosen Astpfade schweifen, von denen sie auf allen Seiten umgeben waren. Überall wuchsen Pflanzen auf den schwebenden Wegen oder hingen in dichten Vorhängen davon herab. In ihnen zwitscherte, hupte oder trillerte eine Vielzahl bunter Geschöpfe inmitten nicht weniger bunter Blüten. Manche der breiteren Wege boten Platz für ganze Alleen von Bäumen. Diese wiederum stützten Astpfade darüber und bildeten so einen endloses Wirrwarr aus dicht bevölkerten, sich kreuzenden Wegen, die in einem fort stiegen oder fielen, Spiralen bildeten oder in Kreuzungen zusammenliefen.

Lilian fühlte sich vollkommen überfordert von dem Meer blühender Pflanzen, das sich in alle Richtungen erstreckte. Sie hatte sofort die Orientierung verloren, während ihr Weggefährte sie kontinuierlich und zielstrebig aufwärts führte, dem Licht entgegen.

„Ich frage mich“, flüsterte sie leise, „wie all diese Pfade in der Luft bleiben. Sie sind alle irgendwie miteinander verbunden, aber müsste nicht allein ihr eigenes Gewicht alles zum Einsturz bringen?“

Der Affe sah sie erstaunt an.

„Das ist eine sehr gute Beobachtung. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass sich die Gravitation auf den Astpfaden nicht ganz so verhält, wie man es erwarten würde. Ich vermute also, dass der Wald stark lokalisierte Kraftfelder generieren kann.“

Lilian runzelte die Stirn.

„Was heißt, sie verhält sich anders?“

„Die Pfade“, erklärte George, „lassen mich stabiler und sicherer laufen, als ich es allein könnte. Es fühlt sich manchmal an, als würde der Weg mich vom Abgrund fortschieben, damit ich nicht falle.“

Lilian spähte vorsichtig über den Rand des Pfades in den Abgrund hinunter.

„Das ist irgendwie beruhigend.“

Sie hatte schon ernsthaft überlegt, wie George auf allen vieren zu laufen. Einige der Wege waren äußerst schmal und wenn sie dicht neben sich in die Tiefe spähte, sah sie nichts außer einem endlosen Chaos sich kreuzender Pfade und weit unten in der Tiefe eine drohende Dunkelheit.

Sie riss sich von dem Anblick fort.

„Wo gehen wir überhaupt hin?“

„Nun“, entgegnete der Affe. „Wenn du nicht für den Rest deiner Tage mit einer Hand das Handtuch festhalten willst, dann sollten wir dir etwas zum Anziehen besorgen.“

Er deutete auf eine dicht mit Büschen bewachsene Plattform, die etwas abseits am Ende eines leicht abfallenden Spiralpfades neben ihrem Hauptweg hing. Der kleine Flatterball kannte offensichtlich ihr Ziel und war bereits vorausgeflogen.

„Diese Ecke“, erklärte George, als er sie den Pfad hinabführte, „habe ich schon vor langer Zeit entdeckt. Ich konnte nur nie etwas damit anfangen.“

Lilian folgte dem Schimpansen durch die dichten Büsche auf eine kleine Lichtung. Dort sah sie sich um und musste unwillkürlich lachen. Um sie herum standen etwa zwanzig kleine, schlanke Bäumchen, die allesamt weiße Kleider trugen. George war an einen der Bäume herangetreten, befühlte fachmännisch den Stoff und erklärte:

„Ganz gutes Material, aber nicht ganz mein Stil.“

„Stimmt“, erwiderte Lilian ernst und inspizierte die Bäume. „Vielleicht finden wir später noch etwas Farbenfroheres für dich … mit vielen Blüten.“

George schnaubte und wandte sich ab.

„Viel Spaß. Ich bin gerade mal um die Ecke, ich glaube, ich habe aus dem Augenwinkel Bananen erspäht.“

Lilian grinste und machte sich daran, einen passenden Baum zu finden. Keine zwei der Bäumchen hatten die gleiche Größe und es dauerte eine Weile, bis Lilian ein geeignetes Baumkleid gefunden und geerntet hatte. Der Stoff wurde auf der Innenseite von zahllosen kleinen Ästen in Form gehalten und sie gab sich große Mühe, die Pflanze nicht zu verletzen. Das Kleidungsstück selbst war sehr schlicht gehalten. Eine gerade Röhre aus Stoff mit zwei kurzen Ärmeln. Einfach, aber immer noch besser als ein Handtuch.

Lilian hatte sich gerade angezogen, als es neben ihr trillerte. Sie drehte sich um und sah die kleine Flatterkugel im leeren Astwerk des Bäumchens sitzen. Sie legte den kleinen Blütenkopf schief und pfiff eine anerkennend klingende Tonfolge.

„Danke sehr“, erwiderte Lilian und kraulte das kleine Geschöpf mit dem Zeigefinger am Bauch. „Es ist wirklich erstaunlich, was die Natur alles erschaffen kann.“

„Ich muss dich enttäuschen“, erklang die Stimme des Affen hinter ihr. Er kaute auf einer Banane. „Hier gibt es keine Natur und eine schaffende schon mal gar nicht.“

„Aber“, entgegnete Lilian, „irgendwo müssen all diese Wesen doch herkommen.“

„Nun, wer immer es war, die Natur hat nichts damit zu tun. Oder glaubst du, es ist die Natur, welche dir grünes Blut gibt und ganz nebenbei ein paar Organe verschwinden lässt?“

Lilian betrachtete ihren blassen Daumen, auf dem sich die grünliche Wunde bereits geschlossen hatte, aber immer noch gut zu sehen war. Ein gequälter Ausdruck zog über ihr Gesicht. Sie sah in den grünen, blühenden Himmel empor.

„Aber es ist doch ein Wald“, flüsterte sie. „Ein seltsamer Wald, aber dennoch ein Wald. Niemand baut Wälder. Sie entstehen und wachsen doch … natürlich.“

„So natürlich wie Kleiderbäume?“, fragte George unschuldig.

Lilian krauste die Stirn.

„Also ein Beweis ist das trotzdem nicht.“

„Nein?“, fragte George. „Den meisten würde es als Beweis reichen, aber vielleicht ist das auch mehr eine Logik für Affen.“

Er steckte sich das letzte Stück Banane in den Mund und warf die Schale so flink, dass Lilian kaum die Bewegung sah. Hinter ihr fiepte es verblüfft auf und der kleine Flatterball stürzte, in eine leere Bananenschale verheddert, zu Boden. Er schlug hektisch mit den Flügeln und versuchte laut pfeifend wieder in die Luft zu kommen, aber der Affe war schon über ihm und hob das zappelnde Wesen mit einem sicheren Griff vom Boden auf.

„Warum hast du das gemacht?“, rief Lilian erschrocken. „Er hat dir doch überhaupt nichts getan.“

„Er nervt“, kommentierte der Affe. „Ich habe schon für weniger mit Obst geworfen. Aber das ist nicht der Punkt. Sieh her!“

Er drehte das kleine Wesen um und fixierte einen der Flügel zwischen zwei Fingern.

„Was soll das, du tust ihm weh!“, rief Lilian aufgebracht.

„Es ist fliegendes Gemüse“, erklärte der Affe. „Entspann‘ dich und sieh hin.“

Lilian zog düster die Brauen zusammen, musterte aber stumm den Rand des Flügels. Sie stutzte.

„Zahlen“, flüsterte sie. „Zahlen und Striche.“ Sie starrte den Flügel an.

„Produktionscode und Seriennummer“, erklärte der Affe und warf den Flatterball mit einer nachlässigen Bewegung über die Schulter. Das Geschöpf raste davon und piepte laute, empört klingende Tonfolgen. Lilian sah ihm mit offenem Mund nach.