DAS WAHRE EVANGELIUM
Aus dem Französischen von Dr. Gerhild Schulz
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Copyright der Originalausgabe © by Daniel Meurois; Titel der Originalausgabe:
»L’Évangile de Marie-Madeleine … selon le Livre du Temps«,
© Éditions Le Perséa 1999, Éditions le Passe-Monde erstes Quartal 2015
Veröffentlicht in Partnerschaft mit Maurice Baldensperger und Francis Hoffmann GbR
»Publish Vision«; info@publishvision.de, www.publishvision.de
Copyright der deutschen Ausgabe © 2020 Verlag »Die Silberschnur« GmbH
ISBN: 978-3-89845-640-1
eISBN: 978-3-89845-704-0
1. Auflage 2020
Übersetzung: Dr. Gerhild Schulz
Umschlaggestaltung & Satz: XPresentation, Güllesheim; unter Verwendung eines
Motivs von © Marie Johanne Croteau-Meurois
Verlag »Die Silberschnur« GmbH · Steinstraße 1 · D-56593 Güllesheim
www.silberschnur.de · E-Mail: info@silberschnur.de
Dieses Buch
sei insbesondere
Martine und Charlotte
gewidmet
Bevor wir uns in die Vergangenheit vertiefen
Im Wandel der Zeiten … Erste Etappe
Das Evangelium nach Maria-Magdalena rekonstruiert nach dem ‘Buch der Zeit’
Einladung
Erste Bewegung, Der Abstieg
Der ursprüngliche Traum – Das Spiel und die Spiele – Die Rolle des Trennenden – Das Spiel des Männlichen und Weiblichen – Worin besteht ‘der Fehltritt’? – Die ursprüngliche ‘Untreue’ – Rebellion und Revolten – Kranke und Sterbende
Im Wandel der Zeiten … Zweite Etappe
Zweite Bewegung, Stagnation
Das Vergessen – Vergessen verschafft Sicherheit – Die Opferrolle einnehmen – Die Schwäche – Von der Materie lernen – Die Natur bringt uns wieder ins Gleichgewicht – Drei Stadien der geistigen Entwicklung
Im Wandel der Zeiten … Dritte Etappe
Dritte Bewegung, Der Wiederaufstieg
Die Kunst, um Hilfe zu bitten – Mut – Sehen und Lauschen, Vision und inneres Ohr – Träumen und fantasieren – Hohe Anforderungen – Der Wille – Von Vertrauen, Loslassen und Freude – Vom Mysterium des Nous – Wem soll man folgen? – Von der Frau, die unseren Einweihungsweg befördert, zum inneren Christus – Der Menschensohn – Vom Inneren und Äußeren – Die Falle des Narzissmus – Angst vor dem Neuen, ein uralter Abwehrmechanismus – Eine gewisse Stille – Der Quantensprung
Im Wandel der Zeiten … Vierte Etappe
Ein Blick auf die ‘Liebste’
Waren Jesus und Maria-Magdalena … ein Sonnenpaar?
Ein freier Geist - Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler
Über den Autor
Alles begann damit, dass mir eines Tages eine Freundin ein Buch gab.
› Kennst du das?, fragte sie.
Nein, ich hatte es nicht gelesen, nur flüchtig davon gehört. Es war die Übersetzung eines Textes, der etwa im Jahre 150 nach Christus entstanden sein musste. Er war in koptischer Sprache verfasst und trug den Titel: “Das Evangelium nach Maria-Magdalena”.
Ich wusste zwar, dass es irgendwo ein Schriftstück gab, das Myriam von Magdala zugeschrieben wurde, also Maria-Magdalena, doch das war auch schon alles. Mich damit zu beschäftigen hatte sich nie ergeben. Wie viele andere auch, hatte ich einst ein wenig in den Apokryphen gelesen – so im Evangelium des Thomas und Philippus, mehr nicht. Doch das war auch schon alles. Diese Lektüre hatte nicht gerade mein Leben umgekrempelt. Ich hatte mich lediglich einige Stunden von ein paar Seiten fesseln lassen, die alles andere als kanonisch waren. Genau genommen waren sie sogar ziemlich häretisch, zuweilen geradezu verrucht.
Möchtest du es dir einmal ansehen?, fuhr meine Freundin fort und hielt mir das Buch hin. Ich nahm den Text mit und vertiefte mich in ihn. Er faszinierte mich durchaus. Das Traurige war nur, dass viele Seiten des Evangeliums fehlten. Sie existierten nicht mehr, waren vermutlich im Laufe der Zeit verloren gegangen oder zerstört worden. Es gab auch einen hochgelehrten Kommentar dazu. Er war ziemlich schwer, den meisten Menschen wohl gar unzugänglich. Ich nahm ihn, wie er war und betrachtete ihn mit Respekt – denn mir war klar, wie viel Arbeit darin steckte. Dann legte ich das Werk wieder beiseite.
Doch die Frau, die es mir geliehen hatte, kam wieder.
› Ich weiß, es fehlen einige Seiten des Originalmanuskripts. Könnest du sie vielleicht … rekonstruieren? Und wärst du vielleicht auch bereit … das Werk für uns auszulegen, so wie du es verstehst?
Ich muss zugeben, dass ich ihren Vorschlag zunächst für einen Scherz hielt und dachte, sie wolle mich im Spaß herausfordern – ohne dass es irgendwelche Folgen haben würde. Doch seltsam, zugleich reizte mich die Idee. Vielleicht wollte mir das Leben ja ein Zeichen geben … das Schicksal mir die Hand reichen? Immerhin wäre es ein wunderbares Abenteuer, wieder einmal die Vergangenheit zu befragen … diesmal auf ganz andere Weise!
› Warum eigentlich nicht?, gab ich zur Antwort. So eine Aufgabe habe ich noch nie übernommen, aber wenn es so sein soll …
Während ich diese Worte sagte … noch ohne zu wissen, ob Weisheit oder Wahn aus mir sprachen, Leichtsinn oder Stolz, bemerkte ich, wie ein Teil meiner selbst bereits begann, sich in unsere Vergangenheit zu versenken.
Seitdem ist über ein Jahr vergangen. Der Traum ist Wirklichkeit geworden.
Achtzehn Seiten aus dem Text eines Evangeliums sind aus meiner Feder geflossen. Sie aufzuschreiben dauerte nur wenige Stunden und ich musste kaum etwas korrigieren.
Oh, das geschah natürlich nicht von selbst. Zuerst musste ich nach meiner bereits häufig beschriebenen Methode daran arbeiten.1 Dabei habe ich mein Bewusstsein aus meinem Körper heraustreten lassen, mich dem Gedächtnis der Zeit hingegeben und mich dem Film überlassen, den man Akasha-Chronik nennt.
Dieses Verfahren ist freilich in keiner Weise nachprüfbar, zumindest im Moment noch nicht – ganz im Gegenteil. Mein Vorgehen entspricht also dem eines Mystikers. Muss ich das überhaupt noch erwähnen? Ein Gelehrter bin ich nicht. Altgriechisch habe ich nie gelernt und erst recht nicht Koptisch. Daher bin ich keineswegs ein Exeget, eher schon das Gegenteil: Ein Abenteurer des Geistes oder, wenn man so will, ein Forscher in Bereichen, die gegenwärtig noch ungreifbar erscheinen.
So habe ich mich also mit Feinfühligkeit und dem inneren Instrumentarium, das für eine solche Arbeit erforderlich ist, auf den Weg gemacht, um das faszinierende, geheimnisvolle ‘Evangelium nach Maria-Magdalena’ zu rekonstruieren.
Es war mir daran gelegen, den Text mithilfe der Methode, die ich nun seit mehr als 25 Jahren anwende, anschaulich in seine Zeit einzubetten und lebendig zu machen – und wirklich hatte ich das Glück, mich in Szenen aus jener Zeit hineinversetzen zu können. Bei dieser Gelegenheit wollte ich ihn auch gleich verständlicher machen, uns unmittelbaren Zugang dazu zu eröffnen. Die große Frage war ja: Was nützt es, einen fast zweitausend Jahre alten Text wieder zum Leben zu erwecken, wenn er uns nicht unmittelbar betrifft, uns in diesem entscheidenden Moment unserer Entwicklung nicht hilft, uns zum Besseren zu wandeln.
Natürlich hätte ich den Text auch so wiederherstellen können, wie er war. Selbst das war bereits eine gehörige Herausforderung. Aber es war mir einfach wichtig, ihn mit Leben zu füllen. Darum habe ich noch ein paar Gedanken hinzugefügt, die ihn weniger abstrakt wirken lassen.
Ihr habt es hier also nicht mit einem ‘Kommentar’ im strengen Sinne zu tun, denn ich habe mein Beobachtungsfeld, wo es mir sinnvoll erschien, ausgedehnt. Es ist eher eine Art ‘Spaziergang’ zwischen den angesprochenen Themen … eine Einladung zur Meditation.
Die Fragen, mit denen ich mich hier beschäftige, beleuchten wichtige Aspekte der Lehre, die Christus den Menschen überbrachte, die ihm nahestanden. Darauf möchte ich hinweisen.2
Auch bei dieser Aussage stütze ich mich auf meine ausgedehnten Reisen ins Gedächtnis der Zeit. Mir ist bewusst, wie ‘modern’ dieses Vorgehen wirken mag, wie schwer es mit den bekannten, althergebrachten Texten in Einklang zu bringen ist.
Meines Wissens gibt es nur zwei oder drei Übersetzungen des ‘Evangeliums nach Maria’ ins Französische. Sie gehen wohl alle auf das koptische Manuskript zurück, das seit 1896 im Ägyptischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin liegt.
Von diesen Übersetzungen unterscheidet sich meine Arbeit radikal. Zum einen ist sie eine Wiederherstellung des gesamten Textes. Zum anderen basiert sie auf der Vision eines altgriechischen Manuskripts. Ich habe keine Ahnung, ob diese allererste Fassung noch irgendwo an einem unbekannten Ort verborgen ruht, bin mir aber sicher, dass die koptische Variante, die wir kennen, eine spätere, abgeänderte Abschrift ist. Das geht zumindest ganz deutlich aus meinen verschiedenen Lektüren der Akasha-Chronik hervor.
Die Seiten dieses Evangeliums sind mir im Rahmen meiner außerkörperlichen Wahrnehmungen erschienen. Sie waren in griechischen Buchstaben mit schwarzer Tinte auf Pergament geschrieben.
Da ich stets in einem erweiterten Bewusstseinszustand in das ‘Buch der Zeit’ eintauche, war das Problem der Übersetzung leicht zu lösen. Die vorliegende Version des Evangeliums ist natürlich in der Sprache geschrieben, derer ich heute mächtig bin.
Jede Nachricht, die man empfängt und unmittelbar versteht, sei es nun auf schriftlichem oder telepathischem Wege, läuft durch ein subtiles Dekodierungssystem, das mit der seelischen Reife des Empfängers zusammenhängt. Das muss man sich vor Augen halten.
Freilich hat das stets etwas Subjektives an sich. Doch das gilt auch für jede andere Übersetzung. Ein Übersetzer arbeitet immer mit seinem Wortschatz und überträgt den Sinn, so wie er ihn versteht. Er ist geprägt von seiner Kultur, vielleicht auch seinen politischen und religiösen Vorstellungen unterworfen.
Vor allem möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass die Übersetzung des ‘Evangeliums nach Maria-Magdalena’, die ich hier vorlege, nicht mit bereits vorhandenen konkurrieren will. Streng genommen ist es auch nicht genau derselbe Text, selbst wenn viele Stellen sehr ähnlich sind. Damit sollte jede mögliche Polemik ausgeräumt sein.
Wie die allermeisten grundlegenden Texte des ursprünglichen Christentums, ist auch dieses Evangelium natürlich mehrfach überarbeitet und von Vertretern verschiedenster religiöser Strömungen umgeschrieben worden. Warum? Nun, weil der Wille, aktuelle Machtbefugnisse zu festigen und auf persönliche Belange Rücksicht zu nehmen, stärker war, als das Bedürfnis, einen Text in seiner ursprünglichen Form zu wahren. So musste die Wahrheitsliebe hintanstehen!
Nach der wunderbaren Erfahrung, die ich dank meiner Arbeit machen konnte, sehe ich eines noch klarer als zuvor: Es liegt eine große Gefahr darin, unseren Geist allzu sehr vom geschriebenen Wort gefangen nehmen zu lassen – also von der ‘buchstäblichen Wahrheit’.
Ich weiß, das klingt wie ein Gemeinplatz, aber es gibt immer noch Leute, die neuen Ideen mit dem Einwand begegnen: “Das steht nicht in der Bibel.” Aber – was ist denn das – ‘biblisch’? Was bedeutet es, wenn etwas ‘im Evangelium steht’, was heißt das denn genau? Nun – diese Frage ist durchaus legitim!
Das Problem ist im Grunde, dass wir so sehr darauf pochen, die ‘eigentliche Wahrheit’ zu erfahren. Eine weitere Rolle spielt unsere nachhaltige religiöse und spirituelle Prägung. Wenn wir wirklich weiterkommen wollen, dürfen wir uns dieser Einsicht nicht verschließen. Wer allzu sehr auf Buchstabentreue beharrt, verliert dabei leicht aus dem Blick, dass jeder von uns seinen eigenen Weg finden muss.
In diesem Sinne ist ein hohes Maß an innerer Freiheit erforderlich, um sich dem ‘Evangelium nach Maria-Magdalena’ wirklich öffnen zu können. Der Text wirkt zunächst ziemlich esoterisch – genau wie die anderen Übersetzungen, die davon angefertigt wurden. Man muss ihn also immer wieder lesen – allerdings ohne allzu ‘verkopft’ heranzugehen. Es ist weniger der Intellekt angesprochen, als unsere Intuition. Sie ist sein eigentliches Wirkungsfeld.
Hinter der oberflächlichen Weisheit der Worte, verbirgt sich etwas viel Tieferes.
Wer sich diesem Text wahrhaft hingibt und sich von ihm durchdringen lässt, wird seinen Sinn alsbald mit dem Herzen erlauschen.
Ich werde wohl dennoch zu hören bekommen, dass mein Vorgehen unwissenschaftlich ist – und damit unglaubwürdig. Nun ja, im strengen Sinne wissenschaftlich ist es wirklich nicht – zumindest nicht wie man dies heute auffasst. Es mag vielleicht ein wenig dreist klingen, aber ich halte mir das sogar zugute. Schließlich hat die Wissenschaft unsere Zeit auf ähnlich gebieterische Weise im Griff, wie einstige Epochen von religiösen Dogmen beherrscht wurden. Man mag das bestreiten, aber im kollektiven Unbewussten, sei es nun atheistisch geprägt oder nicht, wird wissenschaftliche Erkenntnis ganz offensichtlich verherrlicht, ja geradezu divinisiert.
Der Zugang zu unmittelbarem Wissen – meinem Arbeitsinstrument – ist gewiss keine Rückkehr zu einer irrationalen Vorgehensweise, ganz im Gegenteil. In der Möglichkeit spontanen Wissens scheint sich mir gerade eine neue Form von Vernunft anzukündigen, nämlich eine Rationalität, die einer erweiterten Auffassung des menschlichen Bewusstseins Raum gibt. Alle Wege des Wissens haben ihren Reichtum und Nutzen.
Wir sollten diese Tatsache endlich einsehen und zu einem Teil unserer Vernunft machen. Es hängt unser Überleben davon ab.
Nehmt also dieses Evangelium hin, so wie es ist. Öffnet eure Herzen, denn sie möchte es ansprechen, das ist seine Mission.
Ich habe es niedergeschrieben, mit gelebten ‘Bildern’ ausgestattet und einigen Kommentaren versehen. Mein einziges Anliegen war dabei, ein von Liebe getragenes, lebendiges Zeugnis abzulegen und zum Nachdenken anzuregen.
1Vgl. Essener Visionen sowie Echnaton und der Strahlende Gott, Silberschnur Verlag.
2Ich denke dabei nicht nur an die zwölf offiziellen Jünger, sondern auch an den Kreis der Hundertacht.
Vgl. Essener Erinnerungen, von Daniel Meurois, Silberschnur Verlag.
“Unser aller Mutter, darf ich mir erlauben, dich noch einmal zu fragen, was Er dir anvertraut hat und was du von Ihm noch in Erinnerung hast? Meine Gefährten und ich können einfach nicht glauben, dass die Zeit all das auslöscht …”
Die Frau, an welche diese Worte gerichtet waren, saß auf einer Steinmauer. Sie rieb mit einem Finger ihrer rechten Hand gedankenverloren über eine schadhafte Stelle am groben Stoff ihres weiten, braunen Kleides. Mein Blick blieb an dem langen Schleier hängen, der ihren Kopf und ihre Schultern locker bedeckten. Er war mit den Jahren ganz verwaschen geworden. Einst muss er wohl blau gewesen sein, blau wie der Himmel, der manchmal durch die Blätter durchschimmerte.
› “Myriam, meine Schwester”, hob die Stimme wieder an, “sag bitte nicht, dass wir uns umsonst auf die lange Reise gemacht haben … War es denn Sein Wille, dass keines seiner Worte erhalten bleiben soll und wir nichts Genaues erfahren? Ich habe dich früher oft an seiner Seite gesehen. Ich war damals, in Caesarea, noch ein Kind – und doch werde ich nie vergessen, auf welche Weise er zu uns sprach. Nun, da Er sich von uns zurückgezogen hat, fehlt Er uns … Die Leute sagen, du habest Ihn gut gekannt und wir sollten Seine Lehren nun aus Deinem Munde empfangen.”
Der Mann, der diese Worte fieberhaft hervorstieß, hatte sich nicht alleine auf die Reise begeben. Auf dem Boden neben ihm saßen noch drei Begleiter. Die kleine Schar war noch recht jung, keiner mochte älter als 30 Jahre alt sein. Ihr Aussehen stand in scharfem Kontrast zur gebotenen Schlichtheit ihrer Gesprächspartnerin.
Sie trugen alle eine kurze Tunika und große, über den Knöcheln geschnürte Ledersandalen. Sie kamen zweifellos aus wohlhabenden Familien in Palästina.
Endlich blickt die Frau, die Myriam genannt worden war, von dem groben Stoff ihres Kleides auf.
“Gibt es nicht noch andere, die es euch erzählen könnten?”, fragte sie. Ihre Stimme klang zugleich sanft und ein wenig rau.
› “Ja, es gibt viele andere! Aber sie reden nur, oft widersprüchliche Dinge. Wir verstehen sie nicht und sie lehren uns auch nichts … Weißt du vielleicht, warum Er nichts diktieren wollte? Selbst zu Hause weiß man kaum noch, was Er eigentlich gesagt hat. Darum haben wir uns entschieden, nicht mehr auf das plätschernde Geplapper des Baches zu hören, sondern direkt zur Quelle zu gehen.”
› “Die Quelle …” Myriam lächelte wehmütig, während sie dieses Wort wiederholte. “Wisst ihr, was mit allem geschieht, das aufgeschrieben wird?”, fuhr sie fort. “Es gemahnt alsbald an vier Wände mit einem Dach obendrauf – und dann wird es zum Gefängnis, ohne dass man es überhaupt merkt … Das hat Er uns beigebracht und darum hat Er auch nichts diktiert.”
› “Aber wir haben doch gesehen, wie manche in seinem Umfeld etwas notiert haben, am Hafen von Cesarea oder in Kafarnaum. Er hat nichts dagegen unternommen.”
› “Er wollte nie etwas verhindern. In seinen Augen genügte es schon, ein Verbot auszusprechen, um die Lust zur Überschreitung auf den Plan zu rufen. Er wusste, dass man den Wind nicht daran hindern kann, zu wehen. Wenn er scheinbar nachlässt, so nur, um erneut loszulegen, wann es ihm beliebt, denn er ist wie das Leben, das überall eindringt, um uns etwas zu lehren.”
› “Darum bitten wir dich, sei unser guter Wind! Du bist von nun an unsere Mutter, weil du Ihn in dir trägst. Wir wollen Seine Söhne sein.”
Myriam erhob sich, nahm ihren Schleier ab und entfernte sich ein paar Schritte von der Steinmauer. Da sah ich, wie sehr ihr Gesicht bereits von der Zeit gezeichnet war. Ihre Wangen waren eingefallen und sie hatte viele Falten. Dennoch war sie immer noch schön, nur hatte sich die Schönheit nun in den Ausdruck ihrer Augen verlagert und strahlte uns von dort in verdichteter Form entgegen. Ihr Blick war keineswegs gealtert, ganz im Gegenteil. Er war vielsagender und zärtlicher als Myriam selbst ahnte.
Während ich ihr nachblickte, sah ich nicht weit entfernt eine Gruppe von vier oder fünf Frauen und einen Greis. Sie saßen an Bäume gelehnt da und schienen in aller Ruhe Körner zu verlesen, die sie aus einem Korb auf ein großes, viereckiges Tuch schütteten. Myriam kauerte sich einen Augenblick neben sie und flüsterte ihnen leise etwas zu. Dann ging sie zu einem Fels, legte ihre Hand darauf und ging um ihn herum. Schließlich kam sie zurück und setzte sich wieder auf die Mauer.
“Ich werde euch lehren”, sagte sie mit ruhiger, entschiedener Stimme zu den Reisenden. “Aber ihr sollt wissen, dass ich mich nicht mehr an alles erinnere. Eines muss euch nämlich klar sein: Was ich erfahren sollte, ist in meinen Körper übergegangen. Er hat es behalten. Mein ganzer Leib hat gelernt sich zu verwandeln, vor allem meine Augen … und mein Herz. Was Worte daraus machen können, weiß ich nicht …”
Über den Gipfeln des kargen Gebirges zog ein neuer Tag herauf. Es war ein frostiger Morgen. Man sah es an dem feinen, weißen Rauch, der aus dem Tal kerzengerade zum Himmel aufstieg … Dieser war ebenso blau wie tags zuvor.
Myriam stand im Eingang einer großen Felsvertiefung am Hang, wo ein Feuer entfacht war. Daneben standen eine Hütte aus Trockenmauerwerk und ein kleiner Schuppen.3 Weiter unten in der Schotterebene waren zwischen Gestrüpp ein paar Ziegen zu sehen.
Die jungen Männer aus Caesarea saßen bereits in einer Nische des Höhleneingangs. Myriam setzte sich zu ihnen auf den Boden, der mit Stroh bedeckt war. Mir fiel auf, wie angespannt hitzig und andächtig die Atmosphäre war, beides zugleich … und ich spürte, dass alle das Gefühl hatten, als würde der Meister selbst sprechen. Ganz gleich was geschehen würde, jetzt zählte nur noch dieser magische Augenblick. Nachdem Myriam sich gesetzt und einen Mantel aus grober Wolle über ihre Schultern gelegt hatte, war es eine ganze Weile still. Dann bekam einer der Männer auf einmal einen heftigen Hustenanfall. Seine Kameraden schauten ihn vorwurfsvoll an. Sie schämten sich zutiefst. Doch Myriam fing an zu lachen.
› “Damit beginnt die Lehre”, sagte sie. Die Jünglinge aber begriffen nicht.
“Ja, mit einem Lachen … denn das Universum ist aus einem Lachen heraus entstanden. Das ist euch neu … und auch ich wusste es nicht, bevor Er es mir offenbarte.”
› “Mit einem Lachen? Kannst du uns das erklären?” Der junge Mann, der recht überrascht nachgefragt hatte, hielt auf seinen Knien Schreibzeug bereit. Er balancierte dort ein leeres Pergamentblatt. Mit der anderen Hand rührte er mithilfe eines biegsamen Stiftes, in einem irdenen Napf mit zähflüssiger, schwärzlicher Masse.
› “Aber natürlich … Geht es nicht wesentlich um Freude und Spiel?”, fuhr Myriam fort. “Wenn ihr diesen weiten Weg auf euch genommen habt, so doch weil ihr eine Flamme in euch tragt. Was hat euch hierhergeführt, wenn nicht eine intensive Regung innerer Freude? Darüber habt ihr wahrscheinlich gar nicht nachgedacht … Man glaubt immer, man wolle etwas wissen. Man möchte verstehen und neue Einsichten bekommen, um dann Frieden in die Welt zu bringen – aber die entscheidende Frage stellt man sich gar nicht! Oftmals gehen wir nicht wirklich in uns. Wir fragen uns nicht, was uns dazu bringt, uns auf die Suche zu machen.
Ich aber sage euch, gemäß den Worten Dessen, der mein Lehrer war: Was uns zu Pilgern und ‘Friedenssuchern’ macht, ist die Erinnerung an die Freude. Wir tragen sie alle in uns … selbst in den Abgründen tiefster Trauer, auch wenn es uns nicht immer bewusst ist. Freude ist uns inne, denn sie ist der Lebenshauch, die unauslöschliche Spur des Geistes in uns, ohne den wir gar nicht leben könnten.
Freude, so erfuhr ich, ist die wesentliche Ausdrucksform des Vaters. Sie entzündet die Flamme – im Universum, wie auch in unserem Wesen. In Wahrheit, liebe Freunde, sind wir nämlich Früchte des Spiels, das von dieser Freude getragen wird. Werdet ihr euch daran erinnern?