Elfenprinzessin Rian muss sich in Australien und Singapur den schwersten Prüfungen ihres Lebens stellen. Unterstützung erhält sie von einem geheimnisvollen Mann, dem Korsar der Sieben Stürme, der bedeutend mehr als ein Pirat ist. Und nicht uneigennützig.
Er erhofft sich Hilfe von Rian, da er einem entsetzlichen Fluch unterworfen ist. Rian verliert auf ihrer Reise mehr und mehr den Bezug zur Anderswelt und beschleunigt dadurch den Untergang.
Alebin hat seine Macht in Lyonesse gefestigt und fängt an, seine Klauen nach der Menschenwelt auszustrecken – doch da stellt sich Nadja ihm ein letztes Mal entgegen …
Das Ende aller Welten beginnt!
Verena Themsen verfasst regelmäßig seit Jahren Romane für Perry Rhodan. verenathemsen.de
Jana Paradigi lebt und schreibt in Österreich, sie schreibt erfolgreich in verschiedenen Genres, unter anderem auch für die Endzeit-Saga MADDRAX. janaparadigi.de
Michael Marcus Thurner veröffentlicht (Dark) Fantasy und Science Fiction und verfasst seit vielen Jahren Romane für Perry Rhodan. mmthurner.at
Dem Getreuen ist es gelungen, sich nach seiner Vernichtung während Ragnarök zu regenerieren. Er ist nach Tara zurückgekehrt und unterstützt Bandorchu bei ihren weiteren Vorbereitungen auf den Krieg gegen Fanmór und um den Thron von Crain.
Auch Alebin hat es dank des Tabus des Getreuen geschafft zu überleben und ist während der Wirren nach Cornwall gelangt. Zusammen mit dem alten Katzengeist Shumoonya hat er Lyonesse im Handstreich eingenommen, und nicht nur das: Er hat nun auch Talamh, Nadja und David in seiner Gewalt und erklärt Fanmór und Bandorchu den Krieg.
Nadja Oreso muss erneut ein Bündnis mit dem Getreuen eingehen, um David und Talamh zu befreien – und Lyonesse am besten gleich mit.
Talamh, der Sohn des Frühlingszwielichts, ist noch ein winziges Baby und geht Alebin gründlich auf die Nerven, indem er dessen Pläne mit Blumen sabotiert.
Dafydd/David Bonet ist wieder einmal ein Gefangener und muss genau wie Prometheus unbeschreibliche Qualen erleiden.
Rhiannon/Rian Bonet sucht weiter nach dem Quell der Unsterblichkeit und gerät ebenfalls in Gefangenschaft.
Der Grogoch und Pirx – die beiden Kobolde sollen die Prinzessin schützen, was ihnen eher schlecht gelingt.
Arun, der Korsar, ist ein außergewöhnlicher Pirat, belastet mit einem Fluch, dessen Erlösung Rian vielleicht ermöglichen kann.
Alebin weitet seine Macht in Lyonesse aus und geht ins Schattenland, um Verbündete für seinen Krieg gegen die Anderswelt zu gewinnen.
Cunomorus – der unglückliche König von Lyonesse, Vater von Tristan, muss eine Entscheidung treffen.
Podarge und Hadubey werden zu ungewöhnlichen Verbündeten in Nadjas Kampf gegen Alebin.
Nemesis ist auf der Suche und tritt in vielfältiger Gestalt auf.
Das Baumschloss im November.
Nadja und David waren soeben aufgebrochen, um ihren entführten Sohn Talamh von Königin Bandorchu auszulösen. Regiatus und die Blaue Dame hatten die Vermittlungen aufgenommen. Rian hatte ihrem Vater bittere Vorwürfe gemacht und verkündet, ab sofort eigene Entscheidungen zu treffen.
Nun stand die Prinzessin draußen vor dem Schloss und dachte über die Konsequenzen nach.
Alles ändert sich, und nichts wird jemals wieder sein wie zuvor.
Die Erkenntnis traf Rian nicht zum ersten Mal und dennoch erfüllte sie die Prinzessin der Sidhe Crain nach wie vor mit einer Mischung aus Grauen und Faszination. Unvorstellbar lange war die Anderswelt stabil gewesen, unverrückbar und fest in den Formen, in denen sie entstanden war. Doch nun veränderte sie sich mit einer Geschwindigkeit, die Rian schwindeln machte. Und ihr war klar, dass es Spuren hinterlassen würde, selbst wenn es ihr gelingen sollte, ihre Welt zu heilen. Spuren in der Welt und Spuren in deren Bewohnern. Spuren in ihr.
Sie hob den Kopf, strich über ihr kurzes blondes Struwwelhaar und sah am Stamm des mächtigen Baumschlosses entlang aufwärts, bis ihr Blick sich zwischen Ästen und Zweigen verlor. Äste und Zweige, die von grünem Laub und Blüten hätten bedeckt sein müssen. Doch seit Talamhs Entführung durch die Schergen der Dunklen Königin Bandorchu war das kurze Atemholen vorbei, das ihnen während der Anwesenheit des Sohns des Frühlingszwielichts vergönnt gewesen war. Für wenige Tage hatte Davids und Nadjas Kind das Sterben vergessen lassen, das mit dem Verlust der Unsterblichkeit in der Anderswelt begonnen hatte. Inzwischen wurde wieder Laub in Schubkarren aus dem Schloss gekarrt, von Elfenwesen, die mit jedem Tag grauer und gebeugter wirkten.
Veränderungen bewirken weitere Veränderungen und können nur mit Veränderungen bekämpft werden. Nichts wird jemals wieder sein, wie es war, so sehr die anderen sich das auch wünschen mögen.
Sie löste den Blick wieder von ihrem Heim, in dem ihr Vater, der Riese Fanmór, in diesem Moment sicherlich über das Zerwürfnis mit seinen Kindern und die Hoffnungslosigkeit der Zukunft nachgrübelte. Ihre gänzlich violetten Augen wirkten matt und müde, als sie sich umdrehte und stattdessen den Weg entlang sah, der zwischen die sanften, ehemals mit buntgetupftem Grün bedeckten Hügel führte, deren Braun nicht weniger niederschmetternd war als das fallende Laub.
Etwas zupfte am Kunstpelzbesatz ihres in der Menschenwelt erstandenen gefütterten weißen Wollmantels, und sie sah hinunter zu dem ihr bis knapp übers Knie reichenden Grogoch. Der nur in sein langes braunes Körperhaar gehüllte Kobold erwiderte ihren Blick aus dunklen Augen.
»Und was jetzt?«, fragte er. »Wohin gehen wir?«
»Ja, wohin geht die Reise dieses Mal? Muss ne kalte Gegend sein, so wie du angezogen bist …«, piepste es von der anderen Seite, wo der nur halb so große Igelpixie Pirx ungeduldig auf der Stelle trippelte und sein rotes Mützchen zwischen den Händen knetete.
Rian lächelte schwach.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass wir die Suche fortsetzen müssen, damit nicht alles verloren ist«, sagte sie. »Nur wenn wir den Quell der Unsterblichkeit finden, können wir sowohl unser Volk retten als auch Talamh von Bandorchu freikaufen.«
»Und Nadja und David vermutlich dazu«, murmelte der Grogoch.
Die Prinzessin verzog das Gesicht. Es gefiel ihr genauso wenig wie den anderen, dass ihr Zwillingsbruder und ihre Freundin zur Herrscherin von Tara aufgebrochen waren, um mit ihr zu verhandeln. Aber ebenso, wie sie erklärt hatte, einen eigenen Willen für sich zu beanspruchen, musste sie ihrem Bruder den seinen lassen. Und wenn dieser sie beide nun auseinander führte, war das nur die logische Fortsetzung dessen, was im Moment des Erwachens begonnen hatte.
Nur war es das erste Mal ohne ihn, dass sie eine Reise unternahm, und sie hatte Angst davor, es wäre endgültig.
Alles ist im Fluss. Alles verändert sich. Auch wir. Jeder muss erkennen, wer er ist. Und wir müssen alle lernen, uns in der neuen Welt zurechtzufinden und unsere eigenen Wege zu beschreiten.
»Am besten sollten wir die großen Wissenssammlungen der Menschen aufsuchen, um Ideen zu gewinnen, wo wir mit der Suche weitermachen können. Und da dort der Winter naht, brauche ich passende Kleidung«, erklärte Rian ihr kleines bisschen Plan, während sie eine Mütze mit Kunstpelzbesatz aufsetzte und dann ihre gefütterten Handschuhe aus weichem weißem Leder aus dem Reisesack holte und anzog. »Das British Museum in London ist bestimmt ein guter Startpunkt, weil dort Wissen aus vielen Regionen und Zeiten gesammelt ist. Mit ein wenig Verhandlungsgeschick kommt man sicher auch an die endlosen Archive heran, die sie abseits der Öffentlichkeit haben, und muss sich nicht auf die unwichtigen Ausstellungsstücke beschränken. Grog?«
Der Grogoch hatte sich geräuspert, und Rian wandte sich ihm zu. Ohne die Prinzessin anzusehen zwirbelte er an seinen Haaren herum.
»Ich … ich wollte einen Vorschlag machen«, sagte er. »Es gibt da etwas, was ich schon eine Weile tun wollte, wozu ich aber nicht gekommen bin. Ich weiß nicht, ob dir jemand von Hyazinthe erzählt hat …« Er sah kurz zu Pirx, der die Augen verdrehte.
Rian schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Wer ist das?«
Die Prinzessin hatte den Eindruck, dass Grog im Gesicht eine Spur dunkler wurde, doch unter seinem dichten Haar war das schwer zu sagen.
»Sie ist eine Wassernymphe, und eine gute Freundin von mir aus meinen jüngeren Tagen«, sagte er mit leichter Verlegenheit in der Stimme. »Sie war mit uns auf Sizilien in der Höhle der Skylla gefangen, und nachdem wir sie befreit haben, hat sie mir gesagt, dass ich was bei ihr gut hätte. Na ja, eigentlich war es Nadja, die dafür gesorgt hat, dass alle Überlebenden da raus kamen, aber … Hyazinthe wusste das nicht, und Nadja hätte sicher nichts gegen den Gefallen einzuwenden gehabt, den ich mir erbeten habe.«
Rian schmunzelte unwillkürlich. Den gesetzten und ruhigen Grog einmal verlegen zu sehen war etwas, das man nicht oft erlebte. Anscheinend war diese Hyazinthe mehr als nur eine ›gute Freundin‹ gewesen. Wenn man das Wesen der Nymphen bedachte, war das nicht besonders verwunderlich.
»Was für ein Gefallen war das denn?«
»Ich habe sie gebeten, sich ein wenig umzuhören. Ich meine, ein ›Quell der Unsterblichkeit‹ klingt doch wie etwas, von dem Wasserwesen eigentlich wissen müssten, oder? Also erschien es mir naheliegend, sie darum zu bitten. Und sie hat mir kürzlich durch einen Wasserfloh mitteilen lassen, dass sie etwas herausgefunden hat. Durch die Aufregung von Talamhs Entführung bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mit ihr in Verbindung zu treten und sie zu fragen, was es ist. Sie wollte, dass ich persönlich vorbei komme, aber das war bisher nicht möglich.«
Rian nickte. »Und du denkst, wir sollten sie aufsuchen? Weißt du denn, wo sie zu finden ist?«
»Der Wasserfloh hat mir ein Haar von ihr gebracht. Damit kann ich ein Tor direkt zu ihr öffnen.« Er griff unter sein langes Haar und förderte eine dünne Kette zutage, an der etwas hing, das sich wand und schillerte wie ein Wasserfaden im Wind.
»Gut. Einen Versuch ist es in jedem Fall wert«, entschied Rian. »Gehen wir.«
»Oh«, sagte Rian, als sie die mit braunen Blättern behangenen Zweige der Trauerbuche beiseiteschob und auf das raureifbedeckte Gras hinaustrat. »Deine Nymphe lebt nicht schlecht.«
»Das sind nicht die Schwarzberge«, erwiderte Grog verdutzt.
»Das ist nicht mal mehr das Hoheitsgebiet der Crain, sollten wir von hier in die Anderswelt wechseln«, stellte Pirx fest. »Aber nebenan liegt immer noch Earrach, das kann ich spüren.«
»Ich glaube, wir sind in Deutschland«, murmelte Rian.
»Woran willst du das denn erkennen?«
»Ich weiß nicht … diese Art der Bepflanzung … der Baustil … erinnert euch das nicht an unsere Suche damals, nach dem Quell der Nibelungen?«
»Hu, erwähn bloß nicht den Alberich!« Pirx schüttelte es.
Das Tor hatte sie unter die glockenartig geformte Krone des Baums geführt. Die Buche wuchs inmitten eines Parkgeländes, das auf einer Seite an einem Flussufer endete. Ein im winterlich-trüben Abendlicht hell schimmernder Kiesweg und ein breiter Streifen gefrorenen Rasens trennten sie vom Wasser.
Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich ein weiterer Park. Zwischen den kahlen Bäumen hindurch war ein breites Herrenhaus aus hellem Stein erkennbar, das schon einem Schloss gleichkam. Eine Fahne wehte über dem vorkragenden kuppelartigen Dach des Mittelteils, der vermutlich den Treppenaufgang beherbergte, und Schornsteine reihten sich auf dem langgestreckten Dachfirst, die darauf hindeuteten, dass es eine nicht unerhebliche Anzahl zu heizender Räume darunter gab.
Rian zählte an den Seitenflügeln fünf Fensterreihen übereinander, während in der Mitte die zweite Reihe von unten fehlte, weil die darunterliegenden hohe Fenstertüren waren. Davor lag ein ausladender Balkon mit schmiedeisernem Geländer. Rian stellte sich in Gedanken den Saal dahinter vor. Sicherlich waren dort unter vergoldeten Stuckverzierungen und Kandelabern, erhellt durch Spiegel und Wandleuchter und unter den Augen gemalter Herrscher oder Sagengestalten einmal rauschende Feste gefeiert worden, die denen im Baumschloss der Crain nahe kamen. Abgesehen von den Spiegeln natürlich.
Den Festen aus den Tagen vor der Zeit … jetzt ist dort niemandem mehr zum Feiern zumute.
Neben Rian raschelte trockenes Laub und riss sie aus ihren Gedanken. Pirx und Grog schlüpften ebenfalls durch die Zweige, duckten sich unter einem niedrigen Abspanndraht hindurch und traten auf den Weg. Mit neugierig blitzenden Knopfaugen sah der Pixie sich um.
»Und wo ist deine Nymphe nun, Grog?«
Der ältere Feenkobold hob den Wasserfaden und beobachtete die Richtung, in die er sich neigte. »Dort«, stellte er fest und deutete zum Fluss.
Pirx beäugte das schnell fließende Gewässer misstrauisch. »Doch hoffentlich nicht da drin? Ich habe in letzter Zeit keine guten Erfahrungen mit Wasser gemacht, schon gar nicht, wenn es so kalt ist und so schnell fließt.«
Grog zog den Kopf ein wenig ein, als würde auch er den Gedanken nicht sonderlich mögen.
»Nein, ich denke, sie ist auf der anderen Seite, irgendwo in dem Park dort«, antwortete er. »Hyazinthe ist eine Quellnymphe, die mögen lieber ruhigeres Wasser, oder zumindest nicht so breites und tiefes.«
»Das da sieht doch nach ner Quelle aus«, meinte Pirx und deutete flussaufwärts. Dort stand zwischen hohen Bäumen ein schlanker schmaler Pavillon aus hellem Stein, unter dem sich aus einem Felsenloch Wasser in den Fluss ergoss.
Grog runzelte die Stirn und konsultierte seinen Faden. »Die Richtung stimmt nicht. Aber es ist ein Anfang. Gehen wir erst einmal rüber, würde ich vorschlagen. Ich glaube, da unten ist eine Brücke.«
Sie überquerten die Brücke, und Rian hauchte einem Stöckchen ein wenig Elfenmagie ein, um das Schloss des schmiedeeisernen Tors auf der anderen Seite zu öffnen. Schnell schlüpften sie hindurch, obwohl es ohnehin unwahrscheinlich war, dass sie beobachtet wurden. Kein Spaziergänger war zu sehen, was aufgrund des bedeckten Himmels, der nahenden Dunkelheit und der Winterkälte nicht verwunderlich war.
Auf der anderen Seite gingen sie am Ufer entlang, bis sie den Pavillon erreichten. In der Mitte der vier Säulen, die ein quadratisches Spitzgiebeldach trugen, konsultierte Grog erneut seinen Faden.
»Da lang«, sagte er und deutete in die Richtung, in der von dem Pavillon weg zwischen den Bäumen ein Weg verlief. Er führte auf ein kleines steinernes Häuschen zu, das neben dem Herrenhaus stand und Teil einer Absperrung aus Flechtwänden war. Der schmiedeeiserne Zaun schien um das gesamte Grundstück zu führen. Immer wieder warf Rian kurze Blicke zu dem Lustgarten vor dem Haupthaus, der aus Rabatten und einem kleeblattförmigen Brunnen mit einem Kunstfelsen in der Mitte bestand. Das Anwesen gefiel ihr, es hatte etwas Vertrautes.
Die Jalousien an den Fenstern waren heruntergelassen, das Häuschen wirkte wie eine geschlossene Eintrittskartenbude oder ein Souvenirladen. Durch ein weiteres Tor gelangten sie zu einer Treppe, gesäumt von einer mit Statuen besetzten Brüstung. Dahinter erhob sich eine Mauer aus rot-grauem Stein. Eine in Gelb und Weiß gestrichene Kirche mit kunstvoll geschwungenen Zwiebeldächern und zwei passenden Türmchenspitzen ragte im Hintergrund empor.
Erneut hob Grog den Faden. Sie traten an die Brüstung bei der Treppe und schauten hinunter. Der größte Teil unten wurde von einem kreisrunden Wasserloch eingenommen, in dem vom sandigen Boden stetig kleine Luftperlen aufstiegen. Das Wasser war klar, die Pflanzen darin wiegten sich in der leichten Strömung um den vergitterten Abfluss. Münzen glitzerten dazwischen, das übliche Wunschpfand der Menschen, obwohl sie gar nicht daran glaubten.
Wenn Bandorchus Pläne aufgehen, wird ihnen allerdings bald nichts anderes mehr übrig bleiben, als an Magie zu glauben.
Sie stiegen hinunter bis zu der Gitterabsperrung. »Hyazinthe?«, rief Grog leise. »Bist du da?«
»Hier«, erklang eine hohle Stimme seitlich unter ihnen.
Rian beugte sich weiter vor und ließ ihre Augen suchend über das Wasser schweifen. »Willst du dich nicht zeigen?«
»Wer ist da bei dir?«, fragte die Stimme.
»Prinzessin Rhiannon und Pirx«, antwortete Grog.
»Prinzessin Rhiannon? Welch hoher Besuch! Wartet, da muss ich mich zuerst angemessen herrichten.«
»Nicht nötig, ich bin nicht offiziell hier!«, rief Rian abwehrend.
»Warum bist du nicht in den Schwarzbergen?«, fragte Grog.
»Nicht in diesen Zeiten. Bandorchu hat sie besetzt.«
Etwas schillerte am Ausfluss, als hätte jemand Silberflitter hineingekippt, der sich jedoch entgegen der Strömung verteilte. Das Schillern trieb zu ihnen und formte sich zu einer Gestalt, die sich aus dem Wasser erhob. Sie verneigte sich vor Rian, übersah Pirx und wandte ihre wasserblauen Augen zu Grog, lächelte und hob eine Hand, um ihm durch das Schutzgitter hindurch über das Haar zu streichen. »Da bist du ja, mein Grog. Ich habe mich schon so danach gesehnt, dich wiederzusehen …« Sie zog sich auf die Steinplatte hoch, die unter dem Ausfluss aus der Mauer ragte, und lehnte sich mit laszivem Augenaufschlag zurück. Grog folgte ihr am Gitter entlang, und als er sie erreichte, schob sie den Kopf hindurch und tauschte einen Kuss mit ihm, der Pirx die Mütze herunterreißen und vor das Gesicht halten ließ.
»Ah, Hyazinthe«, murmelte Grog und strich durch das Gitter über ihr Haar, »ich wäre gern früher gekommen …«
»… aber im Moment sind die Dinge etwas angespannt, und es ist wenig Zeit für Vergnügungsausflüge«, ergänzte Rian ungeduldig. »Grog sagte, du hättest etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«
Die Wassernymphe zog einen Schmollmund, bei dem selbst Rian anerkennen musste, dass er geeignet war, jeden schwach werden zu lassen. Doch sie hatten keine Zeit für solche Spielereien.
Keine Zeit … was zeigt die Veränderungen klarer auf, als dass ich so etwas denken kann?
»Ich habe da etwas in den Kalksteinkanälen säuseln hören«, sagte Hyazinthe und räkelte sich auf dem Steinabsatz. »Meine Cousine Melausina hat mir den Unterschlupf hier vorgeschlagen, und sie und ich streifen manchmal gemeinsam durch die Höhlen. Der Boden hier ist löchrig wie ein Schwamm, wunderbar für Streifzüge in jede Richtung, und vor allem sehr gut, um den Häschern zu entkommen, ihr wisst schon, von wem.« Sie sah Rian und die anderen bedeutungsvoll an.
»Bandorchu und der Getreue«, sprach Rian die Gedanken aller aus und musterte die Umgebung. »Sind sie immer noch hinter euch her?«
Die Wassernymphe hob die Schultern. »Wer weiß, Hoheit, aber wie sagt man? Vorsicht ist die Mutter der Eiskristallkleider. Jedenfalls, um auf das Eigentliche zurückzukommen … puh, ist das kalt.« Die Wassernymphe rieb ihre Oberarme und schob ihren wässrigen Körper ein Stück durch das Geländer hindurch, um sich an Grog anzuschmiegen, der sofort die Arme schützend um sie schloss. Dass sie in Verbindung mit dem Wasser stand, ermöglichte ihr hier all die Magie, die ihr in der Gefangenschaft nicht zur Verfügung gestanden hatte, sonst hätte kein Gefängnis sie halten können – ebenso wenig, wie man Wasser in einem Sieb halten konnte.
»Ich habe Melausina wegen dieser Sache mit dem Quell gefragt, und sie meinte, wenn jemand etwas dazu wissen könne, dann sei es Eigigu«, fuhr die Nymphe mit einem zufriedenen Lächeln fort.
Rian wartete, während die Nymphe sich tief in Grogs dichtes Haarkleid kuschelte, doch es kam nicht mehr.
»Eigigu?«, wiederholte die Prinzessin schließlich.
»Ja, Eigigu. Die Frau im Mond. Die weiß so ziemlich alles, sagt man, weil sie alles beobachten kann.«
»Frau im Mond?« Pirx kicherte. »Davon habe ich noch nie gehört.«
Die Nymphe musterte den kleinen Pixie. »Warst du Knirps denn überhaupt schon mal in Eas?«
»Ah … Eas …« Grogs Ausruf hatte etwas Schwärmerisches, und Hyazinthe sah lächelnd zu ihm auf.
»Wir könnten dort einmal miteinander schwimmen gehen.«
»Schwimmen?« Grog schüttelte sich, und ein paar Tröpfchen von Hyazinthes Wasser flogen durch die Luft. »Nein, danke. Aber die Strände …« Er seufzte.
Rian runzelte die Stirn. »Ich habe niemals von dieser Eigigu gehört. Wer und was ist sie?«
»Eigigu ist eine Menschenfrau von der Insel Nauru«, berichtete Hyazinthe. »Sie kann ziemlich gut mit Magie umgehen. Die haben da unten nie viel von der Trennung der Reiche gehalten, und das hat auch die Menschen verändert. Jedenfalls hat sie es geschafft, schon als Kind in unsere Welt zu wechseln. Dabei konnte Eigigu Enibarara helfen, der Königin von Naora, und später hat sich einer von Enibararas Söhnen in sie verguckt – ausgerechnet der schüchterne Maramen, der lieber im dortigen Mond sitzt als mit anderen zusammen zu sein. Der jungen Frau war es recht, weil sie sich gerade wegen irgendetwas mit ihrer Mutter überworfen hatte, und so ist sie mit ihm in den Mond gegangen. War wohl auch eher eine Eigenbrötlerin.«
»Und sie könnte etwas wissen?«
Hyazinthe zuckte die Achseln. »Sie lebt seit Jahrhunderten über Eas, dem Land der Fallenden Wasser, und sieht alles. Wenn jemand etwas über den Quell der Unsterblichkeit weiß, dann sie. Sie hat ja den lieben langen Tag nichts anderes zu tun als zuzuschauen. Also, für mich wäre das nichts.« Mit ihren langen Fingern kraulte sie Grogs Nacken und sah erneut zu ihm auf. Der alte Kobold neigte sich hinunter, und sie tauschten einen weiteren Kuss aus, der Pirx sämtliche Stacheln aufstellen ließ, und seine Nase zuckte.
Rian seufzte und musterte die Umgebung. »Und wie kommen wir jetzt von hier nach Eas?«, murmelte sie.
»Da kann ich euch helfen«, verkündete Hyazinthe mit einem Timbre in der Stimme, das verriet, dass sie gern noch bei ganz anderen Dingen geholfen hätte. »Melausina teilte es mir mit, weil sie selbst häufiger dorthin geht. Wie gesagt – wenn es kalt wird, geht unsereins auf Verwandtenbesuch in wärmere Gefilde.« Tröpfchen blitzten auf ihren Zähnen im letzten Abendlicht auf, als sie lächelte. »Familie kann etwas sehr Praktisches sein, auch wenn sie manchmal auf die Nerven geht.«
Rian lächelte schief. Über Familienprobleme musste die Nymphe ihr nichts erzählen.
»Also müssen wir Melausina aufsuchen? Wo finden wir sie?«
»Im Moment treibt sie sich wohl in einer Quelle herum, die auch mit dem Fluss hier in Verbindung steht. Blautopf nennen sie die Menschen. Aber ihr müsst da gar nicht hin. Sie hat mir etwas dagelassen, für den Fall, dass ich plötzlich weg muss.« Hyazinthe zögerte kurz, ehe sie ein kleines schillerndes Schneckengehäuse aus ihrem Haar zog und in Grogs Hand drückte. »Geht damit zu einem fallenden Wasser. Ein wenig nördlich von hier gibt es eines, das ist geeignet. Ich würde euch ja durch das Wasser hinbringen, denn auch die Quelle dort mündet am Ende in diesen Fluss, aber ich glaube, mein Groggelchen wäre da nicht so begeistert.« Sie griff an Grogs Ohr und kitzelte es.
»Groggelchen!« Pirx kicherte und bekam dafür von dem älteren Kobold einen Klaps auf den Hinterkopf. »Autsch!«
»Wir werden es schon finden, denke ich«, sagte Rian. »Du weißt nicht zufällig, wo hier eine Tankstelle ist? Da können wir vielleicht erfahren, wo wir hin müssen.«
Die Nymphe bekam große Augen. »Eine … was?«
Rian winkte ab. »Vergiss es. Menschenkram. Aber manchmal recht nützlich.« Ihr Blick folgte der Treppe, die von dem Platz um die Quelle herum nach oben führte, wo sie schon zuvor den Kirchturm gesehen hatte. Mit einem Ruck schob sie ihre Reisetasche wieder auf den Rücken.
»Gehen wir ein wenig unter Menschen. Es wird sich schon etwas finden.«
Und es fand sich etwas. Nahe der Donauquelle gab es ein Restaurant, in dem Rian für sich und die Kobolde einen großen Salatteller bestellte und nach den Sehenswürdigkeiten der Umgebung fragte. Die Bedienung bestätigte, dass es nicht allzu weit entfernt den Triberger Wasserfall gäbe, und während Pirx sich schmatzend an den auf anderen Tischen zur Dekoration ausgestellten Blumen bediente, setzte sich wenig später ein junger Mann an Rians Tisch und erbot sich, ihr all das persönlich zu zeigen, was die Bedienung aufgezählt hatte.
»Im Mondschein bieten vor allem die Fälle im Moment einen wunderschönen Anblick«, erzählte er und lächelte Rian verheißungsvoll an. »Die Kälte lässt überall Eiszapfen entstehen, die auf bizarre Weise schön sind, besonders wenn sie im Mondlicht leuchten. Man könnte fast glauben, man sei in einer anderen Welt. – Und genau so schön ist es danach, in eine warme helle Stube zu kommen und einen heißen Tee mit Rum zu trinken, um sich aufzutauen.« Er zwinkerte und tastete nach Rians Hand.
Die Elfe erwiderte sein Lächeln. »Das würde ich wirklich gern sehen.«
Die Fahrt dauerte nicht allzu lange, und es war den Kobolden ein Leichtes, dafür zu sorgen, dass der junge Mann unterwegs einen plötzlichen Harndrang verspürte, der ihn in den Wald trieb und dort eine Weile festhielt. Rian, Pirx und Grog folgten derweil dem Weg vom Parkplatz in den Wald hinein. Es war eine klare Nacht, deren Kälte über dem Duft der Tannen den Geruch nach Schnee mit sich trug. Im Mondlicht glitzerte Raureif auf dem geteerten Weg, und in der windstillen Luft trug das Rauschen des Wassers bis weit in den Wald. Als sie auf dem in flachen Windungen abwärts führenden Weg eine Holzbrücke erreichten, die über den in Stufen den Fels hinabstürzenden Bach führte, hatte dessen Rauschen sich zu einem Brüllen gesteigert. Rian ging bis zu der Stelle, an der die Brücke etwas abknickte, ehe sie zum gegenüberliegenden Ufer führte, und sah fasziniert nach oben.
Es war so, wie der junge Mann es geschildert hatte. Das Wasser hatte hier in einer breiten Bahn den blanken Fels freigelegt, und überall, wo es nicht über die Kanten und Steine hinab in das Tal tobte, waren die Spritzer an den Felsen gefroren und hatten einen dicken Eispanzer geschaffen. Armdicke Eiszapfen und schlanke, teilweise dicht aneinander gereihte Türme schimmerten silbern im Mondlicht.
Grog zog das Schneckenhaus heraus und winkte damit. »Im Wasservorhang kann ich hiermit ein Tor nach Eas öffnen«, meinte er, als Rian sich zu ihm beugte. »Hyazinthe hat es mir genau erklärt. Hier geht es nicht, weil das Wasser nicht frei fällt. Wir müssen dorthin!« Er zeigte nach oben, wo das Wasser unter einer weiteren Brücke hindurchfloss und senkrecht in ein Becken stürzte, aus dem es sich dann über die steile Felsschräge vor ihnen ergoss.
Rian nickte und deutete auf die andere Seite. Der Weg ging dort bachaufwärts. »Da entlang.«
Ein Stück weit konnten sie dem Weg folgen, um höher zu kommen, doch er kam dem Bachlauf nicht nah genug, und so kletterten sie über das Geländer, rutschten über halb vereiste schlammige Erde und kraxelten über schlüpfrige und vereiste Felsen auf das Becken zu. An seinem Rand schoben sie sich dicht an die Felswand gedrückt von Stein zu Stein balancierend weiter darauf zu. Sprühnebel hing über allem, drang durch die Kleidung und legte sich klamm auf die Haut. Langsam begann die Kälte Rian zuzusetzen. Endlich standen sie so nah am fallenden Wasser, wie es überhaupt möglich war.
Rian blickte auf Grog hinunter. »Kannst du es von hier aus versuchen?«
Der Kobold hob die Meeresschnecke an und spähte darüber hinweg zum nahen Wasservorhang. »Ich denke schon.«
»Gut. Falls es klappt, müssen wir eben das letzte Stück springen.«
Nur ein kurzes Heben und Senken von Grogs Oberkörper verriet seinen tiefen Seufzer. Er war kein Freund von Wasser und der Sprung in dieses unbeliebte Element konnte ihm nicht behagen. Doch er hob ergeben das Schneckenhaus und ließ es in einer größer werdenden Spirale kreisen, während er Worte murmelte, die vom Tosen übertönt wurden.
Rian warf einen Blick zurück zu der Brücke, von der aus sie den Wasserfall betrachtet hatten. Dort stand der junge Mann, der sie hergebracht hatte, und winkte aufgeregt mit den Armen. Rian lächelte ihm zu und winkte zurück.
»Fertig«, rief Grog in diesem Moment. Ein sanfter, bunter Schimmer ging vom Schleier des Wasserfalls vor ihnen aus, als würde Licht von der anderen Seite sich darin brechen.
»Dann los«, rief Rian. »Bevor es sich wieder schließt.«
Mit einem Juchzer nahm Pirx Anlauf, sprang und kugelte sich im Lauf zusammen, ehe er in den Wasservorhang einschlug und verschwand. Grog zögerte, bis Rian ihn kurzerhand packte und hindurchwarf.
Rian musste keinen Anlauf nehmen; was für die Kobolde eines Sprungs bedurfte, war für sie kaum mehr als ein größerer Schritt. Noch einmal winkte sie dem jungen Mann zu, der mit vor dem Mund zu einer Röhre zusammengelegten Händen etwas rief. Dann ging sie durch das eiskalte Wasser.