Inhalt

Titelseite

Uschi Zietsch
Elfenzeit
Band 10
Triquetra
Das große Finale!

Die letzte Schlacht.
Der letzte Fluch.
Das letzte Opfer.
Alle Fäden führen zusammen.
Das Geheimnis wird gelüftet.
Was bleibt am Ende?
fabEbooks

Die Autorin:

Uschi Zietsch publiziert seit 1986 erfolgreich in verschiedenen Genres und kann auf weit über zweihundert Veröffentlichungen zurückblicken. uschizietsch.de

Impressum

Dieser Titel ist auch als Print erschienen.

Bildmaterial: kellepics/Stefan Keller
Gestaltung und Logo: Michael Steinmann Agentur
Die Karte schuf Dirk Schulz Animagic
Lektorat und Redaktion: Uschi Zietsch
Handlungsrahmen und Serienkonzept: Uschi Zietsch
© dieser überarbeiteten und erweiterten Ausgabe 2021 by Fabylon Verlag
www.fabylon.de
eMail: team@fabylon-verlag.de

Originalausgabe. Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-946773-36-8

Karte

Roman 19

Kampf um Earrach

Uschi Zietsch

Prolog
Was des einen Erlösung, ist des anderen Auflösung

Tief in seinem Inneren hatte er gewusst, dass es eines Tages so kommen musste. Zu viele Feinde, allen voran der Getreue, der ihn mit dem Tabu behaftet hatte. Er hatte bereits seit seiner Jugend, seit dem Verlust seines Geistschattens, damit gerechnet, dass seine Nemesis einst auf der Suche nach ihm sein würde. Merlin hatte ihn verstoßen und gewiss vorgesorgt, das hatte er immer getan.

Und deswegen hatte er sich darauf vorbereitet. Schon damals, als er noch jung und aufstrebend gewesen war, hatte er sich stets ein Hintertürchen offengehalten. Von Anfang an hatte er Rückversicherungen gebildet. Wesen, die ihm einen Gefallen schuldeten, Orte, die er präpariert hatte … und sich selbst geschützt, nachdem Merlin ihm das Furchtbarste angetan hatte, was einem Elfen zustoßen konnte. Es war die letzte Lektion des Zauberers gewesen, und er hatte sie sehr wohl begriffen und niemals vergessen: Nichts war sicher, man musste gegen alles gewappnet sein, sogar gegen den Tod.

Auch, wenn Nemesis nunmehr das Urteil verkündet hatte. Oder gerade dann.

Alebin schritt über die Schwelle nach Annuyn, wo der Graue Mann Samhain ihn schon erwartete, gleich nach dem Portal.

Der Schotte hatte nach seinem Tod nichts vergessen, er erinnerte sich an alles. Und genau das wusste der Herr der Schatten und Toten, deshalb war er hier. Sein Gesicht war düster und verhieß nichts Gutes.

Mit grauer Stimme sprach er: »Du bist hier nicht willkommen.«

»Nemesis schickt mich«, erwiderte Alebin kühn. »Ich habe das Recht, hierher zu kommen. Und noch mehr. Ich bin ein Elf hohen Geblüts, ich habe das Recht auf drei Fragen.«

Um zurückzukehren. Das höchste Gesetz der Elfen, das er in Anspruch nehmen durfte. Dieser Vorgang würde nicht allzu lange dauern. Alebin war in allen Disziplinen ausgebildet, gewieft und mit allen Wassern gewaschen. Nicht einmal der Tod konnte ihm etwas anhaben. Dafür hatte er gesorgt. Es gab Regeln! Die gab es immer.

»Wer, glaubst du wohl, hat das wahre Anrecht darauf?«, fragte Samhain.

»Ist das schon die erste Frage?«, versetzte Alebin frech.

»In der Tat«, erklang eine zweite, heisere, aus der Totengruft hallende Stimme, und nun wurde es Alebin doch ein wenig ungemütlich in seiner Schattenhaut.

»W-was für ein unerwartetes Vergnügen …«, stieß er hervor und erschauerte, ja, das tat er, hier in Annuyn, als Toter, als Schatten, unter dem Eishauch, der ihm entgegenschlug.

Samhain neigte leicht das graue Haupt vor dem Neuankömmling. »Ich habe dich erwartet. Sei gegrüßt.«

»Ich grüße dich ebenfalls«, gab der Getreue zurück. »Doch mein Besuch ist nur von kurzer Dauer.« Er wies auf Alebin.

Dieser war verunsichert. Wie kam der Kapuzenkerl hierher? Konnte der etwa in Annuyn ein- und ausgehen, wie es ihm beliebte? Das war in Alebins Planungen nicht einkalkuliert gewesen. Und dass Samhain den Vermummten nicht sofort wieder abwimmelte, gefiel ihm noch weniger. Die beiden schienen ziemlich vertraut miteinander …

»Meine Antwort«, begann er, doch der Getreue unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.

»Daran ist niemand interessiert.«

»Aber …«

Alebin stolperte zurück, als der Getreue ihm mit einem schnellen Schritt sehr nahe kam, ihn um mehr als Haupteslänge überragend und dadurch nur noch bedrohlicher. Der Umhang, schwärzer als die finsterste Nacht, schlug wie eine wütende Katze nach ihm.

»Wieso, glaubst du, hat deine Nemesis dich eingeholt?«, zischte der Mann ohne Schatten. »Als du aus Lyonesse geflohen bist, habe ich das Tabu aufgehoben, und du bist genau dorthin gerannt, wo ich dich haben wollte! Ins Niemalsland, wo es kein Entrinnen mehr gibt.«

»Äh …«

»Hast du tatsächlich angenommen, mir entkommen zu können?«

»Niemand fängt mich«, flüsterte Alebin. »Niemand kann mich festhalten.«

»Dann bin ich Niemand.«

Alebin wusste, dass der Getreue, obwohl sein Gesicht unter dem Kapuzenschatten verborgen war, dämonisch grinste. Hatte er das also geplant? Aber das war unmöglich! Das konnte keine Falle gewesen sein!

»Ich vergesse niemals, und ich übe selten Nachsicht«, fuhr der Getreue fort. »Nicht, wenn es sich um solche grausamen Verbrechen handelt wie bei dir, Alebin. Die Liste ist sehr lang, doch ich werde nur auf die abscheulichste Tat eingehen. Du bist verantwortlich für den Ausbruch von Ragnarök und Lokis Tod!«

»Er hat dir wohl viel bedeutet, hm?«, entfuhr es Alebin, und dazu grinste er boshaft. Ich bin verrückt, dachte er. Tot und verrückt. Ich lege mich immer noch mit diesem Kerl an. Aber ich kann eben nicht anders.

Eiskalter Hass, ausgehend von dem Getreuen, ging ihm durch und durch.

»Mehr, als du dir vorstellen kannst«, fauchte der Mann ohne Schatten.

Zum ersten Mal sprach auch Samhain wieder. »Er hat uns allen viel bedeutet, du armseliger Narr. Loki war der Lebensbringer. Sein Verlust ist unersetzlich.«

»Odin und seine Genossen haben es ihm allerdings schlecht gedankt«, bemerkte Alebin. »Denen habe ich einen Gefallen getan …«

»Aber die sind nicht hier, um für dich zu sprechen«, unterbrach der Graue Mann. »Keiner ist hier. Du bist allein.«

»Das war ich doch immer!«, schrie Alebin. »Wenn Einsamkeit einen Namen hat, so ist es der meine! Ich verlange meine drei Fragen, und ich verlange meine Rache!«

»Rache …«, hauchte es von fern.

Dann kamen sie heran. Schatten, so viele Schatten, dass Alebin sie nicht mehr zählen konnte. Sie kamen von überall aus dem grauen Land, in dem die Zeit keinen Einzug gehalten hatte. Die grauen Bäume trugen graue Blätter, Blüten und Früchte. Das graue Gras wuchs. Wenn die Welten starben, bliebe Annuyn dann wohl als Einzige übrig. Wie war das möglich?

»Rache …«, wiederholten die Schatten.

Einige besaßen vertraute Gestalt. Alebin erkannte ein paar wieder, wusste von manchen sogar noch den Namen. Es waren viele, so viele, die seinetwegen hier waren. Ein langes Leben, viele Tode.

Der Getreue hielt die Toten mit einer Handbewegung auf, und sie blieben stehen. Nur ein Schatten trat ein Stück näher heran, auf seinem Kopf schimmerte silbrig ein Geweih.

»Ainfar?«, sagte Alebin verdutzt. »Kleiner Bruder, du hier? Das wusste ich nicht …«

»Er kommt, um seinen Bruder abzuholen«, sagte der Getreue.

»Mich? Ich bin gerührt. Aber ich kann nicht blei-«

»Wer redet von dir?«

Das verschlug Alebin die Sprache. Entsetzt sah er, wie Samhain sich umdrehte und ging. »Das geht nicht!«, rief er. »Zuerst meine Fragen!«

»Du hast kein Anrecht darauf«, erwiderte der Graue Mann unterwegs, ohne sich ihm zuzuwenden. »Dich gibt es nicht mehr.«

»Was? Aber … geh nicht fort! Lass mich nicht allein mit … mit …«

Alebin stieß einen Schrei aus, als der Getreue plötzlich seine Schattengestalt packte.

»Merlin hat es durch seine Hellsichtigkeit geahnt«, zischte der Vermummte. »Er hat dir eine zweite Chance gegeben. Doch anstatt dir deinen Schatten zu verdienen, hast du dir einen geraubt – und unverzeihliche Blutschuld durch Brudermord begangen!«

Alebin geriet in Panik. »Lothyncam bat mich darum, er wollte erlöst werden!«

»Du wagst es immer noch, zu lügen?«, donnerte der Getreue, dass der Boden unter seinem Zorn erbebte. »Von welcher Erlösung sprichst du? Du hast deinem Bruder Annuyn verwehrt, hast ihn gezwungen, mit dir zu gehen, als dein Schatten in der Welt der Lebenden zu verweilen! Kannst du dir vorstellen, welche Pein er all die Jahrhunderte durchleiden musste? Welche Qualen er erduldete, obwohl er schuldlos war? Das ist dein zweitgrößter Frevel, Alebin. Lokis Tod gebar deine Nemesis, aber als du ins Niemalsland flohst, hat Lothyncams Schatten sie auf deine Fährte gerufen!«

»Nein!«, heulte Alebin auf. »Merlin hat mir meinen Geistschatten genommen, das war die größte Qual und der Beginn des Verbrechens! Er sagte, ich sei der Auserwählte!«

»Du hättest es sein können.«

»Er hat sich geirrt, der unfehlbare Zauberer und Manipulator! Denkst du, ich weiß nicht, wer auserwählt ist? Wieso werde ich bestraft, weil ich es nicht bin?«

»Du hast nie verstanden, weil du Merlin nicht zugehört hast! Ich wiederhole, du hättest dir deinen Geistschatten verdienen können, stattdessen hast du nur an deine Rache gedacht. Doch nun werde ich Gerechtigkeit üben und das Gleichgewicht wiederherstellen.«

»Billige Worte für deinen Rachedurst! Und macht dich das besser als mich?«

»Mit dir werden Hass und Vergeltung vergehen. Dein Gift wird getilgt, sowie Merlins Schuld. Und … die meine. Ich erlöse dich jetzt ebenso wie deinen Bruder. Sei dankbar um das, was ich dir gewähre, du warst nie so milde: Dir wird vergeben, Alebin, denn du hast deinen Sinn verloren.«

Und dann entriss er Alebin den gestohlenen Schatten seines Bruders.

Alebin war es, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen, obwohl er doch tot war. Er schrie gellend, während die eine Hand des Getreuen ihn unentrinnbar festhielt, und die andere an ihm ruckte und zerrte, bis die Nägel sich mit schrillem Klang lösten. Als ob Alebin entzweigerissen würde, und so war es auch.

Schließlich hielt der Getreue eine dünne Schattengestalt in der einen Hand, und in der anderen nur noch eine schlaffe, blasse Hülle.

Der Schatten mit dem Hirschgeweih trat näher, und der Getreue hielt ihm den schmalen Schemen hin. »So nimm denn deinen Bruder Lothyncam mit dir, Ainfar«, sagte er. »Auch dir sei vergeben. In naher Zukunft, wenn alles zu einem guten Ende gekommen ist und ihr zu euch gefunden habt, seien euch die drei Fragen gewährt. Begebt euch bis dahin in die Obhut Samhains. Er erwartet euch.«

»Danke«, hauchte der Schatten Lothyncams erlöst. Er folgte dem Schatten Ainfars zum Schloss des Grauen Herrn, und bereits auf dem Wege gewann er an Substanz.

Nicht mehr viel war allerdings von dem schattenlosen Alebin übrig, dem der Getreue sich nun zuwandte. »Deine Zeit ist vorüber«, sagte der Verhüllte mit tiefer, ja, sanfter Stimme, in der keine Kälte mehr lag. »Nun geh.«

Mit einem letzten Seufzen löste die Hülle sich auf.

1
Novembernebel

»Was für eine Stadt!«, rief John Jason Miller-Billingham III. enthusiastisch, als sie London Eye verließen.

»Und ob, mein Lieber«, stimmte ihm seine Frau Esther zu, geborene Eccletone, »die Mischung aus Alter und Moderne erscheint kontrovers und bizarr, aber hier funktioniert es auf eine geheimnisvolle Weise.«

Die beiden gut situierten Mittfünfziger stammten aus Manchester und gönnten sich anlässlich ihres fünfundzwanzigsten Hochzeitstags eine Kurzreise nach London. Kaum zu glauben, aber wahr – die beiden hatten bis dahin ihr ganzes Leben in Manchester und Umland verbracht. Sie hatten keinen Anlass gesehen, woandershin zu reisen. Beide waren behütet in begüterten Mittelstandsfamilien aufgewachsen und erstrebten nicht mehr. Aber nun – nun hatten sie den großen Schritt gewagt, sich in den Zug gesetzt und waren zur Victoria Station gefahren. Dort war alles sehr vertraut englisch – zumindest an der Victoria Street. Aber danach waren sie vom hektischen Chaos einer Metropole umgeben, das sie unwiderstehlich mit sich riss.

Es war schon fast dunkel, der Platz rund um das größte Riesenrad der Welt nahezu verwaist, jedoch nur ein paar Schritte weiter am South Bank Centre herrschte fröhlicher Trubel. Der Gebäudekomplex war an Hässlichkeit kaum zu überbieten, aber innen gab es jede Menge Unterhaltung, Kultur und Entspannung: Theater, Konzerthallen, Kinos, Bars, Restaurants, verträumte Cafés und ein paar versteckte Kunstgalerien. John Jason und Esther gönnten sich den Trubel und staunten, wie viele junge Leute aus aller Herren Länder es hier gab. Viele Aufführungen waren kostenlos, und vor allem die Spielsalons waren brechend voll. Nach einer Weile des Suchens fanden sie zwei freie Plätze in einem Café, bestellten sich ein Wasser (die Dame) und ein Bier (der Gentleman) und betrachteten fasziniert die vielen Menschen, die anscheinend alle genau wussten, wohin sie wollten und warum, und wie schnell sie dorthin gelangten.

»Eine völlig fremde Welt«, bemerkte John Jason nach einer Weile. »Ich hätte das nie gedacht … ich glaube, genauso gut könnte man auf einen anderen Planeten reisen.«

»Immerhin können wir uns sprachlich verständigen«, sagte Esther und fächelte sich mit einer Serviette Luft zu.

»Zumindest radebrechend, denn wer ist hier schon gebürtiger Engländer?« John Jason schlürfte sein Bier.

Sie zuckten beide leicht zusammen, als sich plötzlich unaufgefordert jemand zu ihnen setzte. Ein haariger Typ, man konnte es nicht anders sagen. Ungepflegte braune Zotteln, ähnlich wie aufgedröselte Rasta-Locken, ein wild wuchernder Bart, tief liegende, ein wenig unheilvoll glühende Augen.

»Ich bin ein gebürtiger Engländer«, sagte der Mann mit rauer Stimme. Als er merkte, dass das gut gekleidete Paar ihn irritiert anblickte, hob er den Ellbogen übertrieben hoch und hielt ihnen die nach unten gestreckte Hand hin. Er trug zwar einen Anzug, der jedoch völlig verschlissen und mehrmals dilettantisch geflickt war. Dazu ein rotgelb kariertes Hemd, eine grüngelb gestreifte Fliege und klobige staubige Schuhe. »Verzeihung. Ich kam nicht umhin, Ihre Unterhaltung mit anzuhören.« Seine Nase zuckte und bewegte sich unaufhörlich. »Ich habe sehr feine Ohren, wissen Sie, und ich höre selten derart gepflegtes Englisch.«

Weder Esther noch John Jason ergriffen die dargebotene Hand. Vielmehr runzelte der Gentleman die Stirn, die Dame kräuselte die Nase, und sie rückten beide ein wenig vom Tisch ab.

Der struppige Mann ließ die Hand fallen. »Mein Name ist Boone«, stellte er sich vor. »In London geboren und aufgewachsen und immer noch hier. Das treffen Sie nicht oft, kann ich Ihnen versichern.«

»Dann wollen Sie sich wohl als Touristenattraktion verkaufen?«, fragte John Jason mit hochgezogener Braue. Esther tupfte sich den Mund mit der Serviette ab.

Boones Zunge fuhr hektisch über seine Lippen. Nun zuckten auch seine ziemlich großen Ohren. Seine Blicke huschten flink durch den Raum. »Sie sind gut, Mann«, sagte er grinsend, wobei es mehr wie Zähnefletschen aussah, und seine Zähne waren äußerst groß und weiß. Er schüttelte den Kopf und kratzte sich heftig hinter dem Ohr.

Esther und John Jason waren beide nunmehr deutlich indigniert.

»Sagen Sie«, meinte Esther süffisant, »hat Ihr Herrchen Sie absichtlich von der Leine gelassen, oder sind Sie ausgebüxt?«

»Hä-hä«, machte Boone, aber er schien es der Dame nicht übel zu nehmen. »Wo kommt ihr beide denn her?«

»Manchester«, sagte John Jason, bevor Esther ihn anstoßen konnte.

»Mancunians, sosooo«, stieß der seltsame Mann gedehnt hervor. »Na, mir soll’s recht sein.« Er klatschte die Hände flach auf den Tisch und leckte sich erwartungsvoll die Lippen. Fehlte nur noch, dass er sabberte. »Was wollen wir trinken?«

»Nichts, Mister Boone«, antwortete John Jason kühl. »Wir haben keine Einladung ausgesprochen.«

»Aber ich!« Boone hielt einen Kellner auf. »He du, Champagner, und ein bisschen plötzlich, was?«

Der Kellner sah ihn begreiflicherweise misstrauisch an. »Und wer übernimmt die Rechnung, Sir?«

»Na, ich!«, kreischte Boone, zog ein Bündel 20- und 50-Pfundnoten aus der speckigen Hosentasche und wedelte damit vor dem Kellner herum. »Reicht das?«

Der Kellner nahm zwei 50-Pfund-Noten und nickte. Fast ein Kopfneigen. »Sie werden sofort bedient, Sir, zu Ihrer Zufriedenheit.«

»Drei Gläser!«, schrie Boone hinterher und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wuu-huu, das nenne ich mal einen freudigen Anlass. Wann treffe ich schon auf zwei gediegene Engländer aus Manchester!«

»Ist heute Vollmond?«, wandte Esther sich an ihren Mann.

»Ich glaube, wir sollten …«, setzte der an, verstummte jedoch erschrocken, als Boone erneut und diesmal heftig auf die Tischplatte schlug.

»Sitzenbleiben! Das dürft ihr nicht versäumen.«

Die beiden machten keine Anstalten mehr, aufzustehen. Boone beugte sich zu Esther hinüber und grinste sie schelmisch und anzüglich zugleich an. »So einer bin ich nicht, Süße«, raunte er ihr laut zu. »Ich hab viel mehr drauf.« Er packte ihre Hand und führte sie an seine Lippen, allerdings ohne sie zu berühren.

»Finger weg«, zischte John Jason, sein Gesicht wurde schmal und bleich.

»Sonst …? Willst du mir den Fehdehandschuh hinwerfen?« Boone winkte ab und fläzte sich in den Stuhl. »Den hab ich schon so oft gekriegt, Mann, das kann ich gar nicht mehr zählen. Aber unsereiner geht nicht so schnell kaputt.«

Das englische Paar wirkte nun deutlich verunsichert, wenngleich nicht ernstlich verängstigt.

»Ah! Der Champagner!« Überschwänglich empfing Boone den Kellner. Ringsum herrschte lebhafter Betrieb, sodass sich niemand um die seltsame Gesellschaft kümmerte.

»Sagen Sie …«, fing John Jason an, aber Boone unterbrach ihn mit heftig wedelnden Händen.

»Mein lieber Freund, ich habe Sie eingeladen, und nun stoßen Sie mit mir an! Lass nur, Waiter, ich mach das schon.« Er nahm dem Kellner die soeben geöffnete Flasche weg und goss großzügig schäumend ein, was bei Esther einen missbilligenden Seufzer auslöste. »Was denn, mach ich was falsch?«, fragte Boone sie gut gelaunt.

»Allerdings, Sie Prolet«, sagte sie scharf.

»Reicher Prolet«, korrigierte er.

»Wer’s glaubt.«

Boone ging nicht darauf ein, sondern stieß klirrend an die nunmehr klebrigen Gläser, und den beiden blieb nichts anderes übrig, als mitzumachen. »Sie haben sich mir noch gar nicht vorgestellt«, sagte er dann tadelnd und drohte mit dem erhobenen Zeigefinger. »Das ist sehr unhöflich, Mr. John Jason Miller-Billingham der Dritte.«

Esther verschluckte sich und hustete in die vorgehaltene Hand. John Jason war zwischen Schock und Faszination hin- und hergerissen. »Wer sind Sie?«, fragte er düster. »Woher wissen Sie über uns Bescheid?«

»Aber hören Sie, das ist doch wirklich nicht allzu schwer.« Boone zeigte seinem Gegenüber breit grinsend die lederne Brieftasche mit den Initialen MB III. »Ihr Führerschein …«

John Jasons Nasenrücken wurde weiß vor Zorn. Er riss Boone die Brieftasche aus der Hand und stellte fest, dass nicht ein Schein mehr darin war. »Sie … verdammter Dieb!«

Boone hob die Schultern. »Was soll’s! Die liebreizende Esther hat mir sowieso nicht geglaubt.«

»Geben Sie meinem Mann sofort das restliche Geld zurück!«, forderte sie ihn empört auf.

Er sah sie mit traurigem Hundeblick an. »Wenn Sie darauf bestehen …« Er warf John Jason die Scheine über den Tisch und lachte schallend, als habe er einen guten Witz gemacht.

Der Gentleman stieß beinahe sein Glas um, während er die Banknoten auffing, und Champagner schwappte über und tränkte den Tisch. Esther wich hastig zurück, bevor ihr feines Kostüm davon benetzt wurde. »Was wollen Sie denn nur von uns?«, sagte ihr Mann laut und so wütend, dass sich an den Nebentischen nun doch Einige zu ihnen drehten.

»Champagner trinken!«, verkündete Boone strahlend und goss nach. »Los, stoßen Sie mit mir an, nun, da wir Freunde geworden sind!«

»Wir hätten doch nach Crosby fahren sollen, wie Mommy uns geraten hat«, murmelte Esther und trank das Glas auf ex aus.

Boone starrte sie bewundernd an und goss ihr nach. »Ma’am, Sie haben einen Zug drauf, der mir gefällt!«

Sie schien ihn nicht zu hören und kippte das nächste Glas. »Da gibt es Strand und Ruhe, na schön, im November nicht so berauschend, aber dann gehen wir halt in die Ince Woods, Pilze suchen.« Sie hielt sich die Serviette erneut vor den Mund, als sie einen Schluckauf bekam.

Beschützend legte John Jason seine Hand auf ihre und drückte sie. »Boone.« Er sah den struppigen Mann eindringlich an. »Kommen Sie endlich zur Sache, meine Geduld ist erschöpft, und meine Frau auch.«

»Also schön.« Boone rückte nah an den Tisch und setzte eine ernste Miene auf, die ihn noch wölfischer aussehen ließ. »Ich will wirklich nichts weiter als Ihre Gesellschaft und diese Flasche Champagner. Sie sind echte Manc’s, und ich bin waschechter Londoner. Nur Leute wie Sie sind für mich von Belang, niemand sonst. Frisch und unverbraucht. Sie duften nach Unschuld und Bravheit. Ihr Leben verlief in stetig gleichen Bahnen, Sie sind ausgeglichen. Mehr kann ich mir nicht wünschen.«

»Ich verstehe nicht …«

»Natürlich nicht, Sterblicher. Das tut keiner von euch. Aber unsereiner muss sehen, wo er bleibt. Der Krieg ist ausgebrochen, verstehen Sie? Und ich brauche Kraft. Ich plane, zu verschwinden. Nicht nur aus Middleark, sondern überhaupt aus London. Crosby wäre da geeignet, sagten Sie, Ma’am?«

»Hick! Ja.«

»Ist es da hübsch?«

»Es ist nicht allzu groß, möcht‘ ich meinen. Sie als Londoner würden es als verschlafenes Nest bezeichnen, vor allem um diese Jahreszeit.«

»Friedlich?«

»Oh ja.«

»Herrlich.« Boone streckte seine Pranken aus. »Reichen Sie mir Ihre Hände.«

Die beiden gehorchten ohne zu zögern. Sie wussten nicht, dass sie keine Wahl mehr hatten. Boone schloss die Augen, als der Kontakt geschlossen war, und dann flossen feine, weißliche Fäden von den Menschen auf ihn über.

Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich sein Äußeres völlig gewandelt. Ein glatt geschniegelter und gebügelter junger Mann saß nun dem Paar gegenüber und lächelte es gewinnend an. Frisch rasiert, die dunklen Haare kurz und gepflegt, mit dem angemessenen Maß Gel. Sogar der zweireihige dunkelblaue Anzug mit Seidenkrawatte saß wie angegossen und war funkelnagelneu. Im feinen Leder seiner Schuhe konnte man sich spiegeln. »Sehen Sie? Ich hatte recht. Oh, ich danke Ihnen!« Er sprang federnd auf, beugte sich über Mrs. Miller-Billingham, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie auf ziemlich unbrüderliche Weise auf den Mund. Sie war so verblüfft, dass sie keinen Ton sagte, geschweige denn sich zur Wehr setzte, und ihn mit einem seltsamen Ausdruck ansah, als er sie wieder losließ.

Dann packte Boone John Jasons Rechte und schüttelte sie leidenschaftlich. »Auch Ihnen gebührt mein Dank, Sir! Sie haben mich wunderbar aufgemöbelt.«

»Ich bin ein bisschen müde …«, gestand der Mancunian mit schläfrigen Augen.

»Oh! Ja, ich weiß. Aber das gibt sich schnell, deswegen habe ich den Champagner bestellt. Sie müssen unbedingt noch etwas trinken! Ihre Frau hat es schon richtig gemacht.« Boone nötigte den Gentleman, sein Glas zu leeren.

»Wer sind Sie?«, stellte Esther zum wiederholten Mal die Frage.

Boone zwinkerte und schob die Haare hinter sein Ohr zurück.

Ihr stand daraufhin ganz undamenhaft der Mund offen.

»Aber sagen Sie’s keinem weiter!«, wisperte er munter. »Ich bin ein Rückwandler. Wenn die Kräfte mich verlassen, verwandle ich mich von diesem edlen, hoch entwickelten Wesen nach und nach in eine barbarische, primitive Kreatur. Wenn ich nicht rechtzeitig eingreife und mich wiederherstelle, kann das böse enden – indem ich vergesse, wer ich bin, und irgendwann für immer grunzend im Fell herumlaufe.«

»Sie Armer!«, sagte sie mitfühlend.

»Tja, wem sagen Sie das! Und das hab ich allein meinem Vater zu verdanken. Meistens sind die Väter schuld, wussten Sie das?«

»So gefallen Sie mir jedenfalls bedeutend besser. Und auch Ihre Manieren sind ganz ordentlich geworden.«

»Besten Dank. Nun muss ich aber wirklich los. Die Straßen sind in diesen Tagen alles andere als sicher. Sie sollten auch bald ins Hotel gehen! Da sind noch ganz andere als ich unterwegs …« Boone führte die Hand zum Abschied an die Stirn und gestelzt wieder weg, fast wie bei einem militärischen Gruß, lächelte herzlich und war verschwunden.

»Dann lass uns mal auf unseren Hochzeitstag anstoßen«, sagte Esther zu ihrem Mann, goss nach und stieß mit ihrem Glas sacht an seines. »Was bezahlt ist, wird auch getrunken. Hicks!«

Er war immer noch sprachlos, prostete seiner Gattin aber zu und trank.

»Was ist da eben passiert?«, fragte John Jason später auf der Straße. Inzwischen war es dunkel, und sie machten sich auf den Weg zur Waterloo Station. Dicker Nebel wallte ihnen aus den Straßen entgegen, trieb über die Hausdächer. Die typische englische Suppe, die von den Straßenlaternen kaum durchdrungen werden konnte.

»Ich habe keine Ahnung, mein Lieber«, äußerte Esther. »Sicher hat uns jemand einen Streich gespielt. Den Fulbert-Worthingtons würde ich das zutrauen.«

»Lord James und Henry? Stimmt. Die beiden werden nie erwachsen, kein Dinner vergeht ohne Dumme-Jungen-Streiche.«

»Das macht sie so amüsant. Und nicht zu vergessen: Sie sind unsere besten Freunde.«

John Jason wirkte nun deutlich erleichtert, was nicht zuletzt auch am Champagner liegen mochte, den er schnell hinuntergeschüttet hatte und der so angenehm im Kopf bitzelte. Außerdem hatte er das Gefühl, dass seine Füße leicht über dem Nebel schwebten und nicht mehr den Boden berührten. »Ja, das waren sie gewiss. Ein Rückwandler … wir müssen noch herausfinden, was damit gemeint ist.«

Esther hakte sich bei ihrem Mann unter. Die Stimmung war schaurig-schön. Die Beleuchtung des London Eye stach durch den dahintreibenden Nebel, ab und zu gab es klare Sicht, ein scharfer Kontrast zum verschwommenen Dunstvorhang. Als dabei einmal der Blick auf den Himmel frei wurde, blieb die Mancunian stehen. »Jason, der Himmel da oben …«

Sein Blick folgte ihrem Fingerzeig, doch das Nebelloch hatte sich schon wieder geschlossen. »Was denn, Herzblatt?«

»Ach, nichts. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, als würde er flackern.«

»Eine Folge des Champagners und eines anstrengenden Tages. Wir sind gleich bei der Tube, und dann nichts wie aufs Zimmer.«

»Es ist aber doch recht früh«, protestierte sie.

Er grinste schelmisch. »Wir können ja nachher noch mal in den Hotelpub.«

In ihre Augen trat ein Funkeln, das er schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ja, es war eine gute Idee gewesen, einmal etwas Verrücktes zu tun und nach London zu fahren.

Sie kamen an einem dunklen Treppenabstieg vorbei und fuhren zusammen, als plötzlich eine Gestalt von unten emportaumelte. Ein Mann in abgerissener Kleidung, mit strähnigen Haaren und dreckigem Hut – ein Obdachloser.

»Helfen Sie mir!«, rief er und streckte die Hände nach den Spaziergängern aus.

John Jason packte Esther fest am Arm und zog sie weiter, ohne den Mann zu beachten. Beide beschleunigten ihren Schritt.

Der Obdachlose humpelte hinter ihnen her, seine Stimme nahm einen immer flehenderen Klang an. »Bitte, bitte, gehen Sie nicht weg! Helfen Sie mir, ich weiß nicht, wohin! Sie sind hinter mir her …«

Das Paar ging hastig weiter, schweigend, ohne sich umzudrehen. Die schaurige Romantik im Nebel verging und machte kaltem Entsetzen Platz, das mit feuchtklammen Fingern nach ihnen griff.

»So warten Sie doch … hören Sie mir endlich zu!«

Plötzlich war der heruntergekommene Mann bei ihnen, hatte sie mit zwei Sätzen eingeholt, und packte Esther am Arm. Sie schrie auf und riss sich heftig von ihm los. John Jason fuhr herum, schob sich vor seine Frau und herrschte den Obdachlosen an: »Was wollen Sie denn, Mann?«

Der Bettler zog leicht den Kopf ein. »Helfen Sie mir«, wiederholte er flüsternd.

»Sie wollen ein Almosen? Bitte, hier haben Sie eins!« John Jason fischte nach seiner Brieftasche, doch der Mann hob abwehrend die Hände.

»Kein Almosen, Sir, nur nehmen Sie mich ein Stück mit, ich will nicht allein sein, ich brauche Schutz …«

»Hören Sie, wir sind aus Manchester und auf Urlaub. Sehen wir aus wie Bodyguards? Lassen Sie uns in Ruhe und wagen Sie es ja nicht noch einmal, meine Frau zu belästigen!« John Jason drohte dem Mann mit ausgestrecktem Arm und erhobenem Zeigefinger, während er Esther an der anderen Hand nahm und sie drängte, weiterzugehen. »Verfolgen Sie uns nicht mehr, sonst sehe ich mich genötigt, Sie anzuzeigen!«

Der Obdachlose fiel auf die Knie und faltete die Hände wie zum Gebet. »Ich bitte Sie, Sir, nur ein paar Meter, wohin auch immer Sie wollen! Ihr Licht gibt mir Schutz, ich möchte nur innerhalb Ihres Kreises bleiben!« Dann fing er an zu weinen. »Lassen Sie mich nicht allein!«

»Ich habe genug!« John Jason warf ihm eine 10-Pfund-Note hin. »Und nun leben Sie wohl!«

Das Paar eilte in den Nebel davon.

Esther blieb schlagartig stehen, als sie einen schrecklichen, fast unmenschlichen Schrei hinter sich hörte. »Um Gottes willen, Jason, wenn das der Mann war …«

»Dann können wir jetzt auch nichts mehr tun«, murmelte er und zog sie weiter. »Wenn er überfallen worden ist, Esther, nicht auszudenken – ich habe Geld bei mir, und du bist eine Frau … wir können nicht zurück.«

»Aber der Mann …«

»Das ist ein armer Tropf, ja, aber du bist mir wichtiger. Los jetzt, wir sind gleich da …«

Sie konnten kaum mehr etwas erkennen, die Suppe wurde immer dicker. Seltsame Geräusche klangen durch den Nebel; keine anderen Menschen waren in der Nähe. Obwohl es nicht spät war, schienen sie die einzigen Leute hier zu sein. Auch in dem großen Kreisel der Waterloo/York Road herrschte gähnende Leere – kein Auto unterwegs. Wo waren sie nur alle? Sie hielten sich rechter Hand und hasteten an dem großen, hell erleuchteten IMAX-Kino vorbei.

Esthers Hand krallte sich in den Mantel ihres Mannes. »Ich habe Angst, Jason«, stieß sie hervor.

»Unsinn, das macht der Champagner«, erwiderte er fast grob, doch in seiner Stimme lag selbst ein leises Zittern.

Die Luft über ihnen fing an zu brummen, als ob ein Flugzeug darüber zog. Oder ein Hubschrauber?

Ein zweiter Schrei erklang, diesmal ganz in der Nähe, und dann rannte aus dem immer noch vom IMAX hell angestrahlten Nebel eine Gestalt auf sie zu und ruderte heftig mit den Armen. »Weg hier, weg, schnell! Sie kommen!« Eine weitere Gestalt folgte der ersten und rief verzweifelt: »Warte doch auf mich, ich kann nicht so schnell!«

Auch diese Menschen sahen wie Obdachlose aus, die Augen in den schmutzigen Gesichtern waren weit aufgerissen und rollten in ihren Höhlen. Sie hatten offensichtlich vor irgendetwas entsetzliche Angst.

»J-Jason«, stammelte Esther.

»Nur ruhig, nur ruhig«, stotterte er. »Ich kann die Station schon sehen …«

Das stimmte, das U-Bahn-Schild mit der Aufschrift »Waterloo« leuchtete bereits verschwommen durch den düsteren Dunst.

Das Licht flackerte, als der erste Mann an ihnen vorbeirannte. »Sie kommen herauf!«, schrie er. »Verflucht sind wir alle, nichts ist mehr sicher. Der Untergang ist nahe!«

»Warte, warte doch!«, wiederholte der zweite Obdachlose, dessen Abstand immer größer wurde.

John Jason packte seine Frau und drückte sie hastig an eine Mauer, als er plötzlich weitere Schemen im nunmehr unnatürlich aufleuchtenden Nebel auftauchen sah, die den Obdachlosen folgten.

Sie hatten keine menschlichen Konturen.

Von überallher flossen sie plötzlich heran, schienen durch den glühenden Nebel zu schweben, unförmige, sich ständig verformende Schatten, begleitet von tiefen, schaurigen Tönen, die um sie herum schwangen.

»Lauf! Lauf!«, rief der Erste, der mit heftig schlenkernden Armen immer noch schneller rannte, quer über die Straße, ohne nach rechts oder links zu schauen.

»Waaaarte«, heulte der Zweite und nahm die Beine in die Hand, doch es war zu spät. Plötzlich waren die Schemen rings um ihn, und er blieb stehen. »Lasst mich in Ruhe! Ich hab euch nichts getan, ich hab niemandem was getan!«

Das Dröhnen nahm zu, lähmte fast das Gehör. John Jason und Esther waren zu keiner Regung mehr fähig, während der umzingelte Obdachlose wild um sich hieb. »Nein! Nein!« Da schlug der erste Schemen blitzschnell zu, und er schrie gellend auf. Zwei andere griffen nach seinen Beinen, während er stürzte, und zerrten ihn mit sich, zurück in den glühenden Nebel. Der Obdachlose schrie und flehte jämmerlich, bettelte um Gnade, und dann, abrupt, herrschte Stille.

Das Dröhnen verhallte, und das Leuchten im Nebel wurde auf diffuses Dämmerlicht gedimmt.

»Oh mein Gott …«, schluchzte Esther fassungslos auf und klammerte sich an ihren Mann.

John Jason hielt sie im Arm, ihm schlotterten selbst die Knie. »Was geht hier nur vor sich …«

Es mochten vielleicht noch zwanzig Meter bis zum ersten Abgang zur Tube sein. Aber wie es aussah, waren diese zwanzig Meter weiter entfernt als Dover von Calais.

»Komm, Esther, gehen wir, solange sie beschäftigt sind … es ist nicht mehr weit, wir schaffen das …« Er schleppte sie mehr, als dass er sie führte, und sie taumelten die York Road hinunter, als plötzlich zwei Lichter wie Augen durch den Nebel stachen und Motorengeräusch näherkam. Kurz darauf hielt ein silberfarbener Volvo XC90 SUV mit quietschenden Reifen neben ihnen, die Fahrertür wurde aufgerissen – und Boone sprang heraus.

»Schnell, rein ins Auto!«, schrie er und riss die hintere Tür auf. Ehe das Paar sich versah, hatte er es hineingeschubst, dass es halb übereinander fiel, und gleich darauf ging es mit Vollgas weiter, über die Stamford zur Blackfriars, um über die Themse auf die A 1 North zu gelangen.

»Boone, wo kommen Sie auf einmal her?«, fragte John Jason, während seine Frau und er sich auseinander sortierten.

»Eine Nebenwirkung«, antwortete Boone, während er sich in halsbrecherischer Geschwindigkeit in den Verkehr einfädelte. »Wir sind noch frisch miteinander verbunden, ich spürte Ihre Angst, und, na ja, was soll ich sagen – es könnte unangenehm für mich werden, wenn Ihnen während unserer bestehenden Verbindung was passiert. Verflucht, warum haben Sie nicht auf mich gehört und sind gleich abgehauen?«

»Es war noch Champagner da«, erinnerte Esther.

»Würden Sie uns jetzt zu unserem Hotel fahren, Boone?«

»Vergessen Sie’s. Lassen Sie sich die Sachen zuschicken, wir verschwinden auf dem schnellsten Weg nach Norden. Crosby, sagten Sie, Ma’am?«

»Ja, aber wir …«

»Hat Ihnen das Abenteuer noch nicht gereicht?«, keifte Boone und riss gerade rechtzeitig das Steuer herum, bevor er auf einen bremsenden Wagen auffuhr.

»Halten Sie an!«, befahl John Jason.

»So sehen Sie aus!«

Der Mancunian hatte genug. Er verpasste Boone einen Hieb gegen den Hinterkopf und zog ihn kräftig am spitzen langen Ohr. »Anhalten! Sofort!«

»Auau!«, schrie Boone auf. »Ist ja gut, Mann, beruhigen Sie sich!« Er lenkte den Wagen an den linken Rand und stoppte mit Warnblinker. Dann drehte er sich um. »Zufrieden?«

John Jason atmete heftig, doch seine Stimme klang beherrscht. »Sie erklären uns jetzt sofort, was hier los ist, oder, ich schwöre Ihnen bei Gott und allen Erzengeln, Sie werden es bereuen!«

Esther drückte sich an ihren Mann und nickte beipflichtend, die Lippen fest zusammengepresst.

Boone hob beschwichtigend eine Hand. Dann seufzte er. »Also gut. Sie werden es sowieso nicht verstehen. Oder glauben. Aber was soll’s, bald werdet ihr euch notgedrungen alle damit abfinden müssen, dass es wahr ist.«

»Dass was wahr ist?«, stieß John Jason zwischen den Zähnen hervor.

Boone wies um sich. »Das hier ist nicht die einzige Welt. Wie in euren Märchen, ja? Die Anderswelt ist da. Sie existiert. Heute noch, neben, zwischen, unter und mit euch.« Er tippte gegen sein malträtiertes Ohr. »Sie haben es gerade getestet. Das hier ist kein Mr. Spock, sondern echt. Ich bin ein Elf, und ich stamme ursprünglich aus Llundain. Und bevor Sie nachfragen, den Namen habt ihr von uns geklaut, nicht umgekehrt.«

Das Paar hörte ihm aufmerksam zu. Mit völlig unbewegten Gesichtern.

»Llundain«, fuhr Boone fort, »ist das Elfenkönigreich, das in etwa das Gebiet des heutigen London innerhalb des Orbitals umfasst. Seine Herrscherin ist Königin Bethlana. Llundain ist tributpflichtig an das Großreich Earrach, aber wie die meisten Königreiche autonom – mit Ausnahme des Kriegsfalls. Tja, und da sind wir schon bei unserem aktuellen Problem: Es herrscht Krieg, und jeder, der waffenfähig ist, wird eingezogen. Für die eine oder andere Seite. Wer eben schneller ist. Aber der alte Boone will da nicht mitmachen, verstehen Sie?«

Man sah dem Paar an, dass es nicht so ganz sicher war, ob es verstand oder verstehen wollte. Andererseits waren sie Engländer und besaßen entsprechenden Sportsgeist. Es gab kaum etwas, das einem Briten zu absurd vorkommen konnte. Und als wohlerzogene, gut situierte Inselbewohner waren sie es gewohnt, auch das Bizarrste mit stoischer Gelassenheit hinzunehmen.

»Wie«, John Jason räusperte sich, »wie kommt es zum Kontakt zwischen … uns und … euch?«

»Tja, die Besonderheit dieses Reiches liegt darin, dass die Grenzen nie ganz geschlossen worden sind. Llundain ist immer noch eng an eure Welt angegliedert, die Übergänge sind fließend. Allerdings nur unterirdisch, oberirdisch hattet ihr bisher eure Ruhe – abgesehen von einigen wenigen wie mir, aber das fiel euch nicht weiter auf.« Boone grinste.

»Unterirdisch?«, flüsterte Esther, bleich wie ein Bettlaken.

»Ya, Ma’am. Da unten liegt Middleark, wo nicht nur ausgestoßene Menschen in den verlassenen Stationen und Tunnels leben, sondern auch meinesgleichen. Ein Zwischenwelt-Reich. Aber das ist vorbei, ich meine, die Trennung der Welten. Sie haben’s doch gesehen, oder? Das Flackern am Himmel, der merkwürdige Nebel …«

John Jason schluckte hörbar. »Was … was waren das für Wesen, die … diese armen Tröpfe geschnappt haben?«

»Unseelie«, erklärte Boone. »Holen sich nachts Menschen und treiben bösen Schabernack mit ihnen, zwingen sie auch zu schlimmen Taten gegen andere Sterbliche. Das war nur ein Vorgeschmack dessen, was folgen wird. Sie haben Glück gehabt, dass ich Sie rechtzeitig gefunden habe, sonst hätten die Sie unten in der Station aufgestöbert. Schöne, reine Seelen, an denen noch mein Geruch haftet … Sie hätten überhaupt keine Chance gehabt, denen zu entkommen. Ein gefundenes Fressen!«

Esther tupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab, doch sie bewahrte Haltung. »Und … wie geht es jetzt weiter?«

»Hier können Sie nicht bleiben, so viel steht fest. Sie haben keine Ahnung, wie man in dieser Stadt überlebt. Die Londoner erfassen instinktiv, wenn etwas nicht stimmt, und gehen dem aus dem Wege. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass Sie die Einzigen auf der Straße waren, obwohl diese Stadt praktisch nie schläft, nicht hier im Zentrum. Sie aber haben nicht auf mich gehört, und nun haben die Unseelie Ihre Spur aufgenommen.« Boone deutete mit dem Daumen zur Frontscheibe. »Ich schlage Ihnen einen Handel vor. Wir fahren alle miteinander nach Crosby. Ich komme als Freund der Familie mit, Sie geben mir Unterkunft, und dafür erhalten Sie meinen Schutz. Denn glauben Sie mir – keiner ist mehr sicher.«

John Jason wollte auffahren, doch Esther legte ihm eine Hand auf den Arm. Sehr ruhig sagte sie: »Mr. Boone, beleidigen Sie nicht unsere Intelligenz. Sie tragen uns diesen Handel an, um weiterhin von unserer Energie zu profitieren, und außerdem besteht ja noch diese … Verbindung, wie Sie sagten. Es geht Ihnen nur um sich, nicht um uns.«

»Ma’am, ich sagte es schon – Sie sind eine kluge Frau. Was erwarten Sie? Ich bin ein Elf. Aber ganz ehrlich, Mr. und Mrs. Miller-Billingham: Auch Sie werden davon profitieren.« Er zeigte erneut seine prächtigen Zähne in einem breiten Grinsen. »Ich bin ein angenehmer Reisepartner und ein weltgewandter Gentleman. Ich kann Ihnen viele spannende Geschichten erzählen. Sie werden eine vergnügte und abwechslungsreiche Zeit erleben und interessante Leute kennenlernen. Ich werde mich finanziell revanchieren – auf meine Weise, gewiss, aber Sie werden es nicht bereuen. Mein Elfen-Wort darauf!«

»Schön, schön«, knurrte John Jason. »Und Ihr Elfen-Wort bringt uns schnurstracks ins Gefängnis, oder? Sie haben den Wagen hier doch gewiss nicht auf legale Weise erworben, sondern gestohlen. Wir können darauf warten, dass uns die Polizei schnappt.«

Boones Heiterkeit tat dies keinen Abbruch. »Das haben Sie eben nicht gewusst. Behaupten Sie einfach, ich hätte Sie entführt.«

»Das ist doch völlig verrückt«, bemerkte John Jason und lehnte sich zurück, stützte das Kinn auf die Hand und starrte aus dem Fenster.

Esther zuckte die Achseln. »Fahren Sie los, Boone.« Zu ihrem Mann gewandt fuhr sie fort: »Sehen wir doch einfach, was passiert, mein Lieber. Was riskieren wir schon?«

»Außer dem Knast?« Misstrauisch musterte er sie. »Es fängt an, dir Spaß zu machen, was?«

»Teufel, ja!« Sie lachte. »Bisher haben immer nur die anderen groteske Geschichten erzählt – nun sind wir an der Reihe! Wir waren doch noch nie im Leben spontan. Selbst unsere gediegenen Eltern halten uns für hoffnungslos langweilig. Unsere Hochzeitsreise nach London war unser erstes Wagnis!«

»Du hast einen Schwips.«

»Kann sein. Aber wenn wir schon dabei sind, will ich auch das Abenteuer erleben, nicht immer nur im Fernsehen anschauen!«

»Das ist ein Wort!«, meinte Boone. »Sie sind ein Glückspilz mit einer solchen Frau, Mr. Billingham.«

»Jason«, brummte der distinguierte Mittfünfziger stirnrunzelnd. »Fahr endlich, Boone, ich will hier keine Wurzeln schlagen.« Er schüttelte den Kopf. »Unseelie – also wirklich. Ausgerechnet die Schotten! Als nächstes heulen wir noch alle den Mond an.«

»Mir wäre mehr nach einem Gläschen Champagner«, bemerkte Esther und rekelte sich zufrieden in den Sitz.