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Adolf Jens Koemeda

Masaryk

Roman

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Impressum

© Münster Verlag Basel 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Umschlaggestaltung:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat:

Christine Krokauer, Würzburg

Gestaltung und Satz:

Christoph Krokauer, Würzburg

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Adobe Jenson Pro

Papier:

Umschlag, 135g/m2, Bilderdruck glänzend,
holzfrei; Inhalt, 90g/m2, Werkdruck holzfrei
1,75fach

ISBN 978-3-907146-26-2
eISBN 978-3-905896-50-3

Printed in Germany

www.muensterverlag.ch

Man muss viel gelernt haben, um über das, was man nicht weiß, fragen zu können

Jean-Jacques Rousseau

Inhalt

Vorwort

1Waidhaus – Rozvadov

2Vojtyn – das Grenzland

3Pavel – ein guter Junge

4Pavel ist wieder Solist

5Besuch in Hoff

6Im «Hirschen»

7Nach Žatec

8Die Stille von Vojtyn

9Im Gartenrestaurant

10Rübezahl

11«Blaues Tal» und deutsche Skelette

12Wieder in Pec

13Abgewiesen

14In Vojtyn

15Masaryk und Beneš

16Mamm will es wissen

17Angst vor den Deutschen

18Nachtanruf

19Die Überraschung

20Schorle weiss

21Pavel nirgends

22Kein Brief, kein Anruf

23Im Spital

24Ins Gefängnis verlegt

25Beda

26Auf der Couch

Literatur

Vorwort

«Masaryk» ist ein Füllhorn von spannenden Themen: Eine heutige böhmisch-bayerische Liebesgeschichte zwischen zwei komplexen Charakteren mit offenem Ausgang. Ost und West-Dissensen. Entscheidende Stationen der tschechischen Geschichte von der Republikgründung über Krieg und Sudetenfrage und den «Prager Frühling» bis zur Wende und über sie hinaus. Relativierung des Heiligen-Bildes des Republikgründers Masaryk mit Bezug auf einen auch aktuellen populären, erfolgreichen Politikertyp, der mit einer «Kunst der alternativen Wahrheit» seine Macht etabliert. Die Entstehung unseres Europas durch den Zerfall der Großmächte in kleine Nationalstaaten.

Das liest sich anrührend, historisch interessant, wobei nichts behauptet, alles ins Dialogische gesetzt ist. Die erst zum Schluss klare Anrede-Komposition schafft Spannung. Würziges wie das eingestreute Schwyzerdüütsch und der genossene Likör Becherovka schaffen zusätzliche Leselust.

Ein Buch, das in keiner Bibliothek eines Lesers mit böhmischen oder sudetendeutschen familiären Wurzeln fehlen sollte.

Hermann Kinder

Germanist

Universität Konstanz

1

Waidhaus – Rozvadov

Dass es in der Sankt Katharina-Kirche an der bayerischen Grenze keinen Pfarrer mehr gibt, das wusste ich. Dass dieses Gotteshaus schon seit Jahren geschlossen ist, war mir aber unbekannt.

Anfang November. Ein regnerischer Tag, kalt. Die vermooste Treppe hinauf zum Eingang ist rutschig, ich bewege mich langsam und halte mich mit einer Hand an der Mauer, die man seinerzeit hellgrau verputzt hat; jetzt besteht sie aus Sandstein und schmutzigen, braunroten Ziegeln. Hinaufzugehen und an der Klinke zu rütteln ist sinnlos, das weiß ich, und ich tue es trotzdem. Auch die Kirchentür aus Eiche ist vermoost und verkratzt, mit Glasscherben vermutlich.

Seit wann ist das so, frage ich mich. Ist der Pfarrer nach Bory gezogen oder lebt er nicht mehr? Ich gehe die glitschige Treppe wieder hinunter und halte Ausschau nach einem Menschen. Halb zwei. Niemand auf der Straße. Ich läute an dem Haus, das der Kirche am nächsten steht – gut in Schuss, wahrscheinlich frisch renoviert; ein Sandhaufen liegt neben dem Tor zum Hof. Der Summton der elektrischen Glocke ist schwach zu hören. Niemand öffnet.

Weiter also, zur deutschen Grenze, nach Rozvadov. Die nächste Ortschaft – Waidhaus – ist bereits auf deutschem Gebiet.

Ein oder zwei Mal bin ich früher durch diese beiden Dörfer gefahren, das ist schon lange her. Die improvisierten Läden der vietnamesischen Kleinhändler sieht man in Rozvadov nach wie vor, allerdings weniger zahlreich als vorher. Ebenfalls Saunas, Nachtlokale, viele Massagesalons mit exotisch klingenden Angeboten gibt es noch. Unzählige Neonlichter brennen zu meinem Erstaunen auch jetzt, am frühen Nachmittag.

Die meisten Souvenir- und Bekleidungsläden der Vietnamesen standen etwa dreihundert Meter nach dem Dorfende. Seinerzeit wollte ich dort ein paar Flaschen Becherovka für Freunde und einen Pullover für die Mutter besorgen. Drei oder vier Flaschen von dem böhmischen Kräuterlikör kaufte ich damals, einen Pullover nicht; zu grell war die Ware und das Gewebe vorwiegend aus Kunststoff.

Ah! Eine Überraschung: Die lange Reihe von Läden – Bretterwände, Wellblech als Dach – gibt es da noch, sie sind aber leer, zum größten Teil auch zerstört. Balken, Bretter, Plastikstühle und alte Tische liegen überall herum.

Weiter! Bergab in Richtung Bayern. Bis zur Grenze.

Jetzt wird mir allerdings bewusst, dass ich in einigen Sekunden das tschechische Gebiet verlassen werde; zuerst Waidhaus, dann auf die Autobahn. Nein, so schnell will ich der alten Heimat meiner Eltern nicht adieu sagen, ich kehre um. Ja, ich bin neugierig, was aus dem ehemaligen asiatischen «Einkaufszentrum Rozvadov» geworden ist.

Nach ein paar hundert Metern biege ich rechts ab, fahre auf den Parkplatz und steige aus. Was ich während der Fahrt nicht sehen konnte: Hinter der der Hauptstraße zugewandten Reihe von verlassenen Buden steht eine zweite Kolonne von Verkaufsständen, oder das, was von ihnen übriggeblieben ist – rostige Stangen, Pavatex-Platten, ein paar Balken und kaputte Fenster.

Darf ich weitergehen?, frage ich mich. Da liegen sogar viele Karton-Schachteln mit noch unbenützten Weingläsern. Ich fühle mich gehemmt, bin aber neugierig.

Am Ende der zweiten zerstörten Ladenreihe stehen einige Verkaufsbuden, die gut erhalten aussehen. Die Ausstellungsflächen sind zwar verdreckt, jedoch intakt, sogar die Tür zu einem kleinen Lagerraum wurde nicht abmontiert und geklaut, sie ist offen. Ich zögere, gucke mich um. Niemand beobachtet mich. Weiter also!

Ein fürchterlicher Gestank ist meine erste Wahrnehmung. Nach Fäulnis riecht es hier, nach Verwesung, säuerlich und scharf. Ich schaue in die dunkle Kammer; nirgends ein totes Tier oder faulende Felle von geschlachteten Kaninchen.

Chaos. Auf den Regalen, auf dem grobgezimmerten Tisch, auf dem Boden. Überall liegen verstaubte Damen– und Herrenbekleidung, fast neu aussehende Schuhe, aber auch Waffen aus Plastik und bunte Gartenzwerge … eben alles, was einem anspruchslosen Touristen wegen der tiefen Preise gefallen würde. Und Eines ist mir nun klar: Hier ist man in größter Eile abgereist. Ja, nur Chaos. Ich kann mich nicht erinnern, je etwas Vergleichbares gesehen zu haben, nicht in diesem Ausmaß.

Da ich schon vom Chaos rede: Wenn ich von Vojtyn, der kleinen Ortschaft nicht weit von Nejdek, zurückfahre, spüre ich Chaos auch in mir; nicht jedes Mal, aber oft. Es ist schon fast ein Jahr her, seit ich von diesem Dorf sprach, Herr Durbach, und ich glaube, damals nicht besonders ausführlich.

Es ist vielleicht nicht falsch, wenn ich jetzt etwas wiederhole – möglicherweise kommen ein paar neue Erinnerungen dazu.

2

Vojtyn – das Grenzland

Meine Vorfahren waren – sind – Deutsche. Waren sie aber Faschisten? Nein, wie wahrscheinlich die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung im Sudetenland vor neununddreißig. Sie fühlten sich auch wie halbe Tschechen, wie meine Großmutter und Mutter, die nicht fehlerfrei, jedoch fließend das Tschechische beherrschten; die beiden brachten mir später – neben meinen Spielkameraden auf der Straße – diese slawische Sprache bei.

Mit ihrem direkten Nachbarn in Vojtyn verstanden sich meine Großeltern gut, die Frauen trafen sich fast an jedem Nachmittag. Frau Prokůpek sprach kein Tschechisch, obwohl ihr Mann ein halber Tscheche war. Im Juni fünfundvierzig gehörten sie deshalb zu den ersten deutschen Familien, die Vojtyn verlassen mussten; Gott sei Dank keine Schläge, keine Erniedrigungen, keine Schüsse.

Meine Vorfahren lebten vor und im Krieg in einem friedlichen Dorf. Die spätere Vertreibung, «Odsun» auf Tschechisch, soll in den meisten Ortschaften ganz anders verlaufen sein. Als meine Großeltern von den schrecklichen Ereignissen in Pohrlitz und Landskron hörten, wollten sie es fast nicht glauben.

Ich weiß nicht, Herr Durbach, ob diese Ausführlichkeit notwendig ist, vielleicht hat man sich in Ihrem Institut meinen schriftlichen Bericht etwas straffer vorgestellt. Die damals abgeschobene deutsche Familie Prokůpek spielte natürlich in meinem Lebenslauf – im Unterschied zu meiner Mutter – keine große Rolle.

Eines möchte ich allerdings betonen: Die Großeltern und Eltern, obwohl nach den Dokumenten Deutsche, waren gut integriert. Was die Beherrschung der tschechischen Sprache betrifft ohnehin und sonst auch. Mein Großvater arbeitete als Agronom in der Bezirksstadt Nejdek. Die Großeltern hofften, dass er zu der Gruppe der «Unentbehrlichen» gehören würde, kein «Odsun» also.

Dem war aber nicht so. Warum die Entscheidung, die Familie müsse doch abgeschoben werden, ungewöhnlich spät kam, erfuhren meine Eltern nie. Die Überlegung – nur eine Vermutung, weiter nichts – lief darauf hinaus, dass jemand von den zugewanderten Tschechen ein Auge auf die Stelle des Großvaters geworfen hatte, denn sein Posten wurde auffallend schnell wiederbesetzt.

Der Befehl lautete: Spätestens Ende September fünfundvierzig müsse das Haus geräumt und sauber geputzt zur Übergabe bereitstehen, denn ab diesem Zeitpunkt kommen zur Besichtigung die ersten tschechischen Familien. Ende Oktober werde die Schlüsselübergabe stattfinden, entweder an die neuen Besitzer oder, falls sich keine Interessenten melden würden, an die Gemeindeverwaltung.

Christa, meine Mutter, weinte, meine liebe Großmutter Annemarie auch, und ebenfalls die damals fünfundsechzigjährige Urgroßmutter Berta, die am meisten. Der Großvater tobte, einmal betrank er sich, dann schwieg er einige Tage hartnäckig.

Das Haus sollte aber – das war die gute Nachricht – nicht abgerissen oder enteignet werden, die Großeltern durften es verkaufen; sogar das Recht, einen Käufer selbst zu finden, wurde ihnen überraschenderweise eingeräumt.

Die Großmutter Annemarie, die schnellste und aktivste von allen, packte sofort an. Sie annoncierte in den Karlsbader und Prager Zeitungen. Es meldeten sich einige tschechische Familien, leider gaben die meisten bald auf. Zuletzt fanden nur zwei Hausbesichtigungen statt. Zum Vertragsabschluss kam es mit Blažeks aus Žatec.

Mit dieser Familie hatten meine Großeltern ausgesprochen Glück. Eine schnelle Einigung über den Preis des Hauses und auch keine Terminunklarheiten – so hat mir meine Mutter die damalige Situation beschrieben. Sie bekommt heute noch feuchte Augen, wenn sie von den alten Blažeks spricht.

Völlig unerwartete Sorgen brachte allerdings Berta, die Großmutter meiner Mama; sie weigerte sich nämlich auszuziehen. Nein, nein, nicht jetzt, vielleicht später, war ihre Entscheidung; und bald kam hinzu – wenn man mich dazu zwingt, bringe ich mich um.

Bleiben also.

Seitens der Behörden gab es erstaunlicherweise keine Einwände – Berta sprach tschechisch fast gleich gut wie deutsch – und Blažeks machten zur Überraschung und Freude meiner Großeltern mit, eine Ausnahmeregelung aus der Masaryk-Zeit machte es möglich. Berta bekam bei Blažeks ein eigenes Zimmer mit Waschbecken im zweiten Stock. Ohne Einverständnis und Mitwirken dieser tschechischen Familie wäre da eine äußerst schwierige Situation entstanden, das war den Großeltern klar. Als man zuhause von den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gesprochen hatte, hörte ich zum ersten Mal den Namen Tomáš Garrigue Masaryk.

Berta, achtzehnhundertachtzig geboren, lebte bei Blažeks über ein Jahr. Inzwischen etablierten sich die Großeltern in Bayern ganz gut; der Großvater fand zum Beispiel bald eine Stelle im Büro eines landwirtschaftlichen Betriebes.

Und auch da hatten sie, das wiederholte meine Großmutter oft, viel Glück: Etwa ein Jahr nach ihrer Abschiebung konnten sie Berta bei Blažeks abholen – ein wichtiges Kapitel im Leben unserer Familie; Berta leistete jetzt keinen Widerstand. Die Sehnsucht nach der eigenen Sippe war bei ihr offensichtlich größer als die Angst vor dem Verlassen des vertrauten Dorfes, dem Umzug und der fremden Umgebung.

Die Pflichten meines Berufslebens und die Ansprüche der Familie haben in der letzten Woche vorübergehend zugenommen, volle drei Tage kam ich nicht zum Schreiben. Heute galt es also, mich zuerst ein bisschen einzulesen, um den Faden zu finden. Manches musste ich wieder streichen; ja, die Unklarheit, welche Angaben Sie benötigen, Herr Durbach, ist momentan noch groß.

Fast zu groß. Sie ist so ausgeprägt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt weiterberichten will.

Ehrlich gesagt, in diesem Augenblick eher nicht. Ich müsste in erster Linie doch wissen, ob es notwendig ist und wer das eigentlich braucht. Wissen Sie es? Vielleicht. Aber Sie sind vermutlich der Einzige. Kurz: Mir fehlen die Lust und die richtige Motivation … zu irgendetwas. Wobei, genauer betrachtet, die fehlen mir in letzter Zeit ganz allgemein. Meine Mutter, neunundsechzig, ein fitter und noch sehr aktiver Mensch, meint schon seit langem – da bist du, Laura, nicht die Einzige, so fühlen heutzutage viele Leute … ich glaube, uns geht’s zu gut.

Ja, ja, ich meckere. Das Meckern hilft nicht immer, aber oft, ich bin halt ein ausgesprochener Meckertyp. Diesen Zug von mir stellte man bereits in der Schule fest; nicht so schlimm, ich nahm es unaufgeregt und sachlich zur Kenntnis.

Ich habe bereits die zweite Pause eingeschaltet und mache nun doch weiter; nicht aber aus Überzeugung, dass es besonders wichtig wäre, was ich da schreibe. Im Augenblick ist mir für das Weiterberichten bloß der eine Grund bewusst: Ich habe es versprochen und ich erreiche jetzt niemanden, der mich von diesem Versprechen befreien könnte.

Meine Familie lebte also in Bayern. Zuerst eine Wohnung, dann ein gemietetes Reihenhaus mit Garten-Sitzplatz, nach etwa zehn Jahren der Kauf eines gemütlichen Einfamilienhauses. Dieser Lebensabschnitt soll allerdings nicht im Vordergrund meines Schreibens stehen, deshalb zurück nach Vojtyn und zu Blažeks.

Die Dankbarkeit spielte bei meinen Großeltern eine große Rolle. Aber bitte, nicht nur! Sympathie, ähnliche Interessen – offensichtlich stimmte bei den beiden Familien auch die Chemie. Am Anfang konnte meine Großmutter ohne Probleme über die Grenze reisen, danach gab es einen unschönen Papierkrieg und viele Erschwernisse.

Mama war bei unserer Abschiebung nach Deutschland etwa fünf Jahre alt, und sie verstand die Bindung ihrer Mutter an das ehemalige Elternhaus in Vojtyn nicht; sie war zeitweise regelrecht eifersüchtig und lehnte es ab, in das ehemalige Sudetenland mitzureisen. Erst viel später sah sie manches anders, mit Milena, der Tochter der Familie Blažek, fand sogar ein lauer Briefwechsel statt.

Aber: Das Reisen über die Grenze war nach etwa zwei weiteren Jahren nicht mehr möglich. Klar, es gab ab und zu auch Ausnahmen. Meine Mutter – im Unterschied zu ihrer Mama – akzeptierte es ohne Tränen.

Zum ersten Mal fuhr ich mit Mama nach Vojtyn im Jahre neunzig, knapp ein halbes Jahr nach dem Mauerfall. Ich freute mich.

Mamm hatte die erste Reise über die ehemalige Stacheldrahtgrenze schon drei Monate vorher alleine unternommen, und ihre Berichte darüber weckten meine Neugier; nicht übertrieben stark, und doch spürbar. Das Tal und das Haus kannte ich bereits von den vielen Schwarzweißfotos und ich wusste auch, dass Milena – Frau Blažek Junior, neuerdings Frau Mandlíková – einen Sohn hatte. Pavel.

Jetzt muss ich selbst kurz rechnen, Herr Durbach. Wie alt war ich damals? Siebzehn, nicht ganz. Aber bereits zwei oder drei Mal heftig verliebt gewesen, zugegeben, nie sehr lange.

Schöne Tage! Ich war froh, die viel besungene alte Heimat meiner Mutter endlich mit eigenen Augen zu sehen. Kleine Bäche, eine liebliche Landschaft und Wälder noch und noch – ähnlich hatte ich es mir auch vorgestellt. Und Mama lachte, tätschelte Blažeks immer wieder an Armen und Schultern und sprach so schnell und laut, wie ich sie selten gehört habe. Milena, Frau Mandlíková-Blažek, hatte von Anfang an Tränen in den Augen … na ja, ob alles wirklich so war, wie ich es jetzt beschreibe, weiß ich nicht mehr, die Richtung wird aber stimmen.

Milena, nur einige Monate älter als meine Mutter, war ursprünglich Krankenpflegerin gewesen, seit Frühling neunzig führte sie allerdings ein kleines Café-Restaurant. Wo? Ja, richtig! Bei uns, im Erdgeschoss unseres ehemaligen Hauses.

Wir hatten einen Tisch nur für uns, Milena wollte uns offensichtlich ihr Lokal im Betrieb zeigen: Bäuerliche Möblierung aus hellem Holz, an den Wänden Sprüche aus einem alten Bauernkalender und dazu Ölbilder – Berglandschaften – in üppig geschnitzten Holzrahmen; noch nicht direkt kitschig, doch hart an der Grenze.

Man lachte viel und zur späteren Stunde sang man natürlich. Es gab bald eine Stimmung im Raum, von der Mutter zu Hause oft gesprochen hatte – zugegeben, die Sitten dort sind schon anders als bei uns, zumindest in den Städten, die ich kenne.

Eine kleine Überraschung:

– Wir sollten, sagte Pavel, Mandlík Junior, ein halbes Jahr älter als ich – hier im Lokal lieber tschechisch sprechen.

– Wirklich … warum?, fragte ich.

– Ja, es wäre besser. Das weißt du doch, antwortete meine Mutter für ihn.

– Muss das sein, Mamm? Sag mir – warum?

– Ach, Laura, du bist noch jung … nicht alle Wunden von damals sind verheilt, vor allem bei den älteren Menschen nicht.

– So! Jetzt übertreibst du, Mamm!

– Für dich ist das kein Problem, kam Pavel meiner Mutter zu Hilfe. – Du sprichst beide Sprachen gleich gut.

– Gleich gut? Sag lieber gleich schlecht … brachte ich sofort meinen gewohnten Spruch, den ich in solchen Situationen gerne zum Besten gebe. – Aber richtig zuhause bin ich in keiner der beiden.

Leider lachte in dem Augenblick niemand. Auch wollte mir niemand meine betont selbstkritische Bemerkung ausreden, was ich erwartet hatte. Also gut: gleich schlecht!

Ich solle lieber tschechisch sprechen … nicht alle Wunden seien verheilt …

Stimmt das?, fragte ich mich, als ich im Auto saß und auf meine Mutter wartete. Ist das die Meinung der meisten Gäste in Milenas Lokal? Dass es in den ersten Monaten nach dem Kriegsende nicht überall so beinahe friedlich verlaufen war wie in Vojtyn, das wusste ich. Aber jetzt, mehr als sechzig Jahre danach, beschäftigen die alten Zeiten die Menschen immer noch?

Ich hupte. Ungern. Ein Signal muss ich der Mutter doch geben, dachte ich.

Und sie verstand es, schon zwei Minuten später stand sie neben dem Wagen.

– Saag mir, Mamm – wie ist das mit dem «Nicht-deutsch-reden», war das ernst gemeint?

– Bitter ernst, meine Liebe! Wir sind da im Grenzland, im tschechischen Pohraničí!

– Im Lokal saßen vorwiegend jüngere Menschen, die wissen von der Zeit nach dem Krieg wenig … und wollen vermutlich auch nicht viel wissen.

– Glaubst du? Da bin ich anderer Meinung, Laura.

Ich komme wieder ins Stocken. Soll ich hier weiterschreiben und mich einem Thema zuwenden, das Sie, Herr Durbach, gar nicht vorgeschlagen haben?

Meine Überlegung ist: Wenn wir bereits im Sudetengebiet mit seiner komplizierten Geschichte sind, darf ich doch dieses Kapitel nicht gänzlich auslassen … als Deutsche schon gar nicht. Ich versuche aber, unsere lange Debatte abgekürzt wiederzugeben.

– Du, Laura, sagte Mama und schaute mich kurz an, – du weißt nicht viel von der alten Zeit; unsere Gegend war überwiegend friedlich, auch nach dem Mai fünfundvierzig. Aber das war ein riesiges Glück, das wir da hatten.

Wir schwiegen ein paar Minuten. Zwei Kreuzungen.

– Die letzten Kriegstage waren schrecklich, fing sie wieder an. – Man schenkte einander nichts, brutal ging es auf beiden Seiten zu.

– Vae victis! Wehe dem Besiegten! Was die eingekesselten SS-Einheiten in Prag mit den aufständischen tschechischen Studenten angestellt haben, davon hast du sicher mal gehört, Mamm. Damals, unterhalb von Hradschin, im Hirschengraben … die Jelení Příkopy-Tragödie.

Mama fuhr ungewöhnlich langsam und fast immer mit dem falschen Gang – es hopste und schepperte. Ich wollte noch etwas bemerken, beherrschte mich aber und schwieg. Nur einmal schaute ich sie kurz an.

– Ist etwas?

– Nein, Mamm, es kam mir bloß in den Sinn, dass auch die Tschechen nicht zimperlich waren … die Volksgerichte in Landskron, zum Beispiel! Dass man die einheimischen Deutschen ins Löschwasserreservoir geschubst hat, das wirst du nicht leugnen wollen, davon gibt es zahlreiche Fotos.

– Moment! Das waren nicht die Tschechen. Es handelte sich vor allem um Svoboda-Soldaten aus der Slowakei. Verrohung, Verfall der Moral und der Menschlichkeit … das erlebt man am Ende eines Krieges oft. Und dieser Krieg war fürchterlich. Nur: Angefangen haben ihn weder die Tschechen noch die Russen.

Ich hätte aufhören sollen, und das fiel mir in diesem Augenblick schwer.

– Und der Todesmarsch der mährischen Deutschen im Mai von Brünn nach Österreich? Mehr als zehntausend Menschen verließen damals die mährische Hauptstadt. Und wie viele kamen an? Viele waren es nicht, die genauen Zahlen sind bis heute unbekannt. Man weiß bloß, dass einige Hunderte von Toten bei Pohořelice verscharrt wurden und mehrere Tausende am Straßenrand liegengeblieben waren.

Mama, die die ganze Zeit nur schlich, fuhr jetzt noch langsamer. Ich schaute sie wieder an; ihre Augen glänzten. Zuletzt hielt sie an. Sie wischte sich die Tränen weg und stieg aus.

Wir schwiegen. Die Mutter fing an:

– Ja, das waren schreckliche Zeiten. Auch unsere Verwandten aus Iglau waren damals dabei. Bis nach Österreich schaffte es kein Einziger.

– Mamm, ich bin nicht mehr zehn … warum sprichst du mit mir nie über solche Dinge?

– Warum? Wäre es gut gewesen? Hättest du das gewollt? Vielleicht ist Verzeihen wichtig … und noch eher Vergessen.

– Kannst du das, Mamm?

– Ach, Laura! Stell mir bitte nicht so schwierige Fragen!

3

Pavel – ein guter Junge

Die vier Tage in Vojtyn erlebte ich als eine intensive und abwechslungsreiche Zeit, für meine Mutter war sie wahrscheinlich noch viel spannender als für mich; diese Vermutung bestätigte sie mir zu Hause.

Halt! Hier sollte ich etwas über Milenas Sohn Pavel sagen: Großgewachsen wie seine Mutter, schlank, allerdings mit einem kleinen Bauchansatz; hellbraunes, dichtes Haar, Brillenträger; in Gegenwart seiner Mutter eher zurückhaltend; sein Deutsch klang zu meiner Überraschung beinahe akzent- und fehlerfrei.

Es gab aber etwas, das mich irritierte. Bevor er ein paar Worte sagte, schaute er mich lange an, dann guckte er plötzlich weg; er redete langsam, mit vielen Pausen und häufig ungewöhnlich leise.

Ich fragte Mama am Abend, wie sie das verstehe. Sie gab mir Recht, ein bisschen komisch sei es schon gewesen, sie meinte allerdings, es sei nicht seine Muttersprache, das dürfe man nicht vergessen. Sie wäre froh, wenn sie Englisch oder Französisch so beherrschen würde wie er Deutsch … doch doch, er sei ein guter Junge.

Was konnte ich dazu sagen? Nicht viel.

Der erste Brief von Pavel kam eine Woche nach unserer Tschechienreise.

Er habe inzwischen viel von meiner Familie gehört, stand darin, und die Fotos, die ihm seine Mutter gezeigt hatte, habe er sich immer gründlich und aufmerksam angeschaut; er habe sich bereits vorher ein Bild machen können – von mir, von der ganzen Familie Bennet. Dann aber, bei unserem Besuch, sei alles noch viel schöner gewesen, als er sich ausgemalt hatte. Hoffentlich sei ich nicht sehr enttäuscht gewesen, bei ihnen sei manches bescheidener als in Bayern, farbloser, ärmlicher. Das werde allerdings nicht lange so bleiben, alle seien interessiert am Aufbau. Die Zukunft von Tschechien …

Ich möchte jetzt nicht ins Fantasieren geraten, Herr Durbach, ich weiß bloß, sein Brief hat mich erfreut, stellenweise aber auch überrascht, ja, befremdet. Das Schwafelnde, Blumige, Weitschweifige fand ich nicht gerade toll.

Ruhig, mein Lieber, dachte ich, nur ruhig, komm langsam zurück auf den Boden. Dort bist du mir viel sympathischer.

Mama las den Brief ebenfalls, er bereitete ihr Freude.

– Ach was, sagte sie, – nimm alles so, wie man es nehmen muss: locker.

– Für mich ist das aber eine Erschwerung, ein Problem.

– Denk an Franz Kafka …