Sandhya Menon
Zufällig vorherbestimmt
Dimple Shah weiß, was sie will. Ihr Hobby ist Programmieren und sie freut sich schon riesig auf ihr Informatikstudium. Vor allem aber ist sie froh über etwas Abstand von ihren Eltern, die ständig nur davon reden, den »perfekten indischen Ehemann« für sie zu finden. Sie haben sogar schon einen im Visier: Rishi Patel ist ein herzensguter Typ mit Sinn für Romantik – und für Tradition. Im Gegensatz zu Dimple hat er nichts gegen eine arrangierte Ehe und ist fest entschlossen, seiner Auserkorenen den Hof zu machen. Dimple ist zuerst schwer genervt – und dann plötzlich ziemlich durcheinander …
Wohin soll es gehen?
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Für t, n und m,
ein Geschenk des Kismet
1. KAPITEL
Dimple
Dimple strahlte und strahlte. Man könnte meinen, zwei Puppenspieler stünden links und rechts von ihr auf der Bühne und zögen mit Fäden an ihren Mundwinkeln.
Okay, lieber nicht so etwas Unheimliches. Fest stand, dass der Drang zu lächeln unwiderstehlich war.
Dimple klickte die E-Mail an und las sie noch einmal.
Stanford.
Sie würde nach Stanford gehen. Obwohl der Brief mit der Zusage schon vor Wochen in der Post gewesen war, hatte sie noch nicht richtig daran geglaubt, bis sie nun ihre Log-in-Daten für die Uni per E-Mail erhalten hatte. Sie hatte befürchtet, Papa könnte es sich noch anders überlegen und die Anzahlung wieder zurückfordern. Oder Mamma würde dort anrufen und behaupten, Dimple hätte ihre Meinung geändert (und wer glaubte, Mamma würde so etwas nicht tun, kannte sie schlecht).
Aber nein, alles war gut gegangen. Alles war geregelt, sie war offiziell eingeschrieben.
Wenn jetzt nur noch …
Als Dimple das zweite geöffnete Fenster anklickte, funkelte ihr Lächeln nicht mehr ganz so strahlend.
Insomnia Con 2017:
Eine fantastische Gelegenheit für Schüler*innen in der Oberstufe oder nach der Highschool! Lernen Sie in diesem Sommer die Grundlagen der Webentwicklung auf dem sonnigen Campus der San Francisco State University!
Ist ja gut, nehmt einfach mein Geld, dachte Dimple.
Doch es war ein wenig komplizierter. Es war eine unglaubliche Chance – das stimmte. Sie wäre allen anderen voraus, wenn sie im Herbst in Stanford anfing. Und wenn sie an die Kontakte dachte, die sie knüpfen konnte! Einige der größten Namen in der Webentwicklung hatten an der Insomnia Con teilgenommen: zum Beispiel Jenny Lindt. Die Frau war ein Genie. Sie hatte die milliardenschwere Meeting-Space-App sowie die Website praktisch aus dem Nichts erdacht und programmiert. Dimple lief förmlich das Wasser im Mund zusammen, wenn sie sich vorstellte, in den gleichen Kursen zu sitzen, an den gleichen Aktivitäten teilzunehmen und auf dem gleichen Campus zu wandeln wie Jenny Lindt damals.
Dimple hatte allerdings ihre Zweifel, ob sie das Wohlwollen ihrer Eltern überstrapazieren sollte. Der Sommerkurs kostete tausend Dollar. Und Papa und Mamma zählten zwar zur soliden Mittelschicht, waren aber keineswegs wohlhabend. Außerdem hatte sie bereits hoch gepokert, als sie sie gebeten – nein, drangsaliert – hatte, sie nach Stanford gehen zu lassen. Und das hatten sie sicher nur erlaubt, weil sie insgeheim hofften, sie würde an dieser angesehenen Uni den I. I. E. ihrer – nein, ihrer – Träume finden.
I. I. E. – für alle, die nicht eingeweiht sind, stand für Idealer Indischer Ehemann.
Arghh. Wenn sie nur daran dachte, würde sie am liebsten wie eine Todesfee ins Kissen heulen.
»Diiiimpllllle?« Mamma klang so kreischig und außer sich wie immer.
Als Dimple jünger war, war sie noch mit klopfendem Herzen nach unten gerannt, voller Angst, dass etwas Schreckliches passiert war. Und jedes Mal war Mamma mit etwas Banalem beschäftigt gewesen, hatte zum Beispiel in einem Küchenschrank gekramt und sie dann ganz beiläufig gefragt: »Weißt du zufällig, wo der Safran geblieben ist?« Mamma hatte nie verstanden, warum sie Dimple damit in den Wahnsinn trieb.
»Gleich, Mamma!«, rief sie zurück, obwohl sie genau wusste, dass es noch ein wenig länger dauern würde. Sie war nicht mehr so blöd, sich zu beeilen, nur weil ihre Mutter sie zu sich zitierte. Mittlerweile herrschte ein etwas wackliger Waffenstillstand zwischen ihnen – Mamma musste sich nicht im Ton mäßigen und Dimple musste nicht alles stehen und liegen lassen und ihr in Safrannotfällen zu Hilfe eilen.
Sie klickte sich noch weitere fünf Minuten durch die Fotogalerie auf der Insomnia-Con-Homepage. Seufzend betrachtete sie das imposante Gebäude aus Glas und Chrom, hübsch in Grüppchen angeordnete Techniknerds und jubelnde Gewinner des legendären Talentwettbewerbs, die sich über ein zusätzliches Startkapital für ihre Apps und Homepages freuten. Dimple würde wer weiß was tun, um eines Tages dazuzugehören.
Die Teilnehmer der Insomnia Con mussten in den anderthalb Monaten auf dem SFSU-Campus ein Konzept für die absolut innovativste App erstellen. Obwohl niemand in diesem Zeitraum eine vollständige App programmieren konnte, sollte man so weit wie möglich kommen, bis die Jury tagte. Gerüchten zufolge bekamen die Gewinner in diesem Jahr die Chance, ihr Konzept Jenny Lindt höchstpersönlich vorzulegen. Das wäre einfach unglaublich.
Dimple betete darum, tausend Dollar im Lotto zu gewinnen, schaltete den Bildschirm aus, zupfte ihren abgewetzten grauen Salwar Kamiz zurecht und ging nach unten.
»Woh kuch iske baare mein keh rahi thi na?«, sagte Papa. Hat sie das nicht erwähnt?
Dimple blieb stehen und spitzte die Ohren. Redeten sie über sie? Sie lauschte angestrengt, doch Mamma sprach zu leise, um sie verstehen zu können. Typisch. Wenn Dimple wirklich einmal zuhören wollte, war Mamma plötzlich leise und zurückhaltend. Mit einem Seufzer betrat sie das Wohnzimmer.
Bildete sie sich das nur ein oder wirkten ihre Eltern ein wenig verlegen? Um nicht zu sagen … schuldbewusst? Dimple zog die Augenbrauen hoch. »Mamma, Papa, wolltet ihr etwas von mir?«
»Dimple, erzähl mir noch mal von – oh.« Das schlechte Gewissen schwand aus Mammas Blick, als sie Dimples Aussehen begutachtete und ihre magentarot geschminkten Lippen schürzte. »Mit Brille?« Sie zeigte auf Dimples Brille, die wie immer auf ihrer Nasenspitze hing. Mamma ließ den Blick weiterschweifen und kniff missbilligend die Augen zusammen, weil Dimple ihre schwarzen Locken nicht ordentlich gekämmt hatte (die sie noch dazu nicht länger als bis zu den Schultern wachsen lassen wollte), sie ihr Gesicht nicht mit Make-up verschönert hatte und weil leider – trotz Mammas optimistischer Namenswahl – auch kein Grübchen zu sehen war.
Sie sollte sich freuen, dass ich mir heute Morgen die Zähne geputzt habe, dachte Dimple. Doch Mamma würde Dimples Abneigung gegen Make-up und Mode nie verstehen. Alle zwei Wochen kam eine Tante von der Indischen Gesellschaft und half Mamma, den Haaransatz schwarz zu färben, während Papa bei der Arbeit war. Sie ließ ihn in dem Glauben, sie hätte immer noch die gleiche Haarfarbe wie in jungen Jahren.
»Was ist mit deinen Kontaktlinsen? Und kannst du dich erinnern, wie ich dir gezeigt habe, Kajal zu benutzen?« Mit Kajal meinte sie den Eyeliner-Tiegel, der in Mammas Jugendzeit sehr beliebt gewesen war. Sie hatte nicht gemerkt, dass sich dieser Trend irgendwann in den Siebzigerjahren verabschiedet hatte.
»Lebhaft«, murmelte Dimple in dem Bemühen, nicht so genervt zu klingen. Papa, der neben Mamma saß, machte verstohlen sein Bitte lass sie-Gesicht. Der ewige Friedensstifter. »Ich bin seit genau drei Tagen mit der Schule fertig, Mamma. Kann ich diese Woche nicht einfach mal faul sein und entspannen?«
Jetzt ähnelte Papas Gesicht einem Roti, das zu lange in der Pfanne war.
»Entspannen und faul sein!«, donnerte Mamma. Ihre gläsernen Armreifen klimperten. »Glaubst du etwa, du findest einen Ehemann, wenn du faul bist? Meinst du, ich hätte in den zweiundzwanzig Jahren, seit ich deinen Vater geheiratet habe, auch nur eine Minute Zeit gehabt, um faul zu sein?«
Natürlich nicht, dachte Dimple. Du musstest ja die ganze Zeit staubsaugen. Sie biss sich auf die Zunge und sank aufs Sofa, da Mamma noch eine Weile weiterzetern würde. Es war besser, sie reden zu lassen, bis die Worte allmählich versiegten wie bei diesem Klappergebiss zum Aufziehen, das man im Scherzartikelgeschäft kaufen konnte. Ihr fielen natürlich tausend gehässige Kommentare ein, doch falls sich die Gelegenheit ergab, wollte Dimple gern noch fragen, ob sie sich bei der Insomnia Con anmelden durfte. Es war in ihrem eigenen Interesse, sich zurückzuhalten.
»Nein, hatte ich nicht«, fuhr Mamma fort. »Das Wort faul sollte im Vokabular einer Frau gar nicht vorkommen.« Nachdem sie den Dupatta-Schal auf ihrem in Gold und Pink gehaltenen Salwar Kamiz gerichtet hatte, lehnte sie sich im Sofa zurück. Sie erschien Dimple wie die prächtige indische Blume, die aus ihr wohl niemals erblühen würde. »Wie du weißt, Dimple, ist eine erwachsene Tochter das Spiegelbild ihrer Mutter. Was sollen die anderen in unserer Gemeinschaft von mir denken, wenn sie dich so sehen?« Sie machte eine vage Geste in Richtung Dimple. »Was nicht heißen soll, du wärst nicht schön, Beti, doch, das bist du, und deshalb ist es umso tragischer –«
Dimple spürte eine unbändige Wut in sich aufsteigen, die sich unaufhaltsam in einer Flut von Worten entlud. »Das ist eine schrecklich frauenfeindliche Einstellung, Mamma!«, sagte sie, sprang auf und schob die Brille hoch. Papa murmelte etwas vor sich hin – vielleicht betete er.
Mamma traute offenbar ihren Ohren nicht. »Frauenfeindlich! Du bezeichnest deine Mutter als frauenfeindlich?« Mamma warf Papa einen empörten Blick zu, doch der konzentrierte sich auf einen losen Faden seiner Kurta. Mamma wandte sich wieder an Dimple und fauchte: »Deshalb mache ich mir ja so große Sorgen! Du verlierst die wichtigen Dinge aus dem Auge. Hübsch aussehen, etwas aus sich machen … das ist den Mädchen in unserer Kultur wichtig, Dimple. Und das hat nichts zu tun mit deiner –« Sie malte Anführungszeichen in die Luft – was Dimple ihr gar nicht zugetraut hätte – »›Frauenfeindlichkeit‹.«
Dimple fasste sich stöhnend an den Kopf und fühlte sich wie der uralte Dampfkochtopf, mit dem Mamma immer noch Idli-Küchlein zubereitete. Sie würde bestimmt gleich explodieren. Mamma und sie konnten nicht wirklich miteinander verwandt sein. »Echt? Du willst wirklich, dass ich meine Intelligenz darauf verwende? Um hübsch auszusehen? Als würde meine Existenz im Grunde ausgelöscht, wenn ich mich nicht schön mache? Alles andere zählt nicht – weder mein Intellekt, meine Persönlichkeit noch meine Leistung? Meine Hoffnungen und Träume haben keinerlei Bedeutung, solange ich keinen Eyeliner auftrage?« Dimples Stimme war immer lauter geworden und hallte mittlerweile von den hohen Decken wider.
Auf frischer Tat ertappt, stand Mamma auf und hielt ihrem bösen Blick stand. »Hai Ram, Dimple! Das ist kein Eyeliner – das ist Kajal!«
Dimples heiße Wut wurde nur geringfügig von ihrer Enttäuschung gedämpft. Nachdem sie sich schon so oft darüber gestritten hatten, konnten Mamma und sie die jeweiligen Gegenargumente wahrscheinlich auswendig. Es war, als würden sie die ganze Zeit verschiedene Sprachen sprechen, in der sie beide die jeweils andere mit einem fremden Wortschatz überzeugen wollten. Wieso machte Mamma nicht den leisesten Versuch, Dimple zu verstehen? Glaubte sie tatsächlich, Dimple hätte außer ihrem Aussehen nichts Wertvolles zu bieten? Allein bei der Vorstellung schoss Dimples Blutdruck in ungeahnte Höhen. Mit brennenden Wangen beugte sie sich vor, um ihrer Mutter zu sagen, was sie dachte und wie sie sich fühlte.
Das melodische Klingeln der Türglocke ließ alle erstarren. Dimples Herz klopfte immer noch schneller, aber sie spürte, wie die seit jeher gleichen Gegenargumente unausgesprochen abgewürgt wurden.
Mamma richtete ihren Dupatta, der ihr während des Streits beinahe von den Schultern gerutscht wäre, und holte tief Luft. »Wir bekommen Besuch«, sagte sie sittsam und strich ihr Haar zurecht. »Du wirst dich doch benehmen, ja, Dimple?«
Papa sah sie mit seinen großen Augen flehend an.
Dimple nickte knapp, dachte aber: Die Klingel hat dich gerettet, Mamma. Du ahnst nicht, wie viel Glück du hast.
2. KAPITEL
Dimple
Mamma wuselte eifrig in einer Sandelholzwolke zur Tür, während Dimple versuchte, sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. In wenigen Monaten würde sie in Stanford sein. Und wenn sie es vorher noch zur Insomnia Con schaffte, lockte die Freiheit schon sehr bald.
»Hallooo!«, hörte sie im nächsten Moment. Das Wort klang wie das Gezwitscher eines kleinen nervigen Vogels.
Papa verzog das Gesicht. »Tante Ritu«, sagte er in einer Mischung aus Resignation und Ärger. Er schnappte sich das Telefon. »Wichtiger Anruf«, murmelte er und verschwand um die Ecke.
»Feigling«, rief Dimple ihm nach, stand auf und drückte die Handflächen aneinander. Im nächsten Augenblick kam Tante Ritu in ihrem Rollstuhl um die Ecke, der wie immer von ihrer stillen, umsichtigen frischgebackenen Schwiegertochter Seema geschoben wurde. »Namaste, Tante Ritu, Seema Didi.«
Offiziell war Ritu gar nicht ihre Tante und Seema auch nicht ihre Didi, also ihre große Schwester. Aber traditionell erwies man den Älteren Respekt und diese Lektion war Dimple schon als Baby eingetrichtert worden. Trotzdem hinterfragte Dimple diese Gepflogenheiten, wie eigentlich alles – und das die ganze Zeit. Mamma beklagte sich häufig, Dimples erstes Wort sei »warum« gewesen.
»Namaste!«, sagte Tante Ritu und blickte strahlend zu ihr hoch. Seema stand hinter dem Rollstuhl und betrachtete Dimple durch den Vorhang ihrer langen glatten schwarzen Haare, ohne zu lächeln.
»Setz dich doch, Seema«, sagte Mamma. »Möchtest du einen Chai? Und Kekse? Ich habe Parle-G auf dem indischen Markt gekauft.« Mamma hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dass Seema sich bei ihnen wie zu Hause fühlte. Ihrer Meinung nach war Seema so verschlossen, weil Tante Ritu sie in ihrem Sasural – ihrem neuen Zuhause als Ehefrau – nicht herzlich genug willkommen geheißen hatte. Daraus war eine merkwürdige Konkurrenz zwischen Tante Ritu und Mamma entstanden und Seema, die bei diesem ganzen Theater wie eine hilflose Fliege im Netz zappelte, tat Dimple leid.
»Oh, Seema und ich haben etwas gefunden, das sie lieber mag«, sagte Tante Ritu. »Milanos. Stimmt doch, Seema, oder? Sag ihr, wie gern du die isst.«
»Sie sind köstlich«, sagte Seema pflichtschuldig. Nach einer kurzen Pause – in der sie vielleicht einen weiteren Befehl erwartete – setzte Seema sich auf den leeren Sessel neben Tante Ritu. Dimple nahm auch wieder Platz.
»Ach, die haben wir auch!«, rief Mamma triumphierend. »Ich hole sie schnell. Und Chai für alle.«
Dimple schob die Brille höher und dachte angestrengt nach, was sie sagen sollte, da sie nun allein mit den Besuchern war. Zum Glück hatte Tante Ritu einen Collegeabschluss in Small Talk. »Und, bereit für Stanford, Dimple? Deine Mutter redet über nichts anderes mehr!«
»Wirklich?« Dimple lächelte gerührt. Sie hatte von Mamma bis auf Klagen über die Kosten einer privat finanzierten Ausbildung nicht viel zum Thema Stanford gehört. Das zeigte, dass Mamma im tiefsten Inneren doch stolz auf die Intelligenz ihrer einzigen Tochter war. Möglicherweise wollte Mamma Dimples Zweifeln zum Trotz wirklich, dass sie die beste Erziehung genoss.
»Ja! So viele junge Männer gehen dorthin, um Ingenieur zu werden. Du kannst dir einen aussuchen.« Tante Ritu sah sie mit einem erwartungsvollen Funkeln in den Augen an.
Ach so. Dimple hätte es sich denken können. Schon wieder dieser Unsinn mit dem I. I. E. Vermutlich steckten alle Tanten dabei unter einer Decke. Es war wie eine bizarre Version eines Geocaching-Clubs – sobald eine Tochter aus dem Verein achtzehn wurde, entwickelten die Tanten eine Strategie, wie sie auf schnellstem Wege vom Elternhaus zum Hauptgewinn kam – ihrem Sasural.
»Stimmt. Aber ich interessiere mich mehr für den Studiengang Technologie«, sagte Dimple und zwang sich, höflich zu bleiben.
Seema rutschte unruhig hin und her, so unbehaglich war ihr offensichtlich Dimples anmaßendes Verhalten, doch Tante Ritu winkte ab. Vielleicht glaubte sie, Dimple sei einfach nur etwas prüde, denn schließlich gingen doch alle mit dem Ziel aufs College, dort einen heiratsfähigen Partner zu finden. Dimple dachte an die Insomnia Con, an Jenny Lindt, die SFSU und Stanford – an all das, was sie gefährden würde, wenn sie Tante Ritu jetzt als rückständigen, antifeministischen Schandfleck für die demokratische Gesellschaft bezeichnete.
Zum Glück kam Mamma in diesem Moment mit einem Silbertablett samt Teekanne, Teetassen, Plätzchen und Tellern zurück. Das Ganze war so schwer, dass ihre Arme zitterten. »Chalo, chair aur Snacks ho jayen! Und, Seema, du Schleckermäulchen, ich habe dir noch extra Shakkar mitgebracht.« Als sie übertrieben fröhlich lachte, musste Dimple sich auf die Innenseite ihrer Wange beißen, weil sie sonst selbst über Seemas erstarrte Miene gekichert hätte. Die junge Frau fand Mammas Interesse an ihr so unangenehm und hatte keine Ahnung, wie sie sich dagegen wehren konnte. Sie tat Dimple leid, aber nicht so sehr, dass sie sich für sie einsetzte. Solange Seema im Mittelpunkt stand, ging es wenigstens nicht um sie.
Nachdem Mamma das Tablett auf dem Beistelltisch platziert hatte, bedienten sich alle.
»Wo liegt die Uni eigentlich genau?«, fragte Tante Ritu zwischen zwei Bissen. »In San Francisco?«
Auf Mammas Sofaseite blieb es seltsam still und Dimple versuchte vergeblich rauszufinden, warum. »Na ja, nicht ganz«, antwortete sie und wandte sich wieder Tante Ritu zu. »Ungefähr vierzig Minuten von der Stadt entfernt.«
»Schade«, sagte Tante Ritu und nahm sich in dem Moment einen weiteren Keks, als Seema nach genau demselben griff. Seemas Hand schien zu schrumpfen, sie straffte die Schultern und gab den Keks auf. Mit einem durchtriebenen Lächeln legte Mamma zwei Kekse auf einen Teller und reichte ihn Seema. Tante Ritu, die von alldem nichts mitbekommen hatte, fuhr fort. »San Francisco soll ja wunderschön sein und hat jungen Leuten eine Menge zu bieten.«
Okay, eine bessere Gelegenheit hätte Dimple sich nicht wünschen können.
Sie räusperte sich. Möglicherweise wollte Mamma in Seemas Anwesenheit großzügiger erscheinen. »Wirklich interessant, dass du das jetzt sagst«, sagte Dimple.
Sie trank einen Schluck heißen Tee, um sich zu stärken. »In diesem Sommer hätte San Francisco mir tatsächlich etwas Interessantes zu bieten. Kannst du dich erinnern, Mamma, dass ich dir davon erzählt habe?« Sie zwang sich zu einer ruhigen, entspannten Miene, als würde sie ihre Eltern in regelmäßigen Abständen darum bitten, für so etwas einen Tausender lockerzumachen.
»Mmm?« Mamma sah sie zerstreut an und pustete auf ihren Tee. »Oh, was war es noch … Webentwicklung?«
Wow. Dimple hatte Mamma unterschätzt, vielleicht hörte sie ja doch manchmal zu. »Haan, genau!« Sie lächelte aufmunternd. »Die Insomnia Con auf dem Campus der SFSU. In drei Wochen geht es los und das Programm ist fantastisch. Einige Spitzenleute im Technologiebereich haben es durchlaufen. Es dauert sechs Wochen und man lernt unglaublich viel. Es wäre eine großartige Starthilfe für Stanford. Leider ist es ziemlich teuer …« Sie verstummte und wurde rot, als sie Tante Ritus interessierten Blick bemerkte. Sogar die stumme Seema schien aufmerksam Dimples Spiegelbild in dem Silbertablett zu betrachten.
»Wenn es gut für deine Karriere ist, könnte es das wert sein«, sagte Tante Ritu in das allgemeine Schweigen. Dimple hob überrascht den Kopf. Obwohl sie für Schützenhilfe grundsätzlich dankbar war, wunderte sie sich über diesen plötzlichen Einwurf. Seit wann verschwendete Tante Ritu einen Gedanken daran, was der Karriere einer Frau nützte? »Wieso besprichst du das nicht mit Vijay, Leena?«
Als Dimple sie ungläubig ansah, zwinkerte Tante Ritu ihr zu. Im nächsten Augenblick rief Mamma Papa, er solle dazukommen. »Vijay! Idhaar aayiye!«
Als Papa hereinkam, schaute er etwas skeptisch drein, setzte dann aber rasch ein warmherziges Lächeln für die Gäste auf. »Hallo, Ritu und Seema.«
Seema Didi sprang hektisch auf und drückte ihre Handflächen aneinander. »Namaste, Onkel Vijay.«
»Setz dich, setz dich nur.« Er nahm neben Mamma Platz, verharrte kurz und schnappte sich einen Milanokeks.
Obwohl Mamma und Dimple »Nein!« sagten, hatte er ihn in den Mund gesteckt, bevor sie ihn davon abhalten konnten. Er grinste verlegen.
Dimple legte zwei Finger auf ihre Nasenwurzel. »Papa, du bist Diabetiker!«
Mamma seufzte theatralisch. »Kya aap mujhe vidhwaa chodna chahte ho?«
Bei diesen Worten verdrehte Dimple die Augen. »Wir reden von Diabetes, Mamma. Ich glaube kaum, dass er in absehbarer Zeit stirbt und dich zur Witwe macht.«
Tante Ritu beobachtete begierig das kleine Familiendrama, doch Seema sah aus, als wäre sie am liebsten woanders.
»Doch, wenn er seine Medikamente nicht richtig einnimmt! Er will das alles nicht – den Blutzuckerspiegel messen, sich ausgewogen ernähren!«
Papas Ohren liefen rosa an und er räusperte sich. »Okay, okay, und warum hast du mich nun gerufen?«
Die Stimmung war plötzlich deutlich angespannt. Mamma richtete ihren Salwar Kamiz und sah Dimple an. »Sag ihm, was du uns eben erzählt hast.«
Dimple wagte kaum zu atmen, als sie Wort für Wort wiederholte, was sie über die Insomnia Con gesagt hatte. »Ich kann euch die Website zeigen, wenn ihr mehr wissen wollt«, schloss sie.
Papa und Mamma sahen sich an und Dimple staunte mal wieder, wie sie sich ohne Worte verständigten. Wie mochte sich das anfühlen, so eine intensive Verbindung? Dimple versetzte es manchmal einen Stich, dass sie das nie erleben würde – auch wenn sie eher zum Kajal greifen würde, als das jemals zuzugeben. Sie war sich sicher, dass sie für eine derartige Beziehung Opfer bringen müsste, zu denen sie nicht bereit war.
Schließlich wandte Papa sich an Dimple. »Ja, ich würde die Website gerne sehen. Aber ich denke, deine Mamma und ich sind beide dafür, dass du daran teilnimmst.« Auch seine Wangen hatten inzwischen einen zartrosigen Farbton angenommen, genau wie die Spitzen seiner behaarten Ohren, als wäre es ihm peinlich, so viel Liebe und Verständnis zu zeigen.
Ein Herzschlag, zwei, drei. Dimple blinzelte, unsicher, was gerade geschehen war. Dann war sie wieder ganz bei sich.
»O mein Gott, ich danke euch!«, quiekte sie und schlang die Arme um ihre Eltern.
Ernsthaft? Das war alles, was sie die ganze Zeit hätte tun müssen? Mamma um etwas bitten, während Tante Ritu und Seema Didi zu Besuch waren?
Ihre Eltern klopften ihr glucksend auf den Rücken. Sie löste sich von ihnen und grinste, weil sie es noch nicht fassen konnte. Sie ließen sie einfach so nach San Francisco gehen und an der Insomnia Con teilnehmen. Es fühlte sich unwirklich an. Sie sollte Tante Ritu etwas schenken.
»Das sind tolle Neuigkeiten! Aber Leena, du musst ihr einen neuen Salwar Kamiz kaufen, bevor sie abreist.« Die ältere Frau musterte mitleidig Dimples Kleidung. »Sie könnte Hilfe gebrauchen …«
»Gute Idee. Und natürlich Kajal.« Mamma nickte weise.
Hm, vielleicht doch kein Geschenk für Tante Ritu.
3. KAPITEL
Rishi
Das Mädchen machte ein böses Gesicht. Böse, im wahrsten Sinne des Wortes.
Sie war hübsch, mit wildem schwarzem Haar und großen braunen Augen, die sie hinter einer viereckigen Brille versteckte. Und zierlich, das passte perfekt zu seinen Einssechsundsiebzig. Aber dieser Gesichtsausdruck …
Rishi gab seinen Eltern das Foto zurück. »Sie sieht nicht gerade … glücklich aus, oder?«
Ma steckte das Bild wieder in den Umschlag, den sie ihm zur Aufbewahrung reichte. »Uff, oh, keine Angst, Beta. Wahrscheinlich haben sie nur im falschen Augenblick abgedrückt.«
Pappa legte ihr den Arm um die Schultern und lachte. »Weißt du noch, wie Ma und ich uns kennengelernt haben?«
Rishi musste grinsen, seine Bedenken verflüchtigten sich. Die Geschichte war in ihrer Familie legendär. Nur wenige Minuten nachdem sie sich getroffen hatten, hatte Ma Pappa mit dem Schirm verhauen, weil er ihr im Bus den Platz weggeschnappt hatte. Zu seiner Verteidigung führte er an, dass er sie in der Warteschlange nicht gesehen hatte (sie war wirklich ziemlich klein). Und sie entschuldigte sich wiederum damit, dass es ein langer, regenreicher Tag gewesen war, an dem sie sich durch Monsunfluten geschleppt hatte. Sie hatte sich so auf einen Sitzplatz im Bus gefreut. Besonders lustig wurde es dadurch, dass Pappa gerade auf dem Weg zu ihr nach Hause war, wo er mit ihren Eltern die Heirat arrangieren wollte.
»Schließlich hast du ihr den Platz überlassen«, sagte Rishi. »Obwohl sie dich mit dem Schirm verprügelt hat.«
»Vielleicht auch genau deswegen«, sagte Ma wissend. »Ihr Männer seid doch alle gleich – ihr braucht eine starke Frau, die euch in eure Schranken verweist.«
»Aber auch nicht zu stark«, sagte Rishi nachdenklich mit einem Blick auf den Umschlag. »Dimple Shah sieht … wütend aus.«
»Na, Beta, wir kennen Leena und Vijay Shah seit Jahrzehnten. Das müsstest du eigentlich auch, von den vielen Hochzeiten, zu denen wir über all die Jahre gegangen sind«, sagte Pappa. Rishi hatte keine Erinnerung, weder an die Eltern noch an das Mädchen, und sie hätte er mit Sicherheit nicht vergessen. »Hmm, vielleicht auch nicht … du warst zu klein. Wie auch immer, das ist eine gute Familie, Rishi. Bodenständig und aus dem gleichen Viertel in Mumbai wie wir. Gib der Sache eine Chance, Beta. Und wenn ihr euch nicht versteht …« Er zuckte mit den Schultern. »… findet ihr das besser jetzt heraus als erst in zehn Jahren, oder?«
Rishi nickte und trank seinen Chai aus. Das stimmte. Wo war das Problem, an einem mehrwöchigen Kurs in San Francisco teilzunehmen, um Dimple Shah kennenzulernen? Offenbar war sie bereits einverstanden, das hieß, sie fand die Idee auch gut.
Auf dem Papier sah das zugegebenermaßen alles gut aus. Sie hatte genau wie er gerade ihren Highschool-Abschluss gemacht und war in Stanford angenommen worden. Das war zwar am anderen Ende des Landes als das »Massachusetts Institute of Technology«, wohin er gehen würde, aber das ließ sich bestimmt irgendwie regeln. Ihre Eltern kannten sich bereits und glaubten, dass ihre Persönlichkeiten gut zusammenpassten. Da Dimple ebenfalls hier geboren und aufgewachsen war, hatten sie sicher viele Gemeinsamkeiten. Abgesehen davon – hatten seine Eltern ihn je enttäuscht? Er musste sie nur ansehen, eng aneinandergeschmiegt, mit einem Funkeln in den Augen, weil sie sich so sehr für ihren ältesten Sohn freuten. Eine bessere Werbung für die arrangierte Ehe gab es nicht.
»Okay, Pappa«, sagte Rishi lächelnd. »Ich mach’s.«
Pfeifend ging Rishi ins Fernsehzimmer. Sein Herz fühlte sich an wie ein Gasballon, obwohl er sich innerlich dagegen wehrte. Von Liebeskomödien hielt er überhaupt nichts. Im echten Leben gab es keine Liebe auf den ersten Blick, die überdauerte. Rishi hatte es bei etlichen Freunden aus verschiedensten Kulturkreisen erlebt: Am Anfang des Schuljahrs hatten sie sich verliebt und am Ende waren sie zu Todfeinden geworden. Oder noch schlimmer, sie lebten abgestumpft nebeneinander her und hatten sich nichts mehr zu sagen.
Am Beispiel seiner Eltern hatte Rishi gelernt, dass es auf Verträglichkeit und Stabilität ankam. Er wollte nicht tausend dramatische romantische Augenblicke, in denen ihm das Herz stehen blieb – er wollte eine lange, tragfähige Partnerschaft.
Doch obwohl er so unglaublich pragmatisch veranlagt war, konnte er sich ein Leben mit ihr vorstellen. Als er Dimples Foto zum ersten Mal gesehen hatte, wusste er bereits, dass ihre Geschichte ebenso zur Legende werden würde wie die von Ma, die Pappa mit ihrem Schirm verhauen hatte. Sie würde eine süße, lustige Anekdote zu dem Tag erzählen, an dem das Foto entstanden war, und damit seine tiefe Zuneigung gewinnen. Möglicherweise hatten ihre Eltern dieses Bild ausgewählt, um ihre verspielte Persönlichkeit zu vermitteln.
Und wenn das alles klappte? Wenn sie merkten, dass sie wirklich so gut zusammenpassten wie ihre Eltern es vorhergesagt hatten? Dann wäre Rishis Leben auf der Erfolgsspur. Alles würde sich perfekt von selbst ergeben. Er würde zum MIT gehen und vielleicht konnte sie dorthin oder auf eine Uni in der Nähe wechseln. Sie konnten während der Collegejahre zusammen abhängen, miteinander ausgehen und dann heiraten. Er würde sich um Dimple kümmern und Dimple um ihn. Und noch ein paar Jahre später … würden sie seine Eltern zu Großeltern machen.
Doch er überholte sich selbst. Zunächst musste er die Fühler nach ihr ausstrecken und sehen, wie sie so war. Vielleicht wollte sie ja schon direkt nach dem College heiraten.
Er blieb ruckartig stehen, als er Ashish auf dem Sofa entdeckte, der seine ellenlangen Beine so ausgestreckt hatte, dass er jeden Zentimeter des Zweisitzers einnahm. Seine Haare waren zu lang, lockten sich über seiner Stirn und fielen ihm in die Augen. Wie immer trug er seine komplette Basketball-Montur.
Es spielte keine Rolle, dass Sommerpause war. Basketball und Ashish waren seit der Grundschule eine Einheit und jetzt, acht Jahre später, war er gut genug, um als einziger Elftklässler in der Schulauswahl zu spielen. Er hatte schon im letzten Sommer in einem besonderen Camp mit anderen Ausnahmetalenten trainiert.
»Alter, nimm deine Drecksquanten von den Kissen. Wie oft muss Ma dir das noch sagen?« Rishi gab dem Schuh seines Bruders einen Klaps, doch der blieb, wo er war.
Im Fernseher hatte gerade jemand einen Korb geworfen und Ashish stöhnte. »Hey, du bringst mir kein Glück, Bhaiyya.«
»Kann sein, aber mein Glück macht Fortschritte, Mann. Ich tu’s, ich fahre nach San Francisco.« Rishis Magen vollzog einen Salto. Wenn er es Ashish erzählte, passierte es wohl wirklich. Oha.
Ashish stellte das Spiel stumm und richtete sich langsam auf. Rishi gab sich Mühe, nicht zu neidisch auf die Muskeln seines kleinen Bruders zu sein. Sie hatten eben sehr unterschiedliche Interessen. »Sag, dass das ein Scherz ist.«
Rishi schüttelte den Kopf und setzte sich schnell auf den leeren Platz neben Ashish. »Nö.«
»Du triffst dich wirklich mit diesem … kleinen Drachen?«
Rishi boxte gegen Ashishs Arm und wäre beinahe zusammengezuckt, so weh tat seine Faust. »Hey, vergiss nicht, wie Ma und Pappa sich kennengelernt haben.«
Ashish ließ sich mit einem Stöhnen zurücksinken. »Ja, ich glaube, ich habe den Kern dieser Geschichte begriffen, nachdem ich sie vier Millionen Mal gehört habe.« Er fuhr mit größerem Ernst fort: »Hör zu, ich kenne dich und wir sind nicht immer gleicher Meinung, du und ich. Du bist wie ein fünfunddreißig Jahre alter Jugendlicher, aber findest du das nicht alles ein bisschen überstürzt? Erst das MIT, jetzt dieses Mädchen und die Insomnia Con … was ist denn eigentlich mit deinen Comics?«
Rishi spannte die Schultern an. Es dauerte einen Moment, bis sein Gehirn verarbeitet hatte, was Ashish meinte. »Was soll damit sein?« Er achtete darauf, dass seine Stimme leicht und locker klang. »Das ist nur ein Hobby, Ashish. Kinderkram. Wir sind hier im richtigen Leben, die Highschool ist Geschichte.«
Ashish zuckte mit den Schultern. »Ich weiß. Aber wenn man aufs College geht, muss man doch nicht mit allem anderen aufhören, oder? Ich will auf dem College zum Beispiel Basketball spielen. Wieso kannst du nicht auch einfach das tun, was du möchtest?«
Rishi lächelte verhalten. »Wieso glaubst du, dass ich etwas tue, was ich eigentlich gar nicht möchte?«
Sein Bruder ließ den Blick aus seinen honigbraunen Augen forschend auf ihm ruhen, doch als er das Gesuchte nicht fand, sah er weg. »Egal, Mann. Hauptsache, du bist glücklich.«
Rishi fühlte einen Stich und schaute seinen jüngeren – drei Zentimeter größeren – Bruder an. Sie waren wirklich grundlegend verschieden. Und in Ashishs Augen war er nur ein sonderbares Überbleibsel aus der Zeit, in der ihre Eltern noch in Indien gelebt hatten, als gehöre er nicht ins moderne Amerika. Vielleicht entfernen wir uns langsam voneinander, dachte Rishi, und das Herz tat ihm weh. Doch er zwang sich aufzustehen, weil er wusste, dass im Moment alles gesagt war.
Dann ging er nach oben in sein Zimmer, um für San Francisco zu packen. Für Dimple Shah, wer auch immer sie war.
4. KAPITEL
Dimple
»Was ist mit dem? Die Farbe steht dir richtig gut.«
Dimple verdrehte die Augen angesichts des wallenden Salwar Kamiz, den Mamma hochhielt. Er bestand aus Goldbrokat in breiten Streifen und einem pfauenblauen Dupatta. Das Gewand sah wie ein Kostüm für einen Bollywoodfilm aus.
»Tut mir leid, Mamma, das kann ich zur Insomnia Con nicht anziehen.«
Mamma ließ das von ihr so geschätzte Kleidungsstück empört sinken. »Wieso nicht? Du solltest stolz auf dein kulturelles Erbe sein, Dimple.« Damit erntete sie in dem winzigen Geschäft für indische Importkleidung zustimmende Blicke von anderen Eltern. Dimple konnte ihr förmlich ansehen, wie sie sich brüsten wollte. »Papa und ich haben ein halbes Jahrhundert an unseren Werten und unserer Tradition festgehalten! Als wir in Amerika eingewandert sind, haben wir uns geschworen, niemals –«
»Ja, aber ich bin nicht in Amerika eingewandert«, schnitt Dimple ihr das Wort ab und warf einen trotzigen Blick in die Runde der Kunden. »Ich bin hier geboren. Das ist meine Heimat. Das ist meine Kultur.«
Mamma drückte den goldenen Salwar an ihre Brust. »Hai Ram«, sagte sie matt.
Dimple seufzte und nahm ein paar Kurta-Tops vom nächsten Ständer, alles Variationen derselben Farbe und desselben Musters: schwarz mit silbergrauen Akzenten. »Und was ist hiermit?«, fragte sie. Sie konnte sie zu ihrer Skinny Jeans und den Chucks anziehen und fast normal aussehen.
Mamma verzog das Gesicht, doch Dimple sah ihr die Zustimmung bereits an. »Die gehen auch, aber ein bisschen Farbe würde deinem Teint wirklich guttun. Wenn du schon kein Make-up tragen willst …«
Dimple scheuchte Mamma zur Kasse, bevor sie noch auf die Idee kam, in dem Geschäft nach Kajal zu suchen.
Als sie wieder zu Hause war, schrieb Dimple eine Nachricht an Celia. Morgen früh um 8 fahre ich los! Von Fresno brauche ich ca. 4 Std.
Celia war eins der wenigen anderen Mädchen, die sich für die Insomnia Con angemeldet hatten. Sie hatten sich in den Foren kennengelernt und beschlossen, in den sechs Wochen zusammenzuwohnen.
Das hatte Dimple ihren Eltern natürlich nicht auf die Nase gebunden. Wenn sie wüssten, dass sie sich aus dem Internet kannten, würden sie befürchten, dass Celia sich als fünfzigjähriger Mann mit einem Spaten und einem Transporter entpuppte. (So war es nicht. Dimple hatte sie bei Facebook überprüft.) Es war schon schwierig genug gewesen, ihren Eltern die Erlaubnis abzuringen, allein dorthin zu fahren. Dimple war nicht sicher, ob sie begriffen hatten, was College bedeutete – nämlich, dass sie in wenigen Wochen woanders leben und eigene Entscheidungen treffen würde. Allein.
Ihr Handy meldete eine neue Nachricht.
Ich. Kanns. Kaum. Erwarten.
Celia war ebenfalls gerade von der Schule abgegangen und wohnte bei ihren Eltern in San Francisco. Im Herbst fing sie an der SFSU an.
Ich auch nicht! Sollen wir zusammen mittagessen, wenn ich da bin?
Gerne! Auf dem Campus? Da gibt es eine super Pizzeria.
Klingt wunderbar.
Nachdem sie die Details besprochen hatten, lehnte Dimple sich auf ihrem Bett zurück und lächelte. Es lief wie am Schnürchen. Endlich fing ihr wahres Leben an.
Rishi
Ma zelebrierte das Ritual in der Einfahrt. Sie hatte eine Schüssel mit Kumkum-Pulver, das sie in Wasser aufgelöst hatte, auf ein Silbertablett gestellt und vollführte damit Kreise um sein Gesicht und seine Schultern. Sie bewegte fieberhaft die Lippen, als sie zum Gott Hanuman betete, damit das Schicksal ihren ältesten Sohn begünstigte. Als das Ritual beendet war, trat sie einen Schritt zurück und lächelte mit Tränen in den Augen zu ihm hoch.
Pappa legte Rishi die Hand auf die Schulter und drückte sie kurz, bevor er wieder losließ. »Hast du alles, was du brauchst?«
Pappa betonte das Wort »alles« und Rishi nickte, weil er wusste, was gemeint war.
»Ruf uns sofort an, wenn du angekommen bist«, sagte Ma.
»Wir sind in Atherton, das heißt, er braucht ungefähr eine Stunde zur SFSU. Da liegt er ja länger in der Badewanne.« Ashish stand in der Nähe und warf Körbe, während er darauf wartete, dass seine Freunde ihn zu ihrem Wochenendvergnügen abholten. Rishi wusste nicht, was auf dem Plan stand, ob sie sich Hepatitis C oder doch eher eine Alkoholvergiftung einfangen wollten.
Seine Mutter warf Ashish einen bösen Blick über die Schulter zu. »Richtig, aber das ist ein besonderer Trip. Er könnte deine zukünftige Bhabbi kennenlernen, Ashish. Ein bisschen Respekt, bitte.«
»Keine Sorge, ich rufe euch an, sobald ich kann«, sagte Rishi hastig. Dann bückte er sich und berührte ihre Füße. »Tschüss, Ma, Pappa.«
Die Gefühle tobten in seiner Brust, als er ins Auto stieg und losfuhr. Seine Eltern winkten wild im Rückspiegel. Etwas, das größer war als er selbst, größer als sie alle, drohte Rishi zu erdrücken. Während er im Licht des späten Vormittags die Allee entlangfuhr, hätte er schwören können, dass er dutzendweise Geister sah – seine Großeltern und ihre Eltern und deren Eltern –, die lächelnd auf ihn herabblickten und ihn zu seinem Schicksal geleiteten.
Dimple
Auf dem Weg vom Parkhaus zu den Geschäften und Restaurants streckte Dimple ihre steif gewordenen Muskeln. Nachdem sie drei Stunden im Auto gesessen hatte, genoss sie den herrlichen Sonnenschein auf der Haut. Es fühlte sich geradezu heilsam an, die frische Stadtluft einzuatmen statt des Miefs aus der Klimaanlage.
Da Dimple früher als erwartet angekommen war, schrieb sie Celia, sie sei schon da, aber deshalb müsste sie sich nicht beeilen. Sie wollte in der Zwischenzeit über den Campus schlendern. Aber erst mal – zu Starbucks.
Sie brauchte das Koffein in den Adern, bevor sie zu Hause anrief und ihren Eltern Bescheid gab. Mamma hatte sicher tausend Fragen auf Lager und würde sie erneut vor den amerikanischen College-Boys warnen. Am Morgen war Dimple bereits gezwungen gewesen, das Wagenfenster hochzufahren, während ihre Mutter noch mit ihr redete, weil sie sonst niemals weggekommen wäre. Sogar Papa hatte nach zwanzig Minuten aufgegeben und war ins Haus gegangen. Die Frau konnte einfach nicht aufhören und hatte Kiefermuskeln wie ein Raubtier im Dschungel.
Es hatte sich trotzdem günstig ausgewirkt, denn aus lauter Angst, zu spät zu kommen, war Dimple die ganze Zeit zehn Meilen über dem Tempolimit gefahren, ohne eine Pause einzulegen. Deshalb war sie so früh da.
»Einen Iced Caffè Latte, bitte«, sagte sie zu dem Barista mit dem Nasenpiercing. Das Café war brechend voll mit Leuten vom College, die mit ihren bunten Frisuren wie angeberische Tropenfische umherwimmelten. Mamma wäre bei der Bandbreite und Anzahl der Tattoos und Piercings in Ohnmacht gefallen. Dimple fand es toll.
Mit ihrem gekühlten Getränk in der Hand ging sie wieder hinaus und wanderte langsam zu dem Springbrunnen (der wegen der Dürre leider nicht in Betrieb war) mit dem aus Stein gehauenen Alligator, dem Wahrzeichen der Universität. Dimple setzte sich auf den Beckenrand, legte den Kopf in den Nacken und tankte Sonne. Dabei überlegte sie, wie sie die nächste Stunde nutzen wollte. Sollte sie sich das Gebäude, in dem die Insomnia Con stattfand, direkt ansehen oder auf Celia warten? In die Bibliothek wollte sie auch noch, denn vielleicht hatten sie das brandneue Memoir von Jenny Lindt.
Wow, die Freiheit war wie ein Rausch. Dimple liebte ihre Familie von Herzen, doch zu Hause war es ihr allmählich vorgekommen, als trüge sie ein Eisenkorsett, das ihr die Luft zum Atmen nahm und sie die ganze Zeit unangenehm zwickte. Eins musste sie ihnen allerdings lassen: Nie im Leben hätte sie damit gerechnet, dass sie sie hierherschicken würden.
Sie kannte zwar die Gründe für ihren plötzlichen Sinneswandel bezüglich der Insomnia Con nicht, doch möglicherweise hatte sie ihren eigenen Einfluss unterschätzt. Vielleicht sahen sie endlich ein, dass sie ein eigenständiger Mensch war mit einer moderneren Weltanschauung, die mit ihren patriarchalischen Glaubenssätzen nichts mehr zu tun hatte …
Als es in der Nähe mit einem Mal raschelte, schlug Dimple erschrocken die Augen auf. Ein indischer Junge in ihrem Alter blickte mit einem überaus sonderbaren, albernen Grinsen auf sie herab. Sein glattes, schwarz glänzendes Haar fiel ihm in die Stirn.
»Hallo, zukünftige Ehefrau«, sagte er mit einer Stimme, die vor Fröhlichkeit überschäumte. »Ich kann es kaum erwarten, den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen!«
Dimple musterte ihn eine Minute lang, während ihr Verstand in verschiedensten Betonungen nur ein einziges Wort hervorbrachte: Was? Was?
Sie hatte keinen Schimmer, was hier vor sich ging: War er ein Serienmörder? Ein durchgeknallter ausgebrochener Häftling? Oder ein merkwürdig sympathischer Grimassenschneider? Es ergab alles keinen Sinn. Deshalb tat sie das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel – sie schleuderte ihm den kalten Kaffee entgegen und rannte weg.