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©
2020 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Umschlag- und Innenillustrationen: Naeko Walter
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Layout, Satz und Herstellung: Gunta Lauck
Lithografie: Margit Dittes, Hamburg
E-Book-Umsetzung: Zeilenwert
ISBN: 978-3-646-93337-6
Für Antonia und Theresa
Wir wissen, dass ihr uns nicht traut, ihr Tiere des Waldes.
Wir Krähen sind euch unheimlich. Schon immer.
Doch es sind weder unsere spitzen Schnäbel, die euch Angst
einjagen, noch unser schwarzes Federkleid.
Es sind unsere Augen. Weil sie alles erspähen – selbst eure tiefsten
Geheimnisse. Und was wir finden, erzählen wir weiter und
vergessen es nie.
Ihr denkt, das wäre abscheulich?
Mag sein! Und doch sind wir es, die dafür sorgen, dass nichts
verloren geht. Dass sich die vielen noch so kleinen Geheimnis-
Scherben zu einer Geschichte zusammenfügen. Irgendwann.
Irgendwo.
Zu einer Geschichte wie der von Tara und Lup.
Eine der Krähen
Tara und Lup
»Sag schon, Lup, was erzählen die Bäume heute?«
Tara, das Wolfsmädchen, sprang aufgeregt um ihren Bruder herum.
»Sie erzählen ganz bestimmt etwas. Hör nur, wie ihre Blätter rauschen!
Es ist gemein, wenn du hier herumliegst und es für dich behältst! Du
weißt, ich kann sie nicht verstehen!« Ungeduldig biss sie den Wolfs-
jungen ins Ohr.
»He, lass das!« Lup, der auf einem flachen Felsen in der Sonne vor
sich hin döste, hob seine Vordertatze und schubste seine Schwester
beiseite. »Ich mag es nicht, wenn du so an mir herumzupfst!«
Lachend kugelte sich Tara im weichen, feuchtwarmen Moos, um
dann sofort wieder auf die Beine zu springen und sich vor ihrem Bruder
aufzubauen. »Ja, weiß ich«, kicherte sie. »Und ich weiß auch, warum.«
Ihre klarblauen Augen blitzten. »Es erinnert dich an diese gemeine
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Krähe, die dich neulich am Bach ins Ohr gezwickt und dir dann deinen
Fisch weggeschnappt hat! Stimmt doch, oder?«
Lups Stirn verfinsterte sich. »Nicht irgendeinen Fisch, sondern
meinen ersten selbst gefangenen«, knurrte er. »Und noch dazu einen
riesengroßen! Papa wäre mächtig stolz auf mich gewesen!«
Tara stupste ihren Bruder aufmunternd mit der Schnauze an. »Ach
was, du wirst noch viele Fische fangen, Lup! Wir sind noch jung, wir
brauchen noch keine eigene Beute zu machen! Es reicht, wenn wir den
Großen sagen, was wir uns zum Abendessen wünschen.«
»So, und warum schleichst du dann immer heimlich hinter Papa,
Mikke, Friko und Rika her, wenn sie jagen gehen?«, entgegnete Lup.
»Das mache ich für später«, erklärte Tara gelassen. »Ich beobachte
sie und merke es mir.« Dann beugte sie sich so nah zu ihrem Bruder
vor, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Damit mir niemand
meine Fische wegschnappt!«
»Na warte!« Lup schnellte hoch und warf sich auf seine Schwester.
Lachend und ineinander verkeilt kugelten die Wolfskinder wie ein hell-
braunes Fellknäuel hügelab über den Waldboden, zwischen bemoosten
Steinen, Baumstämmen und Baumwurzeln hindurch. Sie wurden im-
mer schneller und quiekten vor Vergnügen, bis sie schließlich in einer
Mulde stoppten.
Tara stemmte ihren Bruder blitzschnell mit den Vordertatzen auf
den Boden.
Auf den ersten Blick wirkte das Wolfsmädchen mit dem seidigen
sandfarbenen Fell klein und zierlich. Aber trotz ihres zarten Äußeren
hatte Tara Ausdauer, einen sehr starken Willen und sie war zäh, genau
wie ihre Mutter Lunda.
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Lup hingegen war etwas stämmiger gebaut und sein Fell war flau-
schiger als das seiner Schwester. Die hellgrauen Fellspitzen verrieten,
dass er später wohl einmal ein Silberwolf werden würde, so wie ihr
Vater Raureif. Nur die Stirn zierte ein dunkelgrauer Fleck, der an die
Form eines Ahornblattes erinnerte.
»Ergib dich!«, hechelte Tara, und obwohl es nur ein Spiel war, nahm
ihr Gesicht plötzlich etwas Wildentschlossenes an.
Lup grinste. »Na gut, ich ergebe mich! Aber nur, weil du ein Mädchen
bist und meine kleine Schwester!«
Taras Augen wurden zu zwei engen, funkelnden Schlitzen und sie
zog schnaubend ihre Nase kraus. »Ha, ich hab gewonnen und das
weißt du nur zu gut. Aber … ich lass dich frei, wenn du mir dafür sagst,
was die Bäume erzählen!«
Lup seufzte. »Also gut! Du kannst einen ja noch mehr nerven als die
Krähen mit ihrem ständigen Gekrächze!«
Tara rollte sich von ihrem Bruder herunter. Dann schmiegten sich
die Geschwister inmitten einer Gruppe dicht stehender Laubbäume an-
einander und blinzelten müde hinauf in die Wipfel. Der laue Spät-
sommerwind spielte mit den Blättern und die Sonnenstrahlen ließen
sie in allen nur erdenklichen Grüntönen flimmern.
Tara schielte zu ihrem Bruder. Er hatte jetzt die Augen geschlossen
und seine Ohren zuckten. Tara musste an sich halten, um nicht wieder
hineinzuzwicken. Diese Ohren, fand Tara, passten zu ihrem Bruder –
richtige Lup-Ohren waren es: aufmerksam und wachsam. Ohren,
denen man alles anvertrauen konnte.
Sie rückte noch ein bisschen enger an ihn heran.
»Also«, begann Lup murmelnd, »heute erzählen sich die Bäume von
zwei Wolfskindern, die Abenteuer so sehr liebten, dass sie beschlossen,
von nun an jeden Tag mindestens eines zu erleben.«
Auch Tara schloss zufrieden die Augen. Die Geschichten, die von
zwei Wolfskindern handelten, mochte sie am liebsten.
»Eine Zeit lang waren die beiden sehr glücklich«, erzählte Lup
weiter, »denn tatsächlich passierte jeden Tag etwas Aufregendes. Aber
dann, als die Kinder älter wurden, blieben die Abenteuer aus. Die
Wolfskinder langweilten sich und darum beschlossen sie eines Mor-
gens, ihren Wald zu verlassen und sich selbst ein Abenteuer zu suchen,
irgendwo da draußen …«
Tara lächelte in sich hinein. Insgeheim wusste sie, dass Lup die Ge-
schichten für sie erfand und er in Wirklichkeit genauso wenig verstand,
was die Bäume erzählten, wie sie selbst. Aber das war ihr egal. Es war
einfach schön, daran zu glauben.
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Das unheimliche Heulen
»Lup? Lup, wach auf ! Was war das?«
Lup hörte Taras Stimme wie aus weiter Ferne. Sie klang aufgeregt.
Widerstrebend öffnete er ein Auge und blinzelte.
Tara saß aufrecht und mit erschrocken angelegten Ohren auf dem
Platz, an dem sie vorhin eingedöst waren. Aufmerksam lauschend sah
sie sich um. Aber bis auf die bekannten Geräusche des Waldes blieb es
still.
»Lup!«, flüsterte sie noch einmal und rüttelte mit der Vordertatze so
lange an ihrem Bruder herum, bis er auch sein zweites Auge aufklapp-
te. Lups Schwanzspitze zuckte und er gähnte herzhaft. »Was ist? Ich
habe gerade so schön geträumt!«
Sonnenstrahlen fielen durch das dichte Laub der Bäume. Es würde
noch eine Weile dauern, bis es dunkel wurde. Trotzdem mussten die
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beiden Wolfskinder eine ganze Weile geschlafen haben, denn die
Sonne hatte ihren höchsten Punkt überschritten.
»Hast du das eben auch gehört?«, fragte Tara beunruhigt.
Lup blinzelte mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne.
Sie waren blau wie die seiner Schwester, wenn auch ein bisschen
dunkler. Erst später würden sie sich gelb verfärben – wenn sie end-
gültig keine Welpen mehr waren. »Was meinst du?«, fragte Lup noch
immer verschlafen. »Was soll ich gehört haben?«
»Dieses Heulen! Es hat mich aufgeweckt, ganz sicher. Ich glaube, es
kam …«, Tara drehte sich im Kreis, »… aus dieser Richtung. Richtig un-
heimlich war es – und ganz lang gezogen!«
»Ein unheimliches Heulen? Aus Richtung des Bärenschlundes?«
Lup grinste. »Etwa so?« Er hob die Schnauze und stieß ein lautes,
wackliges Quieken aus. Eine Amsel stob empört schimpfend aus einem
nahe stehenden Busch auf.
Tara musste kichern. »Nein, nicht so ein Gequietsche. Was ich ge-
hört habe, war wirklich schaurig. Ein tiefes, schauriges Heulen war
es.«
Lup schüttelte den Kopf. »Das hast du bestimmt nur geträumt, Tara!
Oder es waren Mikke oder Friko, die sich wieder mal gekabbelt haben,
wer der Stärkere von beiden ist.«
»Nein, die beiden waren es nicht. Ich weiß doch, wie sich das Heu-
len meiner eigenen Geschwister anhört. Außerdem ist Papa schon
ganz früh mit ihnen in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen,
um an den Stürzenden Flüssen Beute zu machen. Sie sind sicher noch
nicht zurück.«
Lup ging auf alle vier Pfoten und streckte sich genüsslich. »Mmmh,
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dann gibt es später bestimmt wieder etwas Leckeres!«, murmelte er
und schmatzte schon bei dem Gedanken daran.
Tara stieß mit ihrer Tatze gegen seine Brust. »Also wirklich, wie
kannst du jetzt bloß ans Essen denken, Lup?«, schimpfte sie. »Was,
wenn das ein gefährliches Tier war?«
Lup zuckte mit den Schultern.
»Bist du denn gar nicht neugierig?« Tara funkelte ihren Bruder ver-
ständnislos an. »Denk doch mal an die Wolfskinder aus der Geschich-
te! Hätten die in so einem Moment etwa auch darüber nachgedacht,
was es wohl zum Abendessen gibt? Du bist mir vielleicht ein langweili-
ger, abenteuermüder Wolf !«
»Stimmt nicht, ich bin nicht langweilig!« Lup seufzte. »Na gut, wir
können ja ein Stückchen in Richtung Bärenschlund gehen und nach-
sehen, ob wir unterwegs etwas entdecken. Obwohl ich nicht glaube,
dass dein geheimnisvoller Heuler einfach so zwischen den Bäumen he-
rumsitzt und auf zwei Wolfskinder wartet. Mal angenommen, es gibt
ihn überhaupt.«
Tara schnaubte. »Abwarten. Außerdem wäre es ja kein Abenteuer,
wenn man schon vorher wüsste, was passiert und wer wo sitzt! Oder?«
Lup ärgerte sich im Stillen. Tara konnte ihn mit ihrer Schlagfertig-
keit manchmal ganz schön nerven. Er brauchte keine aufregenden
Abenteuer. Ihm genügte es, mit Tara durch den Wald zu tollen, der oh-
nehin jeden Tag neue Überraschungen für sie bereithielt, oder mit ihr
in der Gluckerhöhle zu spielen – dem spannendsten und schönsten
Ort des Wolfswaldes. Aber gut, dann sahen sie eben nach, dann hatte
Tara ihren Willen. Vorher würde sie sowieso nicht aufgeben.
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Eine Zeit lang liefen die Geschwister wortlos nebeneinanderher und
wie so oft, wenn sie durch den Wald streiften, achteten sie darauf, dabei
möglichst keine Geräusche zu machen – so wie ihre Eltern und großen
Geschwister, wenn sie auf die Jagd gingen.
»Ein Wolf, der Beute machen will, muss sich früh darin üben, auf
leisen Pfoten zu gehen«, hatte ihnen ihr Papa erklärt. »Denn alle Tiere
des Waldes sind aufmerksam. Jedes noch so kleine Geräusch schreckt
sie auf und schlägt sie in die Flucht. Und dann müsst ihr ohne Nah-
rung und mit leeren Bäuchen zu eurem Rudel zurückkehren.«
Also übten sich Tara und Lup, wann immer sie daran dachten, im
Leisesein. Lup war ein ausgezeichneter Schleicher, aber auch Tara
machte sich nicht schlecht. Und so war nur ab und an ein kleines Kna-
cken oder Rascheln unter ihren Pfoten zu hören, wenn sie einem
flinken Eichhörnchen oder einem Buntspecht hinterherblickten und
für einen kurzen Augenblick ihre Vorsicht vergaßen.
Beide Kinder hoben witternd die Nasen und suchten nach Hinwei-
sen auf ein fremdes Tier, aber ihnen fiel nichts Ungewöhnliches auf.
Nur die feinen, kaum sichtbaren Fußabdrücke von Vögeln auf dem
weichen Waldboden waren zu erkennen, die glänzenden Spuren der
Schnecken, kleine dunkelbraune Kügelchen, die Hasen hinterlassen
hatten, oder die von Wildschweinen abgewetzten Stellen an einigen
Baumstämmen.
»Meinst du eigentlich, es ist wieder Wasser in der Gluckerhöhle?«,
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fragte Tara unvermittelt, als sie auf der Höhe ihres gemeinsamen Lieb-
lingsplatzes ankamen. Sie blieb stehen und reckte neugierig ihren Hals
in die Richtung. »Immerhin hat es letzte Nacht ziemlich geregnet und
der Bach plätschert viel lauter als sonst, hör doch mal!«
Als Tara die Gluckerhöhle erwähnte, sah Lup eine Chance, seine
Schwester von ihrem Vorhaben abzulenken. Er fand ohnehin, dass sie
weit genug gelaufen und dem Bärenschlund schon gefährlich nahe ge-
kommen waren.
»Kann gut sein, dass Wasser durchs Loch in die Höhle gestiegen ist.
Lass uns doch nachschauen«, meinte er mit Unschuldsmiene und
schlug schon die Richtung zur Gluckerhöhle ein. Doch genau in diesem
Moment rief über ihnen ein Käuzchen.
»Huhuuu!«
Tara stutzte und hob den Kopf. Das Käuzchen segelte dicht über
ihren Ohren hinweg und verschwand dann in einer Tanne.
»Nein, zur Gluckerhöhle können wir jeden Tag«, erwiderte Tara.
»Komm, wir gehen lieber weiter!«
Aber Lup hatte die Schnauze voll von ihrer Erkundungstour, die ver-
mutlich zu gar nichts führte. Er stellte sich seiner Schwester in den
Weg. »Könnte es nicht sein, dass dein Heuler dieses Käuzchen hier ge-
wesen ist?«, fragte er unwirsch. »Dann hättest du doch deine Erklärung.
Los, komm. Viel weiter als bis hierhin dürfen wir doch sowieso nicht!«
Tara kniff die Augen zusammen. »Klar dürfen wir«, erwiderte sie
trotzig. »Die Regel ist: Wir dürfen bis zu den Steinernen Riesen. Wir
dürfen nur nicht noch weiter. Und das haben wir ja auch gar nicht vor!«
Lup stöhnte. »Du weißt genau, was ich meine!«
Tara runzelte die Stirn. »Nein, was denn?«, fragte sie harmlos.
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»Du steuerst genau auf den Bärenschlund zu und der ist verboten.
Papa hat uns oft genug erzählt, wie gefährlich es dort ist!«
Tara machte einen entschlossenen Schritt auf Lup zu. »Der Eingang
zum Bärenschlund liegt zwischen den Steinernen Riesen«, sagte sie.
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»Wir können ja bis zum Höhleneingang gehen und von außen hinein-
lauschen. Dann gehen wir nicht in den Bärenschlund hinein und auch
nicht über die Steinernen Riesen hinaus. Wir tun also nichts Verbote-
nes!«
Lup betrachtete Tara grübelnd. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht
war ja wirklich nichts dabei, sich am Bärenschlund etwas umzusehen.
Und er musste zugeben: Ein bisschen neugierig war er selbst auf die-
sen verbotenen Ort.
Auch Tara hatte ihren Bruder scharf beobachtet und holte zum ent-
scheidenden Schlag aus. »Außerdem habe ich neulich gehört, wie
Mama zu Papa meinte, Rika, Mikke und Friko hätten in unserem Alter
schon viel weiter und länger weggedurft«, behauptete sie. »Das heißt,
Mama würde uns sicherlich erlauben, bis zum Bärenschlund zu gehen.
Und was Mama will, will Papa meistens auch!«
Lup gab sich einen Ruck. »Na schön. Aber wir bleiben nicht lange
dort, in Ordnung? Ich habe nämlich wirklich schon großen Hunger
und vor Einbruch der Dämmerung müssen wir sowieso zurück am
Rudelplatz sein, wenn wir uns keinen Ärger einhandeln wollen.«
»Versprochen«, meinte Tara und schob sich an Lup vorbei, um das
letzte Stück zwischen dicht stehenden Tannen vorauszugehen.
Kurz darauf erspähten beide die Steinernen Riesen, einen Steinwall
aus gigantischen, schroffen Felsen, der sich ein gutes Stück um den
Wolfswald zog und das Revier ihres Rudels begrenzte. Was dahinter
lag, wussten Tara und Lup nicht, aber das war im Moment auch nicht
wichtig. Interessant war einzig und allein der Bärenschlund, der nun
direkt vor ihnen aufklaffte.
Die Wolfskinder blieben stehen und staunten.
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Angeblich sah der Felsen mit der riesigen schwarzen Öffnung aus
wie der gigantische Schädel eines Bären, der sein Maul aufreißt. We-
nigstens behaupteten das die anderen Rudelmitglieder. Einen echten
Bären hatten die Wolfskinder noch nie gesehen und ihr Vater Raureif
hatte gemeint, im Wolfswald lebten schon längst keine Bären mehr.
Trotzdem schauderten sie nun beim Anblick der Höhle und Lup
schoss ein Gedanke durch den Kopf: Was, wenn doch ein Bär in den
Wolfswald zurückgekehrt war und sich hier versteckt hielt? Vielleicht
konnten Bären ja ebenso heulen wie Wölfe!
»Wollen wir wirklich noch weiter?«, flüsterte er beklommen.
Auch Tara zögerte einen Moment. Doch dann nickte sie. »Der Bären-
schlund wird uns schon nicht gleich verschlucken!«
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Im Bärenschlund
»Huhuuu!«, rief Tara in die Schwärze hinein.
»Huhuuu-huhuuu-huhuuu!«, hallte es zurück.
Vor lauter Aufregung zitterten Taras feine Härchen um ihre
Schnauze. »Hör dir das an, Lup, was man in die Öffnung hineinruft,
kommt ganz oft hintereinander zu einem zurück!«
Lup nickte und strich unruhig vor dem Eingang hin und her. »Hast
du jetzt genug gesehen? Die Sonne verschwindet schon hinter den Stei-
nernen Riesen und dein Heuler ist nicht hier. Das hab ich doch gleich
gesagt. Du hast ihn dir nur eingebildet. Komm, lass uns nach Hause
gehen!«
Aber Taras Augen blitzten nur so vor Abenteuerlust und Übermut.
»Pass auf, Lup«, sagte sie und sprang mit einem einzigen großen
Satz in die Öffnung. »Wenn du ein mutiger Wolf bist, dann rette mich
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aus dem gefährlichen Bärenschlund!« Damit verschwand sie im
Dunkeln.
Lup starrte fassungslos auf das schwarze Loch, das seine Schwester
von einem Augenblick auf den anderen verschluckt zu haben schien.
Hatte Tara den Verstand verloren? Lup spürte vor lauter Wut ein Ste-
chen im Bauch. Es war nicht das erste Mal, dass Tara ihn in so eine
dumme Lage brachte. Wie hatte er ihr überhaupt bis hierher folgen
können? Am liebsten wäre der Wolfsjunge auf der Stelle umgekehrt
und nach Hause gelaufen, zum Rudelplatz. Einfach um Tara zu zeigen,
dass er nicht immer nach ihrer Schnauze tanzte. Aber er ahnte, dass er
dann von seinen Eltern Lunda und Raureif gehörigen Ärger bekom-
men würde. Außerdem würde Tara ihn dann ewig als Feigling und
Spielverderber aufziehen.
Lup machte einen vorsichtigen Schritt auf die Schwelle der Öff-
nung zu.
Aus der Dunkelheit stieg ihm feuchte, muffige Luft in die Nase.
Seine rechte Vorderpfote zitterte, als er sie hob und auf den kalten Stein
aufsetzte. Lup ärgerte sich über seine Zitterpfote. Was Tara konnte,
konnte er schon lange. Schließlich war er ein Wolfsrüde und würde
einmal ein eigenes Rudel anführen! Er nahm allen Mut zusammen
und wagte sich hinein.
Lup blinzelte. Viel Licht von außen schaffte es nicht in die Höhle.
Aber seine scharfen Augen konnten trotzdem genug erkennen – und
was sie sahen, erschreckte und faszinierte Lup gleichermaßen. Er lief –
nun ebenfalls von einer plötzlichen Neugierde erfasst – noch ein paar
Schritte weiter, wo sich die Höhle in mehrere Gänge aufspaltete.
Aufs Geratewohl spähte Lup in einen von ihnen hinein – auch von
ihm zweigten weitere Gänge ab.
Schnell zog Lup den Kopf zurück. »Hütet euch vor dem Bären-
schlund«, hatte Raureif gesagt. »Er ist schön und verwirrend zugleich,
und wenn ihr euch zu weit in ihn hineinwagt, so lässt er euch nur noch
mit viel Glück wieder heraus.«
Jetzt wusste Lup, was sein Papa damit gemeint hatte. Alles in ihm
drängte zurück zur Höhlenöffnung. Aber … wo steckte Tara? Was, wenn
sie sich schon verirrt hatte in diesem Spinnennetz aus Felsengängen?
»Tara?«
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… Tara-Tara-Tara …
Lup schluckte. Seine Stimme klang fremd und verzerrt. Aber das
Verwirrendste war der Widerhall. Er schien von überall her gleichzeitig
zu kommen.
»Lup?«
… Lup-Lup-Lup …
Lup zuckte zusammen. Wie aus dem Nichts stand plötzlich Tara
neben ihm. Sie lachte und das Echo ihres Lachens klang in Lups Ohren
noch gruseliger als alle Geräusche zuvor.
»Ist es nicht unglaublich hier?«, fragte Tara begeistert. »Und dieser
Hall … Wir klingen gar nicht nach Lup und Tara, wir klingen viel … ge-
fährlicher!«
Übermütig bleckte sie ihre Zähne, heulte in die Dunkelheit hinein
und ein schauriger Lärm kam zurück.
»Hör nur, die Höhle kann gar nicht so schnell antworten, wie ich
rufe!«, kicherte Tara. »Mach du doch auch mal, Lup!«
»Ja, schon gut, es klingt wirklich ziemlich verrückt«, erwiderte
Lup. Er war so erleichtert über Taras Erscheinen, dass sich seine
Angst und sein Ärger auf die Schwester fast in Luft aufgelöst hatten
und er selbst ein lautes Heulen ausstieß. Die Kinder lauschten faszi-
niert dem Echo.
»Komm, wir müssen trotzdem nach Hause«, meinte Lup, als es wie-
der ganz still um sie herum war. »Es wird schon bald dämmrig und
deinen Heuler finden wir sowieso …«
Weiter kam Lup nicht, denn in diesem Moment stieß die Höhle ein
solches Heulen aus, dass sich den Kindern das Fell sträubte. Es begann
tief und grollend wie das Donnern eines fernen Gewitters, dann
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schraubte es sich langsam in die Höhe, rau und heiser. Noch schauri-
ger aber war der Hall, der folgte. Es war, als strömte er suchend durch
jeden einzelnen Gang der Höhle.
Tara und Lup waren wie versteinert.
»Der Heuler!«, flüsterte Lup. »Du hattest recht, Tara, es gibt ihn
wirklich!«
Das Wolfsmädchen drängte sich ängstlich an ihren Bruder.
»Schnell, komm«, wisperte Lup.
Doch im selben Moment, als sich die Wolfskinder umdrehen und
zum Ausgang zurückstürmen wollten, kreischte etwas über ihnen und