Die Weberin Arachne, so erzählt Ovid, fordert Minerva, die Göttin der Künste, zu einem Wettkampf im Weben. Sie gewinnt. Zur Strafe wird sie in eine Spinne verwandelt. Ihre Nachkommen, die Dichter und Künstler, müssen sich ihr Werk seither als durchsichtiges Garn aus dem eigenen Inneren ziehen. Edi Zollinger verknüpft Kunst und Literatur neu, spürt verblüffende Querverbindungen auf: zwischen Velázquez und Rubens, Flaubert und Proust, Goya und Picasso. Souverän überschreitet er die Grenzen der ästhetischen Fächer – eine inspirierende Zeitreise für alle Liebhaber von Kunst und Literatur, ein detektivischer Blick auf Bilder und Bücher, die man zu kennen glaubte.
Edition Akzente
Edi Zollinger
Herkules am Spinnrad
Rubens – Velázquez – Picasso
Carl Hanser Verlag
»Was ist das. – Was – ist das …«
Thomas Mann, Buddenbrooks
Inhalt
Prolog mit Arachne
Diego Angulo macht eine Entdeckung: Der Wandteppich im Hintergrund der Hilanderas zeigt das erste Motiv von Arachnes Teppich. Tizians Raub der Europa. Schon Rubens hat ihn kopiert. Der Arachne-Mythos als Geschichte über künstlerische Tradition. Velázquez hat Ovid genau gelesen. – Es kann losgehen.
1. Europa und der Stier im Spiegel
Die Meninas lassen sich nicht deuten! Oder doch? Das Gemälde über Velázquez’ Kopf verrät, wie es geht. Rubens’ Pallas und Arachne. Das Mädchen und der Rey Planeta: Europa und der Stier im Spiegel. Der gerettete Teppich.
2. Der spinnende Herkules
Velázquez pflückt sich nackte Männer von der Sixtinischen Decke. Und Omphale verdreht einem von ihnen den Kopf. Ein Missing Link in der Entstehung der Hilanderas: Rubens’ Herkules und Omphale. Eine zweite Geschichte mit Herkules im Kleid. Guillaume Apollinaire verrät, wie sie zu lesen ist. Ein ganzer Kerl. Arachne sitzt im Zentrum des Radnetzes, an dem Herkules dreht. Velázquez und der Schöpfergott.
3. Selbstportrait mit Omphale
Wer hat Gautiers berühmtesten Satz geschrieben? Die Meninas als Vorbild für Goyas Familie Karls IV. Goya verschont die Königsfamilie. Das Bild über Goyas Kopf. Es zeigt Lot und seine Töchter. Es zeigt Herkules und Omphale. Da sitzt ja Velázquez’ Spinnerin! Herkules und Arachne. Tizian – Rubens – Velázquez – Goya. Der Sohn lernt vom Vater das Spinnen.
4. Die schwarze Spinne
Victor Hugos »Puissance égale bonté«. Die schwarze Spinne der Nacht und die goldene Sonne des Tages. Der »soleil noir« und der Komet auf Dürers Stich Melencolia I. Hugo spinnt den Arachne-Mythos weiter.
5. Spinnenfinsternis
In Notre-Dame de Paris hängt ein Wort gewordener Rembrandt. Er verrät, wie Hugos »symbole de tout« zu lesen ist. Der Wink mit dem Spiegel. Eine Lektion in Alchimie. Die Spinne im Fenster. Es zappelt im Netz. Spinnenfinsternis.
6. Arachne in der Provinz
Madame Bovary und Notre-Dame de Paris. Die schönste Kopie von Arachnes Teppich hängt auf »les Bertaux«. Ein Ochse wird zum Stier. Europa packt Jupiter am Horn. »À MON CHER PAPA«: Widmung und Kampfansage. Die Sonne mit den Spinnenbeinen. Hugo geht Flaubert ins Netz.
7. In den Fängen des Kraken
Ein Cliffhanger. Das achtarmige Monster. Les Travailleurs de la mer: Der letzte Band von Hugos Ananke-Trilogie. Arachne + Ananke = Kraken. Hugos Selbstportrait als Tintenfisch. Spinne, Spindel, Radnetz, Radfenster, Glücksrad und – Spinnrad.
8. Omphales Spinnrad
Wer spinnt auf Hugos »Rouet d’Omphale«? Der dichtende Herkules. Europa und der Stier auf dem Sockel. Hugo zitiert Arachne statt Ovid. Das Fundament der Weltliteratur. Arachne – Omphale – Herkules.
9. Herkules der Dichter
Noch ein Herkules. Gautiers Erzählung »Omphale«. Ein Wollteppich mit dem spinnenden Halbgott. Omphale steigt zum angehenden Dichter ins Bett. Eine Metamorphose zur Lust. Dem falschen Herkules werden von Faunus Hörner aufgesetzt. Die Rückseite des Teppichs. Sie zeigt Europa und den Stier aus Spinnseide.
10. Wie man Künstler wird
Das ohne Mutter geborene Werk. Proust bringt einen Spinnfaden zur Welt. Er führt zur Jungfrau Arachne. Und zur Jungfrau Maria. Jungfrauenfäden und Jungfrauensöhne. Dichter und höchster Schöpfer. Omphales Lektion. Herkules hat alles, was einen Mann ausmacht – und noch ein bisschen mehr.
11. Mehr als ein Mann
Ein Mannsbild von einer Frau. Wie Hermaphroditus zu seinen Formen kam. Die Quelle der Salmacis lässt auch den härtesten Kerl weich werden. Sexualkunde mit Ovid. Die Zeugung des Schlafenden Hermaphroditen. Er hat unzählige Nachkommen.
12. Die Geburt der Venus
Velázquez’ Venus vor dem Spiegel. Die fruchtbarste Kastration aller Zeiten. Der Sohn als Vorbild für die Mutter. Aphrodite = Hermaphroditus – Hermes. Da liegt ja Arachne! Noch ein Arachne-Bild von Velázquez. Der zerrissene Teppich.
13. Der Maler als Spinne
Was bisher geschah. Velázquez hat Finger wie Pinsel. Tempesta liest den Arachne-Mythos genau. Seine Radierung als Vorbild für die Meninas. Velázquez’ Metamorphose in eine Spinne.
14. Rubens – Velázquez – Picasso
Picasso und Velázquez malen die Meninas. Ein unsichtbarer Rubens. Der verschwundene Maler. Er taucht auf im Zentrum von Arachnes Netz. Die große Verwandlung: Rubens – Velázquez – Picasso – Arachne. Die Kreuzspinne im Netz.
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Prolog mit Arachne
Diego Angulo macht eine Entdeckung: Der Wandteppich im Hintergrund der Hilanderas zeigt das erste Motiv von Arachnes Teppich. Tizians Raub der Europa. Schon Rubens hat ihn kopiert. Der Arachne-Mythos als Geschichte über künstlerische Tradition. Velázquez hat Ovid genau gelesen. – Es kann losgehen.
Rasend schnell saust das Spinnrad um seine Achse. Die Speichen verwischen zur durchsichtigen Scheibe, man sieht sie und sieht hindurch, wie durch ein Spinnennetz. Die Spinnerin, eine ältere Frau mit weißem Kopftuch und nackten Beinen, dreht das Rad mit ihrer rechten Hand, während sie mit der linken die Wolle vom Rocken löst. Ihr gegenüber wickelt eine junge Frau Garn von der Haspel zu einem Knäuel. Und zwischen den beiden liest eine Arbeiterin Wollflocken vom Boden auf. Wir sind offensichtlich in einer Spinnerei.
Hinter den Arbeiterinnen, es sind insgesamt fünf, scheinen sich drei elegante Damen für einen gewobenen Teppich zu interessieren, der an der Rückwand eines hell erleuchteten, bühnenartigen Raumes hängt. Zwei der drei Damen blicken auf den Wandteppich, die dritte schaut gerade über die Schulter zurück und den Betrachtenden direkt ins Gesicht. Was der Teppich zeigt, ist nur halb zu sehen. Recht gut erkennt man zwei Putten, die von links oben ins Bild fliegen. Unten rechts kann man den Kopf eines weißen Stiers erahnen, und da flattert wohl ein rotes Tuch im Wind. Direkt vor dem Teppich stehen zwei weitere Figuren. Die eine trägt einen Helm und hält einen dünnen Stab in die Höhe, die andere, eine junge Frau, breitet etwas ratlos die Arme aus. Oder stehen die beiden gar nicht vor dem Teppich, sondern sind auf diesem selbst abgebildet?
Diego Velázquez, Las Hilanderas, um 1657, Prado, Madrid.
Las Hilanderas heißt das Bild. Es ist von Diego Velázquez und hängt im Prado in Madrid. Heute ist es weltberühmt, lange Zeit hat sich aber niemand besonders dafür interessiert. Man wusste nicht recht, was man mit ihm anfangen sollte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten seine Betrachterinnen und Betrachter, irgendeine unbedeutende Szene in einer Teppichmanufaktur vor sich zu haben. Doch dann zog ihnen Diego Angulo Íñiguez den Schleier von den Augen.1 Ihm war aufgefallen, dass Velázquez den Wandteppich im Hintergrund nach einem berühmten Vorbild, einem Gemälde von Tizian, gemalt hatte. Und dank dieser Entdeckung begannen sich gleichsam die Fäden der Leinwand zu öffnen – der Blick hinter die Hilanderas, auf eine zweite Bedeutungsebene des Bildes, wurde frei.
Der Teppich im Hintergrund der Hilanderas zeigt Tizians Raub der Europa. Wir sehen Jupiter als Stier und auf seinem Rücken die verzweifelte Königstochter. Ganz so, wie Ovid die Szene im zweiten Buch der Metamorphosen beschreibt.2 Europa schaut über die Schulter zu ihren Freundinnen am Strand zurück, während sie sich mit einer Hand an einem Horn des Stiers festklammert. So schwimmen die beiden übers Meer. Begleitet werden sie von drei Putten, die in Ovids Version der Geschichte allerdings nicht vorkommen. Eine Putte reitet auf dem Rücken eines Fisches, die zwei anderen fliegen am Himmel hoch mit.3
Tizian, Der Raub der Europa, 1560–1562, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston.
Als Angulo das Motiv auf dem Wandteppich im Hintergrund der Hilanderas identifiziert hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Plötzlich war ihm klar, was Velázquez’ Bild neben einer Teppichmanufaktur auch noch zeigt und um wen es sich bei der behelmten Figur und der jungen Frau handelt, die für ihn beide direkt vor dem Teppich stehen. Die beiden konnten nur Minerva und Arachne sein. Der Raub der Europa ist die erste Szene, die Arachne in ihrem mythischen Wettkampf mit der Göttin der Webkunst ihrem Teppich einwebt. Auch diese Geschichte erzählt Ovid in den Metamorphosen, in deren sechstem Buch.4
Arachne, liest man dort, ist eine Lyderin, die so gut weben kann, dass sie es sogar mit Minerva, der Göttin des Handwerks, aufnehmen will. Es kommt zum Wettkampf um die Krone der Webkunst, in dem beide, die Göttin und das Mädchen, je einen Teppich mit alten Geschichten weben: »et vetus in tela deducitur argumentum«5, heißt es.
Minerva zeigt ihren Sieg über Neptunus. Und in die vier Ecken ihres Teppichs fügt sie zudem Bilder ein, die erzählen, wie es denen erging, die es schon vor Arachne gewagt hatten, die Götter herauszufordern. Es ging ihnen schlecht. Sie alle wurden zur Strafe für ihren Übermut verwandelt. Haemus und Rhodope, die sich als Jupiter und Juno ausgegeben hatten, versteinerten zum Beispiel zu Bergen. Schau her, sagt Minervas Teppich zu Arachne, nicht einmal der Meeresgott hat es geschafft, mich in einem Wettbewerb zu schlagen, wie willst das dann du, ein einfaches Mädchen, schaffen? Und übrigens, du dummes Ding, ganz nebenbei, in den Ecken, sag ich dir auch gleich schon, was für eine Strafe dich erwartet. Es wird dir nicht besser gehen als allen anderen Menschen, die es wagten, sich mit Göttern anzulegen. Auch du wirst zum Schluss zur Strafe verwandelt werden. – Minervas Teppich ist eine große Machtdemonstration und eine noch größere Drohgebärde an die Adresse der jungen Künstlerin.
Arachne hingegen webt Metamorphosen zur Lust. Sie zeigt auf ihrem Teppich verschiedene Gestalten, die die Götter annahmen, um schöne Frauen zu verführen. Als Erstes eben Jupiter als Stier mit Europa. Und Arachne webt so geschickt, dass sich Minerva zum Schluss nicht als Siegerin ausrufen kann. Das macht die Göttin furchtbar wütend. Sie zerreißt den lustvollen Stoff und sticht das Mädchen mit dem Webschiffchen in die Stirn. Dieses legt sich darauf den eigenen Webfaden um den Hals und will sich erhängen. Doch so mag Minerva die Geschichte nicht enden lassen. Arachne muss noch ihre Strafe erhalten. Also stützt sie das Mädchen und verwandelt es in eine Spinne. Seither, so schließt Ovid, müssen sich Arachne und alle ihre Nachkommen den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen.6
Der Arachne-Mythos ist nicht nur eine Geschichte darüber, wie die Spinnen entstanden sind, er wird auch als Urmythos der Schriftstellerei verstanden. Mit Arachnes Nachkommen sind in dieser Lektürevariante die Handlungsfäden verspinnenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gemeint, die in der Nachfolge des talentierten Mädchens Geschichtenteppiche weben – wörtliche Texte, vom lateinischen textus für Gewebe.7
Seit Minervas Fluch, so sieht es aus, darf nur noch die Göttin selbst mit Erzählsträngen aus alten Mythen arbeiten und die schönsten Geschichten, die je erzählt worden sind, neu weben. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind dazu verdammt, ihre Handlungsfäden wie die Spinne ihre Spinnseide aus sich selbst zu entwickeln. Und sie sollen, auch das gehört zu Minervas Plan, mit ihren dünnen, fast durchsichtigen Fäden nur noch nichtssagende, leere Gewebe herstellen können. Doch Arachnes Erben sind schlau. Sie haben einen Weg gefunden, sich über Minervas Gebot hinwegzusetzen und die leeren Stellen in ihrem Gewebe mit starkem Stoff zu füllen. Zwar ziehen sie seit dem göttlichen Spruch, wie es die Göttin verlangt, den Faden für ihre Erzählteppiche aus ihrem eigenen Innern, aber sie spinnen ihm dabei alles das ein, was sie davor auf der Netzhaut ihres lesenden Auges gefangen haben: alle alten Geschichten, die von den Großen der Weltliteratur bereits einmal erzählt worden sind. Sie haben die Werke ihrer literarischen Vorfahren aufgesogen, verdaut und zum frischen Garn versponnen, das sie jetzt wieder aus sich ziehen und zu neuen Geschichtenteppichen verweben. Und weil Arachnes Nachfahren mit fast unsichtbarem Faden arbeiten, so dass man die alten Geschichten in ihrem neuen Kleid kaum mehr erkennt, kommt ihnen Minerva nicht auf die Schliche.
Wie mit den Schriftstellern, die von ihr unbemerkt aus alten Mythen schöpfen, geht es Minerva auch mit Velázquez. Sie bemerkt nicht, dass dieser im Hintergrund seiner Hilanderas einen fast unsichtbaren Tizian versteckt hat, der das erste Motiv von Arachnes Teppich zeigt. Und sie übersieht, wie lange Zeit auch alle anderen Kunstbetrachterinnen und Kunstbetrachter, dass Velázquez mit seinem Spinnerinnen-Bild selbst eine Neuauflage der alten Geschichte vom Wettkampf um die Krone der Webkunst gemalt hat. Velázquez zeigt Arachne und Minerva vor dem Teppich mit Europa und dem Stier, dem schönsten Stoff, der je gewoben wurde und dem eigentlich der Sieg gehört hätte. Und er zeigt die Göttin, die bereits mit dem Webschiffchen ausholt, um das talentierte Mädchen damit zu stechen.8
Auf den Hilanderas führt Velázquez die Maler und die Dichter auf eine gemeinsame Vorfahrin zurück. Bei ihm, so eine mögliche Deutung, erzählt Tizian als Maler in Arachnes Tradition auf seiner gewobenen Leinwand die erste Geschichte nach, die Arachne damals schon bei Ovid gewoben hat. Eine Geschichte, die Velázquez jetzt auf seinen Hilanderas mit fast durchsichtigem Faden noch einmal webt. – So wird aus einer Urgeschichte der Schriftstellerei ein Urmythos der Malkunst.
Seit Angulos Entdeckung, was Velázquez’ Gemälde auch noch zeigt, ziehen die Hilanderas die Interpretinnen und Interpreten an wie der klebrige Sonnentau die Fliegen. Und viele von ihnen kommen gar nicht mehr los von dem Bild. In den vergangenen siebzig Jahren sind so viele Bücher und Artikel zu den Hilanderas erschienen wie zu kaum einem anderen Gemälde. Einige Fragen sind aber immer noch ohne Antwort. Zum Beispiel diese: Als Velázquez in der Mitte des 17. Jahrhunderts am spanischen Hof an den Hilanderas malte, hing in der königlichen Sammlung von Philipp IV. neben Tizians Raub der Europa auch eine von Rubens angefertigte Kopie des gleichen Gemäldes.9 Velázquez kannte sie beide, Tizians Original, das heute im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston hängt, und Rubens’ Kopie davon, die man im Prado besuchen kann. Welches der beiden Gemälde er als Vorlage für seinen Teppich benutzt hat, ist allerdings nicht bekannt. So dass wir heute nicht sagen können, ob der Arachne-Teppich im Hintergrund der Hilanderas wirklich die Kopie eines Tizians oder doch eher die Kopie eines Rubens zeigt, der seinerseits bereits einen Tizian kopiert.
Ähnlich wie bei Ovid, der Minerva und Arachne alte, bereits mindestens einmal erzählte Geschichten neu weben lässt, scheint es bei Velázquez um die Bedeutung alter, schon gemalter Kunstwerke für die neuen, die noch zu malen sind, zu gehen und um die Bedeutung großer Vorläufer für spätere Künstlergenerationen. So ist es wohl auch kein Zufall, dass er seine Arbeiterinnen ausgerechnet ein Bild von Tizian weben lässt, das auch schon Rubens kopiert hat. Tizian und Rubens gelten als zwei der wichtigsten Vorläufer von Velázquez. Und wir dürfen durchaus davon ausgehen, dass uns Velázquez mit dem gemalten Teppich im Hintergrund nicht zuletzt mit durchsichtigem Faden sagen will, in wessen künstlerischer Tradition er sich sieht.10
Eine weitere Frage, die bis heute auf eine definitive Antwort wartet, betrifft Velázquez’ Darstellung von Minerva und Arachne. Noch immer sind sich die Experten nicht einig, ob die Göttin und das Mädchen eher vor dem Teppich stehen oder doch diesem selbst als Motiv eingewoben sind.11 Ich glaube, die Antwort steckt in der Frage selbst. Wir sollen sie gar nicht entscheiden können. Bei Ovid heißt es, Arachne webe so gut, dass man meine, man sehe einen echten Stier und das richtige Meer: »verum taurum, freta vera putares«12. Man glaubt, man habe mit ihrem Teppich die lebendige Natur selbst vor Augen. Und Velázquez malt sein Bild wiederum so, dass wir nicht sagen können, ob wir die Göttin und das Mädchen direkt oder nur deren gewobenes Abbild sehen.
Dass Velázquez die Metamorphosen genau gelesen hat, zeigt sich auch noch in einem anderen Punkt. Wenn Ovid erzählt, wie Arachne ihren Teppich webt, kommt es zum folgenden Satz:
nec factas solum vestes spectare iuvabat
tum quoque, cum fierent (tantus decor adfuit arti),
[…].13
Ja, nicht allein das vollendete Gewebe zu betrachten, war eine Freude, sondern auch, seinen Werdegang zu verfolgen: Mit solcher Anmut paarte sich die Kunst.14
Auf den Hilanderas zeigt Velázquez beides, das Werk selbst und seine Entstehung. Er zeigt den fertig gewobenen Teppich im Hintergrund, und er zeigt, wie ein solcher gemacht wird, wie Spinnerinnen in der Nachfolge von Arachne Fäden verspinnen, aus denen sich wieder Geschichten erzählende Teppiche weben lassen.15
Und wenn man das einmal gesehen hat, dann ist man eigentlich – vielleicht noch ohne es zu wissen – bereits dabei, eines der größten Rätsel der Kunstgeschichte überhaupt zu lösen. Die Rede ist vom berühmtesten unter den berühmten »Rätseln der Meninas«, um das es jetzt, im hier folgenden ersten Kapitel dieses Buches, gehen soll.