Rose ist fast fünfzig, als sie Luc kennenlernt. Sie hat eine Ehe überstanden und zwei
Kinder zur Welt gebracht, hat Liebschaften erlebt, Jobwechsel, Schicksalsschläge und
Trauerfälle. Das Leben hat sie stark gemacht. In ihrer Handtasche steckt ein Revolver,
der sie gegen die vielen Dreckskerle dieser Welt beschützen soll. Doch Luc ist anders,
das spürt sie sofort. So charmant und zurückhaltend. Seit sie ihn kennt, liegt in
ihren Augen ein neuer Glanz. Bis er sich eines Tages in seinem männlichen Stolz gekränkt
fühlt und zuschlägt.
In seinem neuen Roman erzählt Nicolas Mathieu von einer Frau, die sich eine Waffe
beschafft, damit die Angst endlich die Seiten wechselt.
Nicolas Mathieu
Rose Royal
Roman
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Hanser Berlin
Rose sprang aus dem Bus, überquerte die Straße, rannte fast, ohne sich um die Autos zu kümmern, dabei herrschte dichter Verkehr in beide Richtungen. Sie trug an diesem Tag einen hellen Baumwollrock und ein hübsches, schulterfreies Oberteil. Über ihrer Handtasche hing eine schwarze Jacke, ihre kirschroten Pumps stachen ins Auge. Von Weitem war ihr Alter schwer einzuschätzen, aber ihre schlanke Statur und die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Vor allem ihre Beine waren toll. Als sie die Straße überquerte, geriet der Strom der Fahrzeuge ins Stocken, eine Furche im Feierabendverkehr, und ein bärtiger Mann in seinem Ford Escort hupte der Form halber. Rose achtete nicht auf ihn. Unverändert setzte sie ihren Weg fort, gleichgültig und zügig, und ließ ihre Sonnenbrille in die Handtasche gleiten, als sie die Tür des Royal aufstieß. Auf der Straße hallte das Geklacker ihrer Absätze nach, als sie ins vertraute Halbdunkel der Kneipe trat. Sie sah auf die Uhr. Es war noch früh am Abend. Rose freute sich, sie hatte Durst.
»Hallo zusammen!«
»Hallo«, antwortete Fred, der Wirt.
Er schenkte ihr ein Glas ein, während Rose nach der Tageszeitung griff. Sie kam jeden Abend nach der Arbeit und setzte sich an die Bar, schlug die Beine übereinander und trank ihr erstes Bier. Normalerweise tauchte sie gegen sieben auf. Oft war es dunkel, außer im Sommer, und Rose empfand dann eine Art Reue.
Das Royal war eine langgestreckte Kneipe mit dunklen Wänden, einem langen Tresen, drei Zapfhähnen für Bier und einer staubigen Fensterfront mit Blick auf ein chinesisches Restaurant, einen Schuster, einen Supermarkt. Hinten im Raum gab es einen Kicker und einen Billardtisch. Die Möbel stammten aus den Siebzigern, Holz und blaues Kunstleder. Die Klos waren eher sauber und voller Aufkleber. Es herrschte immer eine Art Feierabendstimmung. Die Kundschaft veränderte sich ab und an, aber musikalisch blieb man beim Rock.
Mit dem ersten Schluck löste sich etwas in ihrer Brust. Das Bier war kalt, die Zeitung schon zerlesen, und unter ihrer rechten Sohle spürte sie das feste Metall der Fußstütze. Diese drei Empfindungen ergaben für sie schon eine Welt, ein annehmbares Zuhause. Sie befeuchtete ihren Finger und blätterte um, und Fred fragte sie, was es Neues gebe.
»Na ja, nicht viel.«
Rose war fast fünfzig und störte sich nicht weiter dran. Sie war sich ihrer Vorzüge bewusst, ihre Figur hatte sie nicht im Stich gelassen, und dann ihre Beine, wirklich schön. Nur ihr Gesicht verriet sie ein wenig. Es war nicht aufgequollen und auch nicht besonders eingefallen, aber Zeit, Tränen und schlaflose Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen. Fältchen belagerten ihren Mund. Und ihre Haare hatten an Fülle verloren, jenen sinnlichen Überfluss, der ihren Erfolg begründet hatte. Wenigstens sah man wegen der Tönung die grauen Strähnen nicht.
Sie hatte jenes schwierige Alter erreicht, in dem sich die verbliebene Frische, das Funkeln im Alltag aufzulösen schien. Manchmal erwischte sie sich bei einem Meeting oder im Bus dabei, wie sie ihre Hände versteckte, die ihr fremd geworden waren. Wenn sie sich abends im Spiegel betrachtete, nahm sie sich oft vor, ab morgen besser aufzupassen. Im Monoprix verschleuderte sie ein kleines Vermögen für verschiedene Cremes und Shampoos. Wörter wie »Straffung«, »Zellfasern«, »Mineralpigmente« oder »Kollagen« hielten Einzug in ihren Wortschatz. Sie hatte sich beim Aquagym angemeldet und schwor sich immer wieder, nur noch Mineralwasser zu trinken. Manchmal machte sie auch Diäten und aß nur Hülsen- oder Trockenfrüchte oder weißes Fleisch. Doch jedes Mal siegte das Gefühl der Vergeblichkeit. Es war schon spät in ihrem Leben, und all diese Mühen führten zu nichts.
Rose hatte mit zwanzig geheiratet. Sie hatte zwei Kinder bekommen, Bastien und Grégory, und eine Scheidung ohne größere Komplikationen hinter sich gebracht. Sie hatte Chefs, Affären, rein symbolische Beförderungen, gesundheitliche Probleme und Besuche beim Schulleiter überstanden. Sie war nie arbeitslos gewesen, keinen einzigen Tag; ging alles, wenn man nur wollte. Sie hatte es zu einem dreizehnten Monatsgehalt und einem wenig genutzten weißen Fiat Punto gebracht. Ihre Miete war günstig, ihre Jungs hatten Jobs und Freundinnen gefunden. Sie litt an Schlaflosigkeit und plante keine Urlaube mehr. Manchmal kam es ihr vor, als würde ihr Leben ohne sie ablaufen. Gut ging es ihr vor allem hier, in dieser Bar, wenn sie mit Fred plauderte und langsam betrunken wurde, und dann war da noch Marie-Jeanne, ihre beste Freundin, die immer dienstags und donnerstags vorbeikam.
»Kommt sie heute?«
»Wer?«
»Marie-Jeanne.«
»Wollte sie eigentlich«, sagte Fred.
»Nicht gerade viel los. Die wird sich ärgern.«
»Ich hab ihr gesagt, sie soll Termine machen. Aber auf mich hört sie ja nicht.«
Zweimal in der Woche verwandelte sich das Royal in einen Friseursalon. Marie-Jeanne bot Haarschnitte für zehn Euro an und genehmigte sich nach jedem Kunden ein Gläschen, es war also besser, ihre Dienste früh am Abend in Anspruch zu nehmen. Sie war derselbe Jahrgang wie Rose, und wie Rose hatte sie die Kerle satt und die Kinder irgendwie groß bekommen und war geblieben, obwohl sie gern etwas von der Welt gesehen hätte. Immerhin, sie brauchten sich nicht zu schämen. Mehr schlecht als recht verfolgten sie ihre Ziele. Sie konnten sich aufeinander verlassen.
Nach dem ersten Glas bestellte Rose ein zweites. Der Laden füllte sich langsam, und sie fühlte sich wohl, war freundlich gestimmt. Als Fred von diesem xten Eisenbahnerstreik redete, der das ganze Land lahmlegte, verdrehte Rose nur die Augen, der Beweis für ihre gute Laune. Marie-Jeanne erschien kurz nach neun. Rose hatte schon ihr drittes Bier hinter sich.
»Na endlich, wo warst du?«
»Was für ein Tag«, sagte Marie-Jeanne. »Ab Pompey nur noch Stau. Diese verdammten Lkws!«
Sie blickte sich nach Kundschaft um. Viel war nicht los, aber leer war es auch nicht. Wie jeden Abend ließen sich Serge Kalt und der Keuss hinten am Tresen langsam volllaufen. Davon abgesehen das übliche Völkchen vom Rand der Gesellschaft: Trinker, Punks mit schütter gewordenem Haar, untröstliche Angestellte und Langzeitarbeitslose. Wenig glanzvoll. Auch auf die Runde von Mittdreißigern, die über Architektur redeten und belgisches Bier tranken, konnte Marie-Jeanne nicht zählen. Blieb nur der Typ mit Brille, der auf eine zehn Jahre jüngere dunkelhaarige Schönheit einredete. Marie-Jeanne vermutete ein Tinder-Date und seufzte.
»Nur noch Hipster und Penner … Heute gibt’s hier nichts zu holen, das sag ich dir.«
»Es ist doch noch früh.«
»Um zwei werd ich jedenfalls keine Haare mehr schnippeln.«
Um ihren Ärger zu ertränken, bestellte Marie-Jeanne einen Pastis und schlug die Zeitung auf.
»Da fällt einem echt nichts mehr ein. Hört das denn nie auf? Was nerven die uns immer noch mit dem alten Scheiß?«
Mit dem Handrücken schlug sie auf die Titelseite des Lokalblatts, wo über fünf Spalten die Affäre Grégory wieder aufgewärmt wurde. Gegen das Ehepaar Jacob war ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, Muriel Bolle sollte endlich aussagen, dreißig Jahre ging das schon so. Rose erinnerte sich noch an die Anfänge und das erste Foto im Est Républicain an einem Morgen im Oktober. Die Kinderleiche in den Armen eines Polizisten, die Mütze über dem Gesichtchen, Hände und Füße gefesselt. Sie erinnerte sich noch an diese unfassbar winzigen Schuhe, Größe 25 schätzungsweise. Fünf Stunden vorher hatte der Junge noch mit seinen Spielzeugautos im Sand gespielt. Und jetzt das, eisiges Wasser, grelles Blitzlicht, nur noch der leblose Körper eines Kindes. Als die Sache losging, war Bastien gerade fünf, fast so alt wie das Opfer. Wie viele in der Gegend hatte Rose den Fall mit wachsendem Interesse verfolgt. Natürlich war auch sie über dieses Verbrechen entsetzt. Aber das war nicht alles, es ging tiefer. Diese Leute waren ihr vertraut. Sie war in Lothringen aufgewachsen, in einer ähnlichen Familie, umgeben von Schweigen und Groll, ein winziges Kaff mit zwei Fabriken und den Reihenhäusern der Arbeiter gleich gegenüber, toten Winkeln und einem Hass, der bis auf die deutsche Besatzung zurückging. Sie verstand diese Haltung, das Schweigen, den breiten Akzent, den Starrsinn. Sollten die Journalisten sich ruhig lustig machen. Diese Leute gab es wirklich. Sie waren Kanonenfutter und wurden Fabriken zum Fraß vorgeworfen, waren Zielgruppe Nummer eins für das Privatfernsehen, Nichtwähler, Kirmesbesucher, die Wirklichkeit des Landes. Rose hasste es, wie man sie in der Zeitung und im Fernsehen darstellte. Auch sie hätte nichts gesagt. Es ging doch niemand etwas an. Aber der arme Junge. Sie stellte sich seine kalten Hände vor, seinen durchnässten Anorak, seine schwarzen Haare auf der blassen Haut, und ihre Kehle schnürte sich zu.