Konstantin Staschus
meinefreiheit-deinefreiheit.de
Mehr Miteinander in Balance mit Monopolen, Globalisierung, Digitalisierung
Inhalt
1 Freiheit und Demokratie
2 Die Freiheit des Einen und die Nasen der Anderen
2.1 Drei Grade der Freiheit
2.1.1 Erste, äußere Freiheit
2.1.2 Zweite, innere abwägende Freiheit
2.1.3 Dritte, innere gewissenlose Freiheit
2.2 Wie konnten sich Respekt- und Gewissenlosigkeit verbreiten?
2.2.1 Freiheit, Egoismus, Respekt und Abwägen
2.2.2 Politik und Freiheit
2.2.3 Toleranz
2.2.4 Religion
2.2.5 Philosophie
2.2.6 Familie
2.2.7 Die Werte der Wirtschaft
2.2.8 Werte und sich kümmern in COVID-19-Zeiten
2.3 Gewissenlose Freiheit in Wirtschaft und Politik
2.3.1 Manipulative Ausnutzung von Denkfaulheit
2.3.2 Manipulation und Rücksichtslosigkeit quantitativ
2.3.3 Trump und Brexit – Ausnutzung von Denkfaulheit par excellence
2.3.4 Die Rolle der Macht
2.4 Die Balance der Freiheit
2.4.1 Abwägen, Egoismus und die Nasen der Anderen
2.4.2 Verhältnismäßigkeit und Unsicherheiten bei Effekten auf Andere
2.4.3 Einige extreme Beispiele
2.5 meinefreiheit-deinefreiheit.de: Anreize für Freiheitsbalance stärken
2.5.1 Internet-Bewertungsseiten: Fokussierung für maximalen Effekt
2.5.2 Organisationsform der App
2.5.3 Wie würde die meinefreiheit-deinefreiheit.de funktionieren?
3 Grenzen der Freiheit zu lügen
3.1 Viele alte religiöse Regeln sind heute Gesetze, Wahrheit aber nicht und deshalb besonders gefährdet
3.2 Lüge zielgerichtet zurück drängen
3.3 Rolle von meinefreiheit-deinefreiheit.de
4 Grenzen der Freiheit für Monopole
4.1 Wie Freiheit und Abzocke in bestimmten Branchen zusammen hängen
4.2 Volkswirtschaftliche Definition und Regulierung natürlicher Monopole
4.3 Beispiel Stromnetze
4.4 Bedeutung natürlicher Monopole in der Wirtschaft
4.5 Branchen mit natürlichen Monopolen und Regulierungsbedarf
4.5.1 Őffentliche Verwaltung
4.5.2 Erziehung und Unterricht
4.5.3 Sozialwesen
4.5.4 Gesundheit
4.5.5 Finanz- und Versicherungsdienstleistungen
4.5.6 Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) inkl. Medien
4.5.7 Verkehr
4.5.8 Energie- und Wasserwirtschaft
4.5.9 Abgrenzung natürlicher Monopole, gegen Abzocke und Ineffizienz
4.5.10 Globale natürliche Monopole
4.6 Natürliche Monopole und Moral
4.6.1 Falsch regulierte natürliche Monopole fördern unmoralisches Verhalten
4.6.2 Zusammenfassende Liste zielgenauerer Regulierung natürlicher Monopole
5 Freiheitsbalance und Digitalisierung
5.1 Die Grenzen des Computerfortschritts der gewohnten Art
5.1.1 Moores Gesetz
5.1.2 Menschlichere Fortschritts-Geschwindigkeit
5.1.3 Moores Gesetz und Sozialabbau
5.2 Persönlichkeitsmerkmale und Änderungsgeschwindigkeit im Job
5.3 Wie wichtig ist Computerfortschritt für verschiedene Berufe?
5.4 Bei 50 % jährlichem Computerfortschritt ist Sozialstaat kaum bezahlbar, bei 5 % schon
5.5 Sozialstaat und meinefreiheit-deinefreiheit.de können Alle beim Fortschritt mitnehmen
5.5.1 Sozialstaat, Agentur für Arbeit und Steuerlast
5.5.2 Apps und Nachbarschaftshilfe
6 Freiheitsbalance für die Globalisierung
7 Schlusswort: Freiheitsbalance als Grundprinzip für die durch COVID-19 ohnehin nötige Anpassung von Wirtschaft und Politik
8 Anhang: Einige Zitate zu Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit
Die Freiheit des Einen hört da auf, wo die Nase des Anderen anfängt: Diesen Spruch hörte ich früher von meinem Vater. Es war wohl seine persönliche Mischung von Kants „"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt" und Oliver Wendell Holmes „The right to swing my fist ends where the other man's nose begins.“ Über die letzten Jahrzehnte wurde Freiheit aber immer mehr zu einem Wert an sich, zuviel Freiheit schien es nicht zu geben. Schließlich hatte die Demokratie über den real existierenden Sozialismus gerade wegen der Freiheit gewonnen. Freiheit als Wert an sich passte auch gut zu unserem zunehmenden Individualismus, zum freien Welthandel und zur freien Meinungsäußerung im Internet.
Unsere hart errungene Freiheit wird aber heute von zu vielen Firmen und Politikern für Abzocke und Manipulation ausgenutzt. Praktisch niemand ächtet Lügen1, im Privatleben sowieso nicht, aber auch nicht in Wirtschaft, Marketing, Presseerklärungen und Wahlkämpfen. Fake news sind nur das neueste i-Tüpfelchen auf einem schon länger sichtbaren Trend. Viele fühlen sich immer wieder abgezockt und haben das Vertrauen in die Ehrlichkeit der Firmen verloren; dabei ist Monopol fast zu einem Schimpfwort geworden, obwohl es doch neutrale volkswirtschaftliche und kartellrechtliche Definitionen gibt. Die berechtigte Angst wächst jedes Jahr, den Job an eine menschenverachtende Digitalisierung zu verlieren, oder an eine Globalisierung, die überall die Ärmeren noch ärmer und die Reichen noch reicher macht. Gibt es keine Grenzen für die Freiheit der Unternehmen, Digitalisierung und Globalisierung für noch höhere Profite aber auf unserem Rücken voranzutreiben? Gibt es keine Balance bei der Freiheit? Zum einen, damit die Freiheit des Stärkeren, Frecheren, Reicheren, seinen Willen durchzusetzen, in Balance ist mit der Freiheit derer, denen er seinen Willen aufzwingen will? Und zum zweiten, damit jeder einzelne eine Balance lebt, mit genug eigener Freiheit, aber ohne gewissenlose Übertreibung zum Schaden Anderer.
Doch 2020 erwischte die ganze Welt das Coronavirus und die COVID-19-Krankheit, und plötzlich waren grundlegende Freiheiten eingeschränkt: Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, viele Aspekte wirtschaftlicher Freiheit (z.B. freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit), und teilweise damit die Handlungsfreiheit des Individuums2. Hoffentlich dauern die Corona-Einschränkungen nicht lange, aber alle, die diese Einschränkungen mitgetragen und befolgt haben, haben eingesehen, dass Gesundheit wichtiger als Freiheit ist, zumindest bei solch einer lebensgefährdenden Infektion. COVID-19 hat uns auch gelehrt, dass Gesundheit wichtiger ist als die Wirtschaft, auch dies ganz nach Mill3: Denn die ungehinderte Ausübung z.B. der Reise- oder Versammlungsfreiheit in Zeiten von COVID-19 würde für viele Menschen großen Schaden oder sogar den Tod bedeuten. Glasklar zeigt uns also COVID-19, dass Freiheit Grenzen dort hat, wo ihre Ausübung zu großen Schäden für Andere führt. Und es zeigt uns auch, dass sich die Menschen gern mehr umeinander kümmern, gerade wenn es eine Krise mit Einschränkungen der Freiheit gibt (s. z.B. Coronahilfe-start.de, viele andere Nachbarschaftshilfe-Initiativen, Applaus für Pflegekräfte und Musik von den Balkonen, und Bischof Bätzings Hoffnung auf eine solidarischere und achtsamere Welt nach der Krise4).
Grenzen der Freiheit sind also nicht nur eine philosophische Frage, sondern auch eine hochaktuelle politische Diskussion. Denn auch schon vor COVID-19 schien die Freiheit insgesamt weltweit auf dem Rückzug, beklagt zumindest der Bericht „Freedom of the World 2020“ von Freedom House5. Dort werden besonders Beschneidungen von Rechten von nationalen Minderheiten beklagt, z.B. in Indien gegenüber Muslimen, in China gegenüber Uighuren und Tibetern, aber auch in den USA gegenüber Lateinamerikanern, in Ungarn, Polen und anderen EU-Ländern gegenüber Asylsuchenden. Auch die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Gerichte werden beschnitten. All dies bedeutet nicht unbedingt für alle Einwohner solcher Länder, aber doch für viele von ihnen spürbare Einschränkungen ihrer persönlichen Handlungsoptionen, ihrer persönlichen Freiheit im täglichen Leben. Doch auch andere Freiheiten stoßen an Grenzen: Trump beschneidet mit willkürlichen, machtspielerischen Zöllen den freien Welthandel, auch wenn er noch auf der amerikanischen Freiheit besteht, nicht nur die amerikanische Umwelt, sondern auch das Weltklima zu versauen. Die EU verbindet Freihandelsabkommen wie z.B. mit Lateinamerika mit Umweltschutzbedingungen, und setzt in Europa selbst Grenzen für CO2-Emissionen und damit für unsere Freiheit, Umweltsäue zu sein. Die freie und anonyme Meinungsäußerung im Netz wird in Frage gestellt, sowohl in den USA als auch der EU, wenn es weniger um Meinung und mehr um Lüge und Manipulation geht. Und auch der Freiheit der Internetgiganten, uns unbegrenzte Monopolgewinne abzuknöpfen, geht es zumindest in der EU an den Kragen.
Die Zeit ist offensichtlich reif für die Frage, ob und wo es ein Zuviel an Freiheit geben könnte, eine gewissenlose Übertreibung der Freiheit, die nicht auf die Nase des Anderen Rücksicht nimmt. Für die Frage also, wo die beste Balance der Freiheit ist, für Einzelne im täglichen Leben, für Firmen, für Politiker.
Nach einem kurzen Überblick über die große Bedeutung der Freiheit für unser Leben und ihre Betrachtung durch einige wichtige Philosophen zeigen wir in diesem Buch für einige grundlegende Bereiche unserer Wirtschaft und Gesellschaft Freiheitsübertreibungen Einiger zum Schaden der Freiheit Vieler auf. Diese Fehlentwicklungen und Ungleichgewichte haben in den letzten Jahren viel Vertrauensverlust und Wut verursacht. Die Wut ist inzwischen in vielen demokratischen Ländern so stark angewachsen, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, also die Freiheit Aller beschnitten wird, nur um rücksichtslose Übertreibungen zu verhindern. Auch mit der COVID-19-Krise sehen wir, wie einerseits nachbarschaftliche Hilfe und europaweite Solidarität, andererseits aber auch nationale Abschottungen zunehmen.
Aber wir beschreiben nicht nur Missstände, sondern auch konkrete Lösungen, die uns mit einer bewussten Balance an Freiheit zukunftsfähig machen können für fair verteilten Wohlstand, für Gesundheit bei Menschen und Umwelt, und für eine stabile Demokratie. Und wie wir damit Manipulation, Politik-Verrohung und Abzocke den Boden entziehen können. Gegen den immer hemmungsloseren Einsatz von Respektlosigkeit, Beschimpfungen und Verleumdungen in der Politik setzen wir Wahrheit und respektvolles Abwägen berechtigter Interessen. Gegen gewissenlosen Egoismus in Politik und Wirtschaft setzen wir Respekt, Abwägen der Interessen Anderer, und eine Definition von Freiheit, die an der Nase des Anderen aufhört. Gegen die Manipulation in Politik und Marketing und Abzocke durch unregulierte Monopole setzen wir systematische Bewertung und Ächtung von Lügen sowie branchenspezifische Trennung der regulierten Monopolbereiche von den Märkten, wo Wettbewerb funktioniert. Gegen eine Digitalisierung, die uns zu hinterher hechelnden Knechten der sich verselbstständigenden künstlichen Intelligenz macht und uns in wenige Milliardäre und Milliarden von Verlieren teilt, setzen wir auf Miteinander und sich-umeinander-Kümmern, das von der besten Software sozialer Medien unterstützt wird. Gegen eine Globalisierung, die nur von Konzernprofiten getrieben ist und sowohl Umwelt als auch soziale und Menschenrechte mit Füßen tritt, setzen wir Klimazölle und ihre Äquivalente für Sozialdumping wie Kinderarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, 70-Stunden-Wochen.
Dabei sind die Vorschläge dieses Buchs für eine bessere Freiheitsbalance und damit eine Stabilisierung unserer Demokratie zwar sehr konkret, aber dennoch nicht parteipolitisch. Sie sind in dem Sinne grundlegend, dass sie für Anhänger der Marktwirtschaft wie des Sozialen, der Umwelt wie des Wohlstands, Europas wie der Nation, und auch für jung und alt attraktiv sein sollten. In den folgenden Kapiteln machen wir Vorschläge für Freiheit in Balance, die Ächtung von Lügen in Wirtschaft und Politik, zielgenaue Regulierung von Monopolgewinnen, eine menschlichere Digitalisierung, und eine Globalisierung ohne Angst.
Wir teilen den Glauben vieler Wissenschaftler und Politiker, dass Europa und vielleicht sogar die ganze Welt nach Überwindung von COVID-19 die Balance vieler Arten von Freiheit überdenken und neu definieren wird. Die Freiheit vieler Wochenend-Städte-Flugreisender, ohne Klimazoll oder CO2-Abgabe für einige Stunden Party oder Sightseeing oder Wellness Tausende von km hin und her zu fliegen, wird zusammen mit der Freiheit der Fluggesellschaften, daran zu verdienen, hinterfragt werden. Schließlich kommen wir ja monatelang auch ohne diesen Luxus aus. Und die Politiker der Länder, in denen die Fluggesellschaften Steuern zahlen, werden die Wahl treffen müssen, ob sie die Fluggesellschaften pleite gehen lassen, oder ob sie Anteile an ihnen erwerben, um sie vor dem Bankrott zu retten. Falls sie letzteres tun, nutzen sie den neu erkauften Einfluss, um die Fluggesellschaften gesund zu schrumpfen auf ein sozial- und umweltpolitisch vernünftigeres Maß? Oder versucht man für schnellstmögliches Aufholen des verloreren Wirtschaftswachstums das vorherige Hin- und Herfliegen wieder zu erreichen, um dann den Staatsanteil an Aktien gewinnbringend verkaufen zu können? Ähnliche Fragen kann man für viele Branchen stellen, Banken, Restaurants, Frisöre, Fitnessstudios, alle Aspekte von live-Kultur, Mode- und andere Geschäfte, etc. In all diesen Fragen wird es zu einem wichtigen Teil um Grenzen der Freiheit gehen – wie frei bleiben diese Gewerbe, oder welche Freiheitsgrenzen setzt ihnen der Staat im Gegenzug für ihre finanzielle Rettung? Werden Einschränkungen der gewerblichen Freiheit für den Klimaschutz nach der COVID-19-Krise wahrscheinlicher und leichter durchsetzbar, oder im Gegenteil schwieriger? Wieviel Mehr an staatlichem Einfluss auf alle durch COVID-19 eingeschränkten Freiheiten wird längerfristig bestehen bleiben? Wird durch die durch COVID-19 ausgelöste Rezession, durch das steil anwachsende staatliche Budgetdefizit, durch die zu seiner Deckung nötigen deutlichen Erhöhungen der Steuern und Sozialbeiträge der staatlich kontrollierte Anteil an der Wirtschaft deutlich wachsen? Und wenn ja, ist das gut so und bleibt es dauerhaft so? Verschiebt also COVID-19 unsere Balance zwischen Wildwest-Kapitalismus und Kommunismus in Richtung auf mehr soziales und solidarisches Miteinander? Und wie kann das effizient und demokratisch und frei bleiben? Bei unserer Diskussion verschiedener Grenzen von Freiheiten in den folgenden Kapiteln werden wir auch oft die Lehren aus COVID-19 mit einfließen lassen.
Lange musste die Menschheit um die Freiheit kämpfen. Sie ist vielleicht das wichtigste Ziel in der deutschen Politik, gerade weil wir mit den Römern in halb Deutschland, den Kaisern und vielen kleinen Fürstentümern, den Nazis und der DDR so viele Formen der Unfreiheit erdulden mussten, bis in die jüngere Vergangenheit hinein. Gleichzeitig erfreut sich Freiheit eines erstaunlichen politischen Konsenses – praktisch niemand ist gegen Freiheit. Das ist ähnlich wie aber noch weniger kontrovers als unsere Einstellungen zu Fortschritt, Wirtschaftswachstum oder Demokratie. Doch auch dabei gibt es Grenzen: es kann uns zuviel Fortschritt sein, wenn Roboter die Menschen beherrschen, zuviel Wirtschaftswachstum, wenn die Umwelt kaputt geht, zuviel Demokratie, wenn die Mehrheit Minderheiten unterdrückt. Braucht nicht auch Freiheit Bedingungen und Grenzen, die beschreiben, welche Art von Freiheit zuviel wäre?
Wikipedia beschreibt Freiheit als die „Möglichkeit, ohne Zwang zwischen verschiedenen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können“6. Diese Definition zählt sowohl die Freiheit des eigenen Willens als auch des eigenen Handelns dazu, und nennt eine Person dann frei, wenn seine Entscheidungen und Handlungen nicht von äußeren Zwängen bedingt sind.7 Auch diese Art von Freiheit ist nicht ohne Grenzen, dort wo gesetzlich die Freiheit etwas zu tun eingeschränkt wird, um großen Schaden bei Anderen zu vermeiden (wie vom oben zitierten John Stuart Mill gefordert). Dennoch halten die meisten demokratischen Staaten es für gut, abgesehen von Verboten eindeutig schädlichen Verhaltens diese Freiheit möglichst wenig einzuschränken.
Dies möchten wir die erste oder äußere Freiheit nennen, die Freiheit von äußeren Zwängen, weder etwas zu tun oder zu denken, noch von etwas abgehalten zu werden. Von all den oben im Zusammenhang mit COVID-19 erwähnten Freiheiten betrifft dies praktisch alle: Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit, Willensfreiheit, Eigentumsfreiheit, Religionsfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsfreiheit, politische Mitbestimmungsfreiheit, Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Konsumentenfreiheit, freier Kapitalverkehr, wirtschaftliche Freiheit mit freiem Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit, sowie Handlungsfreiheit des Individuums innerhalb der gesetzlichen Grenzen.
Die Definition in Wikipedia spricht eine weitere Unterscheidung an, die in die Richtung eines zweiten Grads der Freiheit weist: „Während äußere Freiheit eine soziale Größe ist und rechtliche, soziale und politische Umstände umfasst, beschreibt innere Freiheit einen Zustand, in dem der Mensch seine eigenen „inneren“ ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Anlagen nutzt und dabei auch von inneren Zwängen wie Trieben, Erwartungen, Gewohnheiten, Rollenmustern, Konventionen, Moralvorstellungen u. Ä. frei ist und stattdessen rational auswählt (Souveränität).“ Ergänzend zu den in Wikipedia genannten inneren Zwängen möchten wir als Teil der inneren Freiheit auch betonen, dass man sich in seinem Denken und Handeln nicht dadurch einschränkt, dass man sich durch Andere beobachtet fühlt. Wer in Deutschland und in den USA gelebt hat, erkennt die legendäre gröβere Freiheit in den USA genau darin: Andere beobachten und beurteilen einen im täglichen Leben deutlich weniger, und dadurch fühlt man sich freier. Fremde Frauen auf der Straβe sprechen eine Mutter nicht dauernd an, wenn im Kinderwagen ihr Kind plärrt. Nachbarn leben, und lassen leben. Für die Pleite einer selbst-gegründeten Firma muss man sich nicht schämen, und sie hindert einen nicht den Rest des Lebens lang an neuen Versuchen und neuem Glück. Obdachlose werden vernachlässigt. Diese Beispiele zeigen, dass innere Zwänge teilweise auch von außen kommen, wie verinnerlichte Erwartungen Anderer oder gefühlte Beobachtung und Beurteilung durch Andere. Und sie zeigen, dass innere Freiheit auch negative Auswirkungen haben kann, z.B. weniger Gemeinschaft, weniger sich umeinander kümmern. Dies ist nicht nur auf Amerika beschränkt: So wie Europas Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten bei vielen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen amerikanischen Trends und Ideen folgten, so nahm die innere Freiheit mit ihren positiven und negativen Wirkungen auch hier zu.
Unser Beitrag zur Bewertung der inneren Freiheit soll ihre weitere Differenzierung in einen zweiten und dritten Grad der Freiheit sein. Kennzeichnend für die zweite, die innere abwägende Freiheit ist hierbei in der obigen Wikipedia-Definition das rationale, souveräne Auswählen der Prinzipien, auf die das freie Individuum die Entscheidung zu einer bestimmten Handlung im Einzelfall gründet. Dies hat auch Rudolf Steiner in „Die Philosophie der Freiheit“8 in Kapitel IX beschrieben, und dabei das bewusste Auswählen zwischen verschiedenen Moralprinzipien im Einzelfall als praktische Vernunft, moralische Intuition und als wichtigstes Merkmal des freien Individuums betont. Damit stimmen wir u.a. aus folgenden Gründen überein: Ein Individuum kann mehrere Prinzipien haben, z.B. religiöse Regeln, Egoismus, Gemeinwohl/Utilitarismus, die er je nach seiner Wahl in verschiedenen Situationen anwendet, und kann in anderen Situationen die Wahl treffen, seinen Trieben, den Erwartungen Anderer, seinen Gewohnheiten, Rollenmustern oder Konventionen der Gesellschaft zu folgen. Realistisches Ziel der inneren abwägenden oder zweiten Freiheit kann es nicht sein, keine Triebe oder Gewohnheiten zu haben, oder keinen Erwartungen, Konventionen oder Moralvorstellungen Anderer ausgesetzt zu sein. Sondern Ziel der zweiten Freiheit kann und muss es sein, sich dieser verschiedenen inneren Einflüsse bewusst zu sein, und in jeder Situation ein bestimmtes Prinzip oder eine Kombination von Prinzipien bewusst als Handlungsgrundlage auszuwählen. Dies kann man auch Abwägen zwischen verschiedenen Prinzipien nennen: Für eine Freiheit des Individuums, die an der Nase des nächsten Individuums aufhören soll, damit dessen Freiheit nicht eingeschränkt ist, sollte man insbesondere zwischen Egoismus und Gemeinwohl abwägen.9
Die zweite oder innere abwägende Freiheit besteht also darin, sich weder von seinen eigenen Trieben und Gewohnheiten noch von Rollenmustern, Konventionen, Moralvorstellungen oder gefühlten Beurteilungen Anderer in seinen Entscheidungen dominieren lassen. Ein Individuum mit zweiter Freiheit steht also über all diesen inneren und auch äußeren Einflüssen und Zwängen. Die zweite Freiheit ist daher kurz die Freiheit, zwischen verschiedenen äußeren und inneren Einflüssen und Entscheidungsprinzipien bewusst abzuwägen. In unserer politischen Diskussion spielt diese zweite Freiheit eine erstaunlich kleine Rolle, sie stellt kein klares politisches Ziel dar. Im Gegenteil, in vielen Ländern gilt es als positiv, wenn Menschen sich hauptsächlich von Konventionen leiten lassen, von dem was alle Anderen machen, oder von religiösen Regeln. Politisch ist es wichtig, dass die Menschen die Gesetze befolgen, und ansonsten unwichtig, welche Überlegungen in ihren Köpfen stattfinden, bevor sie sich zu irgendeiner gesetzeskonformen Handlung entscheiden. Doch ist die innere abwägende Freiheit immens wichtig in Abgrenzung zur dritten, der inneren gewissenlosen Freiheit, und damit für die Definition einer guten Freiheitsbalance.
Steiner argumentiert in Kapitel IX von „Die Philosophie der Freiheit“, dass ein Zusammenleben der Menschen möglich ist, auch wenn jeder seine Individualität durch freies Wählen des Moralprinzips für jede Handlung zur Geltung bringt, weil jede individuelle Auswahl sich auf derselben Ideenwelt gründet. Oder in unseren Worten: Die zweite, innere abwägende Freiheit ist gut, denn wenn jedes Individuum bewusst abwägt, welchem Moralprinzip es in einer bestimmten Situation folgt, werden sich die Ergebnisse des Abwägens genug ähneln, dass die eigene Freiheit nicht über die Nasen der Anderen hinweg ausgelebt wird und es weder Chaos noch Wildwest-Jeder-gegen-Jeden gibt.
Diese Interpretation führt uns zur Definition eines dritten Grades von Freiheit, nämlich der Freiheit von jeglichen Moralprinzipien, zwischen denen daher auch nicht abgewogen wird, also der inneren gewissenlosen Freiheit. Kein Gott, kein Gewissen, keine Konventionen, Moralvorstellungen oder gefühlten Beurteilungen Anderer, die meinen Egoismus und die Verfolgung allein meiner eigenen Interessen einschränken, oder auch nur durch Berücksichtigung und Abwägung beeinflussen könnten.
Diese dritte Freiheit ist daher kurz Gewissenlosigkeit. Menschen, die sich die dritte Freiheit nehmen, wollen ihre Freiheit, Profite zu machen, zu lügen und Andere zu übervorteilen durch nichts eingeschränkt sehen, wollen ihre Freiheit über die Nasen der Anderen hinweg ausleben. Durch ihr Verhalten beschränken sie oft massiv jede Art von Freiheit Anderer, und reduzieren so die Summe der Freiheit über sich selbst und die betroffenen Anderen. Mehr als die zweite Freiheit wird diese dritte Freiheit politisch kontrovers diskutiert, oft mit sozialen oder grünen Argumenten für Einschränkungen der gewissenlosen dritten Freiheit insbesondere in der Wirtschaft, und mit konservativen oder wirtschaftsorientierten Argumenten gegen jegliche Einschränkung wirtschaftlicher Freiheit.
Durch unsere Formulierungen der drei Freiheiten ist schon klar geworden, dass es für uns sehr wohl ein Zuviel an Freiheit geben kann, dass wir die erste und zweite Freiheit für gut und die dritte für zuviel und für schlecht halten. Schlecht im Sinn der gesellschaftlichen Balance, und schlecht in der Beurteilung des individuellen, rücksichtslosen Verhaltens. Wir sehen also die Freiheit wie fast alles Andere im Leben als etwas Auszubalancierendes, wohl wissend, dass viele Menschen Freiheit als uneingeschränktes Ideal betrachten, von dem es nie zuviel geben kann, u.a. weil Freiheit so hart erkämpft werden musste, gerade in Deutschland.
Auch aus einem zweiten Grund fällt es vielen schwer, Freiheit als Balance zu sehen: Wie soll ich denn die Nase des Anderen im Ausleben meines Egoismus berücksichtigen, wenn ich seine Bedürfnisse längst nicht so gut kenne wie meine eigenen, und wenn am Ende des Tages er und nicht ich für sich sorgen muss? Und selbst wenn ich einige seiner Bedürfnisse erraten kann, wie kann ich sie gewichten und mit meinen vergleichen?
Diese Fragen beantworten wir in den folgenden Abschnitten, beginnend mit einer Betrachtung in 2.2, wodurch die innere gewissenlose oder dritte Freiheit immer gesellschaftsfähiger wurde, über eine Analyse in 2.3 der Rolle der Manipulation in Politik und Wirtschaft, und dann in 2.4 und 2.5 mit Vorschlägen, wie respektvolles Abwägen der eigenen Bedürfnisse gegen die Bedürfnisse Anderer – also innere abwägende Freiheit – in unserer individualistischen Gesellschaft funktionieren kann.
Immer schon gab es gewissenlose Menschen, die sich die dritte Freiheit nehmen, aber sie scheinen überall auf der Welt mehr zu werden. Andererseits sind vielerorts noch die erste und die zweite Freiheit gefährdet, oder es gibt sie gar nicht, siehe der oben zitierte Bericht „Freedom of the World 2020“ von Freedom House. In unserer Interpretation liegt sogar ein Grund der Popularität von Parteien, die äußere Freiheiten für Minderheiten, Presse und Justiz einschränken wollen10, in der Wut vieler Wähler auf gewissenlose Ausbeuter in der globalisierten Wirtschaftswelt, also allgemeiner auf die rücksichtslose Ausnutzung der dritten Freiheit.
Fast alle Menschen sind Teil und oft auch Opfer der globalisierten Wirtschaft, geprägt von Profitstreben und Ellbogen, Machtstreben und Machterhalt. Dagegen scheinen Ehrlichkeit, Interessensabwägung, Effizienz und Kunden- bzw. Bürgernähe eher hinderlich auf dem Weg zu Macht und Profit. Die Medien lenken uns mit Geschichten von Intrigen, Kampf und Mord ab vom Lernen, Wachsen und einander Helfen. Schlauer werden wir dadurch nicht, reicher auch nicht, und glücklicher erst recht nicht, aber wir fügen uns zynisch und frustriert in eine immer schlechtere Welt.
Doch in Politik, Wirtschaft und Kultur kommt alles in Wellen. Ehrlichkeit und Bescheidenheit waren einst Kernwerte der Katholiken. Als sie hinter Macht, Pfründe und Erhalt des Status Quo zurück traten, gab es Bettelmönche und die Reformation. Als die Konzerne im langen Boom der 1960er Jahre träge und faul geworden waren, predigten Wirtschaftsgurus Effizienz und Kundenorientierung. Die derzeitige Welle der Gewissenlosigkeit im Abzocken der Kunden und im Karrierekampf konnte nur wachsen, weil viele die bisherigen Werte verloren haben, sich gewissenlos die dritte Freiheit nehmen, und diese Freiheit durch keine neuen, globalen Werte eingeschränkt wird.
Die folgenden Abschnitte zeigen einen mittleren Weg, mit einem so bewussten Umgang mit der zweiten oder inneren abwägenden Freiheit, dass es dem Gemeinwohl anders als heute nicht schadet, wenn sich Einzelne die dritte, gewissenlose Freiheit nehmen. Dieser mittlere Weg akzeptiert Egoismus als Teil der menschlichen Natur, akzeptiert sogar die Existenz gewissenloser, böser Menschen. Aber er setzt ihnen etwas Konkretes entgegen, nämlich Ehrlichkeit und Respekt als moderne, praktikable Art der Nächstenliebe, beschrieben durch einfache Vorschläge zum Abwägen bei moralischen Entscheidungen. Freiheit zum Abwägen in Bezug zu setzen erlaubt uns, Effekte auf die Summe von Freiheiten zu betrachten: Führt mein egoistisches Handeln zu Einschränkungen in der ersten oder zweiten Freiheit Anderer? Wie gravierend sind diese Einschränkungen, wie viele Menschen sind betroffen? Besonders im Geschäftsleben können durch Abzocke, Ausnutzung von Monopolen oder irreführendem Marketing sehr viele Menschen betroffen sein, und insgesamt kann viel mehr Freiheit verloren gehen, als bei einem gewissenlosen Manager gewonnen wird.
Viele Entwicklungen, auf die wir zu Recht stolz sind und deren Auswirkungen wir genieβen, haben zum globalen Werteverfall seit ca. 1950 beigetragen, also zur Zunahme des respekt- und gewissenlosen Nehmens der dritten Freiheit. 40 und mehr Jahre lang standen sich Freiheit und ‚Diktatur des Proletariats‘, Plan- und Marktwirtschaft unversöhnlich gegenüber. Im Osten gab es viele Menschen, die Freiheit wollten, aber auch viele, die an Planwirtschaft und Sozialismus glaubten und diese Werte täglich lebten. Im Westen wurde in Wahlkämpfen u.a. das Gemeinwohl gegen die Freiheit ausgespielt. In den so genannten Entwicklungsländern gab es Stellvertreterkriege, Sozialismus gegen Kapitalismus; mehr noch führte der Umbruch von traditionellen Lebensformen in die Neuzeit dazu, dass Wertesysteme zusammen brachen und die Nasen der Anderen immer weniger beachtet wurden.
In allen Teilen der Welt, der westlichen, östlichen und dritten Welt, zogen viele bewusst oder unbewusst die Schlussfolgerung, dass jeder zuerst an sich selbst denken muss. Eigentlich wurde der Egoismus unsere neue Weltreligion. Doch genau wo und warum Egoismus seine Grenzen haben muss, dazu gab und gibt es keinen Konsens. Viele Werte, die Egoismus und Freiheit einschränken, werden uns nahe gelegt: Aber Religionen, Traditionen, Schulen, Medien, Gurus und Sekten, verschiedene Generationen, die Wirtschaft allgemein, der direkte Vorgesetzte, die Nachbarn, das Dorf, die dauernd wechselnden Landes- und Staatsregierungen: Sie alle betonen verschiedene Werte.
So muss sich jeder sein eigenes Wertesystem zurecht legen. Bei den meisten ist es eine unterbewusste Mischung von Werten, die oft nicht gut zusammen passen oder nicht konsequent durchgehalten werden. Solche unbewussten, widersprüchlichen Wertesysteme können natürlich auch nicht mit Festigkeit weiter gegeben werden an die Kinder. So wurde der Werteverfall mit jeder Generation schlimmer, und heute pochen schon 5-Jährige allen Erwachsenen und auch ihren Lehrern und Betreuern gegenüber auf ihre Freiheit und ihr Selbstbestimmungsrecht – „Du hast mir gar nichts zu sagen!“
Nach dem nicht lange überlebenden Freiheitsschub der 20er Jahre war die erste Generation, die deutlich mehr individuelle Freiheit durchsetzte als vorherige, die 68er, also die kurz nach dem 2. Weltkrieg Geborenen. Sozial, politisch, sexuell nahmen sie sich viel mehr Freiheit, viele von ihnen zunächst mit hohem gesellschaftlichen Anspruch gegen wirtschaftlichen Egoismus. Jedoch passt der Egoismus gut zusammen mit ihrer kämpferischen Betonung der eigenen Freiheit und des Rechts, sich gegen die Gesellschaft etwas heraus zu nehmen. So wird es erklärbar, wenn Manager aus diesen Jahrgängen sich heute für ihre Unternehmen auch die dritte Freiheit nehmen und Kunden gewissenlos manipulieren oder abzocken.