Philipp Löhle
Am Rand (ein Protokoll)
bearbeitet und mit Fußnoten versehen
von Philipp Löhle
fürs Staatstheater Nürnberg
FELIX BLOCH ERBEN
Verlag für Bühne, Film und Funk
Inhaltsverzeichnis
Title Page
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
21b.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
46b.
47.
47b.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54.
55.
56.
57.
58.
59.
60.
61.
62.
63.
64.
65.
66.
67.
68.
69.
70.
71.
72.
73.
74.
75.
76.
75b.
76.
77.
78.
79.
80.
81.
82.
83.
84.
85.
86.
87.
88.
89.
90.
91.
92.
93.
94.
95.
96.
97.
98.
99.
100.
101.
102.
103.
104.
105.
106.
107.
108.
109.
110.
111.
112.
113.
114.
115.
116.
117.
118.
119.
120.
121.
122.
123.
124.
125.
126.
127.
128.
129.
130.
131.
132.
133.
134.
135.
136.
137.
138.
139.
140.
141.
142.
143.
144.
145.
146.
147.
148.
149.
150.
151.
152.
153.
154.
155.
156.
157.
158.
159.
160.
161.
162.
163.
Über den Autor
Über das Stück
Impressum
Am Ende dieser Geschichte gibt es einen Toten.
2. Juli, 8.17h morgens.
Auf der Staatsstraße 2154 zwischen Fahrbach und Eslarn, nahe der tschechischen Grenze, nähert sich Frederick Kaufmann dem Ort Randhausen.
Frederick Kaufmann ist Mitte dreißig.
Dreiunddreißig.
Er trägt einen Koffer bei sich, ohne Rollen.
Er schwitzt.
Und er macht einen verärgerten Eindruck.
FRED
Da fährt nicht mal ein Bus in dieses bekackte Dorf! Kackdorf!
Frederick Kaufmann schimpft/
FRED
Ich sage euch was, das hier wird noch/
Aber! Es hört niemand.
FRED
1
Wenn im Wald ein Baum umfällt und keiner ist da, der es hört, macht der dann Krach?
Was man allerdings hört, und Frederick Kaufmann ganz besonders, ist der aufgebohrte Auspuff eines VW Passat CC, der aus Richtung Fahrbach, Amberg, Nürnberg nach Randhausen brettert. Viel zu schnell. Fast ungehalten.
FRED
Das Kennzeichen habe ich mir gemerkt!
Das Kennzeichen hat er sich gemerkt.
1 Falls Frederick Kaufmann jetzt etwas sagt, ist es wirklich nicht zu hören!
9:42h.
Im Unterholz zwischen Fahrbach und Randhausen, walzt auf einer kleinen Lichtung, nahe einer Dickung ein Rehricken etwa zwei Quadratmeter Heu platt, legt sich auf die Seite und bringt nach 9,5 Monaten Tragezeit zwei Kitze zur Welt.
Normalerweise gebären Rehe ihre Jungen doch in den Monaten Mai und Juni?
Witterungsabhängig können sie aber durch sogenannte Keimruhe in Jahren mit spätem Frühling die Geburt äsungsabhängig verschieben.
Die pausieren quasi die Schwangerschaft?
Nicht nur quasi.
Kurz vor 10/
9.57h.
9.57h erreicht Frederick Kaufmann den Ort Randhausen. Die Szene erinnert an einen Spaghettiwestern: Ein Marktplatz, Hitze, Leere, Stille. Ein Fremder. (Also Frederick Kaufmann.)
Fehlen noch diese Strohballen.
Was für Strohballen?
Die so rumkugeln. Die so ... chuuuh ... Strohhexen heißen die, glaube ich.
Die heißen nicht Strohhexen.
Sondern?
Steppenläufer.
Was?
Die heißen Steppenläufer. Englisch: Tumbleweed. Deutsch: Steppenläufer.
Klugscheißer.
Nein. Steppenläufer.
Ist ja auch egal.
Ist nicht egal. Die heißen so.
Doch, ist egal. Gibt es eh nicht. In Randhausen, bei Fahrbach.
Also: 2. Juli, 10.03h.
Frederick Kaufmann auf dem Marktplatz von Randhausen.
Was macht er da?
Weiß nicht ... Monolog?
Aber ein sehr leiser Monolog.
Vielleicht ... innerer Monolog.
FRED
Das scheint auf den ersten Blick ein ganz normales Dorf zu sein. Da die Post, eine Bäckerei, ein Gemüseladen. In der Mitte ein Springbrunnen, der/
Frederick Kaufmann sieht auf die Uhr
FRED
Jetzt automatisch eingeschaltet wird.
Was er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen kann.
FRED
Sieht nicht so aus, als ob irgendjemand auf mich gewartet hätte. Aber ich bin da. Hier. Genau hier. Ich bin unter euch. Auch wenn ihr es noch nicht wisst, aber: Ich bin da!
-
Fertig?
Beinahe wäre diese Szene, in all ihrer Unaufgeregtheit ungesehen verstrichen, wenn nicht Inge Kohlstett (57) gerade in jenem Augenblick Karotten in die dafür vorgesehene Holzkiste im Inneren ihres Gemüseladens verräumt hätte, wobei ihr Blick durch die Scheibe auf den Fremden mit dem Koffer fällt.
Inge Kohlstett sagt nichts. Weder zu sich, noch zu den Karotten. Sie kräuselt aber ihre Lippen auf eine Weise, wie es nur die Kohlstetts können.
Weitaus spektakulärer: Im selben Moment, in dem Inge Kohlstett ihre Lippen kräuselt und Frederick Kaufmann leicht zusammenzuckt, weil vor ihm plötzlich der Springbrunnen anfängt zu sprudeln, erhebt sich das eine der beiden Kitze, die vor kaum einer halben Stunde das Licht der Welt erblickten, und setzt wackelig einen Huf vor den anderen.
Etwa 564 Kilometer nordwestlich von Randhausen in Lage verlässt Melinda Henske (53) die Praxis ihres Onkologen Dr. Jonas Fiedel.
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Denkt Melinda.
Und blinzelt in die Sonne.
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Sie denkt immer wieder diesen Satz. Eine Art Schutzmechanismus. Um keine anderen Gedanken zuzulassen. Dabei weiß Melinda:
MELINDA
Ich muss jetzt Dinge organisieren, bevor es zu spät ist. Ich muss mit allem reinen Tisch machen. Ich muss einen Plan machen, damit ich Punkt für Punkt alles klären kann. Ich muss jetzt einen Kaffee trinken und einen Plan machen. Eine Liste. Stichpunkte. Ich brauche Struktur und ich möchte Dinge erledigen und abkreuzen.
Sie meint abhaken, oder?
Aber sie denkt nur diesen einen Satz:
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Aber es regnet nicht.
Nein.
MELINDA
Einen Kaffee bitte. Schwarz. Und haben Sie einen Stift für mich?1
1 Das ist für den weiteren Verlauf unerheblich (wie so manches, was hier berichtet wird), aber vor der Praxis des Onkologen Dr. Jonas Fiedel sitzt fast täglich ein älterer Herr, ein Witwer, kerngesund, aber so einsam, dass sein Gesicht etwas dunkel Melancholisches ausstrahlt. Und bei jedem, der die Praxis verlässt, meint der Herr (dessen Namen wir leider nicht kennen) im Ausdruck einen Schock über eine Diagnose zu erkennen. Wobei das ein Trugschluss ist, denn natürlich kommen nicht 100% aller Patienten mit einer negativen Diagnose vom Onkologen. Umgekehrt, aber das weiß der ältere Herr wiederum nicht, und wenn doch, würde er hier nicht mehr sitzen, hilft er mit seinem traurigen Gesicht gerade jenen, die die Praxis von Dr. Jonas Fiedel mit schlechten Neuigkeiten verlassen. Denn die, die ihn, den älteren Herrn, da sitzen sehen, werden durch seinen jämmerlichen Anblick von ihren eigenen Problemen abgelenkt. So weit so gut, nur: Melinda Henske hat ihn nicht gesehen.
Der Kellner nickt. Da ist es kurz vor halb 12. Im äußersten Norden Grönlands, etwa 816 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt, bricht ein Brocken Eis in der Größe eines Mehrfamilienhauses in den salzigen Ozean. Das ist so laut, das macht sogar Lärm, obwohl es niemand hört.
(Bumm)
Interessant auch, dass Eis an den Abbruchstellen eher blau als weiß aussieht. Woran das liegt?
Frederick Kaufmann findet die Ratsgasse sieben. Er stellt den Koffer ab. Streckt sich. Dann greift er in die Umhängetasche und sucht und findet darin einen klobigen Schlüsselbund.
FRED
Also ... das ist jetzt schon ein besonderer Moment. Der Beginn ... Der eigentliche Beginn/
Nein. Keinen Monolog jetzt.
Streichen wir.
Frederick Kaufmann schließt die Tür im Erdgeschoss Ratsgasse sieben auf
FRED
Tritt ein, bring Glück herein!
und betritt ein ehemaliges Ladenlokal. Staub, alter Müll.
Was ist schlimmer als Müll? Alter Müll!
Bierdosen. Ein wackliger Tisch. Eine schräg hängende Lamellenjalousie.
FRED
Nicht mal ein Stuhl. Ich dachte, ich komme hier rein und kann anfangen, aber das hier ist ja ... unter aller Kanone.1
1 Sub omni canone (zu betonen cánone, auch die pluralische Form sub omnibus canonibus ist gängig) ist eine Bewertungsstufe von Dissertationen, die eine ungenügende Leistung kennzeichnet. Aus der wohl scherzhaften schülersprachlichen Übersetzung dieses Prädikats entstand im Deutschen die Redewendung „unter aller Kanone“, womit umgangssprachlich generell eine sehr schlechte Qualität gemeint ist.
2. Juli circa 14h. Inge Kohlstett kassiert Bibiana Franzen (72) ab.
INGE
260 Gramm Pilze.
Tippen, Rattern, Klingeln. (Der Kasse.)
INGE
Drei Äpfel.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Eine Zitrone
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Eine Stange Lauch.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Pastinaken ... 280 Gramm.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Mangold. 200, nee, 320 Gramm.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Und ein Saft. Das ist der ... Apfelsaft. Warte mal ... hier ...
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Willst du nicht noch Möhren? Habe ich frisch reinbekommen.
BIBIANA
Wer ist das?
Die beiden Damen folgen Frederick Kaufmann mit den Augen. Dieser überquert mit weit ausladenden Schritten den Marktplatz. Inge Kohlstett nennt einen Preis.
INGE
Vierund/
Während Frederick Kaufmanns Blick die Schelmengasse hoch fällt, wo er/
Kann man das so sagen?
Bitte?
Dass sein Blick die Gasse hoch fällt. Das klingt komisch.
Wieso? Das ist die Schelmengasse, die ist links neben dem Rathaus. Da kommt er vorbei/
Ja, aber ein Blick fällt doch nicht eine Gasse hoch.
Na, der guckt halt in die Gasse.
Ja, der guckt in die Gasse, aber du hast gesagt: sein Blick fällt die Gasse hoch.
Und du hast gesagt: Die beiden Damen folgen ihm mit den Augen ...
Das kann man sagen, aber ein Blick fällt die Gasse hoch?
Komm: Der ist auf dem Weg zum Rathaus. Er kommt an der Schelmengasse vorbei, er wendet im Gehen den Kopf zur Seite, schaut in diese Gasse und sieht: Ist das so okay für dich?
Sag ja nichts.
Und sieht: Eine Horde Kinder, acht, neun Stück1. Mit Tornister auf dem Rücken, lachend, krakeelend, sich neckend, eindeutig auf dem Weg nach Hause. Von der Schule. Und im Gehen trifft sein Blick, begegnet sein Blick dem Blick von Luisa Schwerte, zehn Jahre alt, blond, Sommersprossen, Blumenkleidchen.
1 Es sind genau neun Stück: Jan Färber, Julian Frank, Pepe Neu, Paul Haffel, Arthur Herz, sowie die vier Mädchen Luisa Schwerte, Jana Lorgenberg, Maya Habbel und Clara Volz.
Melinda Henske vor einem leeren Blatt Papier. Sie schlackert den geliehenen Kuli zwischen Zeigefinger und Ringfinger der rechten Hand.
Es will nicht.
Was: Es?
Vor ihr zwei leere Kaffeetassen. Braune Reste getrockneten Milchschaums am oberen Rand.
Im Radio kommt: Starship – Nothing´s gonna stop us now.
Melinda kennt das Lied, kann es sogar mitsummen, könnte aber weder Interpret noch Titel nennen.
KELLNER
Noch einen Kaffee?
MELINDA
Haben Sie auch Tee?
ROBERT
Ich habe Pfefferminz ... Aber keinen Wasserkocher.
14.10h. Vor einem schweren Schreibtisch aus dunklem Holz sitzt Frederick Kaufmann.
FREDERICK
Dann Wasser.
ROBERT
Mit oder ohne?
FREDERICK
Egal.
ROBERT
Dann mit.
Robert Fogel (44), Fogel mit F, Bürgermeister von Randhausen und im hiesigen Postamt tätig, schenkt hart sprudelndes Quellwasser in zwei Gläser.
ROBERT
Dann sag ich mal so: Herzlich Willkommen.
Frederick Kaufmann trinkt. Die Kohlensäure kitzelt seine Augen von hinten.
ROBERT
Ehrlich gesagt wusste ich natürlich, dass Sie kommen, nur nicht, dass es heute ist. Also, dass heute schon heute ist. Verstehen Sie? Ich habe eigentlich auch manchmal eine Sekretärin. Die ist aber jetzt beim Yoga in Fahrbach. Macht den Hund und so.
(Er lacht.)
ROBERT
Ich hätte Sie ja auch in Empfang nehmen können.
Frederick Kaufmann sieht auf dem großen Schreibtisch einen kleinen zum dreieckigen Aufsteller klappbaren Kalender. Darauf: Der 7. Mai. Darunter in geschwungener Schrift: „Und der Städte größte Not, ist und bleibt der Hundekot“ Manfred Rommel1
Robert Fogel wird blass.
ROBERT
Entschuldigung: Weinen Sie? Ich wusste nicht, dass Sie das so trifft ... Ich, äh ...
FRED
Was?
ROBERT
Sie ... Ihre ...
Robert Fogel deutet auf Frederick Kaufmanns Augen.
FRED
Äh? Das ist die Kohlensäure.
ROBERT
Ah...ch ...
FRED
Okay. Das ist ein Saustall. Ich soll hier einen Posten beziehen und ich finde ein verdrecktes Loch. Da ist nichts mit anzufangen. Das ist total zugemüllt. Ich soll da drin sogar schlafen. Da ist nicht mal ein Bett. Wie soll denn das gehen? Der Tisch fällt fast zusammen. Einen Stuhl gibt es auch nicht. Hallo?
ROBERT
Puh ...
FRED
Wissen Sie, was ich dachte? Ich dachte, ich schließe die Tür auf und es riecht nach Zitrone. Nach so Putzmittelzitrone. Und auf einem frisch gewischten Tisch steht ein neuer Rechner, eingeschaltet mit einem Grußwort als Bildschirmschoner.
ROBERT
Oh.
FRED
Oh ja. Und in einem Spind hängt meine Uniform. Und ich kann sofort anfangen. Zum Beispiel gegen die Raser vorzugehen. Mich hätte heute fast einer übern Haufen gedonnert, als ich hergelaufen bin.
ROBERT
Bitte?
FRED
Ja.
ROBERT
Sie sind gelaufen? Von ... Von wo?
FRED
Eslarn.
ROBERT
Von Eslarn hier her? Ha!
FRED
Ja, klar.
ROBERT
Das müssen Sie nicht.
FRED
Doch.
ROBERT
Nein.
FRED
Fährt kein Bus.
ROBERT
Nee, da fährt kein Bus, aber wenn Sie in dem kleinen Kiosk bei der Tankstelle in Eslarn nach Mattes fragen, der fährt Sie.
FRED
Mattes?
ROBERT
Ja.
FRED
Du blöder Depp.
Denkt Fred.
FRED
Hättest du mir ja sagen können. Wie wär´s? Dann hätte ich nicht diesen Scheißkoffer durch den ganzen Wald getragen.