Liverpool 1953: vier junge Frauen, ein Traum!
Dana ist der tristen Zukunft als Ehefrau eines Farmers entkommen und von der Großstadt überwältigt. Aristokratin Victoria flieht vor ihrem hochverschuldeten Erbe und hat eher romantische Vorstellungen davon, was es heißt, Krankenschwester zu sein. Beth ist die verwöhnte Tochter einer Militärsfamilie, und Pammy kommt aus einer verarmten Gegend Liverpools, wo niemand auch nur von einer solchen Berufung träumt. Vier verschiedene Frauen mit dem gleichen Ziel: die Schwesternausbildung im St. Angelus Hospital. Um hier bestehen zu können, müssen die jungen Krankenschwestern zusammenhalten und zeigen, was in ihnen steckt.
Roman
Aus dem Englischen
von
Sabine Schilasky
Ullstein
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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Copyright © Nadine Dorries, 2016
Titel der englischen Originalausgabe: The Angels of Lovely Land (Head of Zeus 2016)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © Yolanda de Kort / trevillion images (Haus, Wiese), © Lee Avison / trevillion images (Treppe), © Head of Zeus (Frauen), © FinePic®, München (Himmel)
Gesetzt aus der Quadraat Pro powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-8437-2385-5
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Für Chris
Liverpool, Dezember 1940
Die junge Emily Haycock rannte wie der Wind die George Street entlang nach Hause. Sie war zehn Minuten später als sonst dran, und ihre Lunge schien sich mit dem Dunst des Merseys zu füllen, als sie die letzten Meter hügelaufwärts zum hinteren Tor lief. Sie war pünktlich aus der Munitionsfabrik gekommen, doch der Bus hatte unendlich lange gebraucht. Die George Street befand sich oben auf einem Steilhang, von dem ausgetretene Stufen nach unten zu den Docks führten.
Emily wusste, dass sie sich zu Hause umgehend die Essensmarken greifen und wieder loslaufen musste, um im Eckladen am Ende der Albert Street mit dem Rest der Fabrikarbeiter anzustehen. Sie hoffte, dass noch genug Bacon und Butter übrig wären, wenn sie an der Reihe wäre, damit sie ihren kleinen Brüdern ein Abendessen machen konnte. Bald wurde es dunkel, dann schloss der Laden, und alle bereiteten sich auf die Verdunkelung vor.
Emilys Stiefvater Alfred war im letzten Jahr verwundet von seinem Regiment, King’s Own Lancaster, zurückgekehrt. Jetzt trug er eine Schiene an seinem Bein und ging am Stock. Es war offensichtlich, dass er immerzu Schmerzen hatte, auch wenn er sich selten beklagte. Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er sich sofort bei der Heimwehr gemeldet, bei der er nun jede einzelne Nacht verbrachte, sieben Tage die Woche.
»Hallo, Spatz«, sagte er, als Emily beinahe zur Hintertür hineinstürzte. Er saß auf der Sofakante. Morgens hatte es ihre gesammelten Kräfte gebraucht, das Ungetüm mit dem Holzrahmen und dem Rosshaarpolster aus dem Wohnzimmer vor den Küchenherd zu ziehen. Und auf ihm, eingehüllt in eine geflickte Decke, schlief Emilys erbärmlich dünne Mutter. Obwohl es ihr sichtlich schlecht ging, hatte sie am frühen Morgen darauf bestanden, aus dem Bett gehoben und nach unten getragen zu werden. Die Luft in der Küche roch säuerlich nach Blut und Sputum, ungewaschenem Haar und von Erbrochenem fauligen Atem.
»Pst.« Alfred hielt einen Finger an seine Lippen.
»Wie geht es ihr?«, flüsterte Emily, näherte sich auf Zehenspitzen dem Sofa und betrachtete das einst schöne, blasse Gesicht, das nun die Farbe von Talg hatte. Der Kopf ihrer Mutter war zur Seite gedreht, das Gesicht beinahe zur Rückenlehne gewandt. Schweißperlen standen auf ihrer Oberlippe, und Emily konnte ihren angestrengten und flachen Atem hören. Ihre Mutter lag im heilsamen Tiefschlaf der Kranken. In einem ihrer Mundwinkel war noch ein kleiner Blutstreifen, den sie bei einem ihrer Hustenanfälle mit ihrem Taschentuch dort verwischt haben musste. Ihre Lider waren dünn wie Pergament, und ihre Augen schienen tiefer eingesunken.
»Hast du einen guten Tag gehabt?« Alfred streichelte Emilys Unterarm. Es war eine liebevolle Geste, mit der er ihr Solidarität im gemeinsamen Kummer signalisierte. Emily brachte keinen Ton heraus. Jedes Mal, wenn sie das Haus betrat, brauchte sie einen Moment, um sich darauf einzustellen, wie ihr Leben jetzt war, nicht, wie es sein sollte. Sie war erst sechzehn, und wenn sie tagsüber in der Fabrik an ihrer Werkbank stand, konnte sie sich einbilden, dass es diese neue Situation mit ihrer schwer kranken Mutter und dem verwundeten Stiefvater nicht gab. Sie konnte sich ausmalen, alles wäre noch so wie vor dem Krieg, vor der Schwindsucht, bevor sie ihren Plan aufgeben musste, sich im St. Angelus zur Krankenschwester ausbilden zu lassen.
»Der Arzt war heute hier. Er hat gesagt, dass er sie ins Sanatorium schicken möchte, drüben in West Kirby. Sie hat versprochen, es sich zu überlegen. Er hat gesagt, er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihr dort ein Bett zu besorgen. Ein guter Mann. Ja, das ist er.«
Emily bejahte stumm. Sie hatte den Facharzt oft gesehen, wenn er ihre Mutter besuchte, und mochte ihn sehr. Ihr kam er wie die Güte und Fürsorge in Person vor.
»Wie bezahle ich Sie für Ihren Besuch?«, hatte sie Alfred nach dem ersten Mal fragen hören.
»Gar nicht«, hatte der Arzt geantwortet. »Die Regierung deckt die Kosten im Rahmen eines Sonderprogramms, und selbst wenn nicht, würden Sie nichts zahlen müssen.«
Nachdem er gegangen war, hatte Emily seine Liste mit Anweisungen gelesen.
In dem Augenblick hatte Emily gewusst, dass ihr Traum, Krankenschwester zu werden, geplatzt war.
»Sie will das Haus und die Kinder nicht verlassen, aber deine Worte von heute Morgen haben gewirkt«, sagte Alfred. »Dr. Gaskell möchte sie noch einmal röntgen lassen, und dann möchte er die schwer befallene Lungenseite kollabieren lassen, um sie zu entlasten. Er weiß nicht, was er sonst tun soll, weil die Bettruhe nicht zu helfen scheint. Deine Mutter kann so stur sein.« Dabei sah er seine Frau mit einem solch zärtlichen Blick an, dass Emily es kaum aushielt. Sie wusste, was er meinte. Heute Morgen hatte sie ihn gebeten, wieder den Arzt zu rufen. Der anscheinend rapide Verfall hatte ihr Sorgen gemacht. Anstatt wenige Male am Tag Blut zu husten, war es morgens alle fünf Minuten gewesen.
»Wenigstens stimmt sie der Bettruhe zu. An die hält sie sich.« Emily griff nach Strohhalmen, und Alfred wusste es.
»Sie hat auch zugestimmt, morgen zu Dr. Gaskell ins St. Angelus zu gehen. Er ist ein guter Mann und der Beste für diese Krankheit hier in Liverpool, weißt du? Er kennt sich aus. Ich denke, er wird versuchen, sie nach dem Röntgen zu überreden, dass sie sich gleich ins Sanatorium bringen lässt. Wie er mir erzählt hat, ist er in Sorge, dass es um den anderen Lungenflügel schlecht steht. Das Problem ist, dass wegen des Krieges so viele Sanatorien geschlossen wurden. Die Warteliste kann über Monate voll sein. Vielleicht findet sie keinen Platz.«
Alfred verstummte. Sie beide wussten, wenn Emilys Mutter bereit war, ihre kleinen Söhne zu verlassen, musste sie sehr krank sein.
»Um zehn Uhr morgen früh sollen wir im St. Angelus sein«, sagte er nach einer Weile.
Emily hockte sich hin, ergriff die knochige, blau geäderte Hand ihrer Mutter, die wie eine Vogelkralle anmutete, und küsste den Handrücken. Sie verbarg ihr Gesicht, weil Alfred sie nicht weinen sehen durfte. Er hatte schon genug, mit dem er fertig werden musste, und sie sollte ihn unterstützen, ihm keine Last sein.
Emilys Eltern glaubten, dass sie nicht ahnte, wie schlimm es stand. Da irrten sie. Sie hatte die beiden nachts reden, flüstern und weinen gehört, wenn sie glaubten, Emily und die jüngeren Kinder würden schlafen.
Sie hatte den Husten ihrer Mutter bemerkt, ihr Frösteln und Schwitzen, das Blutwürgen und wie sie – übermannt von Erschöpfung – in einen Sessel sank. Ebenso die geschwollenen Knöchel und die schmerzende Brust. In ihrer Kindheit in den Hafenstraßen von Liverpool hatte sie genug Leute mit demselben Leiden gesehen, um Bescheid zu wissen.
Heute Morgen, als Emily ihre Mutter wusch und ihr ihren Tee brachte, hatte sie ihre Entscheidung gefällt.
»Ich höre in der Fabrik auf, Mam. Rita ist eine große Hilfe mit den Kindern, doch bis es dir besser geht, bleibe ich lieber zu Hause. Schließlich hat der Arzt gesagt, dass du nur einmal am Tag aufstehen darfst, um zur Toilette zu gehen. Ich muss hier sein, Mam.«
Ihre Stimme war gebrochen, denn Emily war den Tränen näher gewesen, als sie dachte. Ihre Mutter hatte versucht zu antworten, bekam jedoch erneut einen Hustenanfall. Emily sah den leuchtend roten Schaum, den ihre Mutter in ihrem Taschentuch verbergen wollte.
»Ich denke auch, es ist das Beste, Liebes«, hatte ihre Mutter gesagt und das Gesicht vor Schmerz verzogen, als Emily ihre Arme anhob, um sie zu waschen, und ihr dabei behutsam das Taschentuch aus den dünnen Fingern wand.
»Das ist kein gutes Zeichen, oder?«, hatte sie mit einem Kopfnicken zu dem roten Flecken gefragt.
»Ach, ich weiß nicht, Liebes. Vielleicht ist es das doch, du weißt schon: Das Schlechte muss raus, damit man richtig gesund wird.« Emilys Mutter hatte keine Ahnung, woher diese Worte kamen; sie wollte lediglich ihre Tochter beruhigen. Eventuell entsprangen sie einer uralten Erinnerung, dem Geist eines verstorbenen Angehörigen, oder sie hatte sich das in ihrer Stunde der Not schlicht ausgedacht, während sie darum rang, ihrer Familie die Angst zu nehmen. Und sie alle zusammenzuhalten.
»Ich bitte Dad, den Arzt zu rufen, und sage in der Fabrik, dass ich zu Hause gebraucht werde. Der nächste Freitag könnte mein letzter Tag sein. Das hier muss besser werden, Mam. Gehst du bitte ins Sanatorium?«
Mutter und Tochter lächelten einander matt zu. Dann bückte Emily sich und küsste ihre Mutter auf die Wange. »Ich muss weitermachen, Mam. Hörst du die Kleinen?«
Wieder wechselten sie einen Blick liebevoller Erschöpfung, da sie den Streit von unten hörten. »Ich bringe sie auf dem Weg zur Arbeit bei Rita vorbei – also falls ich ihnen nicht vorher die Köpfe einschlage. In einer halben Stunde muss ich los, sonst komme ich zu spät. Alf und ich schieben das Sofa in die Küche, und dann hilft Alf dir nach unten. Du hast übrigens recht: Unten ist es wärmer, aber du darfst nicht die Schiedsrichterin für die Jungs spielen.« Emily wusste, dass ihre Mutter genau deshalb nach unten wollte und es ihr Freude machen würde.
»Geh nur, Liebes, und danke«, sagte ihre Mutter. Sie drückte Emilys Hand. Doch als Emily an der Tür war, rief ihre Mutter sie zurück. »Komm her, Emily!«
Zögerlich drehte Emily sich zum Bett um. »Nicht, Mam«, ging es ihr durch den Kopf. Ihre Mutter sollte ihr nicht sagen, was los war. Für sie beide war es viel besser, wenn sie weiterhin vorgaben, alles würde gut. Für Emily war es leichter so.
»Alfred ist nicht dein richtiger Vater, aber du weißt, dass er dich lieb hat, nicht? Du bist ihm nicht weniger wichtig als die Jungen. Nein, du bist immer etwas Besonderes für ihn gewesen.«
Emily atmete erleichtert auf. »Mein Gott, Mam, natürlich weiß ich das! Ich liebe ihn auch. Alfred ist mein Dad. Er ist der Beste. Einen Netteren hättest du gar nicht heiraten können. Ich sage ihm täglich, dass er mein Alfred der Große ist!«
Emily grinste ihrer Mutter zu, die in dem Bett wie eine Puppe wirkte, entsetzlich abgemagert. Sie sah Tränen in den Augen ihrer Mutter schimmern. Was sie eben gesagt hatten, war mehr als eine Würdigung des Mannes, der ihnen ein Heim, Sicherheit und Liebe gab. Ihre Mutter wollte sich vergewissern, dass für Alfred gesorgt war, sollte ihr etwas passieren.
»Mach dir keine Gedanken wegen Alfred, Mam. Er wird immer meine Nummer eins sein, und ich lasse ihn nie im Stich, versprochen.«
Gestern Abend hatte Emily wach gelegen und die geflüsterte Unterhaltung ihrer Eltern gehört. »Es ist schon zu weit fortgeschritten. Jetzt sind beide Lungenflügel befallen.« Ihre Mutter hatte geschluchzt und Alfred sich vergeblich bemüht, sie zu trösten. Seine Stimme hatte erstickt geklungen, doch ihrer Mutter war es wie immer gelungen, ihn zu beruhigen.
Emily wäre am liebsten zu ihnen ins Bett geschlüpft und hätte sie angefleht: »Bitte, sagt mir, was los ist, denn das hier kann nicht wahr sein. Ich verstehe nicht, was geschieht. Alles ändert sich, und ich habe solche Angst.« Sie war voller Furcht gewesen, weil sie nicht wusste, was auf sie zukam. Und weil sie ahnte, dass das Schlimmste noch vor ihr lag.
Jetzt, am Ende des Tages, erkannte Emily, dass sich der Zustand ihrer Mutter binnen weniger Stunden deutlich verschlechtert hatte. »Sie hat die meiste Zeit auf dem Sofa gelegen und weigert sich, wieder nach oben ins Bett zu gehen«, erzählte ihr Dad. »Sie meinte, dass sie dich sehen will, wenn du von der Arbeit kommst, und die Jungen, wenn sie aus der Schule zurück sind. Du kennst ja deine Mam. Sie hasst es, irgendwas zu verpassen.«
Emily roch etwas, das ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Steingutform, bedeckt mit einem Geschirrtuch, auf dem Küchentisch stehen. Prompt kamen ihr die Tränen, wie es gegenwärtig dauernd geschah. Es musste eine Spende von einer der Nachbarinnen sein; wahrscheinlich Mrs Simmonds, die oft vorbeikam und sich zu ihrer Mutter setzte, wenn ihr Dad seine Runden machte. Wenn kein Fleisch im Haus war, nahm sie alles an Gemüse mit, was sie in der Küche der Haycocks fand, um es Stunden später in einem essbareren Zustand zurückzubringen. Oder sie kochte doppelt so viel Labskaus, wie sie für sich brauchte, und stellte die Hälfte hin, damit Emily es für die Kinder aufwärmen konnte, wenn sie von Rita zurückkehrten. Rita war eine weitere Nachbarin, auf die sie angewiesen waren. Für Emily war Rita eine Vertraute und ihre beste Freundin. Sie war nur wenige Jahre älter als Emily, hatte aber schon ihre eigene Familie.
Emilys Mutter öffnete die Augen und lächelte Alfred an. Emily empfand für einen Moment Eifersucht. Ihre Mam und Alfred liebten sich so sehr, dass Emily sich häufig ausgeschlossen fühlte. Sie sank wieder neben dem Sofa auf die Knie. »Mam, geht es dir gut?«, bettelte sie um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter, wollte sie von Alfred ablenken und hatte dabei zugleich ein schlechtes Gewissen.
»Ah, da bist du ja, Spatz«, flüsterte ihre Mutter ein bisschen überrascht. »Ich muss gespürt haben, dass du zu Hause bist. Und ich bin froh, dass ich aufgewacht bin. Könntest du die Essensmarken nehmen und für mich zum Laden gehen, bevor die Kleinen heimkommen?«
»Die Kleinen sind schon zurück, Liebling. Sie sind direkt zu Rita gegangen«, sagte Alfred lächelnd zu seiner Frau. Ritas kleine Söhne und ihre eigenen waren unzertrennlich. »Sie kommen bald her, Spatz. Rita hat sie von der Schule aus mit zu sich genommen.«
»Es ist, als hätten wir entweder vier kleine Jungen oder gar keine«, sagte Emily, die das Heft mit den Coupons aus der Schublade des Küchentisches nahm. »Irgendwann kriegen wir raus, welche unsere sind, nicht? Wenn wir sie endlich auseinanderhalten können.« Sogar ihre Mutter lachte, obwohl es sie zum Husten brachte.
Es gab Pläne, die Kinder aus der Arthur Street und der George Street zu evakuieren. Es wäre zu nahe an den Docks und zu gefährlich, hieß es in dem amtlichen Schreiben. Viele Kinder waren schon fort, zumeist nach Nordwales, aber die, deren Eltern sich nicht von ihnen trennen wollten oder glaubten, der Krieg wäre bald vorbei, blieben. »Unsere Jungs gehen nirgends hin«, hatte Alfred gesagt, als der Brief kam. »Wenn uns eine Bombe erwischt, sterben wir gemeinsam.«
Emily hatte gelacht. »Uns erwischt keine Bombe, Dad, aber es könnte sicherer und leichter für Mam sein, wenn die Kinder gehen. Eine der Frauen in der Fabrik hat gesagt, dass eine Menge der Evakuierten sehr gut zu essen bekommen. Die in Nordwales kriegen Eier und Fleisch, und das allein ist ein guter Grund, sie wegzuschicken.«
Die Woche zuvor waren viele Kinder aus der Arthur Street nach Rhyl evakuiert worden, und die Mütter weinten noch. Alfred hatte sie gesehen und gehört, weshalb er die Jungen auf keinen Fall wegschicken wollte, auch wenn Emily dachte, dass es der richtige Zeitpunkt sein könnte. Jetzt, da ihre Mutter sich nicht mehr gegen das Sanatorium sträubte, wurde es eventuell Zeit, dass Emilys jüngere Geschwister zu ihren Altersgenossen kamen. Bei dem Gedanken an ihr Zuhause ohne die Jungen und ihre Mam grauste ihr dennoch davor, schrecklich einsam zu sein.
»Der Krieg wird schon vorbei sein, ehe die Kinder in Wales ankommen«, hatte Alfred gesagt. »Es wäre eine verschwendete Reise. Und außerdem will ich nicht, dass Fremde auf unsere Kinder aufpassen. Deine Mam würde es um den Schlaf bringen. Sie wäre krank vor Sorge.«
Was Alfred sagte, war nicht ganz abwegig. Heute Abend waren die Kleinen bei Rita und amüsierten sich, und Rita dachte genauso wie Alfred. Ihr Mann Jack hatte vor Wochen von der Front geschrieben, sie solle die Kinder evakuieren lassen. Bisher hatte Rita zwar nichts gesagt, aber gestern Morgen erst hatte Emily die Frau, die für die Organisation der Evakuierungen zuständig war, aus Ritas Hinterhof kommen sehen.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie und ihr Dad es ohne Rita schaffen sollten. Falls deren eigene Kinder evakuiert wurden, wie könnten sie dann noch ihre Hilfe annehmen? Rita kämpfte jeden Tag, sprang aber immer ein, und im Gegenzug tat Emily für sie, was sie konnte, einschließlich auf ihre Jungen aufpassen, wenn Rita zu ihren Wochenendschichten in die Munitionsfabrik ging. Wären Ritas Kinder fort, würde sie zweifellos mehr Schichten arbeiten, und warum sollte sie auch nicht? Es würde allerdings bedeuten, dass sie nicht mehr da wäre, wenn Emily und ihre Familie sie brauchten. Diese Sorge trieb Emily seit gestern um, doch jetzt musste sie zum Laden laufen und die Kinder abholen, ehe es dunkel wurde.
»Ich laufe schnell zum Laden, Mam. In einer halben Stunde bin ich wieder da.«
Ihre Mutter lächelte ein wenig. »Du bist ein gutes Kind, Emily, das beste. Ich bin so froh, dich zu haben.« Emily küsste sie auf die Stirn und verharrte einen Moment so, um den Geruch des Haares einzuatmen, das sie sich nicht zu waschen traute.
Bevor sie zum Laden eilte, sah sie kurz bei Rita herein. »Gib mir deine Coupons. Im Laden haben sie Butter!«
»Oh, du bist ein Schatz!«, sagte Rita und holte ihre Essensmarken aus einer Schublade. »Wie geht’s deiner Mam? Ich hatte ihr mittags ein bisschen Graupensuppe gebracht, aber die wollte sie nicht essen.« Sorgenvoll sah sie Emily an, deren zwei kleine Brüder herbeigelaufen kamen und ihre Beine umschlangen, als sie die Küche betrat.
»Wir haben hier so viel Spaß, Emily! Willst du mitspielen? Rita hat gesagt, nachher müssen wir Radio hören, weil es Nachrichten über den Krieg gibt und sie wissen will, wo Onkel Jack ist. Kommst du dann auch?« Richard hüpfte vor ihr auf und ab und sah mit großen Augen zu ihr auf.
»Werde ich, wenn ich alles erledigt habe«, versprach Emily und lächelte Rita zu. »Und sobald der Abendbrottisch abgeräumt ist und wir zu Hause spielen können. Solange wir nicht zu laut sind. Mam ist auf dem Sofa, das wir heute Morgen in die Küche gerückt haben, und es würde ihr sicher gefallen.«
»Mammy ist auf dem Sofa! Mammy geht es wieder besser!«, rief Richard und hüpfte noch aufgeregter auf der Stelle. Dann rannte er zurück, um weiter mit den anderen Jungen zu spielen.
»Ich war heute da, als Dr. Gaskell gekommen ist«, sagte Rita. »Dein Dad hatte mich gebeten zu bleiben, als er zum Club musste, um seine Route für die Verdunkelung abzuholen. Er hat gesagt, dass es deiner Mam heute Morgen ziemlich schlecht ging. Der Arzt hat ihr eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben und eine Medizin in einer braunen Flasche auf der Kommode dagelassen. Die soll sie nehmen, wenn es wieder zu schlimm wird. Er hat gesagt, dass deine Eltern morgen ins St. Angelus kommen sollen. Deshalb habe ich überlegt, ob du vielleicht willst, dass ich mit ihnen gehe, falls du nicht kannst.« Emily wollte widersprechen, aber Rita fuhr schon fort: »Maisie Tanner hat angeboten, die Jungs zur Schule zu bringen. Sie ist ganz vernarrt in euren kleinen Richard, also hätte ich Zeit, mit ins Krankenhaus zu gehen. Der Arzt hat gesagt, dass jemand bei deinen Eltern sein sollte und sich mit anhören, was er sagt, damit sie es später in ihrer Sorge nicht vergessen. Und ich habe ihm gesagt, dass es kein Problem ist, weil entweder du oder ich mitkommen. Was meinst du? Kannst du hin, oder soll ich? Ich glaube, der Arzt möchte, dass sich die Schwestern von St. Angelus um deine Mutter kümmern, und ich wüsste keine besseren. Meine Mam war im St. Angelus, und sie hat die Schwesternschülerinnen da geliebt. Die Engel von der Lovely Lane hat sie die genannt. Sie alle wohnen in diesem großen weißen Haus gegenüber vom Park. Weißt du, welches ich meine?«
Emily nickte. Sie hatte die Schwestern in ihren langen Röcken, den Capes und den gerüschten Kappen gesehen und als kleines Mädchen gedacht, dass sie noch nie so schöne Damen gesehen hätte. Zwar hatte sie es bisher niemandem anvertraut, aber alles, was sie sich jemals gewünscht hatte, war, einer von diesen »Engeln« zu werden. Eine Tracht zu tragen und für Kranke zu sorgen. Der Krieg, Alfreds Einberufung und schlimme Verwundung, die Krankheit ihrer Mutter und die zwei kleinen Jungen im Haus hatten all das zunichtegemacht.
»Ich höre nächsten Freitag in der Fabrik auf, Rita, weil ich jetzt zu Hause sein muss. Wenn Mam ins Krankenhaus kommt, kann ich nicht den ganzen Tag in der Fabrik sein. Kannst du morgen mitgehen, und ich reiche meine Kündigung ein?«
»Ja, selbstverständlich. Falls der Doktor vorschlägt, dass sie im St. Angelus bleibt, denke ich, dass es am besten so ist. Deine Mam wird bald mehr Hilfe brauchen, als wir ihr geben können. Sie wird die Engel brauchen.«
Emily kamen die Tränen. »Rita, wird meine Mam sterben?«
Rita wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging auf Emily zu. »Sterben? Natürlich nicht, Liebes.« Sie nahm Emily in die Arme und drückte sie. »Sie wird im St. Angelus bleiben, um wieder gesund zu werden, nur bis ein Platz im Sanatorium frei ist, wie Maisie Tanners Mam. Und jetzt lauf los. Wir beide haben keine Zeit zu weinen. Dafür ist zu viel zu tun. Übrigens habe ich das beste Nachthemd deiner Mam gewaschen und meines, damit sie es auch tragen kann. Pack die mit einigen gewaschenen Sachen für sie zum Mitnehmen ein, und ein Kopftuch, damit ihr Haar ordentlich aussieht. Ich wollte es ihr waschen – Alf und ich hatten den Herd zum Glühen gebracht, damit das Wasser heiß wird, aber sie wollte nicht. Sie hat sogar mit uns geschimpft, dass wir Koks vergeuden. Und ich sollte das Wasser für die Kinder aufsparen. So, hier sind meine Coupons. Ich passe auf die Kinder auf, und du läufst los und holst die verdammte Butter.«
Sie gab Emily ihr Heft mit den Essensmarken und umarmte sie wieder. »Jetzt geh. Ich habe die Suppe fertig, wenn du wiederkommst. Danach kannst du wieder nach drüben.«
Als Emily zum Laden kam, stand Maisie Tanner vor ihr in der Schlange. Emily wusste, dass sie mit Rita zur Schule gegangen und jetzt mit Stan Tanner verheiratet war, der ebenfalls an der Front war. Sie hatten ein kleines Mädchen, das fünf oder sechs sein musste. Die Familie lebte bei Maisies Eltern, und Emily war gerührt, dass sie angeboten hatte, auf die Jungen aufzupassen.
»Ah, hallo, Emily. Wie geht es deiner Mam?«, begrüßte Maisie sie herzlich. »Ich habe Rita schon gesagt, dass ich euch gerne helfe, wie ich kann. Kein Problem. Meine Mam hat erst heute gesagt, dass sie sich erinnert, wie deine Mam einen Haufen Kinder mit Betty mit nach Crosby an den Strand genommen hat. Die halbe Straße hatten sie dabei. Erinnerst du dich an Betty, die Freundin von deiner Mam? Sie ist jetzt übrigens in Wales und sitzt da den Krieg aus.«
Das wusste Emily. Die Haycocks bekamen einmal die Woche Post von Betty, die ihnen schrieb, dass sie wahnsinnig waren, in Liverpool zu bleiben, und die Seeluft in Trearddur Bay genau das Richtige für ihre Mam wäre. Emily begann, sich zu fragen, ob sie recht hatte.
»Sie haben fünf Kinder in jedem Kinderwagen geschoben und in den und aus dem Zug geladen. Weiß der Himmel, wie sie das angestellt haben! Gott, es war wirklich witzig. Unsere Brenda war eines der Kinder, und sie erinnert sich noch daran. Seitdem war sie nie wieder am Strand. Aber sie sagt, dass sie den Tag nie vergessen wird. Ich habe deine Mutter geliebt, armes Ding.«
Emily konnte nicht antworten. Sie hörte nur, dass Maisie in der Vergangenheit sprach. Geliebt? Ihr kam es vor, als wäre Maisie, die nicht viel älter war als sie, weiser, als sie es je sein würde. Maisie gab Emily das Gefühl, nichts zu wissen. Machten Ehe und Kinder das mit einem? Wurde man durch sie älter und weiser?
»Rita will morgen mit Mam zu dem Arzt im St. Angelus«, sagte sie stattdessen. »Und ich werde in der Fabrik kündigen, denn ich muss zu Hause sein. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass andere helfen.«
»Na, das ist wirklich kein Problem, aber für deinen Dad wird es gut sein«, antwortete Maisie. »Du bist ein gutes Kind, Emily. Und sorge dich nicht. Das St. Angelus ist ein wunderbares Hospital. Einige Frauen in unserer Straße haben angefangen, ihre Kinder dort zu bekommen. Meine Mam sagt, die gehen nur hin, weil sie im Bett liegen und sich verwöhnen lassen wollen. Sieben Tage bleiben sie da, und die Schwestern waschen die Babys und alles. Man selbst muss keinen Finger krümmen. Das Engelhotel nennt meine Mam es. Sie hat es da geliebt, als es ihr wieder besser ging. Es wäre zu schön, wenn unsere kleine Pammy mal eine von den Engeln aus der Lovely Lane wird. Ich glaube aber, dies hier wird ein Junge. Es hört überhaupt nicht auf zu treten.« Lachend strich Maisie über ihren Babybauch. »Ich muss denen sagen, dass sie Stan nicht mehr in Heimaturlaub schicken sollen, denn noch eines will ich nicht, bevor dieser verdammte Krieg vorbei ist. Andererseits ist ein Jahr ohne viel zu lange für jeden Mann, und mein Stan soll ja nicht auf dumme Gedanken kommen, nicht?«
Emily wurde rot bis zu den Haarwurzeln, stellte aber zugleich fest, dass es in ihrer eigenen Straße viele Engel gab.
Ihre Nachbarn waren wunderbar. Sie wechselten sich ab, bei ihrer Mam zu sitzen, für sie zu kochen, sie zu waschen und zu umsorgen. Die ganze Gegend war voller Engel, und Maisie Tanner war einer der besten.
Ohne Vorwarnung schrillte plötzlich der Fliegeralarm los.
»Lauf!«, schrie Maisie, als der entsetzliche Lärm einer Explosion ihre Ohren zum Klingeln brachte. Das Ladenfenster zerbarst, und Scherben flogen durch die Luft. Noch nie hatte Emily etwas so Furchtbares gehört oder gesehen, und für einen winzigen Moment ließen alle in der Schlange ihre Taschen fallen, hielten die Hände vor ihr Gesicht und standen wie versteinert da. Ein kurzer Moment Stille folgte, als die letzten Glassplitter zu Boden hagelten. Als Erster rührte sich der Ladenbesitzer und brüllte allen zu, sie sollten gehen.
»Wir sind hier zu nahe an den verdammten Docks«, japste Maisie atemlos, als sie zurück zur Straße rannten.
»Hier, in den Bunker, Emily. Maisie, komm schon «, rief ein Nachbar, der mit Emilys Dad in der Heimwehr arbeitete und nachts sämtliche Häuser überprüfte, ob sie richtig verdunkelt wurden. Den beiden entging kein noch so kleiner Lichtstreifen. Jetzt stand er am Eingang des Luftschutzbunkers und scherzte mit den Kindern, die hineinliefen.
»Ich kann nicht. Ich muss zurück zu den Kindern und meiner Mam«, antwortete Emily.
»Warte!« Maisie packte ihre Hand. »Rita wird die Kinder in den Bunker am anderen Ende der Arthur Street bringen, und dein Dad wird deine Mam irgendwie nach unten schaffen. Er trägt sie, wenn es sein muss. Meine Mam ist sicher schon mit Pammy auf dem Weg in den Bunker, also sind wir hier am sichersten. Komm jetzt. Diesmal klingt es richtig nahe. Diese Mistkerle.«
Emily blickte zum Bunker und zur Straße zurück nach Hause. Die Bomben fielen früh. Wenn sie sich beeilte, könnte sie in unter drei Minuten zu Hause sein.
»Die sind gleich alle in Sicherheit. Tun wir lieber, was Tom sagt.« Die Sirenen heulten weiter, und Emily konnte Maisie bei dem Krach kaum verstehen, doch als die ältere Frau plötzlich wieder ihren Arm packte, wurde ihr klar, dass sie jetzt nicht mit ihr streiten durfte. Maisies Griff war zu fest, und sie verzog das Gesicht vor Schmerz.
»Ist es das Baby?«, fragte Emily erschrocken.
Maisie nickte, und Emily beobachtete, wie der gequälte Gesichtsausdruck ebenso schnell verschwand, wie er gekommen war. »Aber das kann nicht sein. Ich bin erst im siebten Monat, und das weiß ich so genau, weil da Stan im Heimaturlaub war. Es wird schon wieder aufhören.«
Emily hatte die Heimwehr-Übungen für Fliegeralarm ein halbes Dutzend Male mitgemacht. Sie wusste, dass Rita und die Jungen jeden Moment die George Street hinunter zum Bunker laufen würden. Rita hatte es mit den Kindern trainiert, und wahrscheinlich waren sie bereits auf dem Weg, die beiden kleineren im Kinderwagen und Richard und Henry hinten auf der Achse, die Hände fest an den Griff geklammert, während Rita schob. Sie würden sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen und Rita die Kinder anspornen, in dem sie vorgab, dass sie Zug spielten. »Tschu-tschu«, würden die Kinder flüstern, und »Alle einsteigen in den Bunkerzug«, würde Rita antworten.
Ehe sie in den Bunker liefen, drehten Maisie und Emily sich zum Knall einer weiteren Explosion um und blickten hinunter zum Flussufer. Der Himmel war grellrot von auflodernden Flammen.
»Oh mein Gott!« Emily hielt sich eine Hand vor den Mund. »Eines der Schiffe muss getroffen sein. Der Himmel brennt.«
Maisie folgte ihrem Blick zum Mersey und war sprachlos.
»Na los, kommt ihr jetzt rein, oder nicht?« Tom klang nervös und wurde ungeduldig.
Und dann setzte die Stille ein. Eine schwere, drückende Stille, in der niemand sprach. Emilys Nackenhaare richteten sich auf vor Angst, und ihre Haut spannte sich an, als sie sich umschaute und bemerkte, dass alle totenstill dastanden und warteten. Dann kam es, das ohrenbetäubende Pfeifen und eine so laute Explosion, dass sie zunächst gar nichts mehr hörte. Die George Street war getroffen.
Es war ein kalter, diesiger Morgen, und immer noch schwelten Feuer, als Emily die Straße entlangging, die sie nicht mehr wiedererkannte. Benommen weigerte sie sich, in Panik zu geraten, versuchte, ruhig zu atmen – ein und aus, ein und aus. Die Frau, die Maisie bei der Geburt ihrer Tochter geholfen hatte – nicht des Sohnes, von dem Maisie überzeugt war, dass sie ihn bekommen würde –, war zur Arthur Street vorausgelaufen, den Namen von Maisies Mutter rufend, wie Maisie es selbst den Großteil der Nacht getan hatte. Sie hatte sich angestrengt, nicht vor Schmerz zu schreien, als sie die Bomben fallen hörten. Die Furcht hatte Emily das Herz zusammengedrückt, als sie in dem Bunker hockte und Maisies Hand hielt. »Da draußen ist es schlimm«, hatte eine der Frauen gesagt.
Tom, in dessen Bunker sie waren, hatte geantwortet: »Ist es. Es ist schlimm.«
Obwohl es jetzt hell war, schimmerte der Himmel dunkelorange durch den Staub und Rauch. Der Lärm einer einzelnen rennenden, laut rufenden Frau war surreal und verwirrend.
»Wo sind die Häuser und der Laden? Wo ist der Laden hin?«, fragte Emily niemanden direkt. Löschfahrzeuge versperrten ihr den Weg, und Männer, die an der Gashauptleitung arbeiteten, riefen ihr zu, sie solle stehen bleiben.
»Wo wollen Sie denn hin?«, rief ein junger Mann, als sie sich an der schon aufgestellten Absperrung vorbeidrängte. »Ey, halt! Sind Sie verrückt geworden? Da dürfen Sie nicht hin.«
»Aber ich muss. Ich wohne da. Ich muss nach Hause«, antwortete Emily. »Rita hat die Kinder.«
»Geht nicht, Schätzchen. In der Straße hat es einen direkten Einschlag gegeben. Es ist zu gefährlich.« Der Mann umfing ihren Arm und sah sie voller Mitgefühl an. »Auf welcher Straßenseite haben Sie gewohnt?«
Emily drehte sich zu ihm um. »Wir wohnen auf unserer Seite«, antwortete sie verwirrt. »Auf dieser.« Sie blickte zu der Stelle, an der die Häuser gestanden hatten und nun nichts mehr außer Trümmern war, und da sah sie ihre Mutter. Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Ihr Verstand erkannte nicht, was sie so klar wahrnahm wie die Flammen, die noch aus dem Schutt ihres Zuhauses aufzüngelten. Sie rieb sich die Augen. Staub und Rauch verzerrten ihre Sicht. Dies hier war ein Albtraum. Sie würde aufwachen. Es konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht real sein, und doch war es das. Es war real. Und das war ihre Mutter.
»Oh Gott, nein. Nein!«, schrie Emily, und ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte und dessen Gesicht rußgeschwärzt war, kaum aus dem Qualm auf sie zugelaufen.
»Geht es Ihnen gut?«, rief er. »Sie müssen hier weg. Erst müssen wir die Gasleitungen sichern, ehe jemand in die Straße darf. Wohnt sie hier?«, fragte er den Feuerwehrmann, der Emily am Arm festhielt.
Emily hörte nicht zu. Sie blickte zu dem Gesicht ihrer Mutter, die auf dem Dach des Hauses gegenüber von ihrem früheren lag. Ihr Arm baumelte herunter, und sie starrte auf die Straße, die Augen weit offen und endlich frei von Schmerz.
»Alles in Ordnung, Mädchen? Ehrlich, ich muss Sie von dem Gas wegbringen.« Der Mann war nun vor ihr, doch sie konnte ihn nicht ansehen.
»Mam«, flüsterte sie.
Er folgte ihrem Blick. »Oh nein, verflucht!«, murmelte er, legte den Arm um ihre Schultern und wollte sie wegführen.
»Wir müssen meine Mam holen. Ich komme, Mam!«, rief sie, so laut sie konnte. »Richard! Henry! Richard!«, schrie sie in den Trümmerhaufen. »Rita!«
Sie wollte loslaufen, aber jetzt hielten mehr Hände sie fest.
»Bring sie ans Ende der Straße. Da ist ihr Dad. Er lebt noch«, hörte sie eine Stimme. »Sie lassen ihn auch nicht her.«
»Aber Rita hat die Kinder. Sie muss heute mit Mam zum Krankenhaus. Ich komme, Mam. Wir holen dich jetzt runter.«
»Komm mit, Liebes«, sagte ein Mann, den sie von der Heimwehr kannte. Er legte einen Arm um sie und hielt sie so, dass sie sich nicht bewegen konnte. »Keiner kann etwas tun. Ihr müsst nicht mehr ins Krankenhaus. Kein Arzt kann helfen. Sie sind alle tot, Liebes. Jeder in dieser Häuserreihe. Die ganze Nacht haben wir die Trümmer abgesucht. Es ist niemand mehr am Leben außer deinem Dad. Er war unterwegs, um dich zu holen, als die Bombe kam. Bringen wir dich zu deinem Dad.«
Sie hörte die Unterhaltungen der anderen Feuerwehrmänner in der Nähe, die sie nicht sehen konnten. Sie kamen von irgendwo inmitten des Staubs und der Flammen.
»Die war übel. Ein großes Mistding. Ich schätze, hier drinnen sind eine Frau und vielleicht vier oder fünf Kinder, vielleicht mehr. Alle tot.« Für einen Augenblick lichtete sich der Rauch, und Emily sah den Mann stehen, wo einst Ritas Küche gewesen war.
»Ich habe ihre Essensmarken«, flüsterte Emily unter Tränen. Sie wusste, zwei der Kinder, die der Mann meinte, waren ihre kleinen Brüder. »Ich habe ihre Essensmarken«, schluchzte sie wieder.