Nach dem plötzlichen Tod der Eltern kümmert sich Roy um seinen jüngeren Bruder Carl. Schließlich fängt Carl im Ausland ein neues Leben an, und Roy bleibt in den Bergen Norwegens zurück.
Jahre später kehrt Carl mit der charismatischen Architektin Shannon zurück. Er und seine Frau haben große Pläne, wollen auf dem Land der Familie ein Wellnesshotel bauen. Es soll die Brüder reich machen, aber auch alle anderen im Ort. Nicht lange und die gefeierte Rückkehr Carls löst eine Serie von Ereignissen aus, die alles bedroht, was Roy lieb ist, denn lang gehütete Geheimnisse drängen an die Oberfläche.
Der neue Kriminalroman vom Nummer-Eins-Bestsellerautor der Harry-Hole-Serie
Thriller
Aus dem Norwegischen
von
Günther Frauenlob
Ullstein
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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Kongeriket bei Aschehoug, Oslo.
ISBN 978-3-8437-2395-4
© 2020 by Jo Nesbø
© der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Published by agreement with Salomonsson Agency
Autorenfoto: © Stian Broch
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © crying june / room the agency; Mark Owen / Trevillion Images
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Es war der Tag, an dem Dog starb.
Ich war sechzehn, Carl fünfzehn.
Ein paar Tage zuvor hatte Papa uns das Jagdmesser gezeigt, mit dem ich ihn tötete. Die breite Klinge hatte in der Sonne geglänzt. Tiefe Rillen auf jeder Seite, die das Blut ableiten, wenn man ein Tier zerlegt. Carl war blass geworden, und Papa hatte ihn gefragt, ob ihm wie im Auto noch einmal schlecht werden würde. Ich glaube, in diesem Moment war in Carl der innige Wunsch entstanden, selbst auch ein Tier zu schießen, irgendeins – was, war ihm eigentlich egal –, und es dann zu zerlegen, es mit dem Messer in kleine Stücke zu schneiden. Nur das zählte.
»Und dann braten und essen wir es«, sagte er, als wir vor der Scheune standen, ich mit dem Kopf tief im Motorraum von Papas Cadillac DeVille. »Papa, Mama, du und ich. Okay?«
»Okay«, sagte ich und drehte den Verteiler, um den Zündzeitpunkt einzustellen.
»Und Dog kriegt auch was«, sagte er. »Es wird genug für alle sein.«
»Klar doch«, brummte ich.
Dog hieß Dog, weil Papa in der Eile angeblich kein anderer Name eingefallen war. Das behauptete er jedenfalls immer. Ich glaube aber, dass Papa diesen Namen liebte. Er war so typisch für ihn. Papa sagte nie mehr als absolut nötig und war amerikanischer als jeder Amerikaner. Und er vergötterte dieses Tier. Ich glaube, er war lieber mit diesem Viech als mit irgendeinem Menschen zusammen.
Unser Hof oben in den Bergen war nicht groß, dafür war die Aussicht fantastisch und die Landschaft wild und urtümlich. Papa bezeichnete das Land als sein Königreich. Von meinem Stammplatz aus, vor der offenen Haube des Cadillac, hatte ich Carl von da an Tag für Tag mit Papas Hund, Papas Flinte und Papas Messer herumlaufen sehen. Manchmal so weit entfernt, dass sie nur noch winzige Punkte weit draußen in der kahlen Landschaft waren. Einen Schuss hörte ich jedoch nie. Wenn sie zum Hof zurückkamen, behauptete Carl immer, keinen Vogel entdeckt zu haben, und ich hielt die Klappe, obwohl die auffliegenden Schneehühner immer anzeigten, wo Carl und Dog sich gerade befanden.
Dann kam der Tag, an dem es endlich knallte.
Ich zuckte zusammen und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Innenseite der Motorhaube. Wischte mir das Öl von den Fingern und sah zu der heidebewachsenen Bergflanke, während das Dröhnen des Schusses über das Dorf unten am Budalsvannet weiterrollte wie ein Donner. Zehn Minuten später kam Carl auf den Hof gelaufen, verlangsamte seine Schritte aber, als er so nah war, dass Papa und Mama ihn aus dem Wohnhaus sehen konnten. Dog war nicht bei ihm. Auch die Flinte war weg. Ich glaube, ich wusste schon in diesem Moment, was passiert war, und ging ihm entgegen. Als er mich sah, drehte er sich um und lief langsam zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Tränen liefen ihm über die Wangen.
»Ich habe es versucht«, schluchzte er. »Sie sind vor uns aufgeflogen, ganz viele, ich hab auf sie gezielt, aber ich konnte einfach nicht abdrücken. Dabei wollte ich doch so sehr, dass ihr hört, dass ich es wenigstens versucht habe. Also hab ich die Waffe runtergenommen und abgedrückt. Als die Vögel weg waren, lag dann plötzlich Dog da.«
»Tot?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Carl und fing an zu schluchzen. »Aber er wird … sterben. Er blutet aus dem Maul, und beide Augen … sind weg. Der liegt nur da und winselt.«
»Lauf«, sagte ich.
Wir rannten beide los, und nach ein paar Minuten sah ich eine Bewegung in der Heide. Es war ein Schwanz. Dogs Schwanz. Er witterte uns. Wir blieben vor ihm stehen. Die Hundeaugen sahen aus wie zwei kaputte Eidotter.
»Das schafft er nicht«, sagte ich. Nicht weil ich Ahnung von Tieren hatte, wie die Cowboys in den Western, sondern weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Dog als blinder Jagdhund dahinvegetieren wollte, sollte er auf wundersame Weise doch noch überleben. »Du musst ihn erschießen.«
»Ich?«, platzte es aus Carl heraus, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dass er, Carl, jemandem das Leben nahm.
Ich sah ihn an. Mein kleiner Bruder.
»Gib mir das Messer«, sagte ich.
Er reichte mir Vaters Jagdmesser.
Ich legte eine Hand auf Dogs Kopf, und er leckte meinen Unterarm. Dann schob ich die Hand unter die Schnauze, drückte den Kopf hoch und schnitt ihm mit der anderen Hand die Kehle durch. Aber ich war nicht energisch genug. Es passierte nichts, Dog zuckte nur leicht. Erst beim dritten Versuch drang die Klinge durch die Haut, und da war es so, als hätte ich einen Saftkarton aufgeschnitten. Das Blut quoll mit einem derartigen Druck heraus, als hätte es nur darauf gewartet, an die Luft zu kommen.
»So«, sagte ich und ließ das Messer in die Heide fallen. Sah das Blut in den Rillen und fragte mich, ob das Warme auf meinen Wangen Blutspritzer waren.
»Du weinst«, sagte Carl.
»Sag Vater nichts davon«, antwortete ich.
»Dass du geweint hast?«
»Dass du es nicht geschafft hast … Dog zu töten. Ich hab dir gesagt, dass es sein muss, und dann hast du es getan. Das sagen wir ihm, okay?«
Carl nickte. »Okay.«
Ich legte mir den Hundekadaver über die Schultern. Er war schwerer als gedacht und rutschte immer wieder herunter. Carl wollte mir helfen, ich sah aber die Erleichterung in seinem Blick, als ich das ablehnte.
Vor der Auffahrt zur Scheune legte ich Dog ab, ging ins Haus und holte Papa.
Auf dem Weg nach draußen gab ich ihm die vereinbarte Erklärung.
Er sagte nichts, hockte sich nur neben seinen toten Hund und nickte, als hätte er das alles erwartet und vielleicht sogar selbst verschuldet. Dann stand er auf, nahm Carl die Flinte aus der Hand und klemmte sich Dogs Leiche unter den Arm.
»Kommt«, sagte er und nickte in Richtung Heuboden.
Er legte Dog auf ein Bett aus Stroh, kniete sich hin, senkte den Kopf und murmelte etwas. Es hörte sich wie ein amerikanischer Psalm an, einer von denen, die er mitunter aufsagte. So hatte ich meinen Vater in meinem ganzen kurzen Leben noch nie gesehen. Er war … er löste sich irgendwie auf.
Als er sich zu uns umdrehte, war er noch immer blass, seine Lippen zitterten aber nicht mehr, und in seinem Blick lag die gewohnte Ruhe.
»Jetzt sind nur noch wir übrig«, sagte er.
Und so war es. Obwohl Papa uns nie schlug, zog Carl neben mir den Kopf ein. Papa strich über den Lauf seiner Flinte.
»Wer von euch hat …« Er suchte nach den richtigen Worten und fuhr mit den Fingern wieder und wieder über die Flinte. »… ihm die Kehle durchgeschnitten.«
Carl blinzelte aufgeregt. Öffnete den Mund.
»Das war Carl«, sagte ich. »Ich habe ihm gesagt, dass es getan werden muss und dass er das selbst tun soll.«
»Wirklich?« Papa sah von mir zu Carl und zurück. »Wisst ihr, mein Herz weint. Es weint, und ich habe nur einen Trost. Und wisst ihr, was das ist?«
Wir standen stumm da, weil wir wussten, dass Papa bei dieser Frage keine Antwort erwartete.
»Dass ich zwei Söhne habe, die sich heute als Männer bewiesen haben. Die Verantwortung übernommen und Entscheidungen getroffen haben. Die Qual der Wahl, wisst ihr, was das ist? Wenn einen die Entscheidung, die man treffen muss, beinahe umbringt und nicht die Tat selbst. Wenn man weiß, dass man, egal, was man tut, nachts wach liegen und sich wieder und wieder fragen wird, ob man das Richtige getan hat. Ihr hättet vor dieser Entscheidung weglaufen können, habt euch ihr aber gestellt. Dog leben und leiden lassen oder ihn töten und zu seinem Mörder werden. Es verlangt Mut, nicht wegzulaufen, wenn man plötzlich vor einer solchen Wahl steht.« Er streckte seine Arme aus. Eine Hand legte sich auf meine Schulter, die andere etwas höher auf Carls. Seine Stimme hatte mit einem Mal das Vibrato von Prediger Armand. »Diese Fähigkeit, in solchen Situationen nicht den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, sondern den der höchsten Moral, unterscheidet den Menschen vom Tier.« Er hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich stehe hier als gebrochener Mann, aber ich bin sehr, sehr stolz auf euch, Jungs.«
Das waren nicht nur große Worte, es waren mehr zusammenhängende Worte, als ich jemals über die Lippen meines Vaters hatte kommen hören. Carl begann zu weinen, und auch ich hatte einen verdammt dicken Kloß im Hals.
»Jetzt gehen wir und sagen es Mama.«
Davor graute uns. Mama machte bei jeder Ziege, die Vater schlachtete, lange Spaziergänge und kam mit verweinten Augen zurück. Auf dem Weg ins Haus hielt Papa mich kurz zurück, damit etwas Abstand zwischen Carl und uns kam.
»Bevor sie diese Version zu hören bekommt, solltest du dir die Hände gründlich waschen«, sagte er.
Ich hob den Blick, in Gewissheit dessen, was kommen würde. Aber ich sah nur Milde und müde Resignation in seinem Gesicht. Dann strich er mir über den Hinterkopf. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das jemals zuvor getan hätte. Oder danach.
»Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Roy. Wir sind härter als Mama oder Carl. Deshalb müssen wir auf sie aufpassen. Immer. Verstehst du?«
»Ja.«
»Wir sind eine Familie. Wir haben einander und sonst niemanden. Freunde, Geliebte, Nachbarn, die Dorfbewohner und Landsleute, alles Illusion. Wenn es eines Tages wirklich darauf ankommt, sind sie nichts wert. Dann heißt es, wir gegen sie, Roy. Wir gegen alle anderen. Absolut alle. Hast du das verstanden?«
»Ja.«
Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah.
Carl war zurück. Ich weiß nicht, warum ich an Dog dachte, die Geschichte lag zwanzig Jahre zurück. Vielleicht, weil die plötzliche, unangekündigte Rückkehr den gleichen Grund wie damals haben musste. Wie immer. Dass er die Hilfe seines großen Bruders brauchte.
Ich stand draußen auf dem Hofplatz und sah auf die Uhr. Halb drei. Er hatte mir eine SMS geschickt und gesagt, dass er gegen zwei Uhr da sein würde. Mehr nicht. Mein kleiner Bruder war schon immer ein Optimist, der mehr versprach, als er halten konnte. Ich ließ meinen Blick über die Landschaft schweifen. Über das wenige, das aus der Wolkendecke unter mir herausragte. Die Bergflanke auf der anderen Talseite schien über einem grauen Meer zu schweben.
Die Vegetation war bereits leicht rot gefärbt. Herbst lag in der Luft. Über mir war der Himmel blau wie der unschuldige Blick eines jungen Mädchens. Die klare Luft schnitt in die Lungen, wenn ich zu schnell einatmete. Es fühlte sich an, als wäre ich vollkommen allein, als hätte ich die ganze Welt für mich. Aber was heißt schon die Welt, vermutlich war es nur der Ararat mit einem einzelnen Gehöft. Es kam vor, dass Touristen die kurvige Straße aus dem Dorf heraufkamen, um die Aussicht zu genießen. Irgendwann landeten sie dann hier auf dem Hof. Manche fragten, ob ich den Hof im Nebenerwerb bewirtschaftete. Wahrscheinlich dachten diese Idioten an Nebenerwerb, weil für sie die riesigen Höfe im Tal richtige Bauernhöfe waren. Mit überdimensionierten Scheunen und protzigen Wohnhäusern. Sie hatten keine Ahnung, was ein Gebirgssturm mit einem zu ausladenden Hausdach machte oder was es bedeutete, allzu großzügig bemessenen Wohnraum bei Außentemperaturen von minus dreißig Grad zu heizen. Sie kannten den Unterschied zwischen den saftigen Wiesen im Tal und den wilden Gebirgsweiden nicht und wussten nicht, dass das karge Königreich eines Berghofes um ein Vielfaches größer war als die herausgeputzte getreidegelbe Kulturlandschaft der Tieflandbauern.
Seit fünfzehn Jahren wohnte ich allein auf dem Hof, doch damit sollte jetzt Schluss sein. Ein V8-Motor brummte irgendwo in den Wolken unter mir. Er klang so nah, als hätte er die Japankurve an der Steigung bereits passiert. Der Fahrer gab Gas, trat die Kupplung, fuhr in die nächste Haarnadelkurve und beschleunigte wieder. Er kam immer näher. Man hörte, dass der Fahrer die Kurven nicht zum ersten Mal nahm. Als ich die Nuancen im Klang des Motors wahrnehmen konnte, das tiefe Seufzen beim Schalten, den dunklen Bass, den nur ein Cadillac in den unteren Gängen hatte, wusste ich, dass es ein DeVille war. Das gleiche schwere Schiff, das Vater gefahren hatte. Natürlich.
In diesem Moment schob sich der aggressive Kühler des Wagens aus der Geitesvingen-Kurve. Schwarz. Ein neueres Modell, ich tippte auf Mitte der Achtziger. Und doch irgendwie das gleiche Auto.
Der Wagen kam neben mir zum Stehen, und die Scheibe auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen. Ich hoffte, dass man es mir nicht ansah, aber mein Herz ging wie eine Stahlstanze. Wie viele Briefe, SMS oder Mails hatten wir uns in all diesen Jahren geschrieben? Sicher nicht viele. Und trotzdem war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an Carl gedacht hatte. Aber es war besser gewesen, ihn zu vermissen, als immer wieder das Chaos, das er verursachte, beseitigen zu müssen. Er war älter geworden.
»Entschuldigen Sie, mein Herr, ist das hier der Hof der berühmten Opgard-Brüder?«
Er grinste mich an. Schenkte mir sein warmherziges, unwiderstehliches Lächeln. In diesem Moment schienen all die Jahre aus dem Kalender und aus seinem Gesicht getilgt zu sein. Es waren fünfzehn Jahre seit unserer letzten Begegnung vergangen. Sein Blick hatte etwas Prüfendes, als steckte er vorsichtig eine Hand ins Badewasser.
Ich wollte eigentlich nicht lachen. Noch nicht, und konnte doch nicht anders.
Die Autotür schwang auf. Er stieg aus, breitete die Arme aus, und ich trat auf ihn zu, wohl wissend, dass es umgekehrt hätte sein sollen. Dass ich es sein sollte, der große Bruder, der ihn mit offenen Armen empfing. Aber irgendwo auf unserem Weg hatten Carl und ich die Rollen getauscht. Er war größer als ich, nicht nur körperlich – das war er schon als Jugendlicher gewesen –, sondern er machte auch mehr her. In Gesellschaft mit anderen gab er sehr schnell den Ton an. Ich schloss die Augen, holte innerlich schaudernd Luft und roch Herbst, Cadillac und kleinen Bruder. Er benutzte irgendeinen Herrenduft, wie man das nannte. Die Beifahrertür ging auf.
Carl ließ mich los und führte mich um die gewaltige Kühlerhaube zu einer Frau, ihr Gesicht war zum Tal gewandt.
»Es ist wirklich schön hier«, sagte sie.
Für die kleine, zierliche Gestalt war die Stimme überraschend tief. Sie hatte einen starken Akzent und betonte etwas ungewöhnlich, trotzdem waren ihre Worte klar als Norwegisch zu erkennen. Ich fragte mich, ob sie diesen Satz unterwegs eingeübt hatte, ob sie sich zu einem früheren Zeitpunkt entschieden hatte, das zu sagen, Aussicht hin oder her. Um mir zu gefallen. Dann drehte sie sich um und lächelte. Als Erstes fiel mir ihr weißes Gesicht auf. Es war nicht blass, sondern weiß wie Schnee, der das Licht reflektierte und alle Konturen verwischte. Als Zweites, dass ein Augenlid etwas herabhing, als wäre die eine Hälfte ihres Gesichts schrecklich müde. Die andere Hälfte sah hingegen hellwach aus. Ein lebhaftes braunes Auge sah mich unter einem kurz geschnittenen, flammend roten Pony an. Sie trug eine schlichte, weite schwarze Hose und einen zu großen schwarzen Rollkragenpullover, sodass keinerlei Rückschlüsse auf ihre Figur zu ziehen waren. Meine erste Assoziation war das Schwarz-Weiß-Bild eines schmächtigen Jungen mit kolorierten roten Haaren. Mich überraschte das etwas, da Carl bei Frauen schon immer leichtes Spiel gehabt hatte. Sie war ganz süß, aber eben nicht so ein Feger, wie man hier in der Gegend sagt. Sie lächelte weiter, und da sich ihre Zähne kaum von ihrer Haut abhoben, mussten auch sie weiß sein. Carl hatte ebenfalls weiße Zähne. Das war schon immer so gewesen. Im Gegensatz zu mir. Er behauptete immer, sie wären von der Sonne gebleicht, weil er viel mehr lächelte als ich. Vielleicht hatten sie sich ja wegen ihrer weißen Zähne ineinander verliebt.
Sie waren einander Spiegelbild. Obgleich Carl selbst groß und breit, blond und blauäugig war, erkannte ich ihre Seelenverwandtschaft sofort. Das Lebensbejahende. Den Optimismus. Die Bereitschaft, das Beste in jedem Menschen zu sehen, in sich selbst und in anderen. Wobei – ich kannte die Frau eigentlich ja noch gar nicht.
»Das ist …«, begann Carl.
»Shannon Alleyne«, unterbrach sie ihn mit ihrer Baritonstimme und streckte mir eine kleine Hand entgegen, die irgendwie an einen Hühnerfuß erinnerte.
»Opgard«, fügte Carl nicht ohne Stolz hinzu.
Shannon Alleyne Opgard wollte länger die Hand drücken als ich. Auch darin erkannte ich Carl wieder. Für einige ist es dringlicher als für andere, gemocht zu werden.
»Jetlag?«, fragte ich und bereute die idiotische Frage. Nicht weil ich nicht wusste, was ein Jetlag ist, sondern weil Carl wusste, dass ich in meinem ganzen Leben nicht eine einzige Zeitzone passiert hatte und mit ihrer Antwort kaum etwas anfangen konnte.
Carl schüttelte den Kopf.
»Wir sind schon vor zwei Tagen gelandet. Mussten noch auf das Auto warten, das ist mit dem Schiff gekommen.«
Ich nickte, warf einen Blick auf die Schilder. MC. Monaco. Exotisch, aber nicht exotisch genug, um ihn darum zu bitten, mir die Schilder zu geben, wenn er den Wagen ummeldete. Im Büro in der Tankstelle hatte ich abgelaufene Schilder aus Äquatorialguinea, Birma, Basutoland, British Honduras und Johor. Die Latte hing hoch.
Shannon sah von Carl zu mir und wieder zurück. Lächelte. Ich weiß nicht, warum, vielleicht war sie einfach froh, Carl und seinen Bruder – seinen einzigen engen Verwandten – gemeinsam lachen zu sehen und zu registrieren, dass die anfängliche Spannung nachließ und er, ja sie beide willkommen waren.
»Zeigst du Shannon das Haus, ich trag dann die Koffer rein?«, sagte Carl und öffnete den trunk, wie Papa den Kofferraum immer genannt hatte.
»Wird vermutlich etwa gleich lang dauern«, murmelte ich in Richtung Shannon, die mir folgte.
Wir gingen auf die Nordseite des Hauses, wo die Haustür liegt. Warum Papa die Tür nicht in Richtung Hofplatz und Straße angelegt hatte, weiß ich wirklich nicht. Vielleicht ging es ihm darum, sein Land zu sehen, wenn er aus der Tür trat. Die karge Wildnis vor unserem Haus. Oder weil es wichtiger war, dass die Sonne die Küche wärmte und nicht den Flur. Wir traten über die Schwelle, und ich öffnete eine der drei Türen, die vom Flur abzweigen.
»Die Küche«, sagte ich, und mir fiel zum ersten Mal auf, dass sie nach altem Fett stank. Hatte es schon immer so gerochen?
»Wie schön«, log sie.
Okay, ich hatte aufgeräumt und sogar gewischt, aber schön war die Küche nicht. Mit großen, etwas besorgten Augen folgte sie dem Rohr, das vom Ofen durch ein ausgesägtes Loch in der Zimmerdecke in die obere Etage führte. Der Abstand zur Wand war so groß, dass das Holz kein Feuer fing, und das Sägeloch hatte Papa, weil es so exakt gearbeitet war, immer als Handwerkskunst bezeichnet. Diese Art von Handwerk gab es auf dem gesamten Hof nur noch an einem weiteren Ort, nämlich auf dem Plumpsklo.
Ich schaltete das Licht ein, um ihr zu demonstrieren, dass wir immerhin Strom hatten.
»Kaffee?«, fragte ich und drehte das Wasser auf.
»Danke, später vielleicht.«
Höflichkeitsphrasen hatte sie auf alle Fälle schon mal drauf.
»Carl will bestimmt einen«, sagte ich, öffnete den Küchenschrank und kramte einen Moment herum, bis ich die Dose hatte.
Zum ersten Mal seit Langem hatte ich wieder den traditionellen Bohnenkaffee gekauft. Sonst nahm ich immer nur Instantkaffee. Als ich den Topf unter den Wasserstrahl hielt, bemerkte ich, dass ich aus alter Gewohnheit das heiße Wasser aufgedreht hatte, und bekam rote Ohren. Aber wer sagt denn, dass Instantkaffee mit heißem Wasser aus dem Hahn schlecht ist? Kaffee ist Kaffee, und Wasser ist Wasser.
Ich setzte den Topf auf und ging die zwei Schritte in den Flur zurück. Im Westen das Esszimmer, das im Winter nicht benutzt wurde und als Puffer gegen die Kaltwetterfronten diente. Außerdem aßen wir ohnehin immer in der Küche. Nach Osten hin lag das Wohnzimmer mit Bücherregalen, einem Fernseher und einem eigenen Holzofen. Im Süden hatte Papa sich den einzigen Luxus des Hauses geleistet, seine porch, eine angebaute Glasveranda, die Mama nur Wintergarten nannte, obwohl diese im Winter natürlich verschlossen und verbarrikadiert war. Im Sommer hatte Papa dort gesessen, an seinem Snus gesaugt und ein Budweiser getrunken. Manchmal auch zwei – auch das Luxus. Für das helle amerikanische Bier musste er bis in die Stadt, und die silberfarbenen Tabakdosen mit den Portionsbeuteln Snus ließ er sich von einem amerikanischen Verwandten schicken. Papa hatte mir früh erklärt, dass der amerikanische Snus im Gegensatz zu dem schwedischen Mist einen Gärungsprozess durchlief, was sich auf den Geschmack auswirke. »Wie Bourbon«, sagte Papa, »die Norweger halten nur an dem schwedischen Snus fest, weil sie es nicht besser wissen.«
Nun, ich wusste es besser und fing schließlich auch mit dem amerikanischen Snus an. Carl und ich zählten die leeren Flaschen, die Papa auf die Fensterbank stellte. Bei mehr als vier Flaschen kamen ihm schnell mal die Tränen, und das brauchte keiner von uns beiden. Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich, ob ich deshalb nur selten mehr als ein oder zwei Bier trinke. Um nicht zu weinen. Carl wurde von Bier immer lustiger, sodass er sich diese Art von Beschränkung nicht auferlegen musste.
All das ging mir durch den Kopf, aber natürlich sagte ich nichts, als wir die Treppe nach oben gingen und ich Shannon das größere der beiden Schlafzimmer zeigte. Papa hatte es immer master bedroom genannt.
»Fantastisch«, sagte sie.
Ich zeigte ihr das neue Bad, das längst nicht mehr neu war, aber noch immer das Neueste im Haus. Vermutlich hätte sie mir nicht geglaubt, hätte ich ihr gesagt, dass wir ohne aufgewachsen waren und uns in der Küche gewaschen hatten. Mit auf dem Ofen aufgewärmtem Wasser. Das Bad war erst nach dem Unfall gekommen. Wenn es stimmte, was Carl geschrieben hatte, und sie wirklich von Barbados kam und einer Familie entstammte, die es sich leisten konnte, sie zum Studieren nach Kanada zu schicken, konnte sie es sich sicher kaum vorstellen, graues Seifenwasser mit einem Bruder teilen zu müssen und im Winter frierend vor der Waschschüssel zu stehen. Während Papa paradoxerweise einen Cadillac DeVille fuhr. Ein anständiges Auto war schließlich irgendwie erforderlich. Das musste sein.
Die Tür zum Kinderzimmer hatte sich verzogen, ich musste an der Klinke rucken, um sie zu öffnen. Abgestandene Luft und Erinnerungen schlugen uns entgegen, wie wenn man einen Kleiderschrank mit längst vergessenen Klamotten öffnet. An der einen Wand stand ein Schreibtisch mit zwei Stühlen. An der anderen ein Doppelstockbett. Am Kopfende des Bettes kam das Ofenrohr von unten aus der Küche.
»Hier haben Carl und ich gewohnt«, sagte ich.
Shannon nickte in Richtung Bett.
»Wer hat oben geschlafen?«
»Ich«, sagte ich. »Der Ältere.« Ich fuhr mit dem Finger über den Staub auf der Rückenlehne eines Stuhls. »Ich ziehe hier heute wieder ein, dann kriegt ihr das große Schlafzimmer.«
Sie sah mich erschrocken an.
»Aber, Roy, wir wollen doch nicht …«
Ich konzentrierte mich darauf, in ihr offenes Auge zu schauen. Seltsam, diese braunen Augen mit den roten Haaren und der schneeweißen Haut.
»Ihr seid zu zweit, ich bin allein, das ist kein Problem. Okay?«
Sie ließ ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen.
»Danke«, sagte sie.
Ich ging vor ihr her ins Schlafzimmer unserer Eltern, das ich gründlich gelüftet hatte. Egal wie Leute riechen, ich habe eine Abneigung dagegen, ihren Geruch wahrzunehmen. Außer bei Carl. Carl roch – wenn nicht gut, so doch richtig. Er roch wie ich. Wie wir. Wenn Carl im Winter krank wurde, und das wurde er immer, kroch ich unten neben ihm ins Bett. Sein Geruch war, wie er sein musste, auch wenn seine Haut vom Fieberschweiß klebte oder er aus dem Mund sauer nach Erbrochenem stank. Ich inhalierte Carl und schmiegte mich schlotternd an den fieberheißen Körper, nutzte die Wärme, die er abgab, um mich aufzuwärmen. Des einen Fieber, des anderen Kachelofen. Man wird praktisch, wenn man hier oben wohnt.
Shannon trat ans Fenster und sah nach draußen. Sie hatte ihren Mantel angezogen und bis oben hin zugeknöpft. Vermutlich fand sie es kalt im Haus. Im September. Das ließ für den Winter nichts Gutes erwarten. Ich hörte, wie Carl mit den Koffern die enge Treppe hochpolterte.
»Carl hat mir gesagt, dass ihr nicht reich seid«, sagte sie. »Aber dass euch alles gehört, was man von hier aus sieht.«
»Das ist richtig«, sagte ich. »Aber das ist alles nur Ödland.«
»Ödland?«
»Wildnis«, sagte Carl, der keuchend in der Tür stand und lächelte. »Weide für Schafe und Ziegen. Auf so einem Berghof kann man nicht viel anbauen. Wie du siehst, gibt es auch kaum Bäume. Aber wir werden die Skyline hier schon noch verändern. Nicht wahr, Roy?«
Ich nickte langsam. Langsam, wie ich es als kleiner Junge bei den Bauern gesehen hatte. Damals dachte ich, dass hinter der gerunzelten Stirn und den zusammengezogenen Augenbrauen komplexe Dinge vor sich gehen mussten und dass es vielleicht zu zeitaufwendig, wenn nicht sogar unmöglich war, all das in unserem Dialekt auszudrücken. Außerdem schien ein stillschweigendes Einvernehmen zwischen diesen langsam nickenden Männern zu bestehen, da ein langsames Nicken häufig von einem anderen erwidert wurde. Inzwischen nickte also auch ich auf dieselbe langsame Art und verstand doch kaum mehr als damals.
Ich hätte Carl fragen können, ob ich aber eine Antwort erhalten hätte, ist fraglich. Antworten schon, sogar viele, aber eben nicht die Antwort. Doch vielleicht brauchte ich die gar nicht, ich war einfach nur froh, Carl zurückzuhaben, und hatte nicht vor, ihn gleich mit Fragen zu quälen, warum zum Teufel er zurückgekommen war.
»Roy ist so nett«, sagte Shannon. »Er hat uns diesen Raum überlassen.«
»Ich dachte, du bist vielleicht nicht zurückgekommen, um in deinem alten Kinderzimmer zu leben.«
Carl nickte. Langsam.
»Dafür ist das hier wirklich nur ein kleines Dankeschön«, sagte er und hielt mir einen großen Karton hin.
Ich sah sofort, was es war. Berry.
»Mann, ist das gut, dich wiederzusehen, Bruder«, sagte Carl mit belegter Stimme, kam zu mir und legte seine Arme um mich. Drückte mich fest. Ich erwiderte seine Umarmung. Er war kräftiger geworden, seine Knochen besser gepolstert, die Haut seiner Wange weicher. Die Barthaare kratzten, obwohl er frisch rasiert war. Die Wolle seiner Anzugjacke fühlte sich edel an, dicht gewebt, wie das Hemd – so etwas hatte er früher nie getragen. Sogar seine Sprache hatte sich verändert, er redete wie die Städter, wie wir es früher manchmal getan hatten, um Mutter nachzuäffen.
Aber das war okay. Er roch wie früher. Er roch nach Carl. Er schob mich etwas von sich weg und betrachtete mich. Seine milden, fast feminin schönen Augen glänzten. Wie meine, verflucht.
»Der Kaffee kocht«, sagte ich mit ein wenig belegter Stimme und ging zur Treppe.
Als ich an diesem Abend ins Bett ging, lag ich lange lauschend da und fragte mich, ob das Haus, da es wieder bewohnt war, anders klang, aber es knackte, atmete und räusperte sich wie gewohnt. Ich lauschte auch auf Geräusche aus dem master bedroom. Das Haus ist so hellhörig, dass ich trotz des Badezimmers zwischen unseren beiden Räumen ihre Stimmen hörte. Redeten sie über mich? Fragte Shannon Carl, ob sein großer Bruder immer so still sei und ob ihm das Chili con Carne wohl geschmeckt habe, das sie gekocht hatte? Gefiel dem wortkargen Menschen das Geschenk, das sie ihm nicht ohne Mühen über ihre Verwandten beschafft hatte? Das alte Nummernschild aus Barbados. Mochte er sie? Oder war er eifersüchtig auf sie, schließlich hatte sie ihm ja den Bruder weggeschnappt und damit den einzigen Verwandten, den er hatte. Vielleicht antwortete Carl, dass ich immer so sei, zu allen, und sie mir einfach Zeit geben müsse. Vielleicht streichelte er ihr lachend über die Wange und sagte, sie solle sich keine Gedanken machen. Nicht gleich am ersten Tag. Alles würde gut werden. In diesem Moment legte sie ihm vielleicht den Kopf auf die Schulter und sagte, er habe bestimmt recht. Dass sie aber trotzdem froh sei, dass er nicht wie ich sei. Wie kann man in einem Land fast ohne Kriminalität nur so misstrauisch sein? Als hätte dein Bruder ständig Angst, ausgeraubt zu werden.
Vielleicht trieben sie es aber auch einfach nur miteinander.
Im Bett unserer Eltern.
»Wer hat oben gelegen?«, wollte ich beim Frühstück fragen. »Der Ältere?«, und mich dann an ihren überraschten Gesichtern erfreuen, bevor ich raus in die frische Morgenluft treten, mich ins Auto setzen, die Handbremse lösen, das Lenkradschloss spüren und die Kurve auf mich zukommen lassen würde.
Ein lang gezogener, ebenso schöner wie trauriger Ton erklang von draußen. Heilo. Der Goldregenpfeifer. Der einsamste und ernsteste Vogel des Gebirges. Ein Vogel, der dir folgt, wenn du draußen unterwegs bist. Der in sicherem Abstand auf dich aufpasst. Als hätte er Angst vor neuen Freunden und bräuchte trotzdem jemanden, der ihm zuhört, wenn er sein Lied über die Einsamkeit anstimmt.