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Das Buch

Francis Gleeson und Brian Stanhope sind junge Kollegen bei der New Yorker Polizei und gehen 1973 in der Bronx gemeinsam auf Streife. Sie sind keine engen Freunde, ziehen aber beide mit ihren Familien in dieselbe Nachbarschaft vor den Toren der Stadt. Was hinter den geschlossenen Türen beider Häuser geschieht – die Einsamkeit von Francis’ Frau Lena und die psychische Fragilität von Brians Frau Anne – bildet das Fundament der kommenden dramatischen Ereignisse ...

Wenn du mich heute wieder fragen würdest ist die tief bewegende Geschichte einer lebenslangen Freundschaft und Liebe, eine Geschichte, die danach fragt, was passiert, wenn Romeo und Julia sich gegen alle Widerstände gefunden haben und ihr Leben miteinander verbringen wollen. Ein berührender Roman über die Höhen und Tiefen einer Ehe und die Macht der Vergebung.

Die Autorin

MARY BETH KEANE machte ihren Master of Fine Arts an der University of Virginia. Mit ihrem Mann und den gemeinsamen zwei Söhnen lebt sie in Pearl River, New York. Wenn du mich heute wieder fragen würdest ist ihr dritter Roman und hielt sich wochenlang auf den vorderen Plätzen der New York Times Bestsellerliste. Die Auslandsrechte wurden bisher in 16 Länder verkauft, die Produzenten von American Beauty arbeiten derzeit an einer Umsetzung des Stoffs als TV-Serie.

WIBKE KUHN, geb. 1972, arbeitete nach dem Studium zunächst im Verlag und machte sich dann als Übersetzerin selbstständig. Sie überträgt skandinavische, englische und italienische Romane und Sachbücher ins Deutsche (u.a. Nell Leyshon, Anita Brookner und Margery Sharp) und lebt in München.

MARY BETH KEANE

Wenn

du mich

heute

wieder

fragen

würdest

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch
von Wibke Kuhn

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Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de


ISBN 978-3-96161-103-4


Die Originalausgabe »Ask Again, Yes« erschien 2019 bei Scribner, New York.

© 2019 Mary Beth Keane

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildungen: © Konstantin L/shutterstock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Owen und Emmett

PROLOG

JULI 1973

FRANCIS GLEESON, groß und dünn, trat in seiner puderblauen Polizeiuniform aus der Sonne in den Schatten des gedrungenen Gebäudes, das die Polizeiwache der Bronx, des 41. Bezirks, beherbergte. An einer Feuerleiter im vierten Stock in der 167th Street hatte jemand eine Seidenstrumpfhose zum Trocknen aufgehängt, und während Francis auf einen anderen Neuling wartete, einen Polizisten namens Stanhope, betrachtete er diese völlig regungslosen Spinnenbeine mit der zarten Rundung an der Stelle, wo normalerweise die Ferse saß. Gestern Nacht war wieder ein Haus abgebrannt, und Francis ging davon aus, dass es so aussehen würde wie bei so vielen anderen im 41. Bezirk: alles weg bis auf eine ausgebrannte Hülle, und in der Mitte eine rußschwarze Treppe. Die Kinder aus der Nachbarschaft hatten zugeschaut, wie es brannte, sie saßen ringsum auf den Dächern und Feuerleitern, auf die sie an diesem ersten wirklich heißen Junitag ihre Matratzen gezerrt hatten. Da Francis jetzt nur eine Straße entfernt war, konnte er hören, wie sie die Feuerwehrleute anbettelten, ihnen einen Hydranten aufgedreht zu lassen. Er konnte sich vorstellen, wie sie in den Wasserstrahl hinein- und wieder heraushüpften, während der Asphalt unter ihren Füßen dampfte.

Er schaute auf seine Armbanduhr und dann wieder zurück zur Tür des Präsidiums und fragte sich, wo Stanhope bloß blieb. Jetzt schon 31 Grad. Dabei war es noch nicht mal zehn Uhr morgens.

Das hatte ihn in Amerika fast am meisten schockiert: Winter, die einem die Haut vom Gesicht abziehen konnten, und Sommer, die so dick und feucht waren wie Sümpfe. »Du heulst rum wie so’n alter Ire«, hatte ihn sein Onkel Patsy am Morgen gehänselt. »Die Hitze, die Hitze, die Hitze.« Aber Patsy stand ja auch tagaus tagein in einem kühlen Pub und zapfte Bier. Francis hingegen musste zu Fuß auf Streife gehen, und nach fünfzehn Minuten hatte er schon dunkle Ringe unter den Achseln.

»Wo ist denn Stanhope?«, fragte Francis ein paar andere Neulinge, die ebenfalls auf Streife loszogen.

»Kämpft mit seinem Spind, glaub ich«, sagte einer.

Nachdem noch eine weitere volle Minute verstrichen war, kam Brian Stanhope schließlich die Stufen heruntergehüpft. Francis und er hatten sich am ersten Tag der Polizeiakademie kennengelernt, und zufällig waren sie beide im 41. Bezirk gelandet. In der Polizeiakademie hatten sie die gleiche Taktikklasse besucht, und nach einer Woche oder so sprach Stanhope Francis an, als sie bei Unterrichtsschluss an der Tür anstanden. »Du bist Ire, oder? Gerade erst vom Dampfer gestiegen?«

Francis erwiderte, er sei aus dem Westen, aus Galway. Er war mit dem Flugzeug gekommen, aber das erwähnte er nicht.

»Dacht ich mir doch. Meine Freundin auch. Die ist aus Dublin. Du, ich muss dich mal was fragen.«

Für Francis war Dublin so weit von Galway entfernt wie New York, aber für einen Yankee war das wahrscheinlich alles eins, dachte er sich.

Francis machte sich auf eine Frage gefasst, die persönlicher ausfallen würde, als ihm genehm war. Das war ihm mit als Erstes aufgefallen, als er in Amerika war: Keiner genierte sich, seinem Gegenüber jede Frage zu stellen, die ihm gerade durch den Kopf ging. Wo wohnst du, mit wem wohnst du zusammen, wie viel Miete zahlst du, was hast du letztes Wochenende gemacht? Für Francis, dem es schon unangenehm war, auch nur seine Einkäufe im Supermarkt in Bay Ridge für alle sichtbar aufs Kassenband zu legen, war das alles ein bisschen zu viel. »Großer Abend heute, hm?«, hatte die Kassiererin gemeint, als er das letzte Mal dort war. Ein Sixpack Budweiser. Ein paar Kartoffeln. Deo.

Brian sagte, ihm sei aufgefallen, dass seine Freundin keine anderen irischen Freunde habe. Sie war erst achtzehn. Man hätte annehmen können, dass sie mit einer Freundin oder einem Cousin oder so gekommen war, aber so war es nicht, sie war allein. Er dachte, sie hätte sich zumindest mit ein paar irischen Mädchen für eine Wohngemeinschaft zusammentun können, das wäre weiß Gott kein Problem. Sie machte eine Krankenschwesterausbildung im Montefiore Hospital und wohnte im Schwesternwohnheim mit einer Dunkelhäutigen zusammen, ebenfalls einer Krankenschwester. War das so bei den Iren? Denn er war mal eine Weile mit einer Russin ausgegangen, und die war grundsätzlich nur mit anderen Russen zusammen gewesen.

»Ich bin auch Ire«, sagte Stanhope. »Aber bei unserer Familie ist das schon ’ne Weile her.«

Das war auch so was an Amerika. Hier war jeder Ire, aber es war schon ’ne Weile her.

»Könnte ja auch ein Zeichen von Intelligenz sein, wenn man sich von uns ein bisschen fernhält«, sagte Francis mit todernster Miene. Stanhope brauchte eine Weile.

*

Bei ihrer Abschlussfeier stand Bürgermeister Lindsay auf dem Podium, und Francis dachte sich von seinem Platz in der dritten Reihe aus, wie seltsam es war, einen Mann zu sehen, den er bis jetzt nur aus dem Fernsehen kannte. Francis war in New York geboren, dann hatten sie ihn wieder mit nach Hause nach Irland genommen, und dann war er kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag mit zehn amerikanischen Dollars und der amerikanischen Staatsbürgerschaft wiedergekommen. Der Bruder seines Vaters, Patsy, hatte ihn am JFK-Flughafen abgeholt, hatte Francis die Tasche aus der Hand genommen und auf den Rücksitz geworfen. »Willkommen zu Hause«, sagte er. Die Vorstellung, dass dieser wuselige, fremde Ort sein zu Hause sein sollte, war mehr als seltsam. An seinem ersten Tag in Amerika stellte ihn Patsy zum Arbeiten an die Bar seines Pubs in der 3rd Avenue Ecke 80th Street in Bay Ridge. Über der Tür hing ein gerahmtes Kleeblatt. Als zum ersten Mal eine Frau hereinkam und ein Bier bestellte, nahm er ein Longdrinkglas und stellte es vor sie hin. »Was soll das denn werden?«, fragte sie. »Ein halbes Bier?« Sie schaute auf die Reihe der anderen Kunden an der Bar, alles Männer, von denen jeder ein normal großes Bierglas vor sich stehen hatte.

Er zeigte ihr ein Bierglas. »Wollen Sie so eins hier?«, hatte er gefragt. »Ganz voll?« Und als sie endlich kapierte, dass er neu in Amerika war, hatte sie sich über die Theke gelehnt und ihm das Haar aus der Stirn gestrichen.

»Genau so eins, Schätzchen«, sagte sie.

Eines Tages, als Francis ungefähr ein Jahr in New York war, kamen zwei junge Polizisten herein. Sie hatten eine Zeichnung von jemand dabei, den sie suchten, und fragten, ob jemand an der Bar die Person erkannte. Sie witzelten mit Patsy, mit Francis, miteinander. Als sie sich zum Gehen wandten, rang sich Francis durch, sich ein bisschen von der Neugier der Amis zu eigen zu machen. Wie schwierig es denn sei, bei der Polizei anzufangen? Und wie die Bezahlung so sei? Ein paar Sekunden waren ihre Mienen schwer zu deuten. Es war Februar, Francis trug einen alten abgelegten Zopfmusterpulli von Patsy, und er kam sich schäbig vor neben den Männern mit ihren gebügelten Jacken und den Mützen, die so akkurat auf ihren Köpfen saßen. Schließlich meinte der Kleinere, dass er in der Autowaschanlage seines Cousins in der Flushing Avenue gearbeitet habe, bevor er Polizist wurde. Auch als da alles schon vollautomatisch lief, erwischten ihn die Sprühanlagen, und im Winter war er am Ende eines Arbeitstages immer völlig durchgefroren. Das war ihm zu brutal gewesen. Außerdem kam es bei den Mädels wesentlich besser an, wenn er ihnen erzählte, dass er Polizist war, als wenn er gesagt hätte, dass er in der Waschanlage arbeitete.

Der andere junge Polizist stand ein bisschen angewidert daneben. Er war dem Polizeikorps beigetreten, weil auch sein Vater schon Polizist gewesen war. Und zwei seiner Onkel. Und sein Großvater. Es lag ihm im Blut.

Francis dachte den ganzen Winter darüber nach, achtete stärker auf die Polizisten in der Nachbarschaft, in der U-Bahn, wenn sie Absperrungen aufstellten, und im Fernsehen. Er ging zum nächsten Präsidium, um sich über die Einstufungstests zu informieren, über die Termine, wie das alles ablief und wann. Als Francis gegenüber Onkel Patsy seine Pläne erwähnte, meinte der, das sei eine gute Idee, dann bräuchte er nur zwanzig Jahre zu machen und hätte seine Pension. Francis fiel auf, wie Patsy dieses »zwanzig Jahre« aussprach, als wäre es nichts, ein kurzer Wimpernschlag, obwohl das zu diesem Zeitpunkt länger war als Francis’ gesamtes Leben. Nach zwanzig Jahren – gesetzt den Fall, er wurde nicht umgebracht – konnte er wieder etwas anderes machen. Er sah sein Leben vor sich, aufgeteilt in Blöcke von jeweils zwanzig Jahren, und zum ersten Mal überlegte er, wie viele dieser Blöcke er wohl überhaupt haben würde. Das Beste sei aber, dass er immer noch jung sei, sagte Patsy. Er wünschte, er wäre selbst auf die Idee gekommen, als er in Francis’ Alter war.

*

Nach dem Abschluss wurde seine Klasse in Gruppen aufgeteilt, um in verschiedenen Stadtteilen die ersten Erfahrungen im Einsatz zu sammeln. Er wurde mit dreißig anderen, darunter auch Brian Stanhope, nach Brownsville geschickt, und danach in die Bronx, wo die richtige Arbeit begann. Damals war Francis zweiundzwanzig, Brian erst einundzwanzig. Francis kannte Brian nicht gut, aber es war tröstlich, bei der Versammlung durchs Zimmer zu schauen und ein bekanntes Gesicht zu entdecken. Bis jetzt war nichts so gekommen, wie man es ihnen vorhergesagt hatte. Das Präsidium selbst war das genaue Gegenteil dessen, was Francis sich vorgestellt hatte, als er sich an der Polizeiakademie bewarb. Draußen war es schon schlimm genug – von der Fassade blätterte überall der Putz ab, sie war bedeckt mit Vogelscheiße und gekrönt von Stacheldraht – aber drinnen war es noch schlimmer. Es gab keine einzige Oberfläche, die nicht feucht oder klebrig gewesen wäre oder abblätterte. Die Heizung im Versammlungsraum war kaputt, und irgendjemand hatte eine Schale darunter gestellt, um das heraustropfende Wasser aufzufangen. Putz regnete von der Decke und landete auf ihren Schreibtischen, ihren Köpfen, ihren Papieren. Dreißig Tatverdächtige mussten in Arrestzellen gepfercht werden, die für zwei oder drei Insassen gedacht waren. Statt mit erfahreneren Partnern loszugehen, mussten alle Anfänger mit anderen Neulingen losgehen. »Da führen die Blinden die Blinden«, hatte Sergeant Russell gewitzelt, aber gleichzeitig versprochen, dass das nur vorübergehend so laufen würde. »Macht einfach nichts Blödes.«

Jetzt entfernten sich Gleeson und Stanhope von dem schwelenden Gebäude und gingen in nördliche Richtung. Aus der Ferne hörte man schon wieder den Lärm des nächsten Feueralarms. Beide jungen Streifenpolizisten wussten, wo die Grenzen ihres Bezirks verliefen, aber keiner von ihnen hatte diese Grenzen bis jetzt mit eigenen Augen gesehen. Die Streifenwagen wurden nach Dienstjahren verteilt, und bei der Acht-bis-vier-Uhr-Streife waren jede Menge ältere Polizisten dabei. Sie hätten den Bus bis zum äußersten Rand nehmen und dann zurückgehen können, aber Stanhope meinte, er hasse Busfahren in Uniform, er hasse es, wie die Stimmung jäh ins Angespannte wechselte, wenn er durch die hintere Tür einstieg und sich jedes Gesicht ihm zuwandte, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern.

»Na gut, dann gehen wir eben zu Fuß«, schlug Francis vor.

So gingen sie jetzt von Block zu Block, beide mit Schlagstock, Handschellen, Funkgerät, Schusswaffe, Taschenlampe, Handschuhen, Kugelschreiber, Notizblock und schwingendem Schlüsselbund am Gürtel, und der Schweiß lief ihnen in Bächen den Rücken hinunter. In manchen Straßen gab es nichts als Trümmer und ausgebrannte Autos, und sie hielten Ausschau nach Bewegung in den Ruinen. Ein Mädchen warf einen Tennisball gegen ein Haus und fing ihn wieder auf, wenn er zurückprallte. Auf dem Gehweg lag ein Paar Krücken, und Stanhope kickte sie beiseite. Jedes Haus, von dem auch nur eine halbe Wand übrig war, war mit Graffiti übersät. Ein Tag jagte das andere, bunte Schleifen und Kurven, die Bewegung nachahmten, von Leben sprachen, und alle zusammen hoben sie sich fast schon schmerzhaft grell vorn einem hauptsächlich grauen Hintergrund ab.

Die Acht-bis-vier-Uhr-Schicht war ein Geschenk, das war Francis wohl bewusst. Wenn es keine Durchsuchungsbefehle zu vollstrecken gab, hatten sie durchaus die Chance, dass bis zum Mittagessen überhaupt nichts passierte. Als sie zu guter Letzt auf den Southern Boulevard bogen, fühlten sie sich wie Reisende, die eine Wüste durchquert hatten, so dankbar waren sie, auf der anderen Seite angelangt zu sein.

Während die Nebenstraßen fast schon gespenstisch leer waren, war der Boulevard voller Autos, da war ein Herrenbekleidungsgeschäft, das Anzüge in allen möglichen Farben verkaufte, eine Reihe von Spirituosenhandlungen, ein Schreibwarenladen, ein Friseur, eine Bar. In einiger Entfernung fuhr ein Streifenwagen vorbei, der sie kurz mit der Lichthupe grüßte.

»Meine Frau ist in anderen Umständen«, sagte Stanhope, als beide schon eine Weile nichts mehr gesagt hatten. »Ungefähr zu Thanksgiving ist es so weit.«

»Dieses irische Mädchen?«, fragte Francis. »Hast du sie geheiratet?« Er versuchte sich zu erinnern: Waren sie damals schon verlobt gewesen, als Stanhope ihm in der Polizeiakademie von ihr erzählt hatte? Er zählte bis November – das waren nur noch vier Monate.

»Jupp«, sagte Stanhope. »Vor zwei Wochen.« Eine standesamtliche Trauung. Dinner in der 12th Street in einem französischen Restaurant, von dem er in der Zeitung gelesen hatte. Er hatte auf die Speisekarte deuten müssen, weil er nichts davon aussprechen konnte. Anne hatte mit ihrem Kleid in letzter Minute umdisponieren müssen, weil das, das sie sich ausgesucht hatte, doch schon zu eng geworden war.

»Sie will, dass uns ein Priester traut, sobald das Baby da ist. Wir konnten keinen Pfarrer auftreiben, der sich auf die Schnelle bereit erklärt hätte, nicht mal, als sie ihren Bauch gesehen haben. Anne meint, vielleicht findet sie ja einen, der Trauung und Taufe an ein und demselben Tag erledigt. Wenn’s dann so weit ist.«

»Verheiratet ist verheiratet«, meinte Francis und gratulierte ihm herzlich. Er hoffte, dass Stanhope nicht gemerkt hatte, wie Francis innerlich nachrechnete. Es war ihm ja im Grunde auch egal, es war nur so eine Angewohnheit, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Zweifellos eine Angewohnheit, die er ablegen würde, je länger er in Amerika war. Hier gingen die Leute in T-Shirt und Shorts zur Messe. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er eine Frau am Steuer eines Taxis gesehen. Die Leute liefen in Unterhosen auf dem Times Square herum.

»Willst du sie mal sehen?« Stanhope nahm seine Mütze ab. Ins Futter hatte er einen Schnappschuss von einer hübschen blonden Frau mit langem, schlankem Hals geklemmt. Daneben ein Andachtsbildchen mit dem Heiligen Michael. Und ebenfalls im Futter steckte das Foto eines jüngeren Brian Stanhope mit einem anderen Mann.

»Wer ist das?«, erkundigte sich Francis.

»Mein Bruder, George. Da sind wir im Shea-Stadion.«

Francis hatte noch nicht daran gedacht, dass auch er ein Foto in seine Mütze klemmen könnte. Er hatte Lena Teobaldo am Tag seines Abschlusses an der Polizeiakademie einen Heiratsantrag gemacht, und sie hatte Ja gesagt. Jetzt stellte er sich vor, dass er bald dasselbe tun würde, dass er den Leuten erzählen würde, dass sie ein Baby erwarteten. Lena war halb Polin, halb Italienerin, und wenn er sie manchmal beobachtete – wie sie etwas in ihrer Tasche suchte oder einen Apfel schälte und wie sie dabei das Messer führte – spürte er einen Anflug von Panik, weil er sie um ein Haar nicht kennengelernt hätte. Was, wenn sie nicht nach Amerika gekommen wäre? Wenn ihre Eltern erst gar nicht nach Amerika gekommen wären? Wo sonst würden sich ein Pole und eine Italienerin zusammentun und eine Tochter wie Lena kriegen? Wenn er an dem Morgen nun nicht im Pub gewesen wäre, als sie kam, um sich zu erkundigen, ob ihre Familie einen Nebenraum für ein Fest mieten könne? Ihre Schwester ging aufs College, erzählte sie ihm. Sie hatte ein Vollstipendium bekommen, so schlau war sie.

»Kriegst du ja vielleicht auch, wenn du deinen Highschool-Abschluss gemacht hast«, meinte Francis. Da hatte sie gelacht und gesagt, den hätte sie bereits, und fürs College sei sie nicht geschaffen, aber das sei egal, denn sie möge ihre Arbeit gern. Sie hatte einen wilden Lockenkopf, und aus dem trägerlosen Oberteil, das sie trug, schauten ihre braunen Schultern hervor. Sie war in der Datenverarbeitung bei General Motors in der 5th Avenue, nur ein paar Stockwerke über FAO Schwarz. Er hatte keine Ahnung, was FAO Schwarz war, aber er war ja auch erst seit ein paar Monaten in Amerika.

»Die Leute fragen uns ständig, ob wir in der Stadt bleiben wollen«, sagte Stanhope. »Momentan wohnen wir in Queens, aber die Wohnung ist winzig.«

Francis zuckte mit den Schultern. Was jenseits der Innenstadt lag, sagte ihm nichts, aber er hatte bestimmt nicht vor, für den Rest seines Lebens in einer Mietwohnung zu leben. Er stellte sich einen Ort irgendwo auf dem Land vor. Einen Garten. Raum zum Atmen. Francis wusste nur, dass Lena und er nach der Heirat erst mal bei ihren Eltern einziehen mussten, um Geld zu sparen.

»Hast du schon mal von einer Stadt namens Gillam gehört?«, fragte Stanhope.

»Nein.«

»Ich auch nicht. Aber dieser Jaffe – Sergeant ist er glaub ich – hat gemeint, das liegt bloß dreißig Kilometer nördlich von hier, und da wohnen eine Menge Leute von uns. Er hat gesagt, da haben die Häuser alle einen großen Garten, und die Kinder fahren auf ihren Rädern rum und tragen Zeitungen aus, wie in The Brady Bunch

»Wie heißt das noch mal?«, fragte Francis.

»Gillam.«

»Gillam«, wiederholte Francis.

An der nächsten Straße verkündete Stanhope, er habe Durst, und ein Bier wäre jetzt nicht die schlechteste Idee. Francis ging nicht darauf ein. Manche von der Streife in Brownsville tranken im Dienst, aber nur, wenn sie im Wagen saßen, nicht in der Öffentlichkeit. Er war kein Feigling, aber sie hatten schließlich gerade erst angefangen. Wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten kam, waren sie beide dran.

»So ein Soda mit Eis wäre jetzt aber auch nicht schlecht«, sagte Francis.

Als sie in das Diner kamen, fühlte Francis, wie ihm die gestaute Hitze entgegenschlug, obwohl man die offene Tür mit ein paar Ziegelsteinen festgestellt hatte. Der ältere Mann hinterm Tresen trug eine Papiermütze, die sich gelb verfärbt hatte, und eine schiefe Fliege. Eine dicke schwarze Schmeißfliege summte wie wild über seinem Kopf, während er zwischen den beiden Polizisten hin und her schaute.

»Na, ist dein Soda schön kalt, Kumpel? Ist die Milch gut?«, fragte Stanhope. Seine Stimme und die Breite seiner Schultern füllten die Stille, und Francis schaute auf seine Schuhe hinunter, dann hinüber zur Glasscheibe der Auslage, die mit Sprüngen durchzogen war und nur von Klebeband zusammengehalten wurde. Es war ein guter Job, sagte er sich selbst. Ein ehrenwerter Job. Es hatte Gerüchte gegeben, dass es gar keinen 1973er-Jahrgang geben würde, weil die Stadt das Budget so stark gekürzt hatte, doch seine Klasse war gerade noch so durchgekommen.

In diesem Moment erwachten ihre Funkgeräte knisternd zum Leben. Es hatte am Morgen schon einiges Hin- und Hergeflachse gegeben, man hatte Notrufe weitergeleitet und angenommen, aber das war jetzt etwas anders. Francis drehte lauter. In einem Lebensmittelgeschäft auf dem 801 Southern Boulevard war ein Schuss gefallen, höchstwahrscheinlich ein Überfall. Francis schaute auf die Tür des Coffeeshops, den sie gerade betreten hatten. 803. Der Mann am Tresen deutete hinter sich, auf das, was auf der anderen Seite der Wand war. »Sind aus der Dominikanischen Republik«, sagte er, und die Worte blieben in der Luft hängen.

»Ich hab keinen Schuss gehört. Du?«, fragte Francis. Der Mann in der Notrufzentrale wiederholte die Meldung. Ein Zittern sprang von Francis’ Kehle auf die Hüften über, aber er tastete nach seinem Funkgerät und ging auf die Tür zu.

Francis ging voran, Stanhope blieb dicht hinter ihm. Die zwei Anfänger öffneten die Pistolenhalfter an der Hüfte, während sie auf die Tür des Geschäfts zusteuerten. »Sollten wir nicht lieber warten?«, fragte Stanhope, doch Francis ging weiter, vorbei an zwei Münztelefonen, vorbei an einem Ventilator, der hinter einem Gitter die stickige Luft verquirlte. »Polizei!«, rief er, als sie weiter in den Laden traten. Falls bei dem Überfall Kunden da gewesen waren, dann war jetzt nichts mehr von ihnen zu sehen.

»Gleeson«, sagte Stanhope und deutete mit einem Nicken auf die blutbespritzten Zigarettenschachteln hinter der Registrierkasse. Hier hatte das Herz eines Menschen ziemlich kräftig geschlagen: Blut, das eher violett als rot aussah, war bis an die wasserfleckige Decke gespritzt und hatte sich in dicken Tropfen auf dem rostigen Ventilator gesammelt. Francis warf einen raschen Blick auf den Boden hinter der Kasse, dann folgte er dem schmutzigen Weg in den dritten Gang, wo ein Mann auf der Seite lag, mit erschlafftem Gesicht und in einer wachsenden Pfütze aus erstaunlich viel Blut. Während Stanhope das Präsidium anrief, legte Francis zwei Finger in die weiche Grube unter dem Unterkiefer des Mannes. Dann streckte er den Arm des Mannes aus und legte ihm dieselben zwei Finger aufs Handgelenk.

»Es ist zu heiß für so was!«, meinte Stanhope, als er mit gerunzelter Stirn auf die Leiche hinabschaute. Er machte den Kühlschrank auf, der neben ihm stand, nahm eine Flasche Bier heraus, schlug den Kronkorken an der Regalkante ab und kippte das Getränk in sich hinein, ohne einmal abzusetzen. Francis dachte an die Stadt, die Stanhope erwähnt hatte. Keiner konnte vorhersagen, welche Wendungen das Leben nehmen würde. Man konnte nicht wirklich etwas ausprobieren, um zu sehen, ob es einem gefiel – das waren die Worte, die er gewählt hatte, als er seinem Onkel Patsy eröffnete, dass er in die Polizeiakademie eingetreten war –, denn man probiert etwas aus und probiert es aus, und dann probiert man es noch ein bisschen länger, und auf einmal … ist man es. Gerade stand er noch in einem Sumpf auf der anderen Seite des Atlantik, und im nächsten Moment war er plötzlich Polizist. In Amerika. Im übelsten Viertel der bekanntesten Stadt der Welt.

Während das Gesicht des toten Mannes langsam aschgrau wurde, dachte Francis daran, wie verzweifelt der Mann aussah, wie sein Hals gestreckt und das Kinn nach oben gereckt war, wie bei einem Ertrinkenden, der versuchte, den Kopf über Wasser zu halten. Es war erst seine zweite Leiche. Die erste, eine Wasserleiche im April, die nach dem Winter im Hafen von New York an die Oberfläche gekommen war, war als Mensch nicht mehr zu erkennen und vielleicht deswegen nicht besonders real für ihn gewesen. Der Lieutenant, der ihn mitgenommen hatte, meinte, er könne sich über die Reling übergeben, wenn nötig, aber Francis erwiderte, es gehe ihm gut. Er dachte daran, was die Christian Brothers darüber gesagt hatten: dass der Körper nur ein Gefäß sei, während der Geist das Leuchtfeuer für die Seele sei. Diese erste Leiche, ein vollgesogenes Stück Fleisch, das sie tropfend an Bord hievten, hatte sich schon von ihrer Seele getrennt, bevor Francis sie zum ersten Mal sah, aber bei diesem hier konnte Francis geradezu zuschauen, wie sie ihn allmählich verließ. In seiner alten Heimat hätte jemand ein Fenster geöffnet, um den Geist des Mannes fliegen zu lassen, aber für die Seelen, die man hier in der South Bronx freiließ, erschöpfte sich die Freiheit darin, zwischen vier Wänden hin und her zu prallen, bis sie erschöpft in der Hitze dahinwelkten und vergessen waren.

»Mach die Tür mal ganz auf, hörst du?«, rief Francis. »Ich krieg ja kaum Luft hier drin.«

Dann hörte Francis etwas anderes und erstarrte. Er legte eine Hand auf seine Waffe.

Stanhope schaute ihn mit großen Augen an. Da war es wieder – das flüsterleise Geräusch eines Turnschuhs auf Linoleum, es lauschte ihnen, während Francis zurücklauschte, drei menschliche Herzen klopften in ihren Käfigen, ein weiteres Herz schwieg.

»Nehmen Sie die Hände hoch und kommen Sie heraus!«, rief Francis, und dann sahen sie ihn plötzlich beide: einen großen, schlaksigen Teenager mit weißem Unterhemd, weißen Shorts, weißen Turnschuhen, der sich in dem schmalen Spalt zwischen der Kühlauslage und der Wand versteckt hatte.

*

Eine Stunde später hielt Francis die Hände des Jungen fest, tunkte jeden Finger gründlich in die Tinte und dann auf die Karte, vier Finger und dann den Daumen. Erst die Linke, dann die Rechte, und dann wieder die Linke, drei Karten waren es insgesamt – je einmal fürs Register der Stadt, des Bundesstaats, und fürs nationale Register. Nach der ersten Karte stellte sich ein gewisser Rhythmus ein, wie bei einem altertümlichen Tanz: fassen, rollen, loslassen. Die Hände des Jungen waren warm, aber trocken, und wenn er nervös war, sah Francis es ihm zumindest nicht an. Stanhope schrieb bereits seinen Bericht. Der Obsthändler war gestorben, lange bevor der Notarzt eintraf, und hier war der Mörder, mit Händen, die so weich waren wie die eines Kindes, mit gepflegten, sauberen Fingernägeln. Die Hände des Jungen waren locker, biegsam. Als sie bei der dritten Karte waren, wusste der Junge, was er zu tun hatte, und begann mitzuhelfen.

Später, als alle Formulare ausgefüllt waren, sagten die älteren Polizisten, dass es üblich sei, einem Mann nach seiner ersten Festnahme in der Kneipe ein paar Runden auszugeben. Die Festnahme wurde Francis angerechnet, aber sie nahmen auch Stanhope mit und spendierten ein Bier nach dem anderen, während er jedes Mal eine neue Version der Geschichte erzählte. Der Junge war vorgetreten und hatte sie bedroht. Das Blut tropfte von allen Wänden. Stanhope hatte den Ausgang blockiert, während Francis den Übeltäter zu Boden rang.

»Dein Partner«, meinte einer der älteren Polizisten zu Francis, »ist ja ganz schön kreativ.«

Stanhope und Francis tauschten einen Blick. Waren sie Partner?

»Ihr seid Partner, bis der Captain euch was anderes sagt«, erklärte der ältere Polizist.

Der Koch kam aus der Küche, mit Platten, auf denen sich die Burger stapelten, und erklärte, die gingen aufs Haus.

»Gehst du schon nach Hause?«, wollte Stanhope kurz darauf von Francis wissen.

»Ja, und das solltest du auch. Geh nach Hause zu deiner schwangeren Frau«, sagte Francis.

»Seine schwangere Frau ist ja gerade der Grund, warum er wegbleibt«, witzelte einer der anderen.

*

Es dauerte eine Stunde und fünfzehn Minuten mit der U-Bahn, bis man wieder in Bay Ridge war. Sobald Francis nach Hause kam, zog er sich aus bis auf die Boxershorts und kletterte in das Bett, das Onkel Patsy für ihn ins Wohnzimmer gequetscht hatte. Jemand hatte die Mutter des Jungen angerufen. Jemand anders hatte ihn zu den Zellen gefahren. Er sagte, er habe Durst, woraufhin ihm Francis eine Cola aus dem Automaten zog. Der Junge schüttete das Getränk herunter und fragte dann, ob er die Dose mit Leitungswasser auffüllen dürfe. Francis ging in die Toiletten und füllte sie ihm auf.

»Warum machst du das für ihn, du Trottel«, sagte einer der Männer in Zivil. Er musste ihre Namen erst noch lernen. Wer weiß? Vielleicht hatte der Händler dem Jungen ja was getan. Vielleicht hatte er ja verdient, was er bekommen hatte.

Patsy war irgendwo unterwegs. Francis rief Lena an und betete, dass sie selbst abnahm, damit er nicht erst mit ihrer Mutter reden musste.

»Ist heute was passiert?«, fragte sie, nachdem sie eine Weile geplaudert hatten. »Normalerweise rufst du doch nicht so spät an.« Francis schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es Mitternacht war. Die Formulare und das Bier hatten länger gedauert als gedacht.

»Tut mir leid. Schlaf weiter.«

Sie war so lange still, dass er dachte, sie wäre tatsächlich eingeschlafen.

»Hast du Angst gehabt?«, fragte sie. »Du musst es mir erzählen.«

»Nein«, sagte er. Und er hatte ja auch keine Angst gehabt, zumindest hatte er nicht das empfunden, was er unter Angst verstand.

»Was dann?«

»Ich weiß nicht.«

»Versuch, es nicht so an dich ranzulassen, Francis«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gehört. »Wir haben Pläne, du und ich.«

GILLAM