Kate Davies
Love Addict
Roman
Roman
Aus dem Englischen von
Britt Somann-Jung
FISCHER E-Books
Kate Davies
Kate Davies ist in London geboren und aufgewachsen. Bevor sie Schriftstellerin wurde, studierte sie Englische Literatur in Oxford und schrieb und lektorierte Kinderbücher. Sie ist außerdem Drehbuchautorin und hatte eine kurze Karriere als Burlesque-Tänzerin, die ein abruptes Ende fand, als Kate, als Bingo-Ball verkleidet, in einem konservativen Londonder Pub von der Bühne gepfiffen wurde. Kate Davies ist Mitbegründerin der LGBTQ+-Initiative »Pride in Publishing«. Sie lebt mit ihrer Frau in London. »Love Addict« ist ihr erster Roman.
Britt Somann-Jung
Britt Somann-Jung ist Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Neben Elizabeth Gilberts »City of Girls« übersetzte sie zuletzt Werke von Ta-Nehisi Coates, Heidi Julavits und Matt Sumell. Ihre Übertragung des Romans »In guten wie in schlechten Tagen« von Tayari Jones wurde 2019 mit einem der Hamburger Literaturpreise ausgezeichnet.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Julia lebt mit ihrer besten Freundin Alice in London, ist gelangweilt von ihrem Bürojob und hat grauenvolle Dates mit Männern. Nachdem ein One-Night-Stand sie beschuldigt, seinen Penis kaputt gemacht zu haben, schwört Julia dem Sex endgültig ab. Doch dann begegnet sie der charismatischen Sam. An der Seite der polygamen Künstlerin erkundet Julia Londons SM-Szene und hat endlich das Gefühl, am Leben zu sein. Doch Julias neu gewonnene Freiheit beginnt sich bald verdächtig nach Gefangenschaft anzufühlen.
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »In At the Deep End« bei The Borough Press
© Kate Davies 2019
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,
D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Sonja Deffner, Bureau Tropik
Coverabbildung: mauritius images / Image Source
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491062-8
To my one true Spud
Eines Samstagmorgens im Januar führte Alice mir vor Augen, dass ich ganze drei Jahre lang mit niemandem im Bett gewesen war. Mir war durchaus klar, dass ich eine Durststrecke durchmachte – ich brauchte ständig neue Vibratorbatterien, und ein paar Tage zuvor hatte ich Penis gegoogelt, um mal wieder einen zu sehen –, aber das ganze Ausmaß der sexlosen Zeit war mir bis dahin nicht bewusst gewesen.
Was noch dazukam: Als ich das letzte Mal mit jemandem geschlafen hatte, war es nicht wirklich der Rede wert gewesen. Ich trieb es mit einem einundzwanzigjährigen Lektoratsassistenten aus Alices Büro mit ungewöhnlich hoher Stirn, und es passierte nach einer furchtbaren Party bei uns zu Hause, wegen der die ganze Wohnung nach Pastis stank. Ich wollte ihn mit in mein Zimmer nehmen, aber da war schon ein Pärchen voll bekleidet auf der Bettdecke zugange, also verlegten wir uns auf das Kunstledersofa im Wohnzimmer. Ich blieb immer wieder daran kleben, und Schweiß sammelte sich in der Kuhle unter meinem Rücken. Ich glaube, er hatte vorher noch nie mit jemandem geschlafen, deshalb geriet das Ganze zu einem eher ungelenken Gerammel, und hinterher hat er geweint und mich zu lange umarmt. Immer wieder muss ich schlagartig daran denken – ich steige vielleicht gerade in den Bus ein oder wasche mir die Haare oder sitze auf einem besonders knatschigen Sofa, und mit einem Mal sehe ich sein verkniffenes rotes Gesicht oder seine verschwitzten Schamhaare vor mir und zucke unwillkürlich zusammen. Da würde doch jeder für, sagen wir mal, drei Jahre die Lust auf Sex verlieren.
Ehrlich gesagt war mir Sex als Idee immer lieber gewesen als die Sache selbst. In meiner Vorstellung war ich experimentierfreudig, selbstbewusst, ungehemmt, jemand, der in Schultern beißt und Wörter wie »Möse« benutzt. Ich konnte in den schmutzigsten Begriffen an Sex denken und offen mit meinen Freunden darüber reden – aber wenn es darum ging, es tatsächlich zu tun oder mit jemandem darüber zu reden, mit dem etwas laufen könnte, machte ich dicht. Es fiel mir schwer, mich selbst als sexy wahrzunehmen, wenn ich mit jemandem zusammen war. Es fiel mir schwer, ungerührt sexy Sachen zu sagen. Es kam mir immer wie eine Pose vor, albern, zu weit weg von der Person, die ich sonst war, als würde ich in einem Pornofilm mitspielen und meine Sache auch noch schlecht machen. Ich konnte nicht mal überzeugend flirten, jedenfalls nicht, wenn ich nüchtern war. Das erklärt vielleicht ein bisschen, warum es so lange her war, dass ich mit jemandem gevögelt hatte.
Bei Alice und Dave hingegen gab es Sex. Überraschend viel sogar, wenn man bedachte, dass sie schon seit fünf Jahren zusammen waren. Am Freitagabend vor jenem Samstagmorgen saß ich allein im Wohnzimmer und versuchte, die Sexgeräusche aus ihrem Schlafzimmer zu ignorieren. Unsere Wohnung hatte unglaublich dünne Wände, weshalb es mir fast so vorkam, als wäre ich dabei. Wie kann etwas, das so viel Spaß macht, wenn man es selbst tut (vielleicht nicht immer – siehe schwitziger Sofa-Sex), so abstoßend sein, wenn man unfreiwillig zuhört? Ich hatte nichts dagegen, mit einem Paar zusammenzuwohnen; das senkte die Miete. Außerdem besaß Dave mehrere Ottolenghi-Kochbücher und einige sehr geschmackvolle Mid-Century-Möbel, so dass wir besser aßen und stylisher eingerichtet waren, als es ohne ihn der Fall gewesen wäre. Aber von den Sexgeräuschen hatte ich echt genug.
Am nächsten Morgen hörte ich, wie Alice Dave zur Tür brachte. Sie flüsterten anzüglich miteinander und küssten sich hörbar feucht. Ich saß auf meinem Bett, knibbelte an der trockenen Haut meiner Finger und ging meine Rede im Kopf noch einmal durch.
Alice kam, ohne zu klopfen, in mein Zimmer; das machen Leute so, wenn das Risiko gering ist, dass man gerade vögelt. Sie setzte sich zu mir, mit verwuscheltem Haar und einem postkoitalen Lächeln auf den Lippen. »Hast du Lust auf Brunch?«, fragte sie. »Ich bin am Verhungern.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte ich, was nicht der Einstieg war, den ich im Sinn gehabt hatte.
»Was?«
»Nichts.«
»Warum überrascht dich das nicht? Was meinst du damit?«
»Na ja … es klang so, als hättet ihr euch heute Nacht gut amüsiert.«
»Du hast uns beim Sex belauscht?«
»Ich habe euch nicht belauscht. Ich hab’s gehört. Ich hatte keine Wahl.«
»So laut waren wir doch gar nicht«, sagte Alice, als wollte sie von mir eine Bestätigung hören.
»Du hast ihn gebeten, dir –«
»Mir was?«
Ich sah weg. »Du weißt, worum du ihn gebeten hast.«
»Woher soll ich das wissen, wenn du es nicht sagst?«
»Schön. Du hast ihn gebeten, dir einen Finger in den Arsch zu stecken.«
»Julia!«
»Das waren deine Worte!«
»Das war privat!«
»Dann seid leiser!«
Alices Wangen glühten. Wir schwiegen peinlich berührt.
»Hast du uns wirklich gehört?«
»Ja! Ich höre euch immer!«
»Du kannst uns nicht immer hören. Wir schlafen gar nicht mehr so oft miteinander …«
»Dreimal die Woche ist nicht oft?«
»Nicht für uns.«
»Aha. Schön für euch.«
Wieder Schweigen.
»Es würde dir nicht so viel ausmachen, wenn du auch einen Freund hättest.«
»Ich will keinen Freund, vielen Dank.«
»Dann eben Sex …«
»Ich habe Sex.«
»Nein, hast du nicht«, sagte sie. Und dann kam sie mir mit den drei Jahren.
Danach legte ich mich wieder ins Bett und blieb den Rest des Tages dort, aß Käse und versuchte, mich zu erinnern, was Sex war. Ich hatte noch nie richtig, richtig guten Sex erlebt, von der Sorte, die zu Geräuschen führte, wie Alice und Dave sie machten. Oralsex fühlte sich immer ein bisschen so an, als würde mir jemand den Intimbereich mit einem nassen Waschlappen abwischen, und wenn ein Mann auf mir lag, bekam ich ein bisschen Platzangst.
Sex war mir bisher einfach nie besonders wichtig gewesen. Als Teenager war ich zu besessen davon, Tänzerin zu werden, als dass ich mir Gedanken um eine Beziehung gemacht hätte. Wobei ich nach meinem ersten Jahr an der Ballettschule immerhin meine Jungfräulichkeit verlor; meine Freundin Cat nahm mich mit nach Jamaika zu ihren Großeltern, und dort am Strand erlebte ich mein erstes Mal mit einem Jungen namens Derrick, der furchtbare Akne und billigen Rum mitbrachte, der den Sex erst möglich machte. Wir benutzten kein Kondom; die schreckliche Angst vor einer Schwangerschaft und die Schwierigkeiten, die Pille danach aufzutreiben, ohne dass Cats Großeltern etwas merkten, verdarben mir für Jahre die Lust auf Sex. Daiquiris kann ich immer noch nicht trinken. Aber ich war froh, es hinter mir zu haben – ich hatte den Mädchen in meinem Jahrgang etwas voraus und genoss es, weise zu brummen: »Macht es nicht wie ich. Wartet, bis ihr so weit seid«, wann immer bei Übernachtungspartys das Gespräch auf Sex kam.
Dann kam Leon. Ich begegnete ihm bei einer Erstsemester-Toga-Party in Warwick. Er machte ziemlich was her in seinem weißen Laken; erst später stellte ich fest, dass er jeden Tag Cordhosen trug. Trotzdem blieben wir zusammen, bis er mich direkt nach unserem Abschluss abservierte, weil er »um die Welt reisen« und »ungebunden« sein wollte. Drei Monate später zog er nach Peckham und begann ein Traineeprogramm bei einer Unternehmensberatung.
Leon und ich hatten anfangs durchaus Spaß im Bett gehabt – wir machten es in umgekehrter Reitstellung, stehend in der Dusche, so was eben –, aber gegen Ende unserer Beziehung kam er nur noch in Stimmung, wenn auf Spotify die »Late Night Love«-Playlist lief, und ich wusste immer genau, an welcher Stelle eines Songs seine Hände wo sein würden – es war ein bisschen wie obszöner Line Dance in der Waagerechten. Der langweilige Sex tat uns beiden nicht gut, so in Sachen Selbstwertgefühl. Nachdem wir uns getrennt hatten, beschloss ich, eine kleine Sexpause einzulegen, und je länger sie dauerte, desto furchterregender wurde der Gedanke an Sex, so als müsste ich einen riesigen, fleischlichen Rubikon überschreiten. Es kam zu ein paar betrunkenen One-Night-Stands – einschließlich dem Sofa-Sex –, aber meistens schien es viel vernünftiger und weniger demütigend, alleine nach Hause zu gehen; das gab auch kein vom Knutschen wundes Kinn.
Ich befriedigte mich allerdings selbst – ich besaß zwei zuverlässige Vibratoren, einen Rampant Rabbit und einen kleinen patronenförmigen, den ich mit in den Urlaub nahm. Das Einzige, was mir fehlte, war jemand, der meine Brüste packte. Ich versuchte es manchmal selbst, aber es war einfach nicht dasselbe.
Am Mittwoch machte Dave uns Roastbeef. Während er kochte, saß ich auf dem Sofa und stellte mir vor, ihn zu vögeln – etwas, das ich noch nie getan hatte, Ehrenwort –, und mein Herz schlug ein bisschen schneller. Dave ist objektiv betrachtet ein sehr gutaussehender Mann, trotz seines mächtigen Barts. Ich starrte wie gebannt auf diesen Bart, fragte mich, ob er beim Oralsex im Weg war, und betrachtete seine Fingerknöchel, malte mir aus, wie sie sich in mir anfühlten. Danach konnte ich ihm eine Weile nicht mehr in die Augen sehen. Ich wollte Daves Finger eigentlich nicht in mir spüren, wirklich nicht. Aber ich wollte etwas in mir spüren. Etwas Lebendiges, Warmes, das sich bewegte und nicht aus pinkem Latex war.
Beim Abendessen war ich verkrampfter als sonst, kein Wunder. Dave übernahm es, Konversation zu machen, fragte mich mit seinem entzückenden nordenglischen Akzent über meine Arbeit aus und tat so, als würden ihn meine Antworten tatsächlich interessieren, obwohl ich im Ministerium für Gesundheit und Soziales tätig war, wo ich Anfragen von Bürgern zu Pflegefamilien, Wartezeiten für medizinische Behandlungen und anderen unangenehmen Dingen beantwortete, während er als Graphikdesigner arbeitete, was sowohl cooler als auch weniger deprimierend war.
Er reichte mir den Meerrettich und fragte: »Und, waren diese Woche ein paar gute Briefe dabei?«
In der Regel schreiben die Menschen der Regierung keine Briefe, es sei denn, sie sind sehr wütend und sehr alt. Aber es gibt Ausnahmen.
»Es kam wieder einer von Eric«, sagte ich.
»Dem Veteranen der Bomberflotte?«
Ich nickte. »Er regt sich über die Kürzungen bei der Pflege auf.«
»War das nicht schon letzten Monat sein Thema?«, fragte Alice mit vollem Mund.
»Letzten Monat ging es um die Qualität von Krankenhausessen.«
»Alt werden ist schon scheiße, was?«, sagte Dave, aber sein Blick klebte an Alice, und sie spielten offensichtlich unter dem Tisch mit ihren Füßen. Ich starrte auf meinen Teller und konzentrierte mich auf die Dampfkringel, die von meinen Kartoffeln aufstiegen, aber das Füßeln ging weiter.
Das Fußgefummel wurde unterbrochen, als Alice den Tisch abräumte und den Nachtisch (Ben & Jerry’s) servierte, aber dann nahmen sie es wieder auf und verdarben mir den Appetit auf Eis – was gar nicht so leicht ist. Ich schlang es so schnell wie möglich herunter und schob meinen Stuhl zurück.
»Danke fürs Kochen, Dave«, sagte ich.
»Kein Problem«, sagte er mit einem Lächeln, das Alice galt.
Alice sah auf. »Bleib doch noch und chill mit uns«, sagte sie. »Heute Abend kommt irgendwas mit Benedict Cumberbatch.«
»Ich steh nicht so auf Cumberbatch«, sagte ich. »Und außerdem habe ich Kopfschmerzen.«
Ich ging in mein Zimmer und stellte den Fernseher an. Ich probierte es mit einer Kochsendung, aber Alice und Dave knutschten bald so geräuschvoll, dass ich sie über den lauten Moderator hinweg hören konnte. Also öffnete ich meinen Laptop, setzte die Kopfhörer auf, stellte den Browser auf privates Surfen und suchte echte Paare auf Pornhub.
Es hat etwas Tröstliches, normalen Leuten beim Sex zuzusehen; ich denke dann immer, ich würde es besser hinbekommen. Darum geht es bei Pornos vielleicht nicht, aber das ist mir egal – ihre Inkompetenz törnt mich an. Ich klickte auf ein Video und sah einen dünnen, blassen Mann seine wackelige Kamera einstellen und zum Bett gehen, auf dem eine übergewichtige Frau auf ihn wartete. Ich zog mir die Hose runter und fing an zu masturbieren, während der blasse Mann unrhythmisch gegen seine Partnerin klatschte. Nimm dies, Patriarchat: Ich werde mir in ungefähr zwei Minuten einen unfassbaren Orgasmus verschaffen, weil ich genau weiß, welche Knöpfe ich drücken muss – ich brauche keinen Mann, der das für mich macht.
Aber als es vorbei war, fühlte ich mich leer und sehnte mich verzweifelt danach, noch einmal zu kommen. Das Video endete, und eine Anzeige für Heiße Schlampen in deiner Nähe ploppte auf. Ich zuckte zusammen und versuchte, sie zu schließen, aber versehentlich klickte ich auf die Anzeige, und mein Bildschirm wurde von einer Frau mit riesigen, kugelrunden Brüsten ausgefüllt, die stöhnte und sich die Nippel rieb. Ich versuchte, sie wegzuklicken, aber es hatten sich schon Hunderte weiterer Fenster geöffnet, lauter heiße Blondinen, schmutzige Russinnen und verruchte Teens, ein endloses Spiegelkabinett. Sie anzusehen machte mich an, und dadurch fühlte ich mich völlig verkommen, also knallte ich den Laptop zu und umarmte mein Kissen. Es erwiderte die Umarmung nicht.
Ich erzählte Nicky von meiner unbefriedigenden Selbstbefriedigung. Darüber zu reden war ein bisschen peinlich; es war erst meine dritte Sitzung, und ich fühlte mich bei ihr noch nicht richtig wohl. Ich fühlte mich mit der ganzen Idee, in Therapie zu sein, noch nicht richtig wohl; ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mit 26 eine Therapeutin haben würde, auch wenn sie noch halbe Amateurin war. Eine Therapeutin schien eher etwas für glamouröse New Yorker zu sein, Leute, die sich Oliven von Dean & DeLuca leisten konnten und Sachen sagten wie: »Meine Gyn hat mir geraten, weniger Weizen zu essen.« Dazu gekommen war es so: Ich litt unter einem ständigen diffusen Angstgefühl, vergleichbar der Sorge, dass ich den Herd angelassen haben könnte, nur dauerhaft. Dann hatte ich eines Tages bei einer Teamsitzung zum Thema Briefköpfe eine Panikattacke, wahrscheinlich ausgelöst von der Erkenntnis, dass mein Job Teamsitzungen zum Thema Briefköpfe mit sich brachte. Niemand bemerkte etwas – es war eine sehr dezente Panikattacke –, aber am Abend desselben Tages brach ich bei Sainsbury’s mitten im Gang mit der Tiefkühlkost in Tränen aus, in der Hand eine Packung Fischfrikadellen. Also ging ich zum Arzt.
»Würden Sie sagen, dass Sie in einem Zeitraum von sechs Monaten an den meisten Tagen übermäßig beunruhigt waren?«, fragte die Ärztin mit Blick auf eine Checkliste.
»Ich weiß nicht, ob ich übermäßig beunruhigt sagen würde.«
»Was beunruhigt Sie denn?«
»Einfach … irgendwie alles.«
»Das ist wahrscheinlich übermäßig.« Sie lächelte mich an. »Glauben Sie, dass die Welt von Natur aus eher gut oder eher böse ist?«
»Eindeutig gut«, sagte ich erfreut, weil ich wusste, dass das die richtige Antwort war.
»Und Sie haben nicht daran gedacht, sich etwas anzutun? Sie hegen keine Selbstmordgedanken?«
»Nie.«
»Haben Sie das Gefühl, den Alltag nicht bewältigen zu können?«
»Nein.«
»Fällt es Ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen?«
»Eigentlich nicht.«
»Weinen Sie oft ohne konkreten Anlass?«
»Nein. Ich meine … ich weine schon relativ viel, aber meistens habe ich einen Grund.«
»Okay«, sagte die Ärztin. »Sie haben wahrscheinlich keine klinische Depression.«
»Hurra!«, sagte ich und jubelte mir selbst zu.
Die Ärztin lächelte wieder … ein langmütiges Lächeln, wie ich jetzt weiß. »Sie scheinen unter etwas zu leiden, das wir generalisierte Angststörung nennen.«
Es war aufregend, eine richtige Störung zu haben.
»Ich werde Ihnen eine Überweisung für eine Gesprächstherapie ausstellen«, sagte sie. »Aber es empfiehlt sich vermutlich, die privat zu bezahlen … die Wartezeit beträgt sonst neun Monate.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Beim Ministerium für Gesundheit und Soziales gehen deshalb viele Beschwerden ein.«
Ich fühlte mich so ruhig wie seit Jahren nicht. Ich ging nach Hause und googelte preiswerte Therapie Nordlondon Angststörung, und Nickys Name tauchte auf. Sie war noch in der Ausbildung, weshalb ich sie mir leisten konnte, und sie hatte eine sehr untherapeutische Art, ihre sehr entschiedenen Ansichten zu allem und jedem kundzutun. Als ich ihr von der Angststörung erzählte und davon, dass ich mich halt- und orientierungslos fühlte, sagte sie, das sei auch kein Wunder und mein Job klinge so stupide, dass man ihn »Menschen mit Schlafstörungen verschreiben« könne.
Wie auch immer, ich erzählte Nicky von der Selbstbefriedigung. Ich spürte mich tiefer und tiefer in den Sessel sinken, während ich redete, als würde er vor mir zurückweichen. Sie wich allerdings nicht zurück. Sie wollte alles wissen.
»Wie sah das Paar aus?«
»Ist das wichtig?«
»Das weiß ich nicht, solange Sie es mir nicht erzählen.«
»Sie war übergewichtig und schwarz. Er war schmächtig und weiß.«
»Aha.« Sie nickte auf Therapeuten-Art.
»Was?«
»Nichts.« Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch und unterstrich es mehrmals.
»Denken Sie oft an Alice, wenn Sie masturbieren?«
»Ich habe nicht an sie gedacht!«
»Aber Sie sagten, Sie hätten aus Ärger masturbiert.«
»Ich war sauer, weil sie so laut rumgemacht haben, das war alles.«
»Weil Sie nicht rummachen?« Sie sah mich ohne zu blinzeln an.
»Hören Sie, ich verdränge nichts, okay? Ich würde ja rummachen, wenn jemand zur Verfügung stände, aber das war in den letzten Jahren nicht der Fall.«
»Sie warten also darauf, dass Ihnen jemand Sex auf dem Silbertablett serviert?«
»Nun, nein –«
»So hört es sich für mich an. Mit Ihrem Beruf ist es das Gleiche. Sie haben beschlossen, sich zurückzulehnen und in dieser befristeten Sackgasse zu verharren –«
»Ich arbeite nicht befristet, sondern über eine Zeitarbeitsfirma. Vielleicht bewerbe ich mich dieses Jahr für das Ausbildungsprogramm des höheren Dienstes.«
»Warum haben Sie das nicht schon letztes Jahr gemacht?«
Ich hatte mich nicht beworben, weil ich Menschen auf Partys, die wissen wollen, was ich mache, dann sagen müsste: »Ich bin Beamtin«, und dann würde ich jede Menge Fragen über die Finanzierung des Gesundheitssystems beantworten und meine Haltung zur Regierung erklären müssen. Ich hasse es, wenn Leute fragen: »Was machst du beruflich?« Das geht vermutlich allen so, selbst wenn sie antworten können: »Ich schreibe Romane« oder: »Ich bin Chirurgin mit Spezialgebiet Babyhände«, denn auch dann wird irgendjemand fragen: »Könntest du mein Buch deiner Agentin zeigen?« oder: »Kannst du dir mal die Beule an meinem Finger ansehen?« Ich vermisste es, sagen zu können: »Ich bin Tänzerin.«
Ich blickte zu Boden. Auf dem Teppich war ein Fleck – möglicherweise Ketchup.
»Sie werden sich für Ihre Karriere anstrengen müssen«, sagte Nicky. »Das Gleiche gilt für Ihr Liebesleben. Sie wagen sich nicht aus der Deckung.«
»Ich werde nicht nach einer Beziehung suchen. Ich brauche keine, um mich komplett zu fühlen. Ich bin unabhängig.«
Sie legte ihr Notizbuch hin. »Sind Sie das wirklich?«, fragte sie. »Oder sind Sie nur sehr, sehr traurig?«
Ich schwieg würdevoll.
»Es ist nicht schlimm zu weinen«, sagte sie.
»So traurig bin ich gar nicht«, sagte ich.
»Lassen Sie es raus.«
»Ich weine nicht«, sagte ich, was nicht ganz stimmte.
Triumphierend reichte sie mir die Kleenex-Schachtel.
Auf dem Weg nach Hause rief ich Cat an. Ich wollte nicht allein mit meinen Gedanken sein, und ich konnte mich immer darauf verlassen, dass Cat irgendeine Anekdote über ihre furchtbare Karriere zu erzählen hatte, die meine Probleme relativierte.
»Hast du Lust, was zu trinken?«, fragte ich, als sie abnahm.
»Schön wär’s«, sagte sie. »Ich bin in Birmingham. Mit der Entwicklungsgeschichte des Frosches.« Sie klang etwas außer Atem. Wahrscheinlich hatte sie es auch gerade wild getrieben.
»Wann kommst du zurück?«, fragte ich, während ich eine Pfütze umkurvte.
»Das dauert noch«, sagte sie. »Wir touren durchs ganze Land.«
»Ooh!«
»Durch die Grundschulen.«
»Oh.«
»Wahrscheinlich bekomme ich wieder Läuse. Oder Borkenflechte.«
Cat hatte nach der Schule keine Anstellung als Tänzerin gefunden – jede Gruppe, bei der sie vortanzte, erklärte: »Du passt vom Typ her nicht«, was der legale Weg war zu sagen: »Du bist schwarz.« Aber statt es so zu machen wie ich, als meine Tanzkarriere ihr Ende fand – wieder bei meinen Eltern einzuziehen und allen Auftritten abzuschwören, außer um bei Karaoke-Abenden meine Spezialversion von »I Wanna Dance with Somebody« zum Besten zu geben –, schulte sie auf Schauspielerin um. Jetzt verdiente sie ihr Geld hauptsächlich mit Theateraufführungen in Schulen, wo sie Rollen wie »der Frosch« und »die Plastikflasche, die nicht zerfällt« und »der Eisbär, dem zu warm wurde« übernahm. Ich glaube, wir blieben uns nah, weil wir unsere anderen Freunde von der Ballettschule nicht ertragen konnten, mit ihren Instagram-Posts à la OMG Ich wurde gerade vom Birmingham Royal Ballet für Schwanensee engagiert! #selig. Doch manchmal beneidete ich Cat. Sie durfte immerhin noch in Applaus baden, auch wenn die Menschen, die ihr applaudierten, sich manchmal an den Haaren zogen und vor die Tür geschickt werden mussten.
»Lacey spielt den Froschlaich«, fuhr Cat fort, »und sie hört nicht auf, darüber zu reden, dass sie ein Musical über Menstruation schreibt.«
»Ich wette, das wird ein Hit«, sagte ich.
»Bestimmt, oder? O Gott …«
Am anderen Ende war ein gedämpftes Dehngeräusch zu hören.
»Ziehst du gerade dein Kaulquappenkostüm aus?«, fragte ich. »Los, sing noch mal das Kaulquappenlied.«
»Diesmal bin ich der Frosch. Der Scheißanzug ist eine Nummer zu klein.«
»Du wurdest befördert!«
»Sehr witzig«, sagte Cat. »Eins der Kinder kam heute zu mir und sagte: ›Du bist kein echter Frosch. Du bist zu groß.‹ Ich schwöre dir, die Sechsjährigen werden auch immer dümmer.« Mehr Dehnen und Schlurfen und dann ein angestrengtes Grunzen. »So, ich hab’s runter.«
»Also bist du jetzt nackt.«
»Jep. Das ist im Grunde Telefonsex«, sagte sie.
»So nah war ich einem Fick seit drei Jahren nicht.« Ich klopfte mir mental auf die Schulter. Wenigstens konnte ich noch Witze darüber reißen.
»Und ich dachte, ich wär arm dran«, sagte Cat. »Lacey vögelt schon die ganze Tour mit Steve, der neuen Kaulquappe, und ich fühle mich wie das fünfte Rad am Wagen.«
»Sei froh, dass du aus der Nummer raus bist«, sagte ich. »Kaulquappen, die es mit Froschlaich treiben – das ist echt krank. Fast wie Inzest.« Ich klemmte mir das Telefon unters Kinn und schloss die Tür auf.
»Wie geht es dir denn? Was macht die Arbeit?«, fragte Cat.
»Zu öde, um drüber zu reden.«
»Du brauchst irgendein kreatives Ventil.«
»Nein, danke«, sagte ich. Ich wollte nur fernsehen, ohne Leuten beim Sex zuhören zu müssen. Ich setzte mich noch im Mantel aufs Sofa und fischte unter den Kissen nach der Fernbedienung. Das perfekte Dinner lief gerade, und Alice und Dave waren nicht zu Hause. Es versprach, ein schöner Abend zu werden.
Am nächsten Tag kam ich ein bisschen zu spät zur Arbeit, deshalb war mein üblicher Schreibtisch schon belegt. Über das graue Niemandsland aus Tischen und Stühlen hinweg winkte ich Owen zu, mit dem ich normalerweise zusammensaß. Ich spürte, wie die anderen mich aus den Schützengräben anstarrten, also kauerte ich mich auf den nächstbesten Stuhl und landete neben Stan, einem der Pressereferenten. Normalerweise meide ich Stan, weil er laut atmet und den ganzen Tags Chips isst. Eine wenig sozialverträgliche Kombination. An diesem Morgen hatte er sich für Salt & Vinegar entschieden statt für Cheese & Onion, was ein Segen war.
Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, die neuen E-Mails und Briefe im System zu erfassen – mir ging immer noch die Sitzung mit Nicky durch den Kopf –, deshalb holte ich den letzten Brief von Eric, dem Bomberflottenveteranen, wieder hervor, der mit zittrigem blauem Kuli auf dünnem vergilbtem Linienpapier verfasst war, und machte mich an eine Antwort.
Briefe an die Regierung sollen nicht mit Standardschreiben beantwortet werden – vielmehr soll man jeden Absender individuell behandeln. Es gibt Leitfäden dafür, wie man eine Baronin anredet (»Baronin Jones«, nicht »Lady Jones«; es ist wichtig, Baroninnen von Frauen zu unterscheiden, die Ladys wurden, als ihre Ehemänner zum Ritter und somit zum Sir wurden) und wie man Einladungen an Ministerinnen ausschlägt (»Bedauerlicherweise unterliegt ihr Terminkalender solch hohen Anforderungen, dass sie leider absagen muss«). Manchmal legt man der Ministerin einen Brief zur Unterschrift vor. Manchmal, wenn ein Brief nicht direkt an die Ministerin gerichtet ist, unterschreibt man selbst. Manche Leute schreiben wieder und wieder, so dass man im Korrespondenzteam bisweilen den Eindruck bekommt, man hätte lauter selbstgerechte Brieffreunde. Eric, der Bomberflottenveteran, war allerdings nicht selbstgerecht.
Das Pflegepersonal steht unter solchem Druck, dass es nicht mehr so viel Zeit mit uns verbringen kann wie früher. Die Kürzungen bei der Pflege sind wirklich eine Schande. Ältere Menschen sind ein leichtes Opfer, denn sobald wir ein bestimmtes Alter erreicht haben, werden wir versteckt und den Blicken entzogen.
Die meisten alten Mädchen in meinem Pflegeheim bekommen überhaupt keinen Besuch. Das bricht mir das Herz. Ich habe Glück – ich habe eine Tochter, die mich zweimal in der Woche besuchen kommt. Sie ist ein guter Mensch. Aber alt zu werden ist eine einsame Angelegenheit. Ich vermisse Eve, meine Frau, mehr, als ich Ihnen sagen kann. Sie ist vor vier Jahren verstorben. Habe ich Ihnen schon von ihr erzählt?
Der liebe Eric. Er erinnerte mich an meinen Opa, der mir jeden Tag fehlte. Während des Studiums hatte er mir einmal im Monat oder so in seiner wackeligen, altmodischen Handschrift geschrieben, mir von seinem Kleingarten und seinen Katzen erzählt und einen Zehn-Pfund-Schein beigelegt. Meistens war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, mich zu betrinken, und hatte nicht geantwortet. Deshalb widmete ich meinen Briefen an Eric besondere Aufmerksamkeit. Ich tippte die üblichen Zeilen über schwierige Entscheidungen und Sparzwänge hin, und dann bat ich ihn, mir von seiner Frau zu erzählen, denn ich wusste, was es bedeutete, einsam zu sein. Ich ertappte mich bei dem Gedanken: Wenigstens hatte er eine Frau. Aber dann wurde mir bewusst, dass ich es mit dem Selbstmitleid doch ein bisschen übertrieb, wenn ich einen trauernden Pflegeheimbewohner beneidete, und beschloss, mich zusammenzureißen.
Ich beendete den Brief und kämpfte mit dem Drucker – normalerweise musste man das offizielle Briefpapier umgedreht und mit dem Briefkopf zum Drucker hinlegen, aber irgendjemand hatte an den Einstellungen herumgespielt –, als ich Owen für einen Kaffee die Küche ansteuern sah. Ich beschloss, ihn abzufangen.
Ich vergewisserte mich mit einem Blick in den Flur, dass uns niemand unterbrechen würde, und fragte: »Wann warst du das letzte Mal mit jemandem im Bett?«
Owen verbringt seine Abende meistens mit Computerspielen und seine Mittagspausen mit Comics; für das andere Geschlecht fällt eher wenig Zeit ab. Deshalb dachte ich, ich würde mich durch seine Antwort besser fühlen. Falsch gedacht.
Er sah auf die Uhr. »Vor zweieinhalb Stunden.«
»Du warst heute Morgen mit jemandem im Bett?«
»Ganz genau.« Owen verschränkte die Arme vor der Brust und grinste.
»Kein Grund, so selbstzufrieden zu sein.«
»Ich bin aber selbstzufrieden!«, sagte Owen. »Weißt du, wie lange es vor Laura her war? Vier Jahre.« Er packte mich an den Armen und schüttelte mich ein wenig. »Über vier Jahre. Seit ich vierundzwanzig war, war ich mit niemandem mehr im Bett!«
Danach ging es mir etwas besser. »Bei mir ist es drei Jahre her.«
Ich konnte sehen, wie Owen versuchte, ein mitfühlendes Gesicht aufzusetzen. »Du Arme«, sagte er.
»Also. Wer ist Laura?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wir treffen uns seit ein paar Wochen.«
»Toll.« Ich nickte und lächelte so überzeugend, wie es nur ging.
»Sie macht Roller Derby. Ihre Oberschenkel sind voller Tattoos.«
»Ich glaube, über ihre Oberschenkel muss ich nichts wissen«, sagte ich leiser, als eine Gruppe Trainees für den höheren Dienst vorbeikam, die gedämpft miteinander redeten, als wüssten sie etwas, von dem wir keine Ahnung hatten, was zweifellos stimmte.
»Sex ist toll«, sagte er und lächelte auf eine Art in sich hinein, die mir verriet, dass er an Lauras Oberschenkel dachte. Oder an das, was dazwischenlag. Fies. »Ich hatte vergessen, wie gut das tut.«
»Alles klar«, sagte ich. »Kein Grund, darauf rumzureiten.«
Wegen des Sexgesprächs kamen wir zu spät zu unserer Teamsitzung. Owen und ich betraten keuchend den gläsernen Konferenzraum und murmelten atemlos »Sorry, sorry«, während wir uns hinsetzten.
Tom blickte nicht auf. Sein Führungsstil war total passiv-aggressiv – was ich gern im jährlichen Mitarbeiter-Fragebogen angegeben hätte, aber unser Team war so klein, dass ich fürchtete, er könnte das Feedback zu mir zurückverfolgen und mich auf passiv-aggressive Art dafür bestrafen. Vermutlich, indem ich die gesamte Korrespondenz zum Brexit übernehmen müsste.
Unser engstes Team bestand neben Tom nur aus drei Leuten: aus mir, Owen und Uzo, die mich jetzt freundlich anlächelte. Uzo lächelte mich immer freundlich an. Sie arbeitete schon seit zwanzig Jahren im Korrespondenzteam und war der unehrgeizigste Mensch, der mir je begegnet war. Wann immer ich Mist baute, sagte sie so was wie: »Mach dir keinen Kopf, Mädchen. Wenn du erst mal so lange hier bist wie ich, ist es dir egal«, und dann verzog ich mich und hyperventilierte auf dem Klo. Aber sie hatte eine wirklich hübsche Sammlung an Statement-Ketten.
»Wie ich gerade sagen wollte«, fuhr Tom fort und blickte immer noch nicht auf, »es wird jemand Neues mit Dienstgrad sechs installiert.«
Owen und ich sahen uns an.
»Was, noch ein Abteilungsleiter?«, fragte Owen.
»Ja, Owen«, sagte Tom mit angespanntem Lächeln.
»Über Ihnen?«
»Ja«, sagte Tom, das Lächeln noch verkrampfter. »Über mir.«
»Aber wir dachten, Sie würden befördert«, sagte Owen.
»Ja, nun. Das dachte ich auch«, sagte Tom. Er fummelte an seiner Krawatte herum.
»Fuck«, sagte Uzo, was uns, wie man fairerweise sagen muss, wohl allen durch den Kopf ging.
»Und wie ich aus sicherer Quelle weiß, toleriert der neue Dienstgrad sechs Rumgefluche am Arbeitsplatz ganz und gar nicht.«
»Shit«, sagte Uzo.
»Das war ein Witz«, sagte Tom.
»Wie heißt er?«, fragte Uzo.
»Sie heißt«, erklärte Tom, »Smriti Laghari. Schön, dass Sie beim Training gegen Stereotype und Vorurteile so gut aufgepasst haben.« Sarkasmus gehörte auch zu Toms Führungstechniken.
Owen fischte sein Telefon heraus und fing an, Smriti zu googeln. »Im Moment ist sie persönliche Referentin eines Ministers. Früher war sie Bankerin.«
Der ganze Tisch stöhnte. Ehemalige Banker waren berüchtigt für ihre Versuche, den öffentlichen Dienst effizienter zu machen, was häufig beinhaltete, Leute loszuwerden und die »Annehmlichkeiten« – wie zum Beispiel ausreichend Schreibtische für alle – zu reduzieren.
»Laut LinkedIn interessiert sie sich für die Universität Cardiff, die Pineapple Dance Studios und das Londoner Netzwerk für Amateurviolinisten«, fuhr Owen fort.
»Ich spiele Cello«, sagt Uzo. »Vielleicht könnten wir ein Streichquartett gründen. Ha!«
Tom schloss kurz die Augen, als versuchte er, sich zu sammeln. »Ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wir müssen nur versuchen, den Arbeitsrückstand abzubauen, bevor sie kommt. Zeigen wir ihr, was für ein effizientes, brillantes Team wir sind. Okay?«
Wir starrten ihn an. Er hatte uns noch nie mit den Worten »brillant« und »effizient« beschrieben. Das hätte auch sonst niemand getan, so viel steht fest.
Als ich Feierabend machte, war es dunkel draußen. Ich rief meine Mutter an, während ich die Victoria Street zur U-Bahn entlanglief und versuchte, nicht auf dem tödlichen Laub auszurutschen, das den Gehweg bedeckte.
»Ich bin’s«, sagte sie, als sie abnahm.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe dich angerufen.«
»Oh, sorry. Ich bin etwas abgelenkt. Ich sitze am Computer und mache den Einkauf bei Sainsbury’s. Es gibt gerade ein sehr gutes Angebot für Olivenöl, falls du welches brauchst.«
»Danke, Mum«, sagte ich und stellte sie mir in der gemütlichen warmen Küche im grünen Nord-Oxford vor, mein Dad neben ihr am Tisch, wo er die Essays seiner Studenten las und darüber murrte, wie schlecht Universitätsdozenten dieser Tage bezahlt wurden. Mit einem Mal sehnte ich mich danach, bei ihnen zu sein. »Wie geht es dir?«
»Schrecklich, wenn du’s genau wissen willst«, sagte sie. »Die Nachbarn senken den Keller ab und bauen den Dachboden aus.«
»Ist das was Schlechtes?«
»Ein Albtraum. Nichts als Staub und Lärm. Und das Chaos auf der Straße. Sie haben die viktorianischen Türen rausgeschmissen!«
»Nicht die Original-Stilelemente!«
»Sarkasmus steht dir nicht, Julia«, sagte sie. »Das Haus wird ein Witz. Und es ist ja nicht so, als wenn sie mehr Platz bräuchten. Sie sind nur zu viert! Sie reißen unten alle Wände raus, um sich ein Entertainment-Center zu bauen.«
Ich näherte mich einem neuen Hochhaus an der Ecke der Vauxhall Bridge Road. Es sah aus wie ein ausgestreckter Mittelfinger, der mich verhöhnte.
»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte Mum. »Du hast mich in einem schlechten Moment erwischt. Sie waren gerade da, um über die Zwischenwand zu reden, und haben unsere Küche als altmodisch bezeichnet. Was wolltest du denn eigentlich?«
»Nichts«, sagte ich. »Ich steige gleich in die U-Bahn.«
»Moment mal, Schatz. Was wolltest du mir erzählen?«
»Nichts Wichtiges. Nur ein neuer Dienstgrad sechs in unserer Abteilung.«
»Oh«, sagte Mum. »Und was bedeutet das?«
»Sie wird unsere Abteilung leiten. Klingt so, als würde sie alles effizienter machen wollen.«
»Du bist bestimmt sehr effizient, mein Schatz.«
»Nein, bin ich nicht. Ich bin ja über die Zeitarbeitsfirma da, deshalb kann man mich leicht loswerden.«
»Bisher war doch noch gar nicht die Rede davon, dass du deine Stelle verlieren könntest. Oder?«
»Nein.«
»Na dann. Und es ist ja nicht so, als wärst du der Gesundheitsminister.«
»Danke, Mum.«
»Komm schon, Schatz. Du weißt, wie ich das meine. Du verkaufst dich unter Wert, wenn du in diesem Job bleibst.«
»Ich kann nichts anderes!«
»Blödsinn! Du könntest eine Ausbildung zur Pilates-Lehrerin machen. Oder zur Osteopathin.«
»Du hältst Osteopathen doch für Quacksalber!«
»Schön. Dann Anwältin!«
»Sehr witzig.«
»Das könntest du! Du könntest Jura studieren!«
»Und wer bezahlt das?«, fragte ich.
»Oder Lektorin werden, wie Alice. Du hast genau die gleichen Qualifikationen wie sie.«
»O ja, weil man da auch so toll verdient. Sie macht das schon seit fünf Jahren, und in ihrer Jobbezeichnung steht immer noch ›Assistentin‹.«
Ich hörte sie seufzen.
»Mir fehlt das Tanzen, Mum«, sagte ich.
»Natürlich«, sagte sie. »Aber ich habe dich gewarnt.«
Das fühlte sich an wie ein Schlag unter die Gürtellinie, aber sie hatte recht. Mum war auch Balletttänzerin gewesen und hatte Karriere gemacht – ein Engagement beim Royal Ballet, wo sie als Solotänzerin in einigen Produktionen von Kenneth MacMillan aufgetreten war –, aber es ist schwierig, Kinder und Tanzen zu vereinbaren, weshalb sie kurz nach der Begegnung mit meinem Vater aufgehört hatte. »Mit dreißig bist du weg vom Fenster«, hatte sie mir gesagt, als ich an die Ballettschule ging. »Du wirst dich schlecht fühlen, sobald du eine Kartoffel isst. Und du wirst niemals einen Mann kennenlernen, der nicht schwul ist.« Aber ich war sechzehn, und mit sechzehn ist dreißig steinalt, und weg vom Fenster sein klingt irgendwie glamourös, ungefähr so glamourös wie die Abhängigkeit von Schmerzmitteln. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, schon mit neunzehn ausgemustert zu werden. Im Sommer nach meinem Abschluss – als ich überraschenderweise vom English National Ballet für Der Nussknacker engagiert worden war – brach ich mir während der Proben bei einer Pirouette auf klebrigem Boden den Knöchel, und das war’s.
Ich glaube, es war Martha Graham, die gesagt hat, dass eine Tänzerin zweimal stirbt und dass der erste Tod – wenn man aufhört zu tanzen – der schmerzlichere ist. Ich wusste nicht, wer oder was ich war, wenn nicht Tänzerin. Es kam mir vor, als wäre mir das einzig Gute und Interessante an mir genommen worden. Manchmal fühlte es sich immer noch so an.
»Hör mal, Schatz«, sagte Mum. »Ich weiß, dass es schwer ist. Aber ich finde Erfüllung darin, Wandertouren zu veranstalten. Das spricht die Performerin in mir an. Du könntest eine Weile nach Hause kommen und es ausprobieren, vielleicht gefällt es dir ja.«
»Auf gar keinen Fall«, sagte ich.
»Nun. Das Angebot steht.«
Ich erwiderte nichts. Lieber wäre ich gestorben, als wieder nach Hause zu ziehen und in der Wanderfirma meiner Mutter zu arbeiten.
»Ich werde nicht aus London wegziehen. Alle meine Freunde leben in London«, sagte ich und badete nun in Selbstmitleid. »Nicht, dass das irgendeine Rolle spielt. Sie sind praktisch alle in Beziehungen. Alle haben jemanden, nur ich nicht.« Meine Stimme wurde immer piepsiger. »Ich dachte, ich wäre unabhängig. Aber ich bin einfach nur traurig.«
»Das hat dir deine Therapeutin erzählt, oder?«
»Sie hat eine gute Intuition.«
»Du tust dir einfach nur leid. Wenn du jemanden kennenlernen willst, geh online! Machen das nicht alle heute so?«
»Als ich das letzte Mal bei einem Tinder-Date war, hat der Typ eine halbe Stunde darüber geredet, dass nur Dyson-Staubsauger ihr Geld wert sind. Und er hat sich darüber lustig gemacht, wie schnell ich esse.«
»Na ja, Schatz, du neigst schon dazu, dein Essen runterzuschlingen –«
»Außerdem bekam ich immer –«
»Was?«
»Ach, schon gut. Einfach – fürchterliche Nachrichten.«
Mum flüsterte: »Schwanzfotos?«
»Ja«, sagte ich. Und dann: »Was weißt du denn über Schwanzfotos?«
»Das war Thema bei Woman’s Hour«, sagte sie. »Widerlich!«
»Du sagst es.«
»Trotzdem, Schatz. Du kannst dich nicht beschweren, solange du dich nicht aus der Deckung wagst.«
»Das hat meine Therapeutin auch gesagt.«
»Vielleicht ist die doch nicht so verkehrt.« Sie seufzte wieder. »Hör mal, ich muss Schluss machen. Wenn ich meine Bestellung nicht in zwei Minuten abschließe, geht mir der Liefertermin durch die Lappen. Möchtest du heute Abend zum Essen kommen?«
»Nein, danke, es geht schon«, sagte ich.
»Na gut. Aber du kommst zu Dads Geburtstag?«
»Ja.«
»Er wünscht sich ein schönes Hemd oder eine Hitler-Biographie.«
»Okay.«
»Fang an zu gärtnern. Das wirkt Wunder gegen Angststörungen.«
»Ich habe keinen Garten.«
»Du kannst immer herkommen und beim Rückschnitt helfen.«
»Danke, Mum.«
»Geht es dir besser?«
Ich brauchte einen Moment, ehe ich antworten konnte. »Ein bisschen.«
»Vergiss nicht, Alleinsein ist nicht dasselbe wie Einsamkeit, und Single zu sein ist verdammt noch mal besser, als mit jemandem zusammen zu sein, der einen unglücklich macht.«
Im Hintergrund murrte mein Vater: »Das habe ich gehört, Jenny.«
Also gab ich klein bei, und am Freitag wagte ich mich zum ersten Mal »aus der Deckung«. Ich hatte eine Menge US-Serien auf Netflix geguckt, die mich zu der Schlussfolgerung brachten, dass es in Ordnung, ja sogar attraktiv war, allein am Tresen zu sitzen und Kurze zu kippen; es schien zwangsläufig darauf hinauszulaufen, dass ein gutaussehender Fremder sagte: »Ich nehme das Gleiche wie sie«, und einen dann für gut ausgeleuchteten Sex mit nach oben nahm. Aber so lief es bei mir nicht.
Ich wohne in Manor House, was praktisch ist, wenn man die Piccadilly Line, Finsbury Park und Kebabläden mag, aber nicht, wenn man auf der Suche nach einer Location ist, wo man »sich aus der Deckung wagen kann«. Ich beschloss, zum Rose and Crown in Stokey zu laufen; da hatte ich einmal Jarvis Cocker gesehen, und den fand ich schon immer attraktiv, trotz des Altersunterschieds. Anscheinend hatte er mal in Paris gelebt, und seine Stimme klang bestimmt sexy, wenn er sagte: »Voulez-vous coucher avec moi?« oder etwas, das vielleicht nicht ganz so direkt war. Wobei ich gar nicht erwartete, dass alles von ihm ausging.
Ich fand mich sehr selbstermächtigt, als ich mich zum Ausgehen fertig machte. Ich war noch nie allein in einem Pub gewesen. Es schien genau das zu sein, was eine erwachsene, scharfe, unabhängige Person tun würde – ich sah mich schon mit klackernden Stilettos und erotisch knarzendem Lederrock hineinrauschen und dem Barkeeper das Zeichen für einen kurzen Wodka geben. Wobei ich keinen Lederrock besaß und es auch immer schwierig fand, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu gewinnen, aber egal. Ich war eine gutaussehende Frau, die ihr Schicksal in die Hand nahm! Vielleicht fand ich ja jemanden, mit dem es funkte. Oder jemanden, der nicht lachte, wenn ich mein »sexy« Gesicht machte … Das würde mir für den Moment schon reichen.
Für den Fall der Fälle zog ich mir meinen guten Slip (nicht so ausgewaschen wie die anderen) und meine schmeichelhafteste Jeans an. Ich hatte keinen sauberen BH mehr, aber falls ich an den Punkt kommen sollte, mein Oberteil auszuziehen, war es hoffentlich eher schummrig. Fast hätte ich High Heels angezogen, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich mir mal das Steißbein geprellt hatte, als ich in ein Paar Wedges »Macarena« getanzt hatte, deshalb entschied ich mich doch für Sneaker. Ich bürstete mir das Haar und nickte mir im Spiegel zu. »Gut siehst du aus, Julia«, sagte ich laut und wurde dann kurz panisch, bis mir wieder einfiel, dass Alice bei einer Buchpremiere war und nicht hören konnte, wie ich mit mir selbst flirtete. (Ein echter Tiefpunkt.)
Ich verließ unsere Wohnung und stapfte die Green Lanes zum Pub hinunter, mit der »Young, Wild and Free«-Playlist von Spotify im Ohr, einem Herzen, das lauter pochte als die Musik, und weißen Atemwölkchen in der kalten Abendluft. Ich war am Leben! Alles war möglich!
Dann erreichte ich das Rose and Crown, und plötzlich hielt ich das Ganze für eine völlig bescheuerte Idee. Die Fenster waren beschlagen vom Atem aller, die da drin schon ohne mich ihren Spaß hatten. Aber hätte ich umgedreht, hätte ich es mir nie verziehen.
Ich drückte die Tür auf und versuchte, mich direkt zum Tresen durchzuschlagen. Es war nicht leicht – der Pub war voll mit dicht gedrängten Gruppen, die über ihre Insiderwitze lachten und nicht darauf zu warten schienen, von einer einsamen Frau aufgerissen zu werden. Von Jarvis keine Spur. Ich setzte mich an die Bar und leerte zügig ein Glas von dem roten Hauswein, während ich versuchte, mit irgendjemandem Blickkontakt herzustellen, aber ich wurde von großen Männern eingeklemmt, die sich über mich beugten, um Getränke zu ordern, und mich mit ihren Rucksäcken rammten.
Ein Mann bemerkte mich allerdings – ein alter Glatzkopf mit sehr roter Nase am anderen Ende der Bar. Als er mir zuprostete, blickte ich weg, und dann wurde mir klar, dass ich vermutlich genauso wirkte wie er – ein einsamer Schluckspecht an der Grenze zur Trunksucht, nur jünger und mit mehr Haar.
Danach kramte ich ein wenig in meiner Tasche herum und versuchte, so auszusehen, als hätte ich etwas zu tun, mit einem »Wo ist denn mein Ibu?«-Ausdruck im Gesicht – und dann brummte mein Telefon mit einer Nachricht von Alice: Wo bist du, Jules? Dave und ich gehen mit Freunden von ihm zu einer Party, willst du mit?
Ich rannte den ganzen Weg nach Hause, mit verschwommenem Blick und fröhlich auf den Gehweg klatschenden Füßen, wie das so ist, wenn man schon etwas Wein getrunken hat und es noch sehr viel mehr werden wird.
Die Party fand in einem Lagerhaus in Hackney Wick statt, was ziemlich aufregend war – es schien mir einer dieser Orte zu sein, die Hipster mit wildem Sexleben an einem Freitagabend ansteuern. Als wir die Betontreppe hinaufstiegen und uns an einem Paar in Pelzmantel-Partnerlook vorbeidrängten, das Rum aus der Flasche trank, begann mein Körper erwartungsvoll zu pulsieren. Was mochte sich hinter der Tür verbergen?
»Meine Freundin Jane wohnt hier, mit ungefähr sechs anderen Künstlern«, sagte Dave und klopfte an die Tür. »Sie ist Konzeptkünstlerin. Ihre Sachen sind ziemlich provokativ – du wirst es gleich sehen.«
Die Tür ging auf, und wir schoben uns hinein, an einem DJ vorbei, der an richtigen Turntables Electro auflegte. An den Wänden hingen Leinwände mit Schriftzügen wie Du bist eine Fotze und Was glotzt du so?
Ich blieb vor einem riesigen blauen Quadrat stehen, auf dem stand: Keiner mag dich.