Das brennende Haus

Kyra Wilder

Das brennende Haus

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Eva Kemper

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Kyra Wilder

Kyra Wilder studierte Englische Literatur an der San Francisco State University, bevor sie eine Karriere im Sterne-Restaurant “Quince” in San Francisco einschlug - um dort Pasta zu machen. Danach arbeitete sie als Köchin in mehreren Restaurants in New York, bevor sie mit ihrer Familie in die Schweiz zog, wo sie bis heute lebt. Dieser Umzug und die herausfordernde Vielschichtigkeit des Mutterseins inspirierte die Amerikanerin zu ihrem Debütroman “Das brennende Haus”.

 

Eva Kemper, geboren 1972 in Bochum, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen. Neben Junot Díaz’ ›Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao‹ übersetzte sie aus dem Englischen u. a. Werke von Peter Carey, Louis de Bernières, Tom Rob Smith, Martin Millar und Penny Hancock.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Wie schmal ist der Grat zwischen Mutterglück und Wahnsinn?

 

Erika zieht mit ihrem Ehemann und ihren beiden kleinen Kindern in die Schweiz. Im hochsommerlichen Genf und in ihrem schönen neuen Heim angekommen, verbringt ihr Mann die meiste Zeit im Büro. Die Kinder erfordern die volle Aufmerksamkeit. Für sie hat sie den Beruf aufgegeben, sie sind nun ihre ganze Welt, versorgt und glücklich wollen sie sein. So wie jede Familie doch glücklich sein sollte. Oder?

Nie zuvor hat sich Erika so allein gefühlt, so fremd an einem Ort, so verängstigt, dass ihr alles entgleitet. Und wenn die Kinder endlich schlafen, rücken die Wände der Wohnung näher, werden die Schatten größer und übernimmt der Albtraum die Realität…

 

In intensiver Sprache komponiert Kyra Wilder in »Das brennende Haus«, in deutscher Übersetzung von Eva Kemper, die Ängste vor Isolation und Überforderung mit der Komplexität der weiblichen Identität und des Mutterseins zu einem klaustrophobischen Leseerlebnis.

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Little Bandaged Days‹ bei Picador,

an imprint of Pan Macmillan, London.

© 2020 Kyra Wilder

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Simone Andjelković

Coverabbildung: Ralf Brocke/plainpicture und Annie Spratt/unsplash.com

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491207-3

und für Dashiell

und für Dexter

und für Daley

Shirley Jackson

Es stimmte nicht, was meine Mutter über das Licht sagte. Ich hatte sie angerufen, um ihr die Wohnung zu zeigen, und ging mit hochgerecktem Handy auf Zehenspitzen herum, weil E und B ihren Mittagsschlaf hielten, und sie sagte immer wieder: Es ist ja stockdunkel! Ich sehe überhaupt nichts! Du hast es immer so dunkel bei dir! Kannst du nicht ein Fenster aufmachen?, fragte sie. Ich mache mir Sorgen um dich!

Ich sagte, mir ginge es gut und es sei großartig hier. E habe am See Schwäne gefüttert. Ich hätte schon gelernt, bonjour zu sagen. Bonjour, sagte ich und wackelte mit den Fingern vor der Kamera. So sollte sie mich sehen, als eine Frau, die Französisch sprach, meine ich. Und sie sollte das Baguette in der Küche sehen, das halb aufgeschnitten auf dem Holzbrett neben ein paar Stückchen Käse und einer Kirschtomate lag. Sie sagte, sie könne in der Küche nichts erkennen.

Mach das Licht an. Achumhimmelswillen, sagte sie. In der Wohnung hatte ich keinen besonders guten Empfang, deshalb erreichten mich ihre Worte entweder in einem Schwall oder gar nicht, und ihr Gesicht zuckte über das Display oder war erstarrt.

Bis bald, sagte ich. Hoffentlich hörte sie es. Ich warf ihr ein Küsschen zu und drückte das Gespräch weg.

Achumhimmelswillen. Das hat sie sicher noch einmal gesagt und sich darüber geärgert, dass ich einfach so aufgelegt hatte, so etwas kann sie nicht ausstehen, aber E würde bald aufwachen, und ich wollte eine Kleinigkeit zu essen für sie vorbereiten.

Mir gefiel das Licht, dieses Halbdunkel in der Wohnung. Es war grau und beruhigend. Wie das Innere einer Auster, zart und sicher verborgen mit uns darin. Alles war kühl und sauber und neu.

Die Decken waren tatsächlich niedrig. Damit hatte meine Mutter recht. Was hatte ich denn erwartet? Die Wohnung lag im Erdgeschoss eines großen, gedrungenen Betonbaus. Ein massiger grauer Kasten, der seinen Betrachtern gegenüber keinerlei Zugeständnisse machte. Weder verbeugte er sich, noch richtete er sich auf oder lupfte seinen Hut. Er hockte einfach da in seinem Kiesbeet, wie ein Hund, der ins Gras scheißt.

Ich fand das wunderbar. Genau so gefiel es mir, vor allem, wenn ich morgens mit B und E aus dem Haus stolperte, die Haare ein wenig zu zerzaust, mit einem Rock, der nicht zum Oberteil passte, alles verpillt, knittrig und verrutscht. Ich stand gerne vor meinem großen, hässlichen Haus, in dem meine wunderhübsche Wohnung wie eine behütete Perle lag.

Hinter dem Haus lag ein Park mit einem Sandkasten und einer Wasserpumpe. Ein kurzer Weg zwischen unserem und dem identischen Haus nebenan führte dorthin. Ich mochte dieses kurze Stückchen, weil es immer von winzigen alten Damen bevölkert war, die ihre winzigen alten Hunde Gassi führten, und ich üben konnte, bonjour zu sagen. Sie nickten dann und lächelten, auch wenn ich undeutlich klang. Französisch zu sprechen kam mir manchmal vor, als habe man lauter Steinchen im Mund und sollte mit der Zunge Sprünge vollführen, als müsste die Zunge über die Senken und Brüche in den Wörtern und Lauten gleiten.

An unserem ersten Samstag in der Wohnung hatten M und ich mit einigem Brimborium echtes Schweizer Spielzeug für den Park gekauft. Ernst und konzentriert, wie Vierjährige manchmal sind, hatte E jedes Teil ausgesucht:

M und ich gaben uns Mühe, uns auch einzufügen und unseren natürlichen Platz zu finden. Wir fuhren mit einem Touristenzug in die Berge und atmeten eine Luft, in der wir uns fühlten, als hätten wir vorher nie richtig gelebt. Wenn wir die Werkzeuge in den Park mitgenommen hatten, machten wir sie einzeln unter der Pumpe sauber, bevor wir nach Hause gingen. Wir wischten sie ab, polierten sie, pulten jedes Sandkörnchen heraus und rieben den roten Lack mit den Zipfeln unserer weichen Shirts ab, bis er glänzte.

Unsere Wohnung war wirklich klein. Auch damit hatte Mutter recht, das konnte ich nicht abstreiten. Aber wie ich E

Ms neues Unternehmen hatte uns eine Mitarbeiterin von einer Relocation-Agentur geschickt, die uns neben anderen potentiellen Bleiben auch unsere jetzige Wohnung gezeigt hatte. Suchen Sie sich Ihr neues Zuhause aus, stand im Memo von Ms Unternehmen, und das taten wir. Wir hatten die freie Wahl, wir mussten sie nur treffen.

Die Frau war von ihrer Agentur ausgewählt worden, weil sie hervorragend unsere Sprache sprach.

O mein Gott!, sagte sie jedes Mal, wenn wir bei unserer Besichtigungstour ein neues Zimmer betraten. Und sie hielt sich ständig eine Hand vor den Mund.

Mir gefiel, wie ihre Absätze auf dem Parkettboden klackerten, wenn sie vor uns herlief, und wie sie mit französischem Akzent sagte ’ier entlang und o mein Gott!, aber mir gefiel nicht, dass sie nur mich aufforderte, die Küchenschubladen oder die Waschmaschinen zu öffnen, um zu sehen, wie groß sie waren. Sehen Sie das?, fragte sie dann. Die sind für Sie! Im Grunde war das alles ja wirklich für mich, oder? Die Küchenschubladen und die Waschmaschinen. Auf jeden Fall waren sie nicht für die Dame von der

M hatte fürs Büro einen ganzen Schwung neuer europäischer Anzüge, aus Italien, vielleicht auch aus England. Maßgeschneidert. Halb gefüttert und leicht für den Sommer. Er sah wirklich gut aus. Er hatte eine neue Sonnenbrille mit kleinen, runden Gläsern und einem Gestell aus Schildpatt, die er jedes Mal abnahm, wenn wir eine der Wohnungen betraten. Seine neuen Lederslipper waren innen so weich, dass ich nach Luft schnappte, als ich sie im Hotel einmal anprobierte, während er schlief, so begeistert war ich.

Wir entschieden uns für die Wohnung, die Ms Büro am nächsten lag.

Es ist ja nur vorübergehend, sagte M, nächstes Jahr kaufen wir ein Haus am See. Das wird dir gefallen, oder? Aber mir gefiel die Wohnung, ich war gerne den Tag über in seiner Nähe. Ich mit den Kindern zu Hause, er bei der Arbeit, alle nicht weit voneinander entfernt. Wenn E mich im Bad einschließt, kann ich einfach schreien, und du befreist mich, sagte ich zu M.

O non, schaltete sich die Dame von der Agentur ein. ’ier

Es gab ein Schlafzimmer für M und mich, einen kleinen Raum mit der Toilette und einen zweiten mit der Dusche und der Waschmaschine. Von der Küche führte eine Tür ins Wohnzimmer, eine weitere in den Wohnungsflur, beide Türen konnte man abschließen. Es gab sogar ein kleines Zimmer für E mit einem Bett, einem Tisch und einem Schreibtisch. Alles stand dicht an dicht, das Bett berührte den Schreibtisch, der Tisch berührte das Bett. Alles war klein und hübsch, und eines Tages brachte M eine Steppdecke mit, über die sich Krokusse und Vergissmeinnicht rankten. Das Zimmer lebte damit richtig auf, es war perfekt und passte perfekt zu E.

Ein weiterer, leerer Raum war durch eine schmale Tür vom Wohnzimmer getrennt. Früher war er vielleicht als große Abstellkammer oder als kleines Schlafzimmer genutzt worden. Die Decke wirkte hier höher und war es tatsächlich auch. O mein Gott!, hatte die Dame von der Agentur bei der Besichtigung ausgestoßen. In dem Zimmer entdeckten wir eine Topfpflanze, eine Sukkulente mit Trieben, die an die Arme eines Oktopus erinnerten, ein kleines Waschbecken und einen Brandflecken auf dem Boden. O mein Gott!, rief die Dame von der Agentur noch mal und

Ich hatte mich schon einmal mit ihr getroffen, in ihrem Büro, weil sie darum gebeten hatte. Damit ’isch Sie kennenlernen kann, hatte sie gesagt. M und ich telefonierten über den Lautsprecher mit ihr, aber sie meinte nur mich. Wir wissen ja, wer die Wohnung aussuchen wird, sagte sie. Ich hörte ihr Zwinkern regelrecht und wollte schon Nein sagen, aber M kam mir zuvor: Ja! Natürlich! Also zog ich meinen marineblauen Blazer, den ich früher zu Meetings getragen und in letzter Minute doch noch eingepackt hatte, statt ihn wegzuwerfen, aus meiner Tasche, kämmte mir die Haare und machte mich allein auf den Weg zu ihr, damit sie mich begutachten und überlegen konnte, welche Wohnungen sie uns zeigen wollte.

Als ich ankam, musste ich warten, sie war eine viel beschäftigte Frau, aber man gab mir ein englisches Einrichtungsmagazin. Und ich bekam ein Schlückchen Kaffee in einer winzigen Porzellantasse mit einer Praline auf der Untertasse. Ich sollte auf einem Stuhl Platz nehmen, der mich mit glänzenden Armlehnen umfing und mir Haltung gab. Das Magazin enthielt aus unerfindlichen Gründen eine Fotostrecke mit Nahaufnahmen von Füßen, von hinten aufgenommen und auf Zehenspitzen. Auf jedem Bild lag etwas Empfindliches unter den Fersen, die es gerade eben berührten. Auf einem war es eine Orange, auf einem anderen eine Limette. Bei mehreren Fotos lagen Eier unter den Fersen. Mein Blick wanderte über die geschwungenen Linien und

Nach unserem Einzug hielt ich die Kinder von dem leeren Zimmer fern. Vielleicht sollte es wirklich für mich sein. Ein Eckchen für mich allein. B schlief in einem zusammenklappbaren Bettchen im Wohnzimmer. So war es zumindest gedacht, aber er wollte abends nur auf meinem Arm sein, und ich lief mit ihm herum und lief herum und erzählte ihm etwas. So verbrachten wir die meisten Abende, wir liefen immer im Kreis durch das Wohnzimmer, den Flur, die Küche, das Wohnzimmer. Ich bin da, flüsterte ich immer wieder, die Lippen an das Schneckengehäuse seines Ohrs gedrückt.

Wenn er irgendwann endlich eingeschlafen war, schlich ich mich manchmal in das leere Zimmer, legte mich auf den Boden und rief meine Mutter an. Mein nächtliches Signal von ein, zwei Uhr erreichte sie mitten am Tag. Sie aß immer gerade und erzählte mir kauend etwas, und ich hörte zu und schlief manchmal dabei ein. Wenn sie das Gespräch annahm, ließ mich das Tageslicht jedes Mal stutzen, obwohl es reine Wissenschaft war, obwohl es ganz natürlich war, sie winzig und weit entfernt in Sonnenlicht getaucht zu sehen. Es strahlte immer so hell in meiner ausgestreckten Hand, wenn ich sie anrief.

 

Achumhimmelswillen, sagte meine Mutter, wenn sie nach dem einen oder anderen fragte. Etwa nach den handgeflochtenen Korbstühlen, die in unserem Wohnzimmer standen, oder dem Milchkännchen und der Zuckerdose meiner Großmutter. Es war nahezu nichts übrig. Wie hätten wir die ganzen Sachen mitnehmen sollen? Wir warfen Ballast ab und befreiten uns von allem. Willst du das nicht behalten?, fragte meine Mutter, während sie durchs Haus streifte, unser schönes, sich leerendes Haus. Oder das hier? Doch ich hörte nicht zu, ich war in Gedanken schon aufgebrochen, im Flugzeug, in unserem neuen Zuhause.

M hatte wegen der neuen Stelle Bedenken gehabt. Der Job brachte schließlich Herausforderungen mit sich. Viele Menschen würden für ihn arbeiten, von ihm abhängig sein, darauf warten, was er entschied. Ich weiß nicht, hatte er mit dem Vertrag in der Hand gesagt. Daran erinnere ich mich noch. Ich sehe noch vor mir, wie er die Linie anstarrte, auf der er unterschreiben sollte, wie die Vertragsklauseln sich auf dem schönen weißen Papier kräuselten wie Rauch.

Ich sagte, er solle es tun, er könne das. Ich müsste länger arbeiten, länger im Büro bleiben, sagte er. Öfter verreisen. Wir würden uns seltener sehen. Ich würde E und B

M unterschrieb den Vertrag natürlich, und wir flogen hierher. Noch am Flughafen wurde er abgeholt, weil er dringend bei der Arbeit gebraucht wurde. Bevor er in den Wagen stieg, sah ich ihm einen Moment lang an, dass er nervös was. Sein Gesicht verriet es mir. Und ich erkannte, dass er hier und von jetzt an jemand anders sein musste. Ich glaube, das war uns beiden vorher nicht klar gewesen. Ein Auto hatte schon auf ihn gewartet, und er rauschte ohne uns davon. Für mich, die Kinder und das Gepäck stand ein zweites Auto bereit. Der Fahrer war ausgesprochen nett, und ich überlegte während der ganzen Fahrt, ob und wie viel Trinkgeld ich geben sollte, und bekam nicht mit, was er mir unterwegs zeigte.

Ich bin immer gerne gereist, aber im Ausland zweifle ich oft an meinem Instinkt. Am Ende hatte ich gar kein Geld, weil mein Portemonnaie in Ms Jackentasche steckte. Mir blieb nichts übrig, als verzweifelt zu lächeln und immer tiefer im Boden zu versinken, während der Fahrer unsere schweren Taschen aus dem Kofferraum hob. Einen Moment lang blieb er neben dem Auto stehen, und ich lächelte noch angestrengter, um zu zeigen, dass ich ein guter Mensch war. Er fuhr davon.

Wir wohnten in einem sehr schicken Hotel, von unserer Suite aus konnte man den See und den Jet d’Eau sehen. Ein Page half uns mit dem Gepäck, und als wir oben waren, schaltete ich für E eine Zeichentricksendung ein und

Das ist Französisch, erklärte ich. Eine wunderschöne Sprache. Bald klingst du genauso. Stirnrunzelnd schürzte sie die Lippen. Nein, sagte sie.

Oui, widersprach ich und lachte.

Wir verbrachten nur etwa eine Woche in dem Hotel. Die Stunden vergingen wie im Traum, eine verschmolz mit der nächsten, wie ein endloser Strom aus Balkontüren, Leinenvorhängen, sanften Brisen und Licht. M brach früh zur Arbeit auf. Jeden Morgen zog er einen seiner neuen Anzüge an. B und E und ich ruhten uns auf unserem Jetlag aus. Wir schliefen, wann wir wollten, und frühstückten spät und ausgiebig. Von einem Brotlaib so groß wie ein Ferkel schnitten wir dicke Scheiben ab und bestrichen sie mit Beerenmarmelade aus winzigen Gläsern. Wir konnten weich gekochte Eier bestellen, die noch dampfend mit kleinen Löffelchen an unseren Tisch gebracht wurden und nur aufgeschlagen werden mussten. Wir konnten uns auch Nougat mit Pistazien von einem großen Block abschneiden und bringen lassen oder heiße Schokolade, Speck oder Stücke von einer echten Honigwabe.

E beobachtete durch ein Schaufenster ein Mädchen in ihrem Alter. Mit einer rosa Pelzweste über einem Kleid mit Gürtel saß die Kleine reglos auf einem Polstersessel. Sie sah einer Frau in einem taillierten schwarzen Hosenanzug zu, die ihrer Mutter Uhren über das schmale Handgelenk schob. Zumindest vermutete ich, dass die Frau ihre Mutter war. Beide trugen das Haar locker gewellt. Eine Verkäuferin bot dem Mädchen eine Praline an, aber es schüttelte den Kopf. E schaute wie gebannt zu.

Vor jedem Schaufenster blieben wir stehen, um all das Neue und Schöne zu betrachten. Für dich, sagte E und deutete auf den funkelnden Schmuck. Auf die Ketten, die wie Kronleuchter oder Schlangen aussahen. Auf die Armreifen und Uhren und Ringe. Für dich, für dich, für dich, sagte sie, und ich lächelte, ich strahlte sie an, um ihr zu zeigen, wie glücklich ich war, siehst du nicht, wie glücklich ich bin? Deine Mutter ist überglücklich, sagte mein Lächeln. Wir sind eine glückliche Familie an einem wunderschönen Ort. Ich schob Bs Kinderwagen mit einer Hand vor mir her und sagte: Danke, ich habe dich lieb, danke, ich habe dich lieb, danke, ich habe dich lieb.

Einmal gingen wir den weiten Weg bis in den Bois de la Bâtie und blieben auf der schmalen Fußgängerbrücke stehen, unter der die Rhône und die Arve zusammenfließen. Schau mal, sagte ich zu E. Sie sollte sehen, dass die beiden Flüsse unterschiedliche Farben hatten, sehen, wo sie ineinander wirbelten, wo sie getrennt blieben. Danach liefen wir den Hügel hinauf zur Bibliothek und fanden Bücher über Flüsse in wunderbarem, unverständlichem Französisch. Wir waren ein wenig verloren, aber deshalb waren wir ja auch hier, wir wollten uns in dieser neuen Umgebung verlieren.

Ich genoss es, im Hotel zu wohnen. Die Tage waren wunderbar. Ich rief meine Mutter oft an und erzählte ihr das. Ich sagte, alles sei neu und alles sei wunderbar. Weiße Häuser, rote Ziegeldächer, der blaue See, Schmuck und Pralinen, wohin man sah. Alles frisch und neu. Es war Juni, das Wetter blieb trocken. Die Sonne brannte nie zu heiß. Vom See wehte immer ein frischer Wind herüber.

Wenn ich mit E am See die Schwäne füttern wollte, gab uns die Dame am Empfang eine Tüte mit altem Brot, und während wir unterwegs waren, machten die

Am letzten Abend im Hotel brachte ich E und B früh ins Bett und bestellte eine kleine Flasche von einem ausgezeichneten Champagner. Eine ältere Frau, die aussah, als wäre ihre Schicht bald zu Ende, brachte mir die Flasche und entkorkte sie auf dem Gang. Sie wirkte geschäftsmäßig und müde, ganz anders als die zwinkernden jungen Männer, die den Kaffee servierten, aber davon wollte ich mich nicht enttäuschen lassen. Also bedankte ich mich in aller Form und leerte danach die ganze Flasche auf dem Balkon mit Blick auf den See. M war bei einer Firmenfeier und sollte mich eigentlich mit dem Champagner auf dem Balkon antreffen, wenn er zurückkam, vielleicht mit den letzten Tropfen noch auf den Lippen. Oh, da bist du ja schon, ich habe mich gerade wunderbar allein amüsiert, so in etwa, aber als er endlich zurückkam, war die Flasche längst leer. Und ich lag im Halbschlaf auf dem Sofa.

Wer war da?, flüsterte ich müde. Ach, alle, sagte er. Du hättest mitkommen sollen. Im Hotel gab es natürlich Babysitter, ich hätte ihn begleiten können, vielleicht hatte man das sogar erwartet. Aber wie hätte ich E oder B bei jemandem lassen sollen, den ich nicht kannte? Ein Kindermädchen aus dem Hotel mit Namensschild an der Brust hätte nicht gewusst, wie die beiden zugedeckt werden wollten,

Als M sich über mich beugte, um mich zu küssen, roch sein Hemd nach hundert verschiedenen Parfüms. Er ließ eine Hand über meinen Rücken gleiten, aber ich war schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen zogen wir in die Wohnung. Jetzt fahren wir nach Hause!, sagte ich zu E und versuchte, ihr das Gefühl zu vermitteln, es wäre wahr. M hatte sich den Vormittag freigenommen, und als wir das Hotel verließen, ging E zwischen uns und hielt uns beide an den Händen. Auf dem Weg aus dem Hotel entdeckte ich die Frau, die mir abends den Champagner gebracht hatte, sie schob einen Wagen mit Putzsachen den Flur entlang. Ich lächelte sie an, aber sie reagierte nicht, vielleicht hatte sie mich nicht gesehen.

In der Wohnung stellte ich die Möbel um, bis ich zufrieden war, schob das Sofa hierhin und dorthin, und suchte mit zusammengekniffenen Augen nach dem perfekten Platz. Wir fuhren zusammen zu Ikea und aßen Hotdogs, M sah mit Senf am Mundwinkel hinreißend aus. Nicht ganz ernsthaft überlegten wir, welche Weingläser wir kaufen sollten und wie viele wir bräuchten und wie es wäre, wenn E Französisch sprechen würde. Ein Fahrer holte uns ab, setzte mich mit E und B an der Wohnung ab und brachte M ins Büro. Der Fahrer hielt mir die Tür auf, und ich schlüpfte in den Wagen. Im ersten Moment auf diesem Parkplatz schien das Innere, das Innere des Wagens, meine ich, die kühlen Ledersitze, der dunkle, leicht schräge Dachhimmel bienvenue, madame zu sagen. Alles schien für mich zu sein.

Im Juni war das Wetter wunderbar gewesen. Jetzt hatten wir allerdings Juli, wir waren in der Wohnung, und der Sommer hatte uns mit Haut und Haaren verschluckt. Wir hätten die aufgeweichten Kadaver von Ziegen sein können, die ein Krokodil ganz verschlungen hatte, so heiß war es in der Wohnung. M war ständig unterwegs. Ich fand seine Unterhemden auf dem Boden und wusch sie, räumte seine Socken weg und stellte ihm das Abendessen auf die Küchentheke, wenn ich dachte, er würde vielleicht nach Hause kommen, wenn wir schon schliefen. Wenn mir alles schwerer fiel als erwartet, sagte ich mir, na ja, M arbeitet auch hart. Ich wusste, dass er hart arbeitete und alles für ihn leichter sein würde und auch ausgewogener zwischen uns, wenn zu Hause alles perfekt war und ein anständiges Essen auf ihn wartete.

Ms Firma ging es gut. Das Geld wuchs und wucherte und vermehrte sich auf allen Konten der Firma. Felder gedeihender grüner Daten verhießen Glück. Alles keimte und spross frisch und hell. Es gab zahllose Menschen kennenzulernen und Hände zu schütteln. M reiste unentwegt und schüttelte Hände, und mit jedem weiteren Handschlag wurde er mehr zu dem Menschen, zu dem er sich

London. Berlin. Rom. Ich kam nicht mehr hinterher. Ich konnte mir manchmal nicht merken, ob er verreist war oder nur im Büro. Ehrlich gesagt spürte ich kaum einen Unterschied. Er kaufte auf seinen Reisen Süßigkeiten für E und legte sie auf die Küchentheke. Daran erkannten wir, dass er zurückgekommen war. Die Süßigkeiten steckten in farbenprächtigen Verpackungen und hatten wunderbare Namen. Jolly Jellies! Blumen-Zauber. Bombottini. E und ich verputzten alles zusammen. Wir aßen alles auf, was er mitbrachte, und leckten uns den Zucker, le sucre, the sugar, lo zucchero von den Fingern, de nos doigts, from our fingers, dalle nostre dita, wie kleine Monster.

Nicht, dass uns jemals langweilig geworden wäre, E und B und mir. Wie sollte es auch? Es gab so viel zu tun. Ich ließ mir von der Reinigung in unserer Straße eine Kundenkarte ausstellen und kaufte extra einen Kleidersack mit Reißverschluss, in dem ich Ms Anzüge hinbringen und abholen konnte. Ich weiß noch, wie ich die passenden Reinigungsprogramme auswählte. Ich überlegte gründlich, wie seine Jacketts, Hosen und Hemden behandelt werden sollten, und hörte aufmerksam den Fragen der forschen Dame in der Reinigung zu.

M war aus dem einen oder anderen Grund ständig unterwegs. Morgens, wenn wir aufwachten, hatte er die Wohnungstür schon hinter sich geschlossen, und es war völlig in Ordnung. Er hatte seine Aufgaben, und wir waren uns selbst überlassen. Wie wunderbar, sagte ich zu E, welch ein

Wir schliefen viel, E und ich und B, und manchmal schliefen wir gar nicht. Die Zeit war eigenwillig und unvorhersehbar. Manchmal trieb sie mich voran, und manchmal klammerten die Minuten sich an mir fest, wollten unterhalten werden wie Kinder, brauchten etwas, suchten Nahrung, als würden die Stunden wie Tiere ihr Maul aufreißen, als würde die endlose Folge von Minuten wie winzige Knochen in tausend zarten Kehlen feststecken. Das Licht veränderte sich nie. Ich betrachtete die Münzen, die M wie Artefakte auf dem Nachttisch aufbewahrte, seine Wassergläser, die feuchten Handtücher auf dem Boden. Ich fuhr mit der Hand in jede seiner Tasche, bevor ich seine Kleidung zur Reinigung brachte. Vielleicht dachte er auch an mich, vielleicht waren wir Geister füreinander. Buh, könnte ich ihm ins Ohr flüstern, während er schlief. Hier bin ich.

Jeden Morgen saß ich neben der Wasserpumpe in dem kleinen Park, sah E beim Planschen zu, spannte ein Tuch so über B, dass es ihm Schatten spendete. Ich verbrachte gefühlt und vielleicht tatsächlich Jahre damit, E Sand von den Füßen zu waschen. Sie kam zu mir und B auf die Decke, rannte immer wieder zur Pumpe, um eine Handvoll Wasser zu holen, und inspizierte die Zwischenräume ihrer Zehen. Ich bin eine Krabbe!, sagte ich, ging seitwärts und hielt die Arme hoch. Wir polierten die Spielwerkzeuge und wischten die Griffe ordentlich ab.

Nachmittags rief ich manchmal meine Mutter an. Sieh mal!, sagte ich dann und zeigte ihr etwas. Ein Bild, das E gemalt hatte etwa, oder den Umriss von Bs Hand. Sieh mal!

Eines Morgens ging ich zur Pumpe, und jemand stahl meinen Schlüsselbund. Ich hatte ihn B als Nuckel gegeben, aber als ich zurückkam, hatte er Zweige und Gras in der Hand, und die Schlüssel waren fort. Ich suchte auf Händen und Knien die Decke ab, doch sie waren nicht zu finden. Ich fragte E, was passiert sei. Sie zuckte nur mit den Schultern, als wären Schlüssel und anderer Erwachsenenunsinn unter ihrer Würde, und B gurgelte und prustete und war insgesamt keine Hilfe. Ich hätte schreien können, aber natürlich tat ich es nicht. Ich suchte nur immer wieder das Gras ab, schnalzte mit der Zunge und krabbelte am Rand unserer Decke entlang wie eine Spinne, die ihr Netz webte, oder wie ein Ahornsamen, der im Herbst zu Boden wirbelt.

Die anderen Leute im Park konnte ich nicht fragen, was passiert war, mir fehlten die richtigen Vokabeln. Bonjour, konnte ich sagen. Merci. Aber diese Wörter halfen mir nicht weiter. In der Regel gibt es immer eine Möglichkeit, eine Lage zu verbessern, aber manchmal eben auch nicht. Ich nahm mir vor zu lernen, was Hilfe hieß.

Ich dachte an unsere Wohnungstür, die vor mir und E und B verschlossen war. Daran, wie kühl es vormittags in der Wohnung war, wenn die Jalousien noch die Sonne

Les clés sont rentrées.